Blutkreide - Rose-Mary Hein - E-Book

Blutkreide E-Book

Rose-Mary Hein

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Beschreibung

Innerhalb weniger Tage wird die Berliner Kripo mit zwei Morden konfrontiert. Die vierzig Jahre alten Männer wurden brutal hingerichtet, und um beide Opfer hatte der Täter einen Kreidekreis gezogen. Bei seinen eigenwilligen Recherchen stößt Kommissar Rochas, der Neue im Team von Engels und Bär, auf die scheinbar unabhängigen Geschichten zweier Familien. Im Zuge der Ermittlung fügen sich diese dramatisch zusammen und offenbaren den Blick auf eine Tragödie, die bereits zwei Jahrzehnte zurückliegt. Schnell wird klar: Der Mörder befindet sich bereits in unmittelbarer Nähe seines nächsten Opfers. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt.

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Wer auf Rache aus ist, grabe zwei Gräber.

Chinesisches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

1

Mit großem Interesse verfolgte ich seit einiger Zeit die nahezu perfekte Werbekampagne für den neuen Sporttempel. Ob im Radio oder in der Tageszeitung, fast täglich wurde auf das Innovative dieser neuen Filiale hingewiesen. Sogar in der regionalen Abendschau bekam der Betreiber, Paul Kessler, die Möglichkeit, persönlich auf die Besonderheit seiner neuen Geschäftsstelle aufmerksam zu machen. Ich hing an seinen Lippen, registrierte jede seiner Bewegungen. Jahrelang hatte ich vergeblich versucht, meinen Frieden mit den Geschehnissen von damals zu machen. Es gab nur eine einzige logische Konsequenz: Ich musste endlich handeln. Seit dem Tag, an dem ich diesen unumkehrbaren Entschluss gefasst hatte, fand ich meine innere Ruhe wieder.

Paul Kessler war der Erste auf meiner Liste. Die anderen beiden würden folgen. Gedanken darüber, was geschehen würde, wenn sie mich fassten, ließ ich gar nicht zu. Warum auch, es war mir inzwischen schlichtweg egal. Ich hoffte nur, dass ich mein Vorhaben beenden konnte, bevor sie mich aufspüren würden.

Mein zeitlicher Rahmen war eng. Ich durfte mir keinen Fehler erlauben.

Morgen, am Samstag, würde die Eröffnungsfeier in Berlin-Charlottenburg stattfinden. Aber das interessierte mich nur am Rande. Für mich war der Tag davor wichtig.

Schon seit einiger Zeit beobachtete ich das Gebäude, sah die Lieferfahrzeuge und die Handwerker ein- und ausgehen. Einmal gelang es mir, mich unter die Arbeiter zu mischen. Aufmerksam erkundete ich die Räumlichkeiten und verließ, nachdem ich mir einen Überblick verschafft hatte, das geschäftige Treiben. Ich wusste inzwischen, dass Paul Kessler immer als Erster seine Filiale betrat und sie als Letzter verließ. Auch heute früh, am letzten Tag vor der Eröffnung, standen wieder Lieferanten vor der Tür und schleppten einige Kartons in den Keller des neuen Sporttempels.

Nachdem ich genug gesehen hatte, ging ich nachhause, um mich mental auf meinen Plan vorzubereiten. In einigen Stunden würde ich wiederkommen, um endlich zu tun, was getan werden musste.

Ab 15 Uhr beobachtete ich wieder die Eingangstür, mal von meinem Auto aus, das schräg gegenüber stand, dann wieder vorbeischlendernd an den Auslagen der in unmittelbarer Nähe gelegenen Geschäfte. Gegen 17 Uhr war es dann so weit: Kessler öffnete die Tür, um seine letzte Angestellte ins freie Wochenende zu entlassen. Zügig verschwand sie in der Menge. Blitzschnell eilte ich zu der bereits wieder verschlossenen Tür und klopfte an die Scheibe. Kessler drehte sich genervt wirkend um und fragte mich durch die geschlossene Glastür, was ich wolle. Pantomimisch versuchte ich ihm klar zu machen, dass mein Handy im Laden läge. Er schloss auf.

»Im Keller – mein Handy muss im Keller liegen. Heute früh, bei der Lieferung, muss ich es irgendwo abgelegt haben …«

Kessler verdrehte die Augen und gab mir, dem vermeintlichen Lieferanten, durch eine unwirsche Handbewegung zu verstehen, dass ich ihm folgen solle. Er lief – nein, eigentlich stolzierte er, ähnlich einem eitlen Pfau – aufrecht vor mir her. Ich war erstaunt, wie schmal und klein er war. Vermutlich maß er gerade mal knapp 1,70 Meter. Seine halblangen, blonden Haare waren im Nacken zusammengebunden, und er redete unentwegt vor sich hin, ließ mich teilhaben an seiner Einstellung oberflächlichen Menschen gegenüber.

Schlussfolgernd meinte er: »Kein Wunder, dass Sie es in Ihrem Leben nur bis zum Lieferanten gebracht haben. Typen wie Sie lassen vermutlich ständig irgendetwas liegen oder erledigen nur die Hälfte der Arbeiten, die ihnen aufgetragen werden. Mangelndes Verantwortungsgefühl, ja, genau das ist es, mangelndes Verantwortungsgefühl. Und ich sage Ihnen, die Tendenz ist steigend. Es wird immer schwieriger, engagierte, verantwortungsbewusste Mitarbeiter zu finden.«

Sein Gelaber erreichte mich nicht. In meinem Kopf war er bereits tot.

Als wir die Hälfte der Kellertreppe hinuntergegangen waren, versetzte ich ihm einen Tritt, und Kessler stürzte, einen gellenden Schrei ausstoßend, die restlichen Stufen hinunter.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht und weit aufgerissenen Augen starrte er mich an.

