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Das packende Finale der großen Fantasy-Trilogie von Joe Abercrombie
Wer in den eiskalten Ländern rund um die Bruchsee aufwächst, lernt schon früh, dass der Tod vor niemandem haltmacht. Eine Lektion, die auch Prinzessin Skara von Throvenland nicht erspart bleibt: Hilflos muss sie mit ansehen, wie ihre ganze Familie ermordet wird. Ihr Wunsch nach Vergeltung führt sie nach Gettland zu Prinz Yarvi, einem Mann, der sich wie kein Zweiter mit der minutiösen Planung von Racheakten auskennt. Yarvi führt Skara in die Welt der politischen Intrige und der Kriegsführung ein. Eine Welt, in der das Recht des Stärkeren regiert ...
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Seitenzahl: 653
Das Buch
Das Königreich Throvenland liegt in Trümmern. Nachdem das Heer des Hochkönigs hindurchmarschiert ist, das Bündnis mit Throvenlands König gebrochen wurde und die Städte brennen, bleibt für die junge Prinzessin Skara nur noch eins: die Flucht. Ihr einziger Vertrauter ist ein alter Kaufmannskapitän, und ihr wichtigstes Ziel ist nun das Überleben, um vielleicht irgendwann als Königin zurückzukehren. Auf ihrer Flucht muss Skara neue Verbündete suchen, und so reiht sie sich als Dritte in das Bündnis zwischen Gettland und Vansterland, zwischen König Uthil und Grom-gil-Gorm, dem Schwertbrecher, ein. Im Hintergrund steht der gerissene Ratgeber Vater Yarvi, der mit dem Bündnis ganz eigene Pläne verfolgt. Doch die Männer werden von Skaras Mut und Entschlusskraft überrascht – und schon bald segelt eine Flotte grimmiger Krieger auf die Festung Kap Bail zu, um sie aus der Hand des Hochkönigs zu befreien. Doch in diesem Krieg sind stärkere Kräfte als Stahl und Feuer am Werk, und nicht jeder Sieg ist ein Schritt in Richtung Frieden. Auch Worte sind wie Waffen – und im Krieg sind Waffen nur die halbe Wahrheit …
Mit »Königskrone« führt Joe Abercrombie sein Fantasy-Epos um die Welt der Bruchsee zu einem grandiosen Höhepunkt.
Erster Roman: KönigsschwurZweiter Roman: KönigsjägerDritter Roman: Königskrone
Der Autor
Joe Abercrombie arbeitet als freischaffender Fernsehredakteur und Autor. Mit seinen weltweit erfolgreichen »Klingen«-Romanen und der Königstrilogie hat er sich in die Herzen aller Fans von packender, düsterer Fantasy geschrieben und schafft es regelmäßig auf die internationalen Bestsellerlisten. Joe Abercrombie lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in Bath.
Mehr über Joe Abercrombie und seine Romane auf: www.joeabercrombie.com
Joe Abercrombie
Königskrone
Roman
Aus dem Englischen von
Kirsten Borchardt
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
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Titel der Originalausgabe
HALF A WAR
Deutsche Erstausgabe 04/2016
Copyright © 2015 by Joe Abercrombie
Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Werner Bauer
Karten: Nicolette Caven
Covergestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung eines Motivs von shutterstock/Cuprid
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN: 978-3-641-16472-0V004
www.heyne-fantastisch.de
@HeyneFantasySF
Für Teddy
»Er, der eine fremde Schwelle übertritt,
Lasse Vorsicht walten
Und die Blicke schweifen,
Weiß er doch nicht, welche Feinde
Im Hause seiner harren.«
aus: Hávamál, des Hohen Lied
Wir haben verloren«, sagte König Fynn und starrte trübsinnig in sein Bier.
Ein Blick in die leere Halle zeigte Skara, dass das nicht zu leugnen war. Dabei hatten noch im letzten Sommer die frisch zusammengetrommelten Krieger mit ihren blutrünstigen Prahlereien, ihren Heldenliedern und den laut beteuerten Versprechen, den Sauhaufen des Hochkönigs ein für alle Mal zu erledigen, die Dachbalken erzittern lassen, dass sie fast einzustürzen drohten.
Wie es bei Männern oft der Fall ist, hatten sie sich im Reden als tüchtiger erwiesen denn beim Kämpfen. Nachdem einige Monate mit faulem Herumsitzen verstrichen waren, ohne dass viel Ruhm und Reichtum errungen worden war, hatten sie sich einer nach dem anderen davongeschlichen. Nur ein kleines Grüppchen Glückloser war zurückgeblieben und scharte sich noch um das große Feuer, dessen Flammen ähnlich schwach glommen wie die Hoffnungen von Throvenland. Der Wald, wie König Fynns Halle dank ihrer vielen Säulen genannt wurde, war einst ein Ort gewesen, an dem sich Scharen von Kriegern gedrängt hatten; jetzt lagerten hier nur noch Schatten. Und Enttäuschungen.
Sie hatten verloren. Und das, ohne überhaupt eine Schlacht geschlagen zu haben.
Mutter Kyre sah das natürlich anders. »Wir haben eine Übereinkunft getroffen, mein König«, verbesserte sie, während sie an ihrem Fleisch knabberte und dabei so lange Zähne machte wie ein alter Gaul, der sich an einen Heuballen wagt.
»Eine Übereinkunft?« Empört stieß Skara ihr Messer in das Essen, von dem sie noch keinen Bissen angerührt hatte. »Mein Vater starb einst bei dem Versuch, Kap Bail zu halten, und jetzt hast du Großmutter Wexen den Schlüssel zur Festung in den Schoß geworfen, ohne dass es überhaupt zu einem Kampf gekommen wäre. Du hast den Kriegern des Hochkönigs freies Geleit durch unser Land versprochen! Wie übel müsste es denn wohl erst um uns bestellt sein, wenn wir deiner Ansicht nach verloren hätten?«
Mutter Kyre sah Skara mit der provozierenden Gelassenheit an, die sie so perfekt beherrschte. »Wenn dein Großvater tot unter seinem Grabhügel läge, die Frauen von Yaletoft über den Leichnamen ihrer Söhne weinten, diese Halle zu Asche heruntergebrannt wäre und du, meine Prinzessin, das Halseisen einer Sklavin trügest, das an den Thron des Hochkönigs gekettet wäre – dann würde ich davon sprechen, dass wir verloren hätten. Deswegen sage ich jetzt: Wir haben eine Übereinkunft erzielt.«
König Fynn, seiner Würde beraubt, war in sich zusammengesunken wie ein Segel ohne Mast. Skara hatte stets geglaubt, ihr Großvater sei so unbesiegbar wie Vater Erde. Sie ertrug es nicht, ihn so zu sehen. Vielleicht wollte sie sich auch einfach nicht eingestehen, wie kindisch ihr uneingeschränktes Vertrauen in ihn gewesen war.
Sie sah zu, wie er noch mehr Bier hinunterstürzte, rülpste und seinen vergoldeten Krug zur Seite stieß, damit er neu gefüllt wurde. »Was sagst du, Blauer Jenner?«
»In so königlicher Gesellschaft wie hier, mein König, sage ich stets so wenig wie möglich.«
Der Blaue Jenner war ein gerissener alter Bettler, mehr Plünderer als Händler, mit grob geschnitzten Zügen, verwittert und zerklüftet wie ein alter Tierkopf am Vordersteven eines Schiffes. Hätte Skara das Sagen gehabt, hätte sie diesen Kerl nicht einmal in den Hafen gelassen, und schon gar nicht hier an ihre Tafel.
Mutter Kyre sah das natürlich ebenfalls anders. »Ein Schiffsführer ist selbst wie ein König, der nicht über ein Land, sondern über ein Schiff gebietet. Deine Erfahrung kann Prinzessin Skara sehr nützlich sein.«
Welch ein unwürdiger Gedanke. »Unterweisung in Staatskunde von einem Freibeuter«, brummte Skara. »Und dann noch nicht mal von einem erfolgreichen.«
»Nuschele nicht. Wie viele Stunden habe ich dich gelehrt, wie es sich für eine Prinzessin zu reden geziemt?« Mutter Kyre hob das Kinn und ließ ihre Stimme mühelos von den Dachsparren hallen. »Wenn du zu dem Schluss gekommen bist, dass deine Worte hörenswert sind, dann trage sie stolz vor, lasse sie in jeden Winkel dieses Saales dringen, fülle den Raum mit deinen Hoffnungen und Wünschen und lasse alle an ihnen teilhaben! Wenn du dich deiner Gedanken schämst, dann schweige lieber. Ein Lächeln kostet nichts. Was sagtest du, Blauer Jenner?«
»Nun …« Der Genannte kratzte sich die wenigen grauen Haare, die sich noch an seine wetterfleckige Kopfhaut krallten und offenbar noch nie einen Kamm gesehen hatten. »Großmutter Wexen hat den Aufstand im Tiefland niedergeschlagen.«
»Dank der Unterstützung ihres Kettenhunds, Hell Yilling, der keinen anderen Gott kennt als Frau Tod.« Skaras Großvater griff nach seinem Krug, noch während ihm der Hörige nachschenkte, und Bier spritzte über den Tisch. »Es heißt, er habe die ganze Straße bis nach Skekenheim mit Gehängten flankiert.«
»Der Blick des Hochkönigs richtet sich nach Norden«, fuhr Jenner fort. »Er will Uthil und Grom-gil-Gorm unter seine Knute bringen, und Throvenland …«
»Liegt im Weg«, beendete Mutter Kyre den Satz. »Sitz nicht so gebeugt, Skara, das schickt sich nicht.«
Skara zog einen Flunsch, aber sie hob trotzdem ein wenig die Schultern, streckte den Hals und näherte sich damit der brettartig aufgerichteten, steifen und furchtbar unnatürlichen Haltung, die Throvenlands Gelehrte so schätzte. Sitze so, als würde man dir ein Messer an die Kehle halten, pflegte sie zu sagen. Eine Prinzessin soll es nicht gemütlich haben.
