Vernissage des Bösen - Rose-Mary Hein - E-Book

Vernissage des Bösen E-Book

Rose-Mary Hein

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Beschreibung

Drei verstümmelte Frauen. Geheimnisvolle Zeichen, die der Mörder in die Haut seiner Opfer ritzte. Die Berliner Kripo steht vor einem Rätsel. Bei der Vernissage des Künstlers Midamis macht Kommissar Gregor Bär eine aufschlussreiche Entdeckung, und die Zwillinge Milan und Damianos geraten immer mehr in den Fokus der Ermittler. Die Spur führt von Berlin nach Athen. Bei der Ermittlung ist Eile geboten. Der Mörder hat bereits sein nächstes Opfer im Visier.

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Dieses Buch ist ein Roman. Alle Charaktere und die Handlung sind von mir frei erfunden.

Dieses Buch widme ich insbesondere

Christian, Ilona,

Kenneth und Anton

Inhaltsverzeichnis

Athen, Oktober 2009

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Danksagung

Athen, Oktober 2009

Die Flüge nach Berlin waren gebucht, die Koffer gepackt. Morgen würden sie beide Athen verlassen. Aber niemals hätte er einfach so gehen können. Zum letzten Mal wollte er den vertrauten modrigen Geruch in seine Lungen ziehen, bevor er den Raum für immer verriegeln würde. Er war alleine hier unten. In den letzten Jahren war er immer nur alleine hier.

Er verzichtete darauf, den Lichtschalter zu betätigen. Stattdessen zündete er einige Kerzen an, die auf den Regalen standen – und setzte sich andächtig auf die marode Pritsche. Sein Blick tastete, ähnlich einem Laserstrahl, jedes noch so kleine Detail des Raumes ab, wanderte über ineinander gestapelte Schüsseln, Eimer und Zinkwannen, über geschlossene Schübe, deren Inhalt in einem Krankenhaus der Dritten Welt Fortschritt bedeutet hätte. Unter den vier breiten Regalen hingen, säuberlich aufgereiht, verschiedene Sägen, der Größe nach geordnet. Ebenso Zangen, unterschiedliche Zangen. Einige, die in der Zahnmedizin verwendet wurden. Jene, mit denen man Molaren, Prämolaren oder Schneidezähne problemlos aus dem Kiefer extrahieren konnte. Alles hing griffbereit zwischen dem untersten Regal und dem großen Holztisch – dem alten, rustikalen Holztisch, der eine ungewöhnliche Maserung aufwies.

Er erhob sich von der Pritsche, näherte sich jenem Tisch mit den schwarzen Streifen und betrachtete zufrieden grinsend die dunklen, unregelmäßigen Linien. Blut. Das eingetrocknete Blut seiner unzähligen kleinen, wehrlosen Opfer. Blutreste, die sich anklagend für die Ewigkeit tief ins Holz gefressen hatten. Mit dem Fingernagel fuhr er kraftvoll durch eine der dunklen Rillen und schob genüsslich ausgedörrte, schwarze Krümel an den Rand des Tisches.

Sein Blick wanderte nach oben. Gläser, viele verstaubte Präparategläser, standen dort gut verschlossen in Reih und Glied. Er schaute in grotesk verzerrte, offene Münder, die den Blick auf winzig kleine, noch nicht an feste Nahrung gewöhnte Zähne freigaben. Spielerisch drehte er eins der vielen Gläser in seiner Hand. Er beobachtete mit kindlicher Freude den Tanz der blicklosen Augen, die schwerelos in der Formalinlösung auf und ab wippten. Erwartungsgemäß setzte wieder das wohlige Kribbeln und Ziehen in seiner Leistengegend ein. Mit geschlossenen Augen genoss er einen kurzen Moment dieses angenehme Gefühl.

Als er das Glas wieder an seinen Platz stellen wollte, hielt er einen Moment inne. Diabolisch grinsend stieg er auf einen Stuhl, griff gezielt nach einem mittelgroßen Glas, das versteckt in der hintersten Reihe stand. Eine schmierige Staubschicht ließ den schwerelos tanzenden, grausamen Inhalt nur schemenhaft erkennen. Wild wippte und drehte sich das schwimmende Präparat in seinem nassen Gefängnis und schlug, ein klickendes Geräusch verursachend, immer wieder gegen die Innenseite des Behälters. Von plötzlicher Panik ergriffen stellte er das Glas, das in seiner Hand zu glühen schien, auf das unterste Regal und wich entsetzt zurück. Der Inhalt wippte und drehte sich unaufhörlich weiter.