Blitzschnell stopfte ich ihm eine Mullwindel in den Rachen und schleifte ihn, während er sich heftig zur Wehr setzte, in den unverschlossenen Kellerraum am Ende des Ganges. Er war ein Leichtgewicht. Seine Arme befestigte ich mit Nylonschnüren am Heizungsrohr, und sobald er sich bewegte, brachte ich ihn mit einem heftigen Tritt zur Räson. Ich stand vor ihm und musterte ihn emotionslos. Schweißnass klebte sein Hemd am Körper. Seine Pupillen schienen vergrößert und unentwegt drangen gurgelnde Geräusche durch den Knebel nach außen.

Bedächtig holte ich das brandneue Jagdmesser sowie die weiße Kreide aus meiner Tasche. Diese Utensilien stammten, ebenso wie die Nylonschnüre, aus dem Fundus des Sporttempels. Ich strich Kessler seine langen, mittlerweile klatschnassen Haare, die ihm die Sicht nahmen, zur Seite und hielt ihm die Kreide vor die Augen. Gespannt beobachtete ich seine Reaktion. Ein paar Sekunden lang hatte ich den Eindruck, er begriff die Bedeutung der Kreide nicht. Das plötzlich einsetzende Wimmern und Winseln allerdings, das kurz darauf nur dumpf durch den Knebel drang, bestätigte mir, dass der Anblick der Kreide durchaus richtig verstanden wurde.

Zufrieden nickte ich ihm zu. Mit ängstlichem Blick verfolgte Kessler jede meiner Bewegungen. Als ich mich mit der Nylonschlinge auf ihn zubewegte und Anstalten machte, sie um sein Bein zu legen, verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Ich hielt einen Moment inne und beobachtete zufrieden die bebende und heulende Kreatur zu meinen Füßen.

Langsam bückte ich mich und befreite Kessler, der zitternd vor mir lag, von seiner urindurchtränkten Hose, legte die Schlinge um sein Bein, zog es straff von seinem Körper weg und befestigte die Schnur ebenfalls an einem Heizungsrohr. Im Zeitlupentempo tat ich das Gleiche mit dem anderen Bein.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte er mich an.

Da ich hinterher keine Abdrücke meiner doch sehr prägnanten Schuhsohlen hinterlassen wollte, benutze ich Plastiktüten als Überschuhe. Dann zog ich das Messer aus dem Schaft und platzierte es eine Handbreit unter seinem Bauchnabel. Spätestens in diesem Moment schien er zu ahnen, was ich vorhatte. Seine Atmung wurde flach und hektisch, seine Muskeln verkrampften, und ich hatte schon die Befürchtung, dass er vorzeitig kollabieren würde. Erfreulicherweise waren meine Bedenken unbegründet.

2

Genervt legte Theo das Skript zur Seite. Er konnte sich beim besten Willen nicht auf diesen Mist konzentrieren. Obwohl er seit einer Woche nichts anderes tat als an der Poolbar herumzulungern, einen Drink nach dem anderen in sich reinschüttend, immer in der Hoffnung, endlich so etwas wie Ruhe und Gelassenheit zu finden. Es geschah das genaue Gegenteil. Am Wetter konnte es nicht liegen, Rügen zeigte sich von seiner besten Seite, eine Postkartenidylle. Kleine Schäfchenwolken zogen spielerisch am azurblauen Himmel entlang. Die See lag spiegelglatt und einladend vor ihm, und dennoch wurde er von Tag zu Tag gereizter. Nichts konnte ihn zufriedenstellen.

Wie immer hatte er in einem der besten Hotels eingecheckt. Seine Suite war groß und luxuriös und das Personal aufmerksam, ohne aufdringlich zu sein. Pauschaltouristen suchte man in diesem Gästehaus vergebens. Eigentlich wollte er sich in Ruhe mit dem neuen Theaterstück beschäftigen, aber was er bis dato gelesen hatte, war Schrott.

Seit ungefähr zwanzig Jahren war er mit Ben befreundet, den er beim gemeinsamen Studium kennengelernt hatte. Sie belegten unter anderem die Fächer Literatur und Theaterwissenschaft, und damals wussten sie beide noch nicht genau, in welche Richtung es konkret gehen sollte. Ben wurde später ein genialer Autor, und er selbst kletterte zielstrebig die Erfolgsleiter nach oben, war als Schauspieler erfolgreich, gab sein Regiedebüt und leitete einige Jahre später als Intendant ein mittelgroßes Theater in Berlin. Er hatte klare Vorstellungen davon, welches künstlerische Profil er diesem Theater geben wollte und mit welchen Stücken und Personen dieses Ziel realistisch zu erreichen war. Ben und er galten in der Fachwelt als das »Dream-Team«. Bei jeder Inszenierung, an der sie beide mitwirkten, war der Erfolg vorprogrammiert.

Was Ben ihm allerdings diesmal präsentierte, spottete jeglicher Beschreibung. Er bereute seine vorschnelle Zusage, die er ihm nach der Lektüre der ersten Seiten gegeben hatte. Kleine Änderungen wurden immer vorgenommen, aber bei diesem Skript bewirkte man mit kleinen Änderungen gar nichts. Das Stück musste komplett umgeschrieben werden. Er war stinksauer, weil diese Zeit bei den Proben fehlen würde.

Der Barkeeper schaute ihn fragend an: »Darf es noch etwas sein?«

Ohne auf die Frage zu reagieren, erhob er sich und steuerte auf den verglasten Lift zu. Er würde jetzt sofort Ben anrufen und ihn auffordern, sich umgehend in Bewegung zu setzen, um morgen hier auf der Matte zu stehen. Erst versuchte er es auf dem privaten Handy. Diese Telefonnummer kannten nur wenige Freunde. Fehlanzeige, es sprang nur die Mailbox an. Auch auf dem offiziellen Handy meldete sich nur eine monotone Stimme, die ihn aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Er legte wütend auf und versuchte es nochmals auf dem privaten Anschluss. In einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, sprach er auf die Mailbox und forderte Ben auf, morgen anzutanzen, um mit ihm gemeinsam das Skript zu besprechen.