»Ich bin ein Leben in Freiheit gewöhnt, und ich schätze weder Mutter Wexen noch ihre ›Eine Gottheit‹, ihre Steuern oder ihre Gesetze.« Der Blaue Jenner rieb sich sinnend das schiefe Kinn. »Aber wenn Mutter Meer einen Sturm aufkommen lässt, dann tut ein guter Schiffsführer, was in seiner Macht steht, um das zu retten, was zu retten ist. Die Freiheit gilt den Toten nichts. Und Stolz ist schon den Lebenden wenig wert.«
»Weise Worte.« Mutter Kyre wackelte mit dem Zeigefinger und sah Skara dabei an. »Wer besiegt wird, kann morgen wieder gewinnen. Die Toten haben auf ewig verloren.«
»Weisheit und Feigheit sind schwer voneinander zu unterscheiden«, hielt Skara trotzig dagegen.
Die Gelehrte schob streitbar das Kinn vor. »Ich bin fest überzeugt, dass ich dir bessere Manieren beigebracht habe, als einen Gast zu beleidigen. Edle Gesinnung zeigt sich nicht an der Achtung, die man den Höchsten erweist, sondern an der Achtung, die man dem Geringsten entgegenbringt. Worte sind Waffen. Sie sollten mit größter Vorsicht eingesetzt werden.«
Jenner machte mit einem leichten Abwinken deutlich, dass er sich nicht im Geringsten beleidigt fühlte. »Zweifelsohne hat Prinzessin Skara es richtig erfasst. Ich habe viele Männer gekannt, die tapferer waren als ich.« Er lächelte bedauernd und zeigte dabei seine schiefen Zähne, die einige Lücken aufwiesen. »Und bei den meisten war ich dabei, als sie beerdigt wurden.«
»Tapferkeit und langes Leben sind selten gute Bettgenossen«, sagte der König und leerte seinen Becher erneut.
»Könige und Bier sind es ebenso wenig«, erwiderte Skara.
»Mir ist nichts mehr geblieben außer Bier, Enkeltochter. Meine Krieger haben mich im Stich gelassen. Meine Verbündeten haben sich abgewandt. Sie haben Schönwettereide getan, die fest standen wie Eichbäume, solange Mutter Sonne schien, aber verdorrten, sobald Wolken aufkamen.«
Das war kein Geheimnis. Tag um Tag war Skara zum Hafen gelaufen, weil sie hatte sehen wollen, wie viele Schiffe König Uthil von Gettland mit sich bringen und wie viele Krieger den berühmten Grom-gil-Gorm aus Vansterland begleiten würden. Tag um Tag verging, während die Blätter an den Bäumen knospten, dann Schattenflecken warfen und sich schließlich gelb färbten und fielen. Die Schiffe und die Krieger kamen nie.
»Treue findet man bei Hunden öfter als bei Menschen«, bemerkte Mutter Kyre. »Ein Plan, der auf Treue fußt, ist schlimmer als gar keiner.«
»Und worauf kann man stattdessen bauen?«, fragte Skara. »Auf einen Plan, der auf Feigheit fußt?«
Alt sah ihr Großvater aus, wie er sich mit trübem Blick und Bieratem wieder an sie wandte. Alt und besiegt. »Du warst stets sehr tapfer, Skara. Tapferer als ich. Ganz bestimmt fließt Bails Blut in deinen Adern.«
»Doch auch dein Blut, mein König! Du hast mir stets gesagt, dass der Krieg nur zur Hälfte mit Schwertern ausgefochten wird. Für die andere Hälfte braucht man das hier.« Damit drückte Skara sich den Zeigefinger so stark gegen die Schläfe, dass es wehtat.
»Du warst stets sehr klug, Skara. Klüger als ich. Bei den Göttern, du kannst mit klugen Reden die Vögel vom Himmel holen, wenn du es darauf anlegst. Dann kämpfe diese Hälfte des Krieges. Entwickele mit deiner Gerissenheit einen Plan, wie wir die Heere des Hochkönigs zurücktreiben und unser Land und unser Volk vor Hell Yillings Schwert retten können. Das könnte mich vor der Scham bewahren, mich auf Großmutter Wexens Übereinkunft einlassen zu müssen.«
Skara sah zu Boden auf das aufgeschüttete Stroh und fühlte, wie ihre Wangen brannten. »Ich wünschte, das könnte ich.« Aber sie war ein Mädchen, das gerade siebzehn Winter zählte, und da mochte Bails Blut noch so sehr durch ihre Adern fließen, in ihrem Kopf waren keine heldenhaften Pläne. »Es tut mir leid, Großvater.«
»Mir auch, mein Kind.« König Fynn lehnte sich müde zurück und verlangte nach mehr Bier. »Mir auch.«
»Skara.«
Mit einem Ruck erwachte sie aus gequälten Träumen und fand sich umgeben von Dunkelheit. Vor ihr erschien Mutter Kyres Gesicht, das geisterhaft vom Licht einer flackernden Kerze erhellt wurde.
»Skara, steh auf.«
Verschlafen mühte sie sich, die Pelze zurückzuschlagen. Von draußen erklangen seltsame Geräusche. Rufe und Gelächter.
Sie rieb sich die Augen. »Was ist denn los?«
»Du musst mit dem Blauen Jenner gehen.«
Jetzt sah Skara den Händler in der Tür zu ihrer Schlafkammer lauern. Eine schwarze Gestalt mit struppigem Bart, die Augen gesenkt.
»Was?«
Mutter Kyre zog sie am Arm hoch. »Du musst gehen. Jetzt.«
Skara wollte widersprechen. Wie sie das immer tat. Doch dann sah sie die Miene der Gelehrten und gehorchte sofort, ohne ein weiteres Wort. Sie hatte noch nie zuvor erlebt, dass Mutter Kyre Angst gehabt hatte.
Es klang draußen auch nicht mehr nach Gelächter. Eher nach Geschrei. Wilde Stimmen. »Was ist passiert?«, stieß sie krächzend hervor.
»Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.« Mutter Kyres Augen glitten zur Tür und zurück. »Ich habe Großmutter Wexen vertraut.« Sie drehte Skara den goldenen Reif vom Oberarm. Der, den Bail der Erbauer einst in der Schlacht getragen hatte, und dessen Rubin im Kerzenlicht so dunkel schimmerte wie frisch vergossenes Blut. »Das ist für dich.« Sie hielt das Schmuckstück dem Blauen Jenner hin. »Wenn du schwörst, sie sicher nach Thorlby zu bringen.«
Die Augen des Freibeuters flackerten schuldbewusst, als er den Reif nahm. »Ich schwöre. Einen Sonneneid und einen Mondeid.«
Mutter Kyre nahm Skaras Hände und drückte sie schmerzhaft fest. »Was immer auch passiert, du musst am Leben bleiben. Das ist jetzt deine Pflicht. Du musst am Leben bleiben, und du musst die Führung übernehmen. Du musst für Throvenland kämpfen. Du musst für unser Volk sorgen, falls … falls niemand sonst mehr da ist.«
Skaras Kehle war vor Angst so zugeschnürt, dass sie kaum sprechen konnte. »Kämpfen? Aber …«
»Wie, das habe ich dir beigebracht. Jedenfalls habe ich es versucht. Worte sind Waffen.« Die Gelehrte wischte die Tränen von Skaras Wangen, und erst jetzt merkte sie überhaupt, dass sie weinte. »Dein Großvater hatte recht, du bist tapfer und du bist klug. Aber jetzt musst du stark sein. Du bist kein Kind mehr. Vergiss niemals, dass Bails Blut durch deine Adern fließt. Und jetzt geh.«
Skara tapste in ihrem Nachtkleid zitternd und barfuß hinter dem Blauen Jenner durch die Dunkelheit. Sie hatte Mutter Kyres Lehren so stark verinnerlicht, dass sie sich selbst jetzt, da sie um ihr Leben fürchtete, darüber Sorgen machte, nicht standesgemäß gekleidet zu sein. Flammen, die hinter den schmalen Fenstern flackerten, warfen zuckende Schatten auf den strohbestreuten Boden. Sie hörte erschreckte Schreie. Ein Hund bellte und verstummte plötzlich. Schwere Schläge ertönten, als ob ein Baum gefällt wurde.
Oder als ob Äxte gegen eine Tür schlugen.
Sie schlichen sich in die Gästekammer, wo noch vor ein paar Monaten dicht gedrängt, Schulter an Schulter, die Krieger geschlafen hatten. Jetzt war da nur noch die magere Truppe des Blauen Jenner.
»Was geht da vor sich?«, flüsterte sie und erkannte kaum die eigene Stimme, weil sie so dünn und gebrochen klang.
»Hell Yilling und seine Gefolgsleute sind gekommen«, erwiderte Jenner, »um Mutter Wexens Rechnungen zu begleichen. Yaletoft brennt bereits. Es tut mir leid, Prinzessin.«
Skara fuhr zurück, als er ihr etwas um den Hals schlang. Einen Ring aus gedrehtem Silber mit einer leise klappernden Kette. So, wie ihn das Ingling-Mädchen getragen hatte, das ihr früher die Haare aufsteckte.