Ihm wurde übel. Sein Herz raste, Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Das klickende Geräusch wurde kontinuierlich lauter und lauter und peinigte erbarmungslos sein Trommelfell. Zitternd presste er beide Hände auf seine schmerzenden Ohren und schleppte sich keuchend die fünf Stufen nach oben, verriegelte mit letzter Kraft den Raum und kroch wie ein angeschossenes Tier ins Freie. Erschöpft fiel er auf die Knie und erbrach einen Schwall grüner Galle.

1

Athen, 1994

Knapp vierzig Grad, obwohl es bereits auf den Spätnachmittag zuging. Wer nicht unbedingt musste, bewegte sich so wenig wie möglich. In drei oder vier Stunden würde die Stadt wieder lebendig werden. Touristen, die jetzt faul am Strand lagen oder den Nachmittag im kühlen Hotelzimmer verbrachten, würden dann durch die Plaka, den ältesten Stadtteil Athens schlendern um anschließend Gyros, Moussaka oder Stifado in einer der vielen Tavernen zu bestellen.

Arjana stand reglos, splitternackt, die vierte oder fünfte Zigarette rauchend am Fenster. Die tropfnassen Haare ignorierend, verharrte sie in der kleinen Pfütze, die sich inzwischen unter ihren Füßen gebildet hatte. Ihre Hände zitterten. Scheinbar emotionslos nahm sie das Treiben ihrer Brüder wahr. Und Sie sah, wie zufrieden ihre Mutter dem wilden Spiel der Zwillinge, Milan und Damianos, zuschaute. Sie tobten geräuschvoll im Pool und versuchten immer wieder, sich gegenseitig von der bunten Luftmatratze ins Wasser zu stoßen.

Auch Nala, die afrikanische Haushälterin, saß ausnahmsweise mit am Pool und schaute mit gerunzelter Stirn dem Treiben der Brüder zu. Normalerweise war Nala nie um eine Ausrede verlegen, wenn es darum ging, sich nicht da-zusetzen zu müssen. Etelka wird sie hartnäckig dazu überredet haben. Nala war keine Haushälterin im eigentlichen Sinn, sondern Etelkas älteste Freundin. Sie war schon im Haus, bevor Arjana und die Zwillinge geboren wurden.

Und: Nala hatte ihre eigene Sicht auf die Dinge. Sie machte ihre Arbeit, wollte aber in die familiären Belange nicht mit einbezogen werden. Diesbezüglich gab es schon öfter mal Streit zwischen Etelka und ihr. Das letzte Wort hatte Nala.

Ihr Standardsatz, um eine Diskussion zu beenden: »Etelka, es ist deine Familie, und ich werde nichts kommentieren, was mich nichts angeht, basta!«

Den Blick, mit dem Nala die Zwillinge beobachtete, konnte Arjana bis heute nicht deuten. Vielleicht fiel es ihr noch immer schwer, die beiden auseinanderhalten. Es war ja auch schwierig. Beide glichen sich wie ein Ei dem anderen und doch waren sie vom Wesen her grundverschieden: Milan war der Gefühlvolle, Bedächtige und Damianos der Draufgänger, rücksichtslos und egoistisch. Für Außenstehende war es schier unmöglich, sie zu unterscheiden: Physiognomie, Stimme, Bewegungsabläufe schienen vollkommen gleich.

Mit ihren fünfzehn Jahren waren sie größer als die meisten Gleichaltrigen. In der Schule gehörten sie zu den Besten. Es gab kein Fach, in dem sie unterschiedliche Leistungen brachten. Sie mussten sich noch nicht einmal besonders anstrengen. Beide erweckten den Eindruck, als wären sie ständig unterfordert.

Arjanas Gedanken rotierten allerdings nur noch um eins: Ich will, nein, ich muss hier weg!