Er schob das Handy in seine Hosentasche und überlegte gereizt, was ihm jetzt helfen würde, aus dieser miesen Stimmung herauszukommen.

Die kleine Blonde von gestern Nacht fiel ihm ein. Er überlegte einen kurzen Moment, ob er sie anrufen sollte, entschied sich dann aber für die Brünette mit dem großen Busen. Die Blonde war ihm zu zart besaitet und ging nur widerwillig auf seine Sonderwünsche ein. Die Brünette hingegen war zwar schon Ende dreißig, nicht unbedingt seine Zielgruppe, aber robust und seinen Praktiken nicht abgeneigt. Er wählte ihre Nummer. Im Gegensatz zur Blonden, die sich eher kindlich am Telefon anhörte, meldete sie sich mit melodischer, etwas rauchiger Stimme. Sie versprach, in dreißig Minuten bei ihm zu sein. Theo inspizierte den gut gefüllten Kühlschrank und war zufrieden: Softdrinks suchte man darin vergeblich. Auch diesbezüglich bevorzugte die Brünette harte Sachen. Ihm wurde bewusst, dass er vor sich hinlächelte, und das erste Mal an diesem Tag fühlte er sich gut, sehr gut sogar. Heute würde er den Spaßfaktor eine Stufe höher drehen, und er war gespannt wie weit sie freiwillig mitspielen würde.

Pünktlich klopfte sie an seine Tür. Beim Eintreten bedachte sie ihn mit einem lasziven Lächeln. Mit geschmeidigen Bewegungen, die einer schleichenden Katze ähnelten, bewegte sie sich auf die bereits gefüllten Gläser zu. Unter ihrem durchsichtigen, nachtblauen Seidenkleid trug sie nichts. Sie war routiniert und wusste, wie man ihn in Stimmung brachte. Den Drink kippte sie hinunter, ohne einmal abzusetzen. Sie mochte es, wenn man schnell zur Sache kam, alles andere fand sie, ebenso wie er, öde und empfand es als Zeitverschwendung. Er riss ihr brutal das Kleid vom Körper, warf sie auf das runde Bett und griff sich die metallisch blitzenden Handschellen.

Im selben Moment läutete sein Handy: Es war Ben. Diesen Klingelton hatte er Ben zugeordnet. Leise fluchte er vor sich hin, aber er musste rangehen. In seinem Leben gab es unverrückbare Prioritäten, und alles, was seine Arbeit betraf, stand an erster Stelle. Unvermittelt löste er sich von seiner Gespielin und nahm den Anruf entgegen. Die Verbindung war schlecht. Schnarrende Nebengeräusche verhinderten eine verständliche Kommunikation.

Ben brüllte aufgeregt ins Telefon: »Bist du es, Theo? Hörst du mich?«

Er schrie nun ebenfalls. » Ja, ja, ich bin dran!«

»Theo, du musst sofort zurückkommen – Paul ist tot. Paul wurde ermordet! Hast du mich verstanden? Dein Bruder ist tot, er wurde ermordet!«

Theo presste das Telefon an sein Ohr und war unfähig, etwas zu sagen. Nach ihm endlos erscheinenden Minuten fand er seine Stimme wieder und fragte: »Weißt du, was geschehen ist?«

»Ja … Eröffnung … Filiale … Lager … Kreidekreis!« Abgehackt, wie Trommelschläge, drangen die Worte in seinen Schädel, dann war die Verbindung unterbrochen, das Handy fiel zu Boden. Ein Wort brannte sich in sein Hirn und zitternd flüsterte er es vor sich hin: »Kreidekreis – Kreidekreis – Kreidekreis.«

Unvermittelt stand plötzlich seine Gespielin hinter ihm, umschlang ihn mit beiden Armen, schmiegte ihren nackten Körper an den seinen und gurrte verführerisch in sein Ohr: »Schlechte Nachrichten?«

Wie in Trance drehte er sich um und stierte sie entgeistert an; sein Gesicht verzerrte sich zu einer bösartigen Maske.

»Verschwinde, du kleine miese Schlampe!«

Sie wich verängstigt zurück, griff beim Rückwärtsgehen nach ihrem zerrissenen Kleid und bückte sich hastig nach den Schuhen.

»Nun mach schon, verschwinde endlich!«

Er ballte die Faust und bewegte sich auf sie zu. Nur knapp entging sie seinem Schlag. Sie rannte zur Tür, riss sie auf und konnte um Haaresbreite seinem erneuten Hieb entgehen. Angewidert schlug er die Tür zu, fummelte ungeschickt eine Zigarette aus der Packung, zündete sie mit zittrigen Händen an und zog den Rauch tief in seine Lungen. In seinem Kopf dröhnte und pochte es: Kreidekreis – Kreidekreis. Sein Herz raste, Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und ihm wurde augenblicklich bewusst, dass ihn die Vergangenheit eingeholt hatte.

Gnadenlos schrie sie nach Vergeltung.

3

Ben hielt noch eine Weile das Telefon an sein Ohr gedrückt und rief Theos Namen, bis er endlich kapierte, dass die Verbindung unterbrochen war. Er war sich nicht sicher, welche Information bei Theo wirklich angekommen war. Dass sein Bruder tot ist, hatte er wohl begriffen, dass er aber ermordet wurde, schien er nicht mehr verstanden zu haben.

Ben stand aufgewühlt zwischen den anderen Gästen, auf deren Gesichtern sich das blanke Entsetzen spiegelte. Es wurde leise getuschelt und einige der Frauen weinten. Die Polizei nahm von allen Anwesenden die Personalien auf, erkundigte sich, in welchem Verhältnis sie zu dem Opfer standen und ob sie irgendetwas Ungewöhnliches beobachtet hätten. Danach durften die Befragten den Raum verlassen, sollten aber weiterhin erreichbar sein. Ungefähr fünfzig Gäste waren eingeladen worden, da aber ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, wer schon da war – und wer nicht. Jederzeit hätte sich auch ein nicht geladener Gast Einlass verschaffen können.