»Bin ich eine Sklavin?«, hauchte sie, als Jenner das andere Ende der Kette an seinem Handgelenk befestigte.
»So muss es zumindest aussehen.«
Skara schrak zusammen, als von draußen ein Krachen und das Klappern von Metall ertönte, und Jenner drängte sie gegen die Wand. Er blies die Kerze aus und tauchte den Raum in Dunkelheit. Sie sah, dass er ein Messer zog; Vater Mond schimmerte auf der Schneide.
Jetzt ertönte ein Geheul hinter der Tür, hoch und schrecklich, das eher dem Brüllen von Tieren denn menschlichen Stimmen glich. Skara kniff die Augen zu. Tränen brannten unter ihren Lidern. Sie begann zu beten. Geraunte, stotternde, sinnlose Gebete. Gebete an jeden Gott und keinen.
Tapfer zu sein, das ist nicht schwer, wenn das Letzte Tor so weit weg ist, dass es ganz winzig erscheint; etwas, dem sich nur andere stellen müssen. Jetzt spürte sie Frau Tods kalten Atem an ihrem Hals, und ihr ganzer Mut fror ein. Wie leichtherzig hatte sie am Abend zuvor die Feigheit gegeißelt. Jetzt begriff sie erst, was das eigentlich war.
Ein langgezogener, kreischender Schrei, dann folgte eine Stille, die beinahe schlimmer war als zuvor der Lärm. Sie spürte einen Ruck, der sie nach vorn riss, und Jenners saurer Atem fuhr über ihre Wange.
»Wir müssen gehen.«
»Ich habe Angst«, hauchte sie.
»Ich auch. Aber wenn wir ihnen mutig entgegentreten, können wir uns vielleicht durch kühne Reden die Freiheit ergaunern. Wenn sie uns aber hier finden, wie wir uns verstecken …«
Man kann seine Furcht nur besiegen, indem man sich ihr stellt, hatte ihr Großvater stets gesagt. Wer sich vor ihr versteckt, den überwältigt sie. Jenner drückte die Tür knarrend auf, und Skara schob sich hinter ihm durch den Spalt. Ihre Knie zitterten so stark, dass sie beinahe aneinander schlugen.
Mit dem nackten Fuß trat sie in etwas Feuchtes. Ein Toter saß neben der Tür, und das Stroh rund um ihn herum war schwarz vor Blut.
Borid, so hieß er. Ein Krieger, der ihrem Vater gedient hatte. Er hatte Skara auf seine Schultern gehoben, als sie noch klein gewesen war, damit sie die Pfirsiche pflücken konnte, die im Obstgarten unterhalb der Mauern von Kap Bail wuchsen.
Ihre brennenden Augen glitten in die Richtung, aus der die Stimmen kamen. Über gesplitterte Waffen und geborstene Schilde. Über noch mehr Leichen, verkrampft, ausgestreckt, auf dem Rücken liegend zwischen den geschnitzten, hölzernen Säulen, wegen denen die große Halle ihres Großvaters Der Wald genannt wurde.
Im Licht des flackernden Feuers hatten sich einige Leute versammelt. Vielbesungene Krieger, deren Rüstungen und Waffen und Ringgeld in Flammenfarben schimmerten und deren lange Schatten über den Boden huschten und nach ihr zu fassen schienen.
Mutter Kyre war unter ihnen, und auch Skaras Großvater, der sich seine schlecht sitzende Rüstung hastig übergeworfen hatte; das graue Haar stand ihm schlafzerzaust vom Kopf ab. Ein schlanker Krieger lächelte seine beiden Gefangenen ausdruckslos an. Er hatte ein weiches, hübsches Gesicht mit dem unbekümmerten Ausdruck eines Kindes, und er stand allein, als sei er von einer Bannmeile umgeben, die nicht einmal die anderen Mörder zu betreten wagten.
Hell Yilling, der keinen anderen Gott kannte als Frau Tod.
Seine Stimme hallte fröhlich durch die große Halle. »Ich hatte gehofft, Prinzessin Skara meine Aufwartung machen zu können.«
»Sie ist zu ihrer Cousine Laithlin gereist«, sagte Mutter Kyre. Es war dieselbe Stimme, die Skara an jedem Tag ihres Lebens ruhig belehrt, verbessert und gescholten hatte, aber jetzt schwang ein unvertrauter, angsterfüllter Unterton in ihr mit. »Wo du sie niemals in die Hände bekommen wirst.«
»Oh, wir werden sie auch dort erwischen«, sagte einer von Yillings Kriegern, ein riesiger Kerl mit Stiernacken.
»Schon bald, Mutter Kyre, schon sehr bald«, sagte ein anderer, der einen langen Speer und ein Horn an seinem Gürtel trug.
»König Uthil wird kommen«, beharrte sie. »Er wird eure Schiffe verbrennen und euch zurück ins Meer treiben.«
»Wie will er wohl meine Schiffe verbrennen, wenn sie sicher hinter den starken Ketten von Kap Bail liegen?«, fragte Yilling. »Hinter jenen Ketten, zu denen du mir die Schlüssel anvertraut hast?«
»Grom-gil-Gorm wird kommen«, sagte sie, aber ihre Stimme war zu einem Flüstern verblasst.
»Das hoffe ich sehr.« Yilling streckte beide Hände aus und strich Mutter Kyre das Haar ganz sanft zurück, bis es ihr über die Schultern fiel. »Aber für dich wird das zu spät sein.« Er zog ein Schwert, dessen Knauf ein großer Diamant in einer goldenen Klaue zierte, und der spiegelglatt polierte Stahl funkelte so hell in der Dunkelheit, dass sich kurz ein weißer Lichtblitz in Skaras Augen einbrannte.
»Frau Tod wartet auf uns alle.« König Fynn atmete tief durch die Nase ein und richtete sich stolz auf. Er war nur noch der Schatten des Mannes, der er einst gewesen war. Als er den Blick durch die Halle schweifen ließ, streifte er zwischen den Säulen Skaras Augen, und kurz schien es, als ob er ihr ein ganz leises Lächeln schenkte. Dann fiel er auf die Knie. »Heute wirst du einen König töten.«
Yilling zuckte die Achseln. »Könige oder Bauern. Vor Frau Tod sind wir alle gleich.«
Er stieß Skaras Großvater das Schwert zwischen Hals und Schulter, dass die Klinge bis ans Heft eindrang, dann riss er sie wieder heraus, so unvermittelt und tödlich wie ein Blitzschlag. König Fynn stieß nur ein trockenes Krächzen aus, so schnell starb er, und dann stürzte er mit dem Gesicht voran ins Feuer. Skara stand wie angewurzelt da und hielt den Atem an. Auch ihre Gedanken blieben plötzlich stehen.
Mutter Kyre starrte auf den Leichnam ihres Herrn. »Großmutter Wexen gab mir ihr Wort«, stammelte sie.
Pitt-patt, pitt-patt – so tropfte das Blut von der Spitze von Yillings Schwert. »Das Wort bindet nur den Schwachen.«
Mit dem weichen Schwung eines Tänzers fuhr er herum, und der Stahl flackerte in den Schatten. Eine dunkle Fontäne schoss durch die Luft, und Mutter Kyres Kopf schlug auf den Boden; ihr Körper fiel in sich zusammen, als hätte er keinerlei Knochen.
Skara keuchte. Es musste ein Albtraum sein. Ein Fieberwahn. Am liebsten hätte sie sich hingelegt. Ihre Augenlider flatterten, ihr Körper wurde schlaff, aber der Blaue Jenner hielt sie immer noch schmerzhaft fest am Arm gepackt.
»Du bist eine Sklavin«, zischte er und schüttelte sie hart. »Du sagst kein Wort, und du verstehst kein Wort.«
Sie versuchte, ihre wimmernden Atemzüge zu unterdrücken, als leichte Schritte auf sie zuhielten. Irgendwo, weiter entfernt, hatte jemand zu schreien begonnen und hörte nicht mehr auf.
»Aber, aber«, ertönte Hell Yillings sanfte Stimme. »Diese zwei hier gehören nicht hierher.«
»Nein, Herr. Ich bin der Blaue Jenner.« Skara konnte nicht begreifen, wie der alte Schurke so freundlich, sicher und vernünftig klingen konnte. Hätte sie den Mund aufgetan, sie hätte nur keuchende Schluchzer hervorgebracht. »Ich bin ein Händler, der die Lizenz des Königs bei sich trägt und kürzlich erst vom Göttlichen Fluss zurückgekehrt ist. Wir waren unterwegs nach Skekenheim und kamen in einem Sturm vom Kurs ab.«
»Du musst recht gut mit König Fynn befreundet sein, dass du Gast in seiner Halle warst.«
»Ein weiser Händler ist mit jedem gut Freund, Herr.«
»Du schwitzt, Blauer Jenner.«
»Ehrlich gesagt, du jagst mir auch verdammt viel Angst ein.«
»Wahrlich, ein weiser Händler.« Skara spürte eine sanfte Berührung unter dem Kinn, und ihr wurde der Kopf in den Nacken geschoben. Sie sah dem Mann ins Gesicht, der gerade die beiden Menschen getötet hatte, die sie großgezogen hatten. Sein ausdrucksloses Lächeln war noch von ihrem Blut befleckt und so nahe, dass sie die Sommersprossen hätte zählen können, die seine Nase umwölkten.
Yilling schürzte die vollen Lippen und stieß einen hohen, klaren Pfiff aus. »Und ein Händler mit ziemlich guter Ware.« Er fuhr ihr mit einer Hand durchs Haar, wickelte sich eine Strähne um seine langen Finger und schob es aus ihrem Gesicht, sodass die Spitze seines Daumens über ihre Wange fuhr.