Mehrmals hatte sie versucht, mit ihren Eltern darüber zu sprechen, und in ihrer Verzweiflung auch mit Nala. Sie erfand Gründe, warum es für sie von Nutzen wäre, wenn sie in einer anderen Stadt studieren würde.

Beim ersten Gespräch hörte ihr Vater ihr aufmerksam zu, und sie hatte den Eindruck, als würde er ihrem Wunsch zustimmen wollen. Doch bevor er etwas sagen konnte, ergriff Etelka das Wort. Sie sah nicht ein, warum sie Unterkunft und Lebenshaltungskosten der Tochter übernehmen sollten, da doch die Athener Villa für die Familie reichlich Platz bot. Arjana standen im Elternhaus zwei eigene Zimmer zur Verfügung. Sie brauchte sich um nichts zu kümmern und sogar die Uni war in unmittelbarer Nähe.

Ihr Vater versuchte erst gar nicht, seine Frau umzustimmen. Seit der Geburt der Zwillinge zog er sich immer mehr zurück. Für Etelka gab es nur noch Milan und Damianos. Wobei dem genauen Beobachter nicht entging, dass sie Damianos, warum auch immer, bevorzugte und nach allen Regeln der Kunst verwöhnte.

Den wahren Grund, weshalb Arjana Athen verlassen wollte, konnte und durfte sie ihnen nicht sagen. Sie hatte Angst, panische Angst, dass die Eltern irgendwann die Machenschaften der Zwillinge bemerken könnten. Damianos würde seine Rückschlüsse ziehen. Er würde annehmen, dass seine Schwester Arjana ihr Versprechen gebrochen hat. In ihrer Verzweiflung hatte Arjana vor ein paar Tagen versucht, Nala zu überreden, mit den Eltern zu sprechen, obwohl sie wusste, dass sich Nala noch nie in die familiären Belange eingemischt hatte. Aber einen Versuch war es wert gewesen.

Nala hatte ihr mit ernster Mine zugehört und meinte dann: »Arjana, die Gründe, die du angibst, um deinen Auszug aus deinem Elternhaus zu rechtfertigen, entsprechen nicht der Wirklichkeit. Sag ihnen die Wahrheit, Arjana, sag ihnen die Wahrheit, bevor es zu spät ist!«

»Welche Wahrheit, Nala wovon sprichst du?«

Nala hatte schon die Türklinke in der Hand und drehte sich noch einmal zu Arjana um. »Welche Wahrheit, fragst du? Es gibt nur eine Wahrheit, Arjana, und du solltest unbedingt mit deinen Eltern darüber sprechen!«

Nala hatte Recht. Aber was wusste sie, was hatte sie gesehen, was hatte sie entdeckt? Arjana hatte noch Fragen über Fragen und drehte sich nochmals zu Nala um, die in diesem Moment die Tür von außen geräuschlos ins Schloss zog.

Ihr war klar: Schon vor sieben Jahren, hätte sie die Eltern auf das betrügerische, brutale Treiben der Brüder hinweisen müssen. Vielleicht wäre vieles, was danach geschah, gar nicht erst geschehen.

Die Zwillinge waren zu jener Zeit acht Jahre alt gewesen. Jetzt waren sie fünfzehn, und nun war es zu spät. Inzwischen schlief sie kaum noch eine Nacht durch. Wüste Träume sorgten dafür, dass sie fast jede Nacht angstgelähmt im Bett lag. Ihr Herz schlug wild, laut und unregelmäßig. Morgens stand sie mit peinigenden Kopfschmerzen auf und bekam keinen Bissen runter. Kamen die Zwillinge zum Frühstück in die Küche, verließ Arjana fluchtartig das Haus.

Sie wusste inzwischen zu viele Details – wusste, wozu Damianos und offensichtlich auch Milan fähig waren.