Die Eröffnungsfeier des neuen Sporttempels des exorbitanten Paul Kessler, mitten in Berlin, wollte sich niemand entgehen lassen. Kessler war einer der ganz Großen in diesem Metier, und inzwischen befanden sich in fast jeder größeren Stadt Deutschlands sowie in Italien, Spanien und Frankreich Filialen seiner Sportgeschäfte, die zu Recht den Namen »Sporttempel« trugen. Dort konnte man so gut wie alles, was mit Sport und Camping zu tun hatte, erwerben. Zu jeder Filiale gehörte ein Fitness-Studio, und wer wollte, konnte bei ihm auch Kletter-, Reit- und Tauchkurse buchen. Das Angebot war vielseitig und innovativ.

Ben stand noch immer wie angewurzelt neben dem üppig gefüllten Büfett, umklammerte das halb volle Whiskyglas und starrte vor sich hin. Er verfluchte seine hirnrissige Entscheidung, doch noch zur Eröffnung hergekommen zu sein. Er hatte absolut keine Lust dazu gehabt, und eigentlich war er nur Theo zuliebe hier. Dieser hatte ihn gebeten, da er selbst auf Rügen weilte, ihn bei der Eröffnungsfeier seines Bruders zu vertreten. Eine Bitte, der Ben nur widerwillig nachkam. Theo wusste genau, dass Paul auf die Gesellschaft Bens noch nie großen Wert gelegt hatte. Ben ging es im umgekehrten Fall ebenso. Die arrogante, überhebliche Wesensart von diesem Kerl war ihm schon immer tierisch auf die Nerven gegangen. Aber anscheinend gab es noch jemand, der ihn nicht ausstehen konnte. Jemand, der ihn nicht nur »nicht gemocht«, sondern gehasst haben musste. Denn nur abgrundtiefer Hass, da war sich Ben sicher, ließ einen Menschen eine derart brutale Tat begehen. Er bekam den Anblick des geschundenen Körpers nicht aus dem Kopf: das im Todeskampf schmerzverzerrte Gesicht und den weißen, an eine Babywindel erinnernden Knebel, der jeden Schrei im Ansatz erstickt haben musste; Arme und Beine, die von stabilen Nylonschnüren vom Körper weggezurrt und deren Enden an Heizungsrohren verankert waren. Der Unterkörper Pauls war entblößt und an der Stelle seines männlichen Attributs befand sich eine undefinierbare, breiige Masse.

»Herr Seller, Sie sind doch Ben Seller?«

Die tiefe, sonore Stimme Gregors riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ich bin Kriminalhauptkommissar Gregor Bär. Wie ich von den Kollegen unterrichtet wurde, haben Sie das Opfer gefunden, und diesbezüglich hätte ich da noch ein paar Fragen an Sie.«

Er forderte Ben auf, ihm zu folgen und lotste ihn zu einem Büroraum, der sich im hinteren Trakt der großen Verkaufshalle befand. Auf dem Weg dorthin mussten sie an der Kellertreppe vorbei, die zum Warenlager sowie zum Tatort führte. Ein Polizist sicherte den Zugang nach unten. Nur die Spurensicherung und die zuständigen Kripobeamten durften ungehindert passieren.

Ben zögerte einen Moment, als er sich in Höhe der Treppe befand, die er vor kurzem noch atemlos und kreidebleich nach oben gehetzt war. Oben angekommen, wollte er schreien, wollte in die Menge brüllen, wollte, dass jemand unverzüglich die Polizei rief. Er brachte keinen Ton über die Lippen. Nur ein trockenes Krächzen drang aus seiner Kehle. Seine Panik blieb nicht unbemerkt, denn plötzlich packten ihn zwei kräftige Arme, die ihn energisch auf einen Stuhl platzierten. Der junge Mann, der vor ihm stand, drückte ihm ein Glas Wasser in die Hand und meinte stirnrunzelnd: »Ihnen ist wohl der Satan persönlich begegnet, Sie sind ja kreidebleich!« Im Flüsterton – der junge Mann musste sich zu ihm hinunterbeugen um überhaupt etwas zu verstehen – hatte Ben ihn aufgefordert, sofort die Polizei zu informieren. Im Keller sei ein Mord geschehen.

Kommissar Bär blieb stehen, als er bemerkte, dass Ben im großen Bogen an der Treppe vorbeieilte, und fragte ihn: »Alles in Ordnung, Herr Seller?«

»Ja, ja, es geht, es ist nur … ich … ich bekomme dieses Bild nicht aus meinem Kopf.«

Gregor nickte verständnisvoll in seine Richtung.

Im Büro angekommen, schloss er die Tür und bat Ben, Platz zu nehmen.

»Herr Seller, es tut mir wirklich leid, dass ich nicht umhinkomme, Sie jetzt befragen zu müssen. Der Anblick des

Ermordeten muss für Sie ein gewaltiger Schock gewesen sein …«

»Ja, ja, allerdings«, unterbrach ihn Ben, »ich denke, den Anblick werde ich so schnell nicht vergessen.«

»Okay, wir machen es kurz.«

Gregor wollte von Ben wissen, in welchem Verhältnis er zu dem Opfer stand, wie lange er heute schon vor Ort gewesen war, und weshalb er nach unten in den Keller gegangen sei.

Ben atmete tief durch und bemerkte erst jetzt, dass er noch immer sein halb gefülltes Whiskyglas in der Hand hielt. Er lehrte den Rest in einem Zug. Geräuschvoll stieß er die Luft aus seinen Lungen und konzentrierte sich auf die Beantwortung der Fragen. »Seit ungefähr 16 Uhr bin ich hier. Ich war einer der ersten Gäste, und als ich kam, waren nur zehn bis fünfzehn Personen anwesend, vielleicht auch zwanzig, na ja, und die drei jungen Leute vom Cateringservice. Als ich mich bei ihnen nach Paul Kessler erkundigte, sagten sie mir, dass sie ihn auch noch nicht gesehen hätten und das sehr ungewöhnlich fanden.«

»Und wie sind Sie zu dieser Einladung gekommen?«

Ben erzählte, dass er seit circa zwanzig Jahren mit dem Bruder des Opfers, mit Theo Kessler, befreundet sei und auch beruflich eng mit ihm zusammenarbeite.