Du musst am Leben bleiben. Du musst die Führung übernehmen. Sie kämpfte ihre Angst nieder und ihren Hass. Zwang sich, keine Regung zu zeigen. Das Gesicht einer Hörigen, das nichts preisgab.
»Würdest du mir die hier verkaufen, Händler?«, fragte Yilling. »Als Preis für dein Leben vielleicht?«
»Nur zu gern, Herr«, sagte der Blaue Jenner. Skara hatte gleich gewusst, dass es dumm von Mutter Kyre gewesen war, diesem Dreckskerl zu vertrauen. Schon holte sie Luft und wollte ihn verfluchen, da bohrten sich seine knorrigen Finger noch tiefer in ihren Arm. »Aber das kann ich nicht.«
»Nach meiner Erfahrung – und ich habe viel Erfahrung, blutige dazu …« Hell Yilling hob sein rotes Schwert und legte es liebkosend an seine Wange, wie ein kleines Mädchen seine Lieblingspuppe, während der Diamant am Knauf rot und orange und gelb aufflammte. »Nach meiner Erfahrung jedenfalls vermag eine scharfe Klinge ein dickes Seil aus Kann-ich-nicht leicht zu zerschlagen.«
Der Adamsapfel hüfte an Jenners graubärtiger Kehle auf und ab, als er schluckte. »Ich kann sie nicht verkaufen. Sie ist ein Geschenk. Von Fürst Varoslaf von Kalyiv an den Hochkönig.«
»Ach.« Yilling ließ das Schwert langsam sinken, das dabei einen dicken roten Streifen auf seiner Wange hinterließ. »Soweit ich gehört habe, ist Varoslaf ein Mann, den der weise Krieger fürchtet.«
»Jedenfalls hat er ziemlich wenig Humor, das steht mal fest.«
»Meist schwindet der Humor eines Mannes im gleichen Maße, in dem seine Macht wächst.« Yilling sah grimmig zu den blutigen Fußspuren, die er zwischen den Säulen hinterlassen hatte. Zwischen den Leichen. »Der Hochkönig ist von ähnlicher Natur. Es wäre nicht klug, ein Geschenk an sich zu reißen, das von einem zum anderen gehen sollte.«
»Genau das habe ich auf dem ganzen Weg von Kalyiv bis hierher schon gedacht«, sagte Jenner.
Hell Yilling schnippte so laut mit den Fingern, dass es wie ein Peitschenknall klang, und gleichzeitig blitzte jungenhafte Begeisterung in seinen Augen auf. »Ich weiß, was wir tun! Wir werfen eine Münze. Bei Kopf kannst du dieses hübsche Ding nach Skekenheim bringen, damit sie dem Hochkönig die Füße wäscht. Bei Zahl bringe ich dich um und finde eine bessere Verwendung für sie.« Er schlug Jenner auf die Schulter. »Was meinst du, mein neuer Freund?«
»Ich würde sagen, dass Großmutter Wexen das übel nehmen könnte«, sagte Jenner.
»Sie nimmt alles übel.« Yilling lächelte breit, und die glatte Haut um seine Augen legte sich in freundliche Fältchen. »Aber ich unterwerfe mich lediglich dem Willen einer einzigen Frau. Und zwar weder Großmutter Wexen noch Mutter Meer oder Mutter Sonne, nicht einmal Mutter Krieg.« Mit einer schnellen Bewegung schleuderte er ein Geldstück hoch hinauf in die heilige Höhe der Waldhalle, und das Gold blitzte, als es sich drehte. »Nur Frau Tod.«
Mit schnellem Griff fing er es wieder auf. »König oder Bauer, hochwohlgeboren oder von einfacher Herkunft, stark oder schwach, weise oder unvernünftig. Frau Tod wartet auf uns alle.« Damit öffnete er die Finger, und die Münze schimmerte auf seiner Handfläche.
»Ha.« Der Blaue Jenner betrachtete sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Dann wird sie wohl noch ein bisschen länger auf mich warten müssen.«
Sie eilten durch die Ruinen von Yaletoft, während der heiße Wind, der sie umwehte, flammendes Stroh mit sich trug, und die Nacht vor Schreien und Betteln und Weinen überkochte. Skara hielt die Augen auf den Boden gerichtet, wie eine Sklavin es eben tat, und nun, da niemand mehr da war, der ihr befehlen würde, sich aufrecht zu halten, schmolz ihre Angst und machte langsam Platz für brennende Schuldgefühle.
Am Hafen sprangen sie auf Jenners Schiff und stießen ab. Die Besatzung raunte Dankesgebete an Vater Friede, weil sie von dem Gemetzel verschont worden war, und die Riemen knarrten in einem gleichmäßigen Rhythmus, als sie zwischen den Booten der Plünderer auf die offene See hinausglitten. Skara war zwischen der Ladung zusammengesunken, und die Schuld ging allmählich in tiefe Trauer über, während sie zusah, wie die Flammen König Fynns schöne Halle verschlangen und ihr ganzes früheres Leben mit sich nahmen, wie sich der große, geschnitzte Giebel schwarz vor dem Feuer abhob und dann in einem wirbelnden Funkenregen in sich zusammenfiel.
Der helle Brand, der alles verschlang, was sie je gekannt hatte, wurde am Horizont immer kleiner, bis Yaletoft nur noch als eine Reihe von Flammentupfern in dunkler Entfernung zu erkennen war. Das Segeltuch knatterte, als Jenner befahl, Kurs nach Norden zu nehmen, nach Gettland. Skara stand da und blickte zurück, auf die Vergangenheit, und die Tränen trockneten auf ihrem Gesicht, als ihre Trauer zu einem kalten, harten, eisernen Gewicht aus Wut erstarrte.
»Ich werde Throvenland befreien«, flüsterte sie und ballte die Fäuste. »Und ich werde die Halle meines Großvaters wieder aufbauen und Hell Yillings Leichnam den Krähen überlassen.«
»Erst einmal sollten wir dafür sorgen, dass du am Leben bleibst, Prinzessin.« Jenner nahm ihr das Halseisen ab, und dann legte er ihr seinen Mantel um die zitternden Schultern.
Sie sah zu ihm hoch und rieb sich die Druckstellen, die der Silberdraht hinterlassen hatte. »Ich habe dich falsch eingeschätzt, Blauer Jenner.«
»Dein Urteil war durchaus richtig. Und ich habe noch viel Schlimmeres getan als das, was du dir ausgemalt hast.«
»Wieso riskierst du dann dein Leben für mich?«
Er schien kurz nachzudenken und kratzte sich am Kinn. Dann zuckte er die Achseln. »Weil man das Gestern nicht ändern kann. Nur das Morgen.« Er drückte ihr etwas in die Hand. Bails Armreif, dessen Rubin blutig im Mondlicht schimmerte. »Das ist wohl deiner, nehme ich an.«
Wann werden sie hier sein?«
Vater Yarvi saß im Schneidersitz am Stamm eines Baumes und hatte ein uraltes Buch auf den Knien. Fast hätte man glauben können, er schliefe, wären nicht seine Augen unter den schweren Lidern über die Schriftzeichen geglitten. »Ich bin ein Gelehrter, Koll«, brummte er, »kein Seher.«
Koll betrachtete mit gerunzelter Stirn die Opfergaben auf der Lichtung: geköpfte Vögel, geleerte Bierkrüge und Knochenbündel, die an dünnen Seilen schwangen. Ein Hund, eine Kuh, vier Schafe, sie alle baumelten kopfüber von runenverzierten Ästen, während die Fliegen fleißig um ihre aufgeschlitzten Kehlen summten.
Ein Mann war auch darunter. Nach den Abschürfungen am Hals zu urteilen, war es wohl ein Höriger gewesen, dem man einen ungelenken Kreis aus Runen auf den Rücken gemalt hatte, und dessen Finger den blutigen Boden streiften. Ein schönes Opfer für Jenen, der den Samen keimen lässt, wahrscheinlich von einer reichen Frau, die sich ein Kind wünschte.
Koll mochte solche heiligen Orte nicht. Sie gaben ihm das Gefühl, beobachtet zu werden. Zwar hielt er sich für einen ehrlichen Kerl, aber schließlich hatte jeder seine Geheimnisse und seine Zweifel.
»Was ist das für ein Buch?«, fragte er.
»Eine Abhandlung über Albenrelikte, die vor zweihundert Jahren von Schwester Slodd von Reerskroft verfasst wurde.«
»Noch mehr verbotenes Wissen, hm?«
»Es stammt aus einer Zeit, da der Gelehrtenkreis noch bestrebt war, mehr Wissen zu erlangen, anstatt es zu unterdrücken.«
»Nur das, was bekannt ist, kann beherrscht werden«, zitierte Koll leise.
»Und jede Art von Wissen, wie jede Art von Macht, kann in den falschen Händen gefährlich sein. Es kommt stets darauf an, wie man es einsetzt.« Damit befeuchtete Vater Yarvi die Spitze des einzigen, noch dazu verkrüppelten Fingers seiner verdorrten linken Hand und blätterte damit um.