Beim letzten Gespräch – es war eins von vielen – versuchte sie, insbesondere Milan, denn Milan schien ihr noch immer der Vernünftigere von beiden zu sein, davon zu überzeugen, dass dieses Treiben irgendwann böse enden würde. Einen kleinen Moment lang hatte sie den Eindruck, Milan würde es einsehen. Er nickte schuldbewusst und meinte dann zu Damianos: »Sie hat Recht, Damianos, wir müssen aufhören!«

Daraufhin erhob sich Damianos sehr langsam, fast geräuschlos vom Stuhl und bewegte sich auf Arjana zu. »Nein, das müssen wir nicht.« Kaum hörbar zischte er ihr diesen Satz ins Ohr. »Und noch was, liebste Schwester, hör mir genau zu, sehr genau, ich werde es nicht wiederholen: Du wirst niemals darüber reden, mit niemand, hast du das verstanden?«

Er stand dicht vor ihr, so dicht, dass sie seinen Atem im Gesicht spürte. Als sie das Schnipsen seiner Finger vernahm, nickte sie wortlos und senkte zitternd den Blick. Daraufhin drehte er sich um und verließ angewidert den Raum.

Ungläubig, mit weit aufgerissenen Augen, schaute Milan Arjana an, die wie versteinert mitten im Zimmer stand. Er wirkte hilflos, umarmte seine Schwester und versprach ihr, nochmals mit Damianos zu reden.

Sie zuckte nur ratlos mit den Schultern und wusste, dass sich nichts, aber auch gar nichts ändern würde.

Arjana erinnerte sich noch gut an den Moment vor fünfzehn Jahren, als ihre Brüder geboren wurden. Sie war damals sechs Jahre alt und überglücklich und gespannt, wie das neue Leben mit einem Bruder oder einer Schwester werden würde. Es wurde anders, als sie es erwartet hatte. Alles drehte sich nur noch um die Zwillinge, so sehr sie sich auch um Anerkennung und Zuwendung bemühte.

Keinem fiel auf, dass sie sich im Laufe der Jahre immer mehr zurückzog. Irgendwann begann sie, ihre Gedanken, ihre Gefühle, sämtliche Vorkommnisse in das kleine blaue Tagebuch zu schreiben, anfangs ausführlich, später nur noch im Telegrammstil. In letzter Zeit stand zum wiederholten Mal quer über das ganze Blatt:

ICH MUSS HIER WEG!

Es war Damianos, der seiner Schwester das Leben schwer machte. Er mochte sie nicht. Mit ihrer liebenswürdigen, gradlinigen Wesensart versuchte sie, zumindest empfand er es so, ständig einen Keil zwischen ihn und Milan zu treiben. Er verabscheute es, wenn die beiden miteinander lachten, wenn Arjana Milan umarmte, wenn Milan der Schwester Aufmerksamkeit schenkte und umgekehrt.

Milan war SEIN Zwilling, Milan und ihn verband mehr als nur der gleiche Geburtstag. Sie hatten auch kein symbiotisches Verhältnis. Nein, das hatten sie nicht, sie waren EINS. Milan war Damianos und Damianos war Milan. Kein Dritter würde sie jemals trennen können.

Damianos fühlte sich ständig von seiner Schwester beobachtet und genauso war es auch: Arjana hatte immer ein ungutes Gefühl, was die Aktivitäten der Zwillinge betraf. Sie hätte es nicht konkretisieren können, es war nur eine Ahnung. Bis zu jenem Tag vor ca. sieben Jahren, als sich Arjanas Misstrauen das erste Mal bestätigte. Sie erinnerte sich mit Entsetzen daran, ja sie war entsetzt, wütend und traurig, dass ihre Brüder zu so etwas fähig waren. Dass diese grausame Begebenheit nur ein Glied in der Kette der barbarischen Aktivitäten ihrer Brüder war, entdeckte sie erst später.

Damianos und Milan saßen am Rand des Pools, in der Hand hielten beide eine Stoppuhr. Die Katze, die im Pool verzweifelt um ihr Leben schwamm, konnte sich kaum noch über Wasser halten. Jedes Mal, wenn sie den vermeintlich rettenden Rand erreichte, stieß entweder Milan oder Damianos sie zurück ins Wasser. Milan wollte dieses unsinnige »Experiment« – »unser Experiment«, ja, genau so nannten sie es – schon längst beenden. Damianos wiederum fand das, was sie taten, überhaupt nicht unsinnig: »Wir forschen, Milan, es dient der Forschung. Gleich ist es vorbei, und dann wissen wir, wie lange sich eine Katze über Wasser halten kann.«

Arjana konnte das erschöpfte Tier im letzten Moment aus dem Wasser ziehen. Entkräftet lag es am Rand, unfähig einen Schritt zu gehen. Damianos war wie von Sinnen. Er schrie seine Schwester an, schlug und trat mit den Füßen nach ihr. Sie hatte Mühe ihn abzuwehren. Das war das erste und letzte Mal, dass sie ihm eine Ohrfeige verpasste.