»Und weshalb ist dieser Bruder heute nicht anwesend?«

»Theo befindet sich seit drei Tagen auf Rügen, da er mein Skript in Ruhe durchsehen wollte. Im Herbst beginnt die neue Theatersaison, und es bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Egal, wie auch immer, aus diesem Grund bat er mich, ihn bei der Eröffnung der neuen Filiale seines Bruders zu vertreten. Er wusste auch, dass ich dieser Bitte nur widerwillig nachgekommen bin. Deshalb war ich auch so früh hier. Ich dachte, ich lasse mich kurz blicken und verschwinde unauffällig, wenn der Laden voll ist.«

Gregor hörte ihm aufmerksam zu und fragte, ob es zwischen ihm und dem Opfer Probleme gegeben habe.

»Nein! Ich habe – vielmehr ich hatte – nie ein Problem mit dem. Wir mochten uns einfach nicht. Mir ging die arrogante, hochnäsige Art von diesem Kerl auf die Nerven. Bei dem drehte sich alles immer nur um Geld, Macht und Frauen, er war ein Despot. Sorry, man sollte nicht so über einen Toten sprechen, aber sogar seine erwachsenen Kinder brachen den Kontakt zu ihrem Vater ab.«

Ben redete sich in Rage. Unversehens schaute er Gregor direkt in die Augen und meinte: »Ich schwafle mich hier um Kopf und Kragen, oder? Auch wenn ich diesen Angeber nicht ausstehen konnte, ich habe ihn nicht umgebracht.«

Gregor lehnte sich in seinen Stuhl zurück, lächelte Ben freundlich an und wollte wissen, weshalb er in den Keller gegangen sei.

»Ja, warum wohl?«, entgegnete er gereizt wirkend. »Hier oben gibt es nur eine Toilette und die war besetzt. Ich dachte, vielleicht befindet sich unten noch eine.«

»Und? Haben Sie eine gefunden?«

»Nein! Zwei Türen waren verschlossen, aber die dritte, ganz am Ende des Flurs, ließ sich öffnen. Es war stockdunkel in dem Raum, ich tastete nach dem Lichtschalter, und dann sah ich ihn. Eigentlich nahm ich anfangs nur die gespreizten Beine und die Schnüre wahr, mit denen Arme und Beine vom Körper weggezurrt waren. Dann den Knebel – und das viele Blut. Überall war Blut, und um Paul herum war eine Linie mit Kreide gezogen worden. Er lag in einem Kreidekreis. Dieser Anblick war so irreal.« Ben schluchzte plötzlich auf, hob sein Glas an die Lippen und stellte enttäuscht fest, dass er den Whisky bereits ausgetrunken hatte.

»Und was taten Sie dann?«

Ben stierte blicklos vor sich hin und wiederholte fast tonlos die Frage: »Ja, was tat ich dann? Ich rannte nach oben, oder besser gesagt, ich stolperte die Treppen hoch. Irgendjemand muss dann die Polizei angerufen haben. Ich war es nicht, aber Theo, ja, Theo habe ich angerufen. Die Verbindung war schlecht, aber ich dachte, er sollte unbedingt wissen, dass sein Bruder tot ist.«

»Herr Seller, dann können wir davon ausgehen, dass Herr Kessler in Kürze wieder in Berlin sein wird? Sollten Sie ihn sehen, geben Sie ihm bitte meine Karte. Er möchte sich unverzüglich im Dezernat melden.«

Er ließ sich von Ben noch Theos Kontaktdaten geben, und als dieser schon fast den Raum verlassen hatte, fragte er noch: »Kennen Sie jemand im Bekanntenkreis des Opfers, dem Sie diese abscheuliche Tat zutrauen würden?«

Ben drehte sich zu ihm um, schaute ernst und entgegnete: »Nein, er war zwar nicht sonderlich beliebt, die Gründe dafür nannte ich Ihnen ja bereits, aber deshalb bringt man doch niemand um. War es das, kann ich jetzt gehen?«

»Ja, ja, das können Sie.«

Nachdenklich schaute ihm Gregor hinterher. Er musste diesem Ben Seller recht geben. Um jemand derart hinzurichten, denn diese Inszenierung glich einer Hinrichtung, brauchte es mehr als nur Antipathie. Während er noch seinen Gedanken nachhing und sich einige Notizen machte, wurde schwungvoll die Tür aufgerissen.

»Wie weit bist du mit der Befragung? Wenn du durch bist, sollten wir langsam gehen, die Durchsicht der Protokolle wird uns heute noch die halbe Nacht kosten.«

Gregor erhob sich und schaute seinen Kollegen, der schlechtgelaunt am Türrahmen lehnte, mitfühlend an. Er wusste, dass Engels heute mit Blondy – eigentlich hieß die Kollegin Katja Blondczycz – ins Theater gehen wollte. Daraus würde nun wieder nichts werden. Er hätte es den beiden wirklich gegönnt. Schon deshalb, weil ihre private Beziehung in letzter Zeit nicht sehr harmonisch zu sein schien.

»Ja, ich bin auch fertig, wir können gehen.«

Als sie an der Treppe, die in den Keller führte, vorbeikamen, stand dort noch immer der Kollege und sorgte überflüssigerweise dafür, dass kein Unbefugter nach unten gelangte. Überflüssig deshalb, weil alle Gäste bereits den Raum verlassen hatten.

Gregor fragte ihn, ob er eine Ahnung habe, wie lange die Spurensicherung noch brauchen werde.