Koll sah weiter grimmig zum ruhigen Wald hinüber. »Mussten wir schon so früh hier sein?«
»Die Schlacht gewinnt gewöhnlich jener, der als Erster an Ort und Stelle ist.«
»Ich dachte, wir sind zu Friedensverhandlungen gekommen?«
»Friedensverhandlungen sind das Schlachtfeld des Gelehrten.«
Koll stieß laut und mit flatternden Lippen die Luft aus. Dann hockte er sich auf einen Baumstumpf am Rand der Lichtung, wobei er vorsichtigen Abstand zu den Opfergaben hielt, zückte sein Messer und begann, das Stück Eschenholz zu bearbeiten, das er bereits grob in die richtige Form gebracht hatte. Jene, die den Amboss schlägt, den Hammer hoch erhoben. Ein Geschenk für Rin, das sie bekommen sollte, wenn er wieder nach Thorlby zurückkehrte. Falls er zurückkehrte und nicht selbst schon bald auf dieser Lichtung von einem Ast baumelte. Wieder stieß er mit fast geschlossenen Lippen einen lauten Seufzer aus.
»Die Götter haben dir viele Geschenke gemacht«, sagte Vater Yarvi leise, ohne von seinem Buch aufzublicken. »Geschickte Hände und einen scharfen Verstand. Einen hübschen sandfarbenen Haarschopf. Einen etwas zu munteren Sinn für Humor. Aber möchtest du wirklich ein großer Gelehrter werden und an der Schulter von Königen stehen?«
Koll schluckte. »Du weißt, dass ich das will, Vater Yarvi. Mehr als alles andere.«
»Dann musst du noch viele Dinge lernen: zunächst einmal Geduld. Richte deinen flatterhaften Verstand auf ein Ziel, und dann wird es dir eines Tages vielleicht tatsächlich gelingen, die Welt zu verändern – so, wie es sich deine Mutter gewünscht hat.«
Koll zupfte an dem Band um seinen Hals und spürte, wie die kleinen Handelsgewichte klapperten, die daran hingen. Früher hatte seine Mutter Safrit sie getragen; sie hatten sie als eine Kaufmannsfrau ausgezeichnet, die ehrlich abwog. Sei tapfer, Koll. Werde ein so guter Mann, wie es dir nur irgend möglich ist.
»Bei den Göttern, ich vermisse sie immer noch«, raunte er.
»Ich auch. Aber jetzt finde deinen Ruhepunkt und achte genau auf das, was ich tue.«
Koll ließ die Gewichte los. »Meine Augen sind fest auf dich gerichtet, Vater Yarvi.«
»Schließe sie.« Der Gelehrte klappte sein Buch zu, stand auf und bürstete sich die abgestorbenen Blätter von seinem Mantel. »Und lausche.«
Schritte kamen durch den Wald auf sie zu. Koll steckte seine Schnitzerei weg, aber das Messer schob er sich mit der Spitze voran in den Ärmel. Wohlgesetzte Worte mochten wohl die meisten Schwierigkeiten aus dem Weg räumen, aber in den Fällen, in denen das nicht klappte, erwies sich gut geschärfter Stahl oft als probates Mittel.
Unter den Bäumen trat eine Frau hervor, die das Schwarz der Gelehrten trug. Ihr feuerrotes Haar war an den Seiten rasiert, sodass die Runen zu sehen waren, die rund um ihre Ohren in die Kopfhaut tätowiert worden waren; das übrige Haar hatte sie mit Schmierfett zu einer stachligen, hoch aufragenden Flosse geformt. Sie hatte ein hartes Gesicht, das noch kantiger wirkte, weil sie Traumrinde kaute und dabei ihre Kinnmuskeln anspannte; der lilafarbene Saft hatte fleckige Spuren am Rand ihrer Lippen hinterlassen.
»Du kommst früh, Mutter Adwyn.«
»Nicht so früh wie du, Vater Yarvi.«
»Mutter Gundring pflegte mir zu sagen, dass es von schlechten Manieren zeugt, wenn man als Zweiter zu einem Treffen erscheint.«
»Dann hoffe ich, dass du mir meine Unhöflichkeit vergeben wirst.«
»Das hängt von der Botschaft ab, die du von Großmutter Wexen bringst.«
Mutter Adwyn hob ihr Kinn. »Dein Herr, König Uthil, und sein Verbündeter, Grom-gil-Gorm, haben die Eide gebrochen, die sie dem Hochkönig gaben. Sie haben seine in Freundschaft dargebotene Hand beiseitegeschlagen und ihre Schwerter gegen ihn erhoben.«
»Seine in Freundschaft dargebotene Hand drückte uns schwer nieder«, sagte Yarvi. »Seit wir sie vor zwei Jahren abschüttelten, haben wir gemerkt, dass uns das Atmen wieder leichter fällt. Zwei Jahre, in denen der Hochkönig keine Städte eingenommen und keine Schlachten gewonnen hat …«
»Und welche Schlachten haben Uthil und Gorm ausgefochten? Es sei denn, man wollte jene mitzählen, die sie täglich gegeneinander führen.« Adwyn spuckte Traumrindensaft aus dem Mundwinkel, und Koll fummelte unruhig an einem losen Faden herum, der an seinem Ärmel hing, denn schließlich hatte sie mit ihrer Bemerkung nicht ganz unrecht. »Ihr habt viel Glück gehabt, Vater Yarvi, denn das Auge des Hochkönigs war auf den Aufstand der Tiefländer gerichtet. Ein Aufstand, bei dessen Ausbruch du deine Hand im Spiel hattest, wie ich hörte.«
Yarvi blinzelte betont unschuldig. »Kann ich Männer in vielen Hundert Meilen Entfernung dazu bringen, sich zu erheben? Bin ich ein Magier?«
»Manche behaupten das, aber jetzt werden dir weder Zauberei noch Glück oder äußerste Gerissenheit noch helfen. Der Aufstand wurde niedergeschlagen. Hell Yilling hat Zweikämpfe gegen Hokons drei Söhne geführt und sie nacheinander niedergerungen. Seine Schwertkunst ist unvergleichlich.«
Vater Yarvi betrachtete den einen Fingernagel an seiner verdorrten Hand, als wollte er prüfen, ob er ordentlich aussah. »König Uthil würde das vielleicht anders betrachten. Er wäre gegen diese drei Brüder gleichzeitig angetreten und hätte sie in einem einzigen Kampf besiegt.«
Mutter Adwyn ging nicht auf seine großen Worte ein. »Hell Yilling ist ein Mann nach der neuen Art, der auf neue Weise vorgeht. Er hat die Eidbrecher dem Schwert überantwortet, und seine Gefährten haben die Hallen der Aufrührer verbrannt, mit ihren Familien noch darin.«
»Verbrannte Familien.« Koll schluckte. »Toller Fortschritt.«
»Vielleicht habt ihr noch nicht gehört, was Hell Yilling als Nächstes tat?«
»Ich habe gehört, er sei ein ziemlich guter Tänzer«, sagte Koll. »Hat er getanzt?«
»Oh ja. Er ist über die Meerenge nach Yaletoft getanzt und hat dem treulosen König Fynn einen Besuch abgestattet.«
Darauf folgte Schweigen. Ein leichter Wind fuhr raschelnd in die Blätter, ließ die Opfergaben tanzen und jagte Koll einen Schauer über den Rücken. Mutter Adwyn gab beim Kauen ein leises Schmatzen von sich, und sie lächelte.
»Ah. Aus dieser Geschichte kann dein Hofnarr wohl keinen Scherz schmieden. Yaletoft wurde völlig zerstört, König Fynns Halle liegt in Schutt und Asche, und seine Krieger wurden in alle Winde zerstreut.«
Yarvi runzelte ganz leicht die Stirn. »Und der König selbst?«
»Der befindet sich auf der anderen Seite des Letzten Tores, wie auch seine Gelehrte. Ihr Todesurteil war besiegelt, als du sie verlockt hast, deinem kleinen Bündnis der Verdammten beizutreten.«
»Auf dem Schlachtfeld«, raunte Vater Yarvi, »gibt es in der Tat keine Gesetze. Das sind wahrlich neue Vorgehensweisen.«
»Hell Yilling zieht bereits mit Feuer und Schwert durch Throvenland und bereitet dem Heer des Hochkönigs den Weg. Ein Heer, das zahlreicher ist als Sandkörner am Strand. Das größte Heer, seit die Alben der Einen Gottheit den Krieg erklärten. Noch vor Mittsommer werden sie vor den Toren von Thorlby stehen.«
»Die Zukunft ist ein Land im Nebel, Mutter Adwyn. Sie mag uns alle noch überraschen.«
»Um zu wissen, was kommt, muss man kein Seher sein.« Adwyn kramte eine Schriftrolle hervor und zog sie auseinander; das Blatt war dicht mit Runen beschrieben. »Großmutter Wexen erklärt dich und Königin Laithlin zu Hexern und Verrätern. Der Gelehrtenkreis brandmarkt das Papiergeld, das die Königin ausgibt, als Albenzauber, und wer auch immer es benutzt, soll geächtet und verfemt sein.«
Koll zuckte zusammen, als er im Gebüsch einen Zweig knacken hörte.
»Ihr sollt aus der Welt geschnitten werden, ebenso wie Uthil und Gorm und alle, die an ihrer Seite stehen.«
Und jetzt erschienen die Männer. Krieger aus Yutmark, nach den viereckigen Mantelschnallen und den langen Schilden zu urteilen. Koll zählte sechs, und hinter sich hörte er mindestens zwei weitere. Mit Mühe widerstand er dem Impuls, sich umzudrehen.
»Gezogene Schwerter?«, fragte Vater Yarvi. »Auf dem heiligen Boden von Vater Friede?«
»Wir beten zu der Einen Gottheit«, grollte der Hauptmann der kleinen Truppe, der einen goldverbrämten Helm trug. »Für uns ist das hier nichts weiter als ein Stück Erde.«
Koll sah die kantigen Gesichter und die scharfen Klingen an, die auf ihn gerichtet waren, und spürte, wie feucht seine Handfläche war, die den Griff seines verborgenen Messers umklammerte.