Damianos blieb wie angewurzelt stehen, schnipste laut mit den Fingern und starrte auf sein weißes T-Shirt, das sich langsam rot färbte. Aus einem schmalen, langen Riss des linken Ohrläppchens tropfte Blut. Unvermittelt, ohne ein Wort zu sagen, drehte er sich um und ging ins Haus.

Arjana rannte ihm ein paar Schritte hinterher und gab dann auf. Nicht nur Damianos hatte sich bei dem Gerangel an der Stoppuhr verletzt, auch sie hatte blutige Kratzer an den Armen und im Gesicht.

Nach dieser Begebenheit kam Milan weinend in ihr Zimmer und bat sie, doch bitte den Eltern nichts von dem »Experiment« zu erzählen. Er versprach ihr, indem er ­Zeige- und Mittelfinger hochhielt, so etwas nie wieder zu tun.

Arjana zog Milan dicht zu sich heran und bat ihn eindringlich, etwas Abstand von seinem Bruder zu nehmen, da sie den Eindruck hatte, dass dieser ihn nur benutzen würde. Sie war der Ansicht, dass das grausame Spiel mit der Katze Damianos Idee gewesen sein musste.

Milan nickte eifrig, seine Augenlider zuckten unkontrolliert und er versprach ihr, sich zu ändern.

Sie schaute ihm prüfend ins Gesicht und war sich gar nicht mehr so sicher, ob er wirklich anders als sein Bruder war. Vielleicht konnte er seine Aggressionen einfach nur besser verstecken und versuchte, sein Umfeld auf eine liebenswürdige Art zu täuschen. Wie auch immer, sie behielt diesen folgeträchtigen Vorfall für sich. Sie gab ein Versprechen, dass sie bis heute zutiefst bereute.

Von diesem Moment an ließ Damianos keine Gelegenheit aus, ihr zu schaden. Seine Phantasie schien diesbezüglich grenzenlos. Er durchwühlte ihre Schränke, deponierte ihre Sachen an einen anderen Platz und grinste schadenfroh, wenn sie verzweifelt wichtige Unterlagen suchte, die sie für die Schule benötigte. Mitunter schrie er grundlos und beschuldigte Arjana, ihn geschlagen zu haben. Ihre Mutter glaubte ihm und stellte jedes Mal verärgert Arjana zur Rede.

Damianos genoss diese Machtspielchen. Eines Tages aber entging ihm, dass sein Vater im Nebenraum war, als er wieder einen seiner Wutanfälle bekam und seine Schwester beschimpfte.

Spiro stand plötzlich im Türrahmen und wies Damianos verärgert zurecht: »Damianos, hör auf damit, was soll das?«

»Damianos? Vater, ich bin nicht Damianos, ich bin Milan!«

»Du bist Damianos – und lass dieses Spielchen!«

»Nein, ich bin Milan, außerdem ist es doch egal, ob Damianos oder Milan. Es gibt keinen Unterschied.«

Spiro starrte mit durchdringendem Blick auf seinen Sohn. »Zum letzten Mal Damianos, lass diesen Unsinn.«

Auf die Zurechtweisung des Vaters reagierte der damals Zwölfjährige reglos. Nur sein Blick, dieses kaum wahrnehmbare Grinsen, begleitet vom ständigen, lauten Schnipsen seiner Finger, verbreitete eine kaum auszuhaltende, bedrohliche Atmosphäre. Als er endlich das Zimmer verließ, setzte sich Spiro zu seiner Tochter und nahm sie schützend in den Arm. Minutenlang genoss Arjana die Umarmung des Vaters. Schweigend saßen sie dicht nebeneinander. Sie hatte das Gefühl, ihr Vater wusste – oder ahnte, dass Damianos anders war. Was allerdings dieses Anderssein bedeutete und wie es der Familie Zukunft beeinträchtigen würde, erriet zu diesem Zeitpunkt niemand. Gesprochen wurde darüber nie.