»Genau weiß ich es nicht, das kann sich noch hinziehen. Eine Stunde mit Sicherheit.«

»Und weshalb sichern Sie weiterhin den Zugang zum Keller? Es sind doch nur noch die ermittelnden Beamten und die Spusi vor Ort.«

»Ja, das mag ja sein«, entgegnete der angesprochene Polizeibeamte etwas ungehalten, »aber gleich kommen die Leute vom Cateringservice und holen das Büfett wieder ab.«

Gregor nickte verstehend, warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf das reichlich gefüllte Büfett und eilte dann schnellen Schrittes und mit knurrendem Magen Engels hinterher.

4

Sofort nach Bens Anruf beglich Theo die Hotelrechnung, begab sich zu seinem schwarzen Sportwagen und warf sein Gepäck schwungvoll auf den Rücksitz. Mit überhöhter Geschwindigkeit fädelte er sich in den beschaulich dahinfließenden Verkehr ein. Seinen waghalsigen Überholmanövern folgte jedes Mal ein lautstarkes Hupkonzert verärgerter Verkehrsteilnehmer. Er ignorierte es. In seinem Hirn herrschte Chaos.

»Paul – tot – Kreidekreis« – wirr aneinandergereihte Bilder der Vergangenheit beherrschten seine Gedanken, und innerhalb kürzester Zeit klebte sein Hemd schweißdurchtränkt an seinem Körper. Er hatte Angst, panische Angst. Jakob fiel ihm ein. Ich muss Jakob warnen, Jakob muss unbedingt Bescheid wissen. Einen kurzen Moment überlegte er, ob er ihn anrufen sollte, entschied sich dann aber dagegen und beschloss, geradewegs zu ihm zu fahren. Ja, genau das würde er jetzt tun.

Inzwischen hatte er den Rügendamm passiert und befand sich nun auf der Schnellstraße Richtung Stralsund. Das Gaspedal drückte er bis zum Anschlag durch. Rücksichtslos raste er auf der Überholspur und nötigte die vor ihm fahrenden Verkehrsteilnehmer zum Spurwechsel. Nach knapp drei Stunden hatte er Berlin erreicht. Am Waidmannsluster Damm verließ er die Autobahn und steuerte Lübars an.

Ein paar Minuten später erreichte er den Pferdehof seines Freundes, raste durch die Toreinfahrt und brachte den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Einige Hühner flatterten laut gackernd in alle Richtungen davon.

Jakob, der sich gerade in einem der Ställe aufhielt, stürzte erbost nach draußen, um sich den idiotischen Fahrer vorzuknöpfen. Als er Theo sah, fasste er sich nur verständnislos an den Kopf. »Was ist denn mit dir los? Du fährst, als sei der Teufel hinter dir her.«

Theos Gesichtsausdruck bestätigte seine Vermutung. »Ja, so könnte man es auch nennen. Wo können wir ungestört reden?«

Jakob sah ihn fragend an. »Wieso ungestört? Was ist passiert?«

Theo griff ihn am Oberarm und schob ihn unnachgiebig durch die nächste Stalltür. Bis auf ein paar Pferde, die schnaubend in den Boxen standen, waren sie hier drinnen alleine.

Jakob befreite sich aus dem Klammergriff seines Freundes und sah ihm misstrauisch ins Gesicht. »Nun sag schon, was ist los?«

»Mein Bruder ist tot. Ben rief mich heute an. Ich konnte wegen der schlechten Verbindung nicht alles verstehen. Aber was ich genau verstanden habe, war »Kreidekreis«. Man fand Paul tot in einem Kreidekreis, und wir wissen beide, was das zu bedeuten hat. Wie man ihn umgebracht hat, weiß ich noch nicht. Aber ich bin mir sicher, Paul ist erst der Anfang.«

Jakob lauschte mit weit aufgerissenen Augen den Worten seines Freundes. Seine Knie wurden weich und waren im Begriff nachzugeben. Rücklinks ließ er sich auf einem Strohballen nieder. Verstört starrte er Theo an und flüsterte leise vor sich hin. »Es ist doch alles so lange her. Warum ausgerechnet jetzt, nach über zwanzig Jahren?«

Theo hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es auch nicht, aber eins ist gewiss: Ab sofort sollten wir verdammt wachsam sein.«

5

Er war sich nicht sicher, ob es der Duft des frisch gebrühten Kaffees oder die zärtlichen Berührungen waren, die ihn geweckt hatten. Er schlug die Augen auf und stellte lächelnd fest, dass es von jedem etwas gewesen sein musste. Pierre saß mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf seiner Bettkante und erinnerte ihn an den heute stattfindenden Brunch.

»Los, Johannes, trink noch in Ruhe aus und dann ab unter die Dusche. Soweit ich mich erinnere, legt deine Mutter besonderen Wert auf Pünktlichkeit.«

Johannes schraubte sich in eine bequeme Sitzposition, schlürfte das heiße Getränk und betrachtete schmunzelnd Pierres Aufmachung. Irgendwie bewunderte er ihn dafür, dass es ihm immer wieder innerhalb kürzester Zeit gelang, so auszusehen, als wäre er geradewegs einem Modejournal entsprungen. Lächelnd stellte er die leere Tasse zur Seite und schwang sich aus dem Bett. Dann folgten, wie jeden Morgen, zehn Minuten gezielte Dehnungsübungen, Kniebeugen und leichte Rotationsbewegungen, um seine verschobenen Wirbel in eine erträgliche Position zu manövrieren. Danach humpelte er ins Bad.

Pierre war zwar an den Anblick gewöhnt und schenkte dem Procedere kaum noch Beachtung, aber er konnte nicht verhindern, dass ihn oftmals die kalte Wut überkam, wenn er daran dachte, wie Johannes zu dieser Verletzung gekommen war, die sein Leben so schwer beeinflusste. Allerdings hatte Johannes ihm nie den wahren Sachverhalt anvertraut. Die wichtigen Details dieses düsteren Kapitels verschwieg er ihm.