»Was für eine böse Klemme«, stieß er mit sich überschlagender Stimme hervor.
Mutter Adwyn ließ die Schriftrolle fallen. »Dennoch, trotz eurer Ränke und trotz eures Verrats bietet Großmutter Wexen euch immer noch Frieden an.« Schattenflecken vom Laub der Baumkronen huschten über ihr Gesicht, als sie die Augen zum Himmel wandte. »Die Eine Gottheit ist wahrlich gütig und sanft.«
Vater Yarvi schnaubte. Koll konnte es kaum glauben, wie furchtlos er sich gebärdete. »Ich vermute, diese Güte hat ihren Preis, nicht wahr?«
»Die Statuen der Hohen Götter sollen zerstört werden, bis an der ganzen Bruchsee nur noch der Einen Gottheit gehuldigt wird«, erklärte Adwyn. »Jeder Vansterländer und jeder Gettländer entrichtet einmal im Jahr Zins an den Gelehrtenkreis. König Uthil und König Gorm müssen ihre Schwerter dem Hochkönig in Skekenheim zu Füßen legen, um Vergebung bitten und neue Eide schwören.«
»Die alten Eide hielten nicht.«
»Deshalb wirst du, wie auch Mutter Scaer und der junge Prinz Druin, als Geisel an den Hof kommen.«
»Hmmmmm.« Vater Yarvi hob seinen verdorrten Finger und tippte sich ans Kinn. »Das ist ja ein verlockendes Angebot, aber Skekenheim ist im Sommer doch oft etwas schwül.«
Ein Pfeil flog an Kolls Gesicht vorüber, so nahe, dass er den Windhauch an der Wange spürte. Er drang dem Anführer der Krieger gerade oberhalb des Schildrands geräuschlos in die Schulter.
Noch mehr Pfeile surrten aus dem Wald. Ein Mann schrie. Ein anderer packte mit beiden Händen einen Pfeil, der in seinem Gesicht steckte. Koll sprang zu Vater Yarvi und zog ihn hinter den dicken Stamm eines heiligen Baumes. Aus dem Augenwinkel sah er einen Krieger, der ihnen mit hoch erhobenem Schwert entgegenstürmte. Dann trat Dosduvoi hervor, groß wie ein Haus, und mit einem Hieb seiner riesigen Axt riss er den Mann von den Beinen und schleuderte ihn zu Boden, sodass die toten Blätter aufstoben.
Schatten zuckten, stachen, hieben und schlugen, trafen hin und wieder auch die Opfergaben und versetzen sie in leise Schwingungen. Einige blutige Augenblicke später hatten sich Mutter Adwyns Leute zu König Fynn auf die anderen Seite des Letzten Tores gesellt. Der Hauptmann lag auf den Knien und keuchte; sechs Pfeile hatten sein Kettenhemd durchbohrt. Er versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, indem er sein Schwert als Krücke nutzte, aber der rote Lebenssaft sickerte mit großer Eile aus ihm heraus.
Leise kam Fror auf die Lichtung geschlichen. In einer Hand hielt er seine schwere Axt, mit der anderen löste er sanft die Schnalle am goldbesetzten Helm des Hauptmanns. Es war ein schönes Stück und würde einen guten Preis bringen.
»Das wird euch noch leidtun«, keuchte der Hauptmann, dem Blut über die Lippen quoll, während ihm das graue Haar an der schweißnassen Stirn klebte.
Fror nickte langsam. »Es tut mir jetzt schon leid.« Damit hieb er dem Hauptmann die Axt in den Scheitel und ließ ihn mit ausgestreckten Armen nach hinten kippen.
»Jetzt kannst du mich wieder aufstehen lassen«, sagte Vater Yarvi und gab Koll einen leichten Stups. Der Junge merkte jetzt erst, dass er den Gelehrten mit seinem Körper geschützt hatte wie eine Mutter ihr kleines Kind.
»Hättest du mich nicht in den Plan einweihen können?«, fragte er, als er sich aufrappelte.
»Was du nicht weißt, kannst du auch nicht verraten.«
»Wolltest du nicht darauf vertrauen, dass ich gut mitgespielt hätte?«
»Vertrauen ist wie Glas«, sagte Rulf, der seinen großen Hornbogen über die Schulter nahm und Yarvi die breite Hand hinstreckte, um ihm aufzuhelfen. »Sieht hübsch aus, aber nur ein Narr würde es mit allzu viel Gewicht belasten.«
Erprobte Krieger aus Gettland und Vansterland hatten die Lichtung von allen Seiten eingeschlossen, und Mutter Adwyn bot eine einsame Erscheinung, wie sie nun allein in der Mitte stand. Koll tat sie beinahe leid, aber er wusste, dass er damit weder ihr einen Gefallen tat noch sich selbst.
»Mir scheint, mein Verrat war besser angelegt als deiner«, sagte Yarvi. »Schon zweimal hat deine Herrin versucht, mich aus der Welt zu schneiden, und trotzdem bin ich noch immer da.«
»Für Verrat bist du ja bekannt, Spinne.« Mutter Adwyn spuckte ihm den violetten Rindensaft vor die Füße. »Was ist jetzt mit dem heiligen Boden von Vater Friede?«
Yarvi zuckte die Achseln. »Oh, Vater Friede ist ein gnädiger Gott. Aber vielleicht wäre es weise, dich als Opfergabe an einem dieser Bäume aufzuhängen und dir die Kehle durchzuschneiden, nur um ganz sicherzugehen.«
»Dann tu das doch«, zischte sie.
»Gnade beweist mehr Macht als Mord. Kehre zurück zu Großmutter Wexen. Sag ihr meinen Dank für die Kunde, die du mir gebracht hast, sie wird sehr nützlich sein.« Er deutete auf die Toten, die jetzt an den Füßen gebunden wurden, um sie kopfüber in die Äste des heiligen Hains hinaufzuziehen. »Sag ihr meinen Dank für die reichen Opfer an die Hohen Götter, denn die werden sie zweifelsohne zu schätzen wissen.« Ruckartig wandte er sich ihr nun mit gebleckten Zähnen zu, und Mutter Adwyns Maske bröckelte; Koll sah ihre Angst. »Und sag der Obersten Gelehrten, dass ich auf ihr Angebot pisse! Ich habe einen Eid geschworen, mich an den Mördern meines Vaters zu rächen. Einen Sonneneid und einen Mondeid. Sage Großmutter Wexen: Solange sie und ich am Leben sind, wird es keinen Frieden geben.«
Ich bring dich um, du halb geschorene Schlampe!«, fauchte Raith spuckend, als er ihr nachsetzte. Rakki packte seinen linken Arm, Soryorn den rechten, und gemeinsam gelang es ihnen, Raith niederzuringen. Darin hatten sie immerhin jede Menge Übung.
Dorn Bathu regte sich nicht. Es sei denn, dass man die Wangenmuskeln mitrechnete, die sich an der rasierten Kopfseite zusammenzogen.
»Jetzt atmen wir alle erst einmal tief durch«, sagte ihr Ehemann, Brand, der die ausgestreckten Hände hin und her bewegte wie ein Schäfer, der seine nervöse Herde beruhigen will. »Wir sollen doch schließlich Verbündete sein, nicht wahr?« Brand war ein riesiger Kerl, groß wie eine Kuh, aber ohne jeglichen Biss. »Nur, damit wir ganz kurz einmal … im Licht stehen.«
Raith ließ jeden wissen, was er davon hielt, indem er sich gerade so weit von seinem Bruder losriss, dass er Brand ins Gesicht spucken konnte. Und auch wenn er ihn leider verfehlte, hatte er immerhin seinen Standpunkt klargemacht.
Dorn verzog abfällig den Mund. »Sieht so aus, als müsste dieser Köter hier von seinem Leid erlöst werden.«
Jeder hat seine wunden Punkte. Dieser Satz traf bei Raith ins Schwarze. Er wurde ganz schlaff, ließ den Kopf seitlich hängen, grinste lässig und zeigte dabei die Zähne, während sein Blick zu Brand hinüberglitt. »Vielleicht sollte ich besser deine feige Alte umbringen?«
Er war stets gut darin gewesen, Kämpfe anzufangen, und er verstand sich auch ziemlich gut darauf, sie zu Ende zu bringen, aber er war nicht im Geringsten darauf vorbereitet, wie schnell Dorn plötzlich direkt vor ihm stand.
»Du bist tot, du milchbärtiges Arschloch!«
Raith duckte sich und zog dabei seinen Bruder und Soryorn in einem Knäuel von Gliedern fast bis auf den Anleger hinunter. Drei Gettländer waren nötig, um Dorn von Raith wegzuziehen – der verbitterte alte Waffenmeister Hunnan, der kahlköpfige Rudergänger Rulf und Brand, der seinen vernarbten Unterarm um den Hals seiner Frau geschlungen hatte. Sie waren alle drei starke Männer, und dennoch taten sie sich dabei deutlich schwer. Dorn gelang es trotz ihrer Anstrengungen, einen verirrten Faustschlag gegen Raiths Kopf zu landen.
»Frieden!«, fauchte Brand, der sich alle Mühe gab, seine um sich schlagende Frau zu bändigen. »Um der Götter willen, Frieden!«
Aber dazu war keiner in der richtigen Stimmung. Schon knurrten sich weitere Männer Beleidigungen entgegen, Gettländer wie Vansterländer. Raith sah, dass überall die Hände an die Schwertgriffe wanderten und sie so fest umklammerten, dass die Knöchel weiß hervortraten, und er hörte das leise Knirschen, mit dem Soryorn sein Messer in der Scheide lockerte. Er konnte riechen, dass es gleich zu einer richtig heftigen Schlägerei kommen würde, die deutlich härter ausfallen würde, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Aber so war das nun mal. Heftige Schlägereien fanden selten innerhalb der Grenzen statt, die man sich zuvor überlegt hatte. Sonst wären es ja keine heftigen Schlägereien gewesen!