Spiro erhob sich, strich seiner Tochter schweigend übers Haar und verließ den Raum. Diese Begebenheit, die Umarmung des Vaters, dieses Gefühl des Beschütztwerdens, lag nun schon Jahre zurück und wiederholte sich nie wieder.

Lautes Klopfen an der Tür holte Arjana in die Gegenwart zurück. Sie musste eine Ewigkeit am Fenster gestanden haben ohne zu bemerken, dass sich inzwischen niemand mehr am Pool befand. Nachdenklich wickelte sie ein Strandtuch um ihren mageren Körper und öffnete die Tür. Milan starrte sie verdutzt an.

»Was ist mit dir, Arjana? Wir warten auf dich. Heute ist das traditionelle Familienessen in Piräus.«

»Ja, ja, ich weiß, aber ich werde nicht mitkommen. Richte den Eltern aus, dass ich mich unwohl fühle. Beim nächsten Mal bin ich bestimmt dabei.«

Milan klang sehr enttäuscht, weil auch Damianos über Unwohlsein klagte und diesmal nicht mitkommen wollte.

»Damianos bleibt auch hier?«

Milan nickte betrübt. Lautes Hupen signalisierte ihm, dass die Geduld der Eltern bereits überstrapaziert wurde. Eilig rannte er die Treppe hinunter und verließ das Haus.

Arjana zog sich irritiert in ihr Zimmer zurück. Eigentlich hatte sie gehofft, ungestört ein paar Stunden im Haus verbringen zu können, allein den Pool zu nutzen und von niemand angesprochen zu werden. In der letzten Zeit hatte sie kaum eine Nacht durchgeschlafen. Sie fühlte sich erschöpft, und wünschte sich nichts mehr, als endlich einen klaren Gedanken fassen zu können. Sie drehte sich gedanklich ständig im Kreis. Nalas Worte gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Was weiß Nala wirklich? Wie viel hat sie mitbekommen?

Spontan beschloss sie, Nala aufzusuchen. Sie schlüpfte in ein leichtes Sommerkleid und machte sich auf den Weg. Barfuß, um möglichst kein Geräusch zu verursachen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte sie nach unten. Sie wollte jetzt auf keinen Fall Damianos begegnen.

Aus diesem Grund ging sie auch nicht am Pool entlang. Er hätte sie sonst durch das Fenster bemerken können. Sie wählte den steinigen Weg, der sich durch den naturbelas-senen Teil des Gartens schlängelte.

Nalas Wohnung befand sich ebenerdig, im hinteren Teil des Grundstücks. Ein kleines, flaches Häuschen mit weit überstehendem Dach, eingerahmt von dichten Bäumen und Büschen. Die Räume waren nicht nur im Hochsommer dunkel und kühl, sie boten zudem einen unspektakulären Blick auf ein farbloses Gartenhaus. Allerdings: Zur Blütezeit der wilden Rosen, die fast die gesamte krumme Hütte überwucherten, war der Anblick schon etwas Besonderes. Diese Holzhütte war seit eh und je der Lieblingsspielplatz der Zwillinge. Sie bezeichneten sie von Anfang an als ihre kleine »Schatzkammer«. Wenn die beiden darin zugange waren, kam niemand auf die Idee, die Hütte zu betreten. In der einen Ecke lagerten seit Jahren alte Säcke mit Düngemittel, daneben verrostete Gartengeräte und zwei alte, aber gebrauchsfähige Fahrräder, die gelegentlich von Nala und Etelka benutzt wurden. Im hinteren, verwinkelten Teil der Hütte standen ausrangierte Möbel: Stühle, Tische, kleine Regale und ein riesiger, alter Schrank, der beim genaueren Hinsehen noch Spuren seiner ehemaligen Schönheit erkennen ließ.

Arjana klingelte und klopfte an Nalas Tür, doch nichts rührte sich. Sie legte die Hand an die Fensterscheibe und spähte in den Raum. Nichts. Von Nala war weit und breit nichts zu sehen. Sie ging um das Gartenhaus herum und bemerkte, dass die Tür weit offen stand. Im Inneren befand sich nur noch Etelkas Fahrrad. Nala war unterwegs und Arjana hatte keine