Pierre warf einen Blick auf die Uhr und trieb seinen Lebenspartner, der noch immer unter der Dusche stand, zur Eile an. Es dauerte dann trotzdem noch eine knappe Stunde, bis auch Johannes mit seinem Outfit zufrieden war, und sie sich endlich auf den Weg machen konnten. Pierre griff sich die kunstvoll verpackte Schüssel mit der Mousse au Chocolat und ignorierte den amüsierten Blick seines Partners.

»Pierre, meine Mutter liebt dich auch ohne diese übertriebene Prozedur. Die Mousse, in eine normale Schüssel gefüllt, würde reichen. Du musst daraus nicht jedes Mal eine Bonbonniere zaubern.«

Pierre zog gelangweilt eine Augenbraue hoch und meinte: »Papperlapapp, lass endlich deinen überflüssigen Kommentar. Auch wenn du dich auf den Kopf stellst, ich werde es weiterhin genau so und nicht anders verpacken. Deine Mutter freut sich sehr darüber.«

Glücklicherweise stand das Auto direkt vor der Tür, was sehr selten der Fall war. Diese nervige Parkplatzsucherei war immer wieder ein Streitpunkt zwischen Pierre und ihm. Wenn es nach Johannes gegangen wäre, würden sie jetzt irgendwo am Rande der Stadt in einem Haus leben. Aber Pierre liebte diese Wohnung am Tegeler Weg und besonders den freien Blick über die Spree. Wenn Johannes das Thema Wohnungswechsel anschnitt, kam Pierre mit seinem unschlagbaren Argument: »Ich möchte nicht umziehen. Dieser Ausblick erinnert mich immer an ›mein Paris‹. Außerdem stört mich die Parkplatzsuche nicht.«

Heute setzte sich ausnahmsweise Johannes ans Steuer. Normalerweise fuhr Pierre, aber niemals hätte er das Kunstwerk aus der Hand gegeben. Johannes half ihm beim Schließen des Sicherheitsgurtes und kommentierte auch nicht die Aufforderung, die eher wie ein Befehl klang: »Bitte fahre vorsichtig – und bremse nicht so abrupt. Du weißt schon: die Mousse.«

Er fädelte sich lächelnd in den fließenden Verkehr Richtung Tegel ein und schneller als erwartet erreichten sie ihr Ziel. Johannes löste den Sicherheitsgurt seines Freundes, hielt ihm wie ein Lakai die Wagentür auf und beobachtete amüsiert, wie sich Pierre umständlich aus dem Auto schraubte, um nicht zu guter Letzt doch noch die kunstvolle Verpackung zu ruinieren.

Die Ankunft der beiden blieb nicht unbemerkt. Elisabeth kam ihnen entgegen, begrüßte ihren Sohn mit einer flüchtigen Umarmung, um sich danach mit übertriebener Freude – so empfand es zumindest Johannes – Pierre und der liebevoll verpackten Mousse zu widmen. Während die beiden noch über das »Kunstwerk« plauderten, begab Johannes sich in den hinteren Teil des Gartens.

Er ging auf seinen Vater und seine Schwester Merete zu, die lachend unter dem großen Sonnenschirm standen. Die Umarmung seines Vaters war alles andere als flüchtig, sondern wie immer herzlich und zugewandt. Erich wirkte zwar auf andere Menschen hart und unerbittlich, im Umgang mit seinen Kindern war er aber immer gleichbleibend gefühlvoll.

Lukas, sein vierzehn Jahre jüngerer Bruder, saß zwischen den ölverschmierten Teilen, die zu seinem Motorrad gehörten, und hob zum Gruß nur kurz die Hand. Johannes schaute unschlüssig auf das unberührte Frühstücksbüfett und überlegte, ob er schon mal anfangen sollte. Sein Magen grollte verdächtig laut. Da die Familie offensichtlich nur noch auf ihn und Pierre gewartet zu haben schien, übte er sich jetzt ebenfalls in Geduld.

Plötzlich stand seine Schwester neben ihm und hielt ihm fragend zwei Kannen entgegen: »Kaffee oder Tee?«

»Tee bitte.«

Merete rückte etwas näher an ihren Bruder heran und erkundigte sich im Flüsterton, ob er den heutigen Artikel in der Zeitung gelesen habe.

»Nein, wieso?«

»Paul Kessler wurde gestern ermordet aufgefunden.«

Sie musste lächeln, als sie das überraschte Gesicht ihres Bruders sah.

»Ja, Johannes, er ist tot, mausetot. Man fand ihn im Keller seines neuen Sporttempels. Wie er zu Tode kam, stand allerdings nicht im Bericht.«

Während sie sprach, war sie bemüht, das Zittern ihrer Hände unter Kontrolle zu bekommen. Johannes nahm ihr die Kanne aus der Hand und füllte seine Tasse mit Tee. Die Hälfte goss er daneben. Sein Herz schlug bis zum Hals, und sein Gesicht glich einer farblosen Maske.

»Das ist gut, Merete, sehr gut sogar.«

» Ja, Bruder, und ich hoffe, dass sich der Mörder viel Zeit dabei gelassen hat.«

»Oh ja, das hoffe ich auch.«

Im selben Moment stürzte Pierre auf die beiden zu.

»Johannes, Johannes!« Pierre wedelte aufgeregt mit der Zeitung, die er auf einem der Gartenstühle entdeckt hatte. »Unglaublich, Johannes, dieser Kessler ist tot. Gestern wurde er ermordet. Unfassbar, mir fehlen die Worte. Wir haben ihn doch gestern noch beliefert. Ich muss sofort meinen Stellvertreter anrufen.«

Pierre war völlig aufgelöst. Dass Johannes diese Nachricht mit einem bösartigen Lächeln quittierte, entging ihm offensichtlich. Pierre ärgerte sich nur maßlos darüber, dass er seinem Stellvertreter die Anweisung gegeben hatte, ihn unter keinen Umständen am Wochenende mit firmeninternen Dingen zu belästigen.