Raith bleckte die Zähne zu einem halben Fauchen und einem halben Lächeln, während das Feuer in seiner Brust aufflammte, der Atem heiß an seiner Kehle brannte und sich jeder Muskel spannte.
Es hätte ein Kampf sein können, über den man später Lieder sang, hier am Hafen von Thorlby, hätte sich nicht ausgerechnet jetzt Grom-gil-Gorm durch die zornige Menge gedrängt wie ein riesiger Bulle durch eine Herde blökender Ziegen.
»Das reicht!«, brüllte der König von Vansterland. »Was ist das für ein beschämendes Picken kleiner Vögel?«
Damit war Schluss mit dem Gerangel. Raith schüttelte seinen Bruder ab und grinste sein Wolfsgrinsen, und Dorn riss sich von ihrem Ehemann los und stieß ein paar wilde Flüche aus. Brand stand sicherlich eine ungemütliche Nacht bevor, aber Raith war der Ansicht, dass sich alles bestens entwickelt hatte. Schließlich war er gekommen, um zu kämpfen; mit wem, das war ihm ziemlich egal.
Die glotzenden Gettländer machten Platz, um König Uthil durchzulassen, der sein blankes Schwert in den Armen wiegte. Als guter Vansterländer musste er den König von Gettland selbstverständlich hassen. Aber davon abgesehen wirkte Uthil eigentlich ganz wie ein Mann, den man hätte bewundern können, hart und grau wie eine Eisenstange und mindestens genauso unnachgiebig, bekannt für seine vielen Siege und für seine kargen Worte. Ein Mann, in dessen tief liegenden Augen ein verrücktes Blitzen lag, das davon zu künden schien, dass er an der Stelle, an der die Götter bei einem Menschen normalerweise die Großmut verankert hatten, nur ein kaltes Loch besaß.
»Ich bin enttäuscht, Dorn Bathu«, knirschte er mit einer Stimme rau wie Mühlsteine. »Von dir hätte ich mehr erwartet.«
»Ich bedaure das zutiefst, mein König«, knurrte sie und warf Raith ein paar glühende Dolchblicke zu, bevor sie Brand mit derselben Miene bedachte. Sein gequälter Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass das öfter vorkam.
»Ich hatte nicht mehr erwartet.« Grom-gil-Gorm sah Raith an und hob eine schwarze Augenbraue. »Aber zumindest gehofft.«
»Dann sollten wir uns von denen beleidigen lassen, mein König?«, stieß Raith hervor.
»Eine kleine Beleidigung muss man wegstecken können, wenn man ein Bündnis aufrechterhalten will«, ertönte Mutter Scaers trockene Stimme.
»Unser Bündnis ist ein Schiff auf rauer See«, sagte Vater Yarvi mit diesem honigsüßen Lächeln, das nach einer Kopfnuss schrie. »Wenn ihr es durch Streit zum Kentern bringt, werden wir alle allein ertrinken.«
Raith quittierte das mit einem Knurren. Er verabscheute die Gelehrten mit ihrem doppelzüngigen Gequatsche von Vater Friede und dem allgemein größten Nutzen. Seiner Meinung nach gab es kein Problem, das sich nicht am besten mit einem kräftigen Fausthieb hätte lösen lassen.
»Ein Vansterländer vergisst eine Beleidigung nie.« Gorm schob die Daumen zwischen die Messer, die in seinem Gürtel steckten. »Aber ich habe ziemlich großen Durst, und da wir hier zu Gast sind …« Er richtete sich auf, und die Kette, die aus den Schwertknäufen seiner gefallenen Feinde bestand, bewegte sich, als er die breite Brust vorschob. »Ich, Grom-gil-Gorm, Schwertbrecher und Waisenmacher, König von Vansterland und Lieblingssohn von Mutter Krieg … werde als Zweiter in diese Stadt einziehen.«
Seine Krieger grollten verärgert. Eine Stunde hatten sie mit dem Streit darüber verschwendet, wer als Erster durch die Tore schreiten sollte, und jetzt war diese Schlacht verloren. Ihr König würde den weniger ehrenvollen Platz einnehmen, womit auch ihnen weniger Ehre zukam. Und bei den Göttern, sie legten verdammt viel Wert auf ihre Ehre.
»Eine weise Entscheidung«, sagte Uthil, der die Augen zusammenkniff. »Aber erwarte keine Geschenke dafür.«
»Der Wolf braucht keine Geschenke von den Schafen«, erwiderte Gorm, der diesen Blick ebenso finster erwiderte. König Uthils vertrauteste Krieger schritten selbstbewusst an ihnen vorüber, erfüllt von frischem, völlig unverdientem Hochmut, und ihre vergoldeten Schildbuckel, die Schwertknäufe und das Ringgeld blitzten. Raith zeigte die Zähne und spuckte ihnen vor die Füße.
»Ein echter Hund«, zischte Hunnan abfällig, und Raith hätte den alten Drecksack am liebsten angesprungen und ihm das Hirn gleich hier unten am Kai herausgeprügelt, hätte Rakki ihn nicht fest an sich gezogen und ihm »Ganz ruhig, Bruderherz, ganz ruhig« ins Ohr geraunt.
»Blauer Jenner! Das ist aber eine Überraschung!«
Raith warf einen grimmigen Blick über seine Schulter und sah, wie Vater Yarvi von einem alten Seebären mit meerwassergepökeltem Gesicht beiseite gezogen wurde.
»Eine willkommene, hoffe ich doch«, sagte Jenner, der Rulf bei den Händen packte, als seien sie alte Ruderkameraden. »Bist du gekommen, um dir Königin Laithlins Gold zu holen?«
»Ich nehme gerne alles Gold, das mir angeboten wird.« Jenner sah sich um, als wollte er einen geheimen Schatz preisgeben. »Aber es gibt einen besseren Grund für mich, hier zu sein.«
»Einen besseren als Gold?«, fragte Rulf und grinste. »Dann hast du dich aber ganz schön verändert.«
»Einen viel besseren.« Mit diesen Worten schob Jenner eine junge Frau nach vorn, die sich zuvor hinter seinem Rücken verborgen hatte, und Raith war es, als hätte man ihm ein Messer in den Schädel gerammt, so schnell sickerte alle Kampfeslust aus ihm heraus.
Sie war klein und schlank und ertrank beinahe in einem fleckigen, ramponierten Mantel. Ihr Haar war eine wilde Wolke dunkler Locken, die von der salzigen Brise zerzaust wurde. Ihre Haut war blass und rund um die Nasenlöcher leicht gerötet, und die Wangenknochen traten so fein geschwungen und deutlich hervor, dass es schien, als würden sie bei einem harschen Wort zerbrechen.
Unvermittelt sah sie Raith mit ihren großen Augen an, dunkel und grün wie Mutter Meer an einem stürmischen Tag. Sie lächelte nicht. Sie sagte nichts. Traurig und ernst erschien sie ihm und voller Geheimnisse, und jedes Härchen an seinem Körper richtete sich auf. Nicht einmal ein Axthieb gegen den Kopf hätte ihm derart das Bewusstsein rauben können wie dieser eine Blick.
Ganz kurz stand Vater Yarvi der Mund dümmlich offen. Dann klappte er ihn laut hörbar zu. »Rulf, bring den Blauen Jenner und seinen Gast zu Königin Laithlin. Sofort.«
»Eben warst du noch bereit, jemanden dafür zu ermorden, um als Erster in die Stadt gehen zu dürfen, und jetzt stehst du hier herum, als wolltest du gar nicht mehr hinein?« Rakki sah ihn an, und Raith stellte fest, dass Gorms Männer sich den Gettländern angeschlossen hatten und sich besonders in die Brust warfen, um die Schmach auszugleichen, dass sie nur an zweiter Stelle kamen.
»Wer war das Mädchen?«, stieß er rau hervor und fühlte sich so benommen wie jemand, der aus einem tiefen, bierseligen Schlummer gerissen wird.
»Seit wann interessierst du dich für Mädchen?«
»Seit ich dieses hier gesehen habe.« Blinzelnd versuchte er, sie in der Menge wiederzufinden, um den beiden beweisen zu können, dass er sich sie nicht eingebildet hatte, aber sie war verschwunden.
»Das muss aber eine echte Schönheit gewesen sein, wenn sie dich von einem Streit abgelenkt hat.«
»Eine Schönheit, wie ich sie noch nie zuvor gesehen habe.«
»Entschuldige, Bruderherz, aber wenn es um Frauen geht, dann hast du auch noch nicht allzu viel gesehen. Du bist der Kriegsheld, schon vergessen?« Rakki grinste, als er Grom-gil-Gorms großen Schild hochstemmte. »Der Frauenheld bin ich.«
»Wie du mir ja dauernd unter die Nase reiben musst.« Raith schulterte das schwere Schwert des Königs und machte sich daran, seinem Bruder zu den Toren von Thorlby zu folgen. Bis er die gewichtige Hand seines Herrn auf der Schulter spürte, die ihn zurückhielt.