Nach dem zweiten Klingelzeichen nahm dieser das Gespräch entgegen und beruhigte seinen aufgebrachten Chef: »Monsieur Mullier, ich habe alles im Griff. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Nachdem die Polizei gestern die Ermittlungsarbeit im Sporttempel abgeschlossen hatte, haben wir dort alles wieder abgeholt.«

Was genau mit diesem Paul Kessler geschehen sei, entzog sich allerdings ebenfalls seiner Kenntnis. Er wusste auch nur das, was in der Zeitung stand.

Pierre bedankte sich und beendete das Telefonat. Nachdenklich starrte er vor sich hin. Er hatte Paul Kessler viel zu verdanken. Auf dessen Anraten hin hatte er expandiert und war nach Berlin gezogen. Durch seine Promotion war er an einen erlesenen, zahlungskräftigen Kundenstamm gekommen, und sein Cateringservice war inzwischen in aller Munde. Allerdings vermied Pierre seit ein paar Jahren den privaten Kontakt zu Kessler. Das war zwar nicht immer durchzuhalten, aber seit dem Zwischenfall im Pariser Stadtteil Montreuil hielt er sich lieber von ihm fern.

Die laute Stimme Elisabeths beförderte ihn in die Gegenwart zurück. Ihre Aufforderung galt ihrem jüngsten Sohn Lukas. Sie bat ihn, sich endlich von seinem Motorrad zu lösen und sich zu den anderen zu begeben.

Kommentarlos stand dieser auf und wusch sich am Brunnen die verschmierten Hände. Aus dem Augenwinkel bemerkte er noch, wie sich die schwere Maschine im Zeitlupentempo zur Seite neigte und geräuschlos im weichen Rasen versank. Normalerweise hätte er jetzt einen der Anwesenden gebeten, ihm beim Aufstellen des Motorrades behilflich zu sein, denn alleine würde er das schwere Teil kaum hochbekommen. Da aber weder Benzin noch Öl auslaufen konnte, verschob er es auf später.

Während er am Büfett seinen Teller füllte, beobachtete Merete jede seiner Bewegungen. Sie hatte ihn Monate nicht gesehen, da Lukas in München studierte. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren wirkte er auf sie erstaunlich erwachsen. Bewundernd, so als würde sie ihn das erste Mal wirklich wahrnehmen, erkannte sie, wie attraktiv Lukas war. Er war der Einzige in der Familie, der fast so groß war wie ihr Vater. Knapp fünf Zentimeter fehlten ihm, um die Zwei-Meter-Marke zu knacken. Aber nicht nur seine Größe und die tiefschwarzen Augen, die Erich all seinen Kindern vererbt hatte, waren ausschlaggebend für seine besondere Attraktivität. Momentan hätte Merete es nicht konkretisieren können, was Lukas in ihren Augen zu etwas Besonderem machte. Im Gegensatz zu ihr und Johannes besaß er weder die lange, gebogene »Familiennase« noch die rabenschwarzen Haare, die ihnen vom Vater vererbt worden waren.

Aufgrund dieser Äußerlichkeiten waren sie und Johannes nicht nur in der Grundschule rassistischen Äußerungen ausgesetzt gewesen. Merete hatte sich damals immer als Außenseiterin gefühlt. Aber das war Geschichte. Ein begnadeter und sehr teurer Schönheitschirurg formte die Nase nach ihren Wünschen und verschaffte ihr damit ein völlig neues Selbstwertgefühl. Einhergehend mit der Nasenkorrektur änderte sie auch ihre Haarfarbe.

»Woran denkst du?«

Lukas setzte sich mit seinem gut gefüllten Teller dicht neben seine fünfzehn Jahre ältere Schwester und schaute sie dabei fragend an.

»Oh, an nichts Besonderes. Mir fiel nur gerade auf, was für ein attraktiver junger Mann du geworden bist.«

Mit einer liebevollen Bewegung zog sie ihn zu sich heran und fragte, ob er wieder einen Ferienjob angenommen habe, wie er mit seinem Maschinenbaustudium vorankäme und ob er sich inzwischen in München wohlfühlen würde.

»Ja – nein – nein.«

»Wie jetzt? Was bedeutet ›Ja – nein – nein‹?«

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht erklärte er ihr: »Ferienjob – ja, Maschinenbaustudium – nein, Wohlfühlen in München – nein.«

»Hm, hört sich nicht gut an. Was ist mit deinem Studium?«

»Geschmissen. Ich mache nicht weiter.«

Merete schaute ihm skeptisch ins Gesicht, verkniff sich aber einen belehrenden Kommentar.

»Okay, Lukas, wissen es die Eltern schon?«

Er schüttelte verneinend den Kopf und gab zu, dass er davor Schiss habe. »Ich glaube, Vater geht’s gesundheitlich nicht gut, darum will ich ihn jetzt nicht mit meiner Entscheidung konfrontieren. Letztens musste er wegen starker Schmerzen in der Schulter sogar das Golfspiel unterbrechen. Er konnte kaum noch den Schläger halten. Er meinte, er habe eine Arthrose im Schultergelenk, aber das sei nicht ungewöhnlich bei Menschen in seinem Alter, und ich solle mir keine Sorgen machen. Mache ich mir aber trotzdem. Kürzlich habe ich gesehen, wie er mindestens sechs unterschiedliche Medikamente geschluckt hat. Das ist doch nicht normal, oder?«

»Nein, Lukas, das ist nicht normal. Aber nichtsdestotrotz, du musst ihm sagen, dass du nicht weiterstudieren möchtest. Ich hoffe nur, du hast eine gute Alternative zu bieten.«

»Und ob ich das habe. Es hat mit Pferden zu tun. Die Eltern eines Freundes in München gaben vor einigen Jahren die Landwirtschaft auf und betreiben jetzt einen Pferdehof. Und genau in diese Richtung möchte ich mich orientieren.