»Du hast mich enttäuscht, Raith.« Der Schwertbrecher zog ihn nahe an sich heran. »Diese Stadt hier ist voller Leute, die man sich besser nicht zu Feinden macht, aber ich fürchte, in Königin Laithlins Wahlschild hast du dir unter allen die übelste Gegnerin ausgesucht.«
Raith verzog grimmig das Gesicht. »Sie macht mir keine Angst, mein König.«
Gorm versetzte ihm eine heftige Ohrfeige. Oder vielmehr etwas, das bei Gorm als Ohrfeige galt. Für Raith fühlte es sich an, als hätte er einen Schlag mit einem Ruderblatt abgekriegt. Er taumelte, aber der König packte ihn und zog ihn noch näher zu sich heran. »Mich stört nicht, dass du versucht hast, ihr wehzutun, sondern vielmehr, dass es dir nicht gelungen ist.« Er schlug noch einmal zu, von der anderen Seite, und Raiths Mund füllte sich mit salzig schmeckendem Blut. »Ich will keinen Hund, der kläfft. Ich will einen Hund, der zubeißt. Einen, der tötet.« Raith empfing einen dritten Hieb, und ihm wurde schwindlig. »Ich fürchte, da ist noch ein Hauch von Milde in dir, Raith. Zerstöre ihn, bevor er dich zerstört.«
Abschließend fuhr Gorm seinem Schwertträger mit der Hand über den Kopf, so wie es ein Vater bei seinem Sohn tun mochte, oder vielleicht auch ein Jäger bei seinem Hund. »Für mich kannst du nie blutrünstig genug sein, mein Junge. Das weißt du doch wohl.«
Der Kamm aus poliertem Walfischknochen fuhr wusch-wusch-wusch durch Skaras Haar.
Prinz Druins Spielzeugschwert schlug klack-klack-klack gegen eine Truhe, die in der Ecke stand.
Königin Laithlins Stimme ertönte bla-bla-bla, endlos und unaufhörlich. Als ob sie spürte, wenn sie auch nur einen kurzen Augenblick des Schweigens zuließ, dann würde Skara zu schreien beginnen, schreien und schreien, und nie wieder aufhören.
»Draußen vor dem Fenster dort, im Süden der Stadt, lagern die Krieger meines Mannes.«
»Wieso haben sie uns nicht geholfen?«, hätte Skara am liebsten herausgebrüllt, als sie wie betäubt auf die vielen Zelte starrte, aber wie immer quollen stattdessen vernünftige Worte aus ihrem Mund. »Das müssen sehr viele sein.«
»Zweieinhalbtausend treue Gettländer, die aus allen Ecken des Reiches zusammengekommen sind.«
Skara fühlte, wie Königin Laithlins starke Finger ihren Kopf ganz leicht und sanft, aber unnachgiebig drehten. Prinz Druin stieß ein helles, kindliches Kriegsgeheul aus und griff nun den Wandteppich an. Der Kamm nahm sein zisch-zisch-zisch wieder auf, als sei eine makellose Haartracht die Lösung aller Probleme.
»Vor dem Fenster dort drüben, im Norden, lagert Grom-gil-Gorm.« Die Feuer glommen in der heraufziehenden Dämmerung und breiteten sich über die dunklen Hügel aus wie die Sterne auf dem Himmelstuch. »Zweitausend Vansterländer in Sichtweite der Tore von Thorlby. Ich hätte nie gedacht, dass ich so etwas je erleben würde.«
»Jedenfalls nicht mit ungezogenen Schwertern«, warf jetzt Dorn Bathu von der anderen Seite des Zimmers ein, und sie sagte das mit demselben Schwung und derselben Härte, mit denen ein Krieger eine Axt schleudern mochte.
»Am Hafen habe ich einen Streit beobachtet …«, sagte Skara leise.
»Ich fürchte, das wird kaum der letzte gewesen sein.« Laithlin schnalzte missbilligend mit der Zunge, während sie eine Klette auskämmte. Skaras Haar war stets ungebärdig gewesen, aber die Königin von Gettland ließ sich nicht von ein paar störrischen Locken abschrecken. »Morgen wird es eine große Beratung geben. Was so viel heißt wie fünf volle Stunden Reibereien. Wenn wir das überstehen, ohne dass es Tote gibt, dann würde ich von einem Sieg sprechen, über den man Lieder machen kann. So, schau einmal.«
Und Laithlin drehte Skaras Kopf zum Spiegel.
Die schweigenden Hörigen der Königin hatten sie gebadet und abgeschrubbt und ihr verdrecktes Nachtgewand gegen ein Kleid aus grüner Seide getauscht, einem schönen Stoff, der wahrscheinlich den langen Weg von der Ersten der Städte gekommen war; das Gewand hatten sie schnell so umgearbeitet, dass es ihr passte. Es war am Saum mit Goldfaden bestickt und konnte mit den schönsten Kleidern mithalten, die sie je getragen hatte, und Skara hatte schon einige wirklich schöne Stücke besessen. So viele, von Mutter Kyre so sorgfältig auf sie zugeschnitten, dass sie manchmal eher das Gefühl hatte, die Gewänder würden sie tragen und nicht umgekehrt.
Sie war von starken Mauern umgeben, von starken Kriegern, Sklaven und Überfluss. Eigentlich hätte sie unglaublich erleichtert sein müssen. Aber wie ein Wettläufer, der sich kurz ausruhen will und feststellt, dass er nicht wieder auf die Beine kommt, führten all die Annehmlichkeiten nur dazu, dass Skara sich schwach, verwirrt und schmerzhaft aufgewühlt fühlte, äußerlich und innerlich angeschlagen, als sei sie ein einziger großer blauer Fleck. Beinahe wünschte sie sich auf das Schiff des Blauen Jenner, die Wolfshund, zurück, wie sie zitternd dagesessen und in den Regen gestarrt hatte und dreimal in der Stunde auf den abgeschürften Knien zur Reling gerobbt war, um über die Bordwand zu kotzen.
»Das hier gehörte einst meiner Mutter, König Fynns Schwester.« Laithlin zupfte an dem Ohrring, der aus goldenen Kettchen fein wie Spinnweben bestand, von denen rote Edelsteine beinahe bis auf Skaras Schulter tropften.
»Es ist wunderschön«, brachte Skara krächzend heraus und musste dagegen ankämpfen, einen Schwall Erbrochenes gegen den Spiegel zu spucken. Das erschreckte, zerbrechlich aussehende Mädchen mit den geröteten Augen, das ihr von dort entgegenblickte, erkannte sie kaum. Sie sah aus wie ihr eigener Geist. Vielleicht war sie nie aus Yaletoft entkommen. Vielleicht war sie noch immer dort gefangen, als Hell Yillings Sklavin, und würde es auch immer bleiben.
Auf der anderen Seite des Zimmers sah sie Dorn Bathu, die sich jetzt neben den Prinzen kniete, die Haltung seiner winzigen Hände am Schwertgriff korrigierte und ihm leise erklärte, wie man die Waffe richtig schwang. Die Kriegerin grinste, als der Thronfolger sie hart am Bein traf; die sternförmige Narbe auf ihrer Wange zuckte, und dann wuschelte sie ihm durch sein blassblondes Haar. »Guter Junge!«
Skara konnte an nichts anderes denken als an Hell Yillings Schwert, wie der Diamant am Knauf in der Dunkelheit der Waldhalle aufblitzte, und im Spiegel sah sie, wie sich die Brust des blassen Mädchens hob und senkte, und wie ihre Hände zu zittern begannen …
»Skara.« Königin Laithlin legte ihr die Hände fest auf die Schultern, sah sie mit ihren harten, klugen, graublauen Augen an und holte sie mit einem Ruck zurück in die Gegenwart. »Kannst du mir erzählen, was geschehen ist?«
»Mein Großvater hat auf die Unterstützung seiner Verbündeten gewartet.« Die Worte blubberten so flach und betonungslos aus ihrem Mund wie das Summen einer Biene. »Wir haben auf Uthils Krieger gewartet, und auf Gorms. Sie sind nie gekommen.«
»Sprich weiter.«
»Er verlor den Mut. Mutter Kyre überredete ihn, Frieden zu schließen. Sie schickte eine Taube, und ein Adler kam mit Großmutter Wexens Antwort. Wenn wir Kap Bail aufgäben, wenn wir die Krieger von Throvenland nach Hause schickten und dem Heer des Hochkönigs freies Geleit durch unser Land gewährten, dann würde sie uns verzeihen.«
»Aber Großmutter Wexen verzeiht nicht«, sagte Laihtlin.
»Sie sandte Hell Yilling aus, um die Rechnung zu begleichen.« Skara schluckte bittere Spucke hinunter, und im Spiegel bewegten sich die Sehnen am Hals des blassen Mädchens. Prinz Druins kleines Gesicht war verzerrt vor kriegerischer Entschlossenheit, während er weiter mit seinem Spielzeugschwert auf Dorn einschlug und sie die Waffe mit den Fingern wegschob. Seine kleinen Kriegsschreie klangen wie Schmerz- und Wutgeheul in der Dunkelheit, das näher und immer näher kam.
»Hell Yilling hat Mutter Kyre den Kopf abgeschlagen. Meinen Großvater hat er mit dem Schwert durchbohrt und ihn dann ins Feuer stürzen lassen.«
Königin Laithlins Augen weiteten sich. »Du … hast das mit angesehen?«
Die aufstiebenden Funken, der Feuerschein auf dem Lächeln der Krieger, die dicken Blutstropfen, die von Hell Yillings Schwertspitze rannen. Skara holte erschauernd Luft und nickte. »Ich konnte fliehen, getarnt als Sklavin des Blauen Jenners. Hell Yilling hat eine Münze geworfen, um zu entscheiden, ob er auch ihn töten sollte … aber die Münze …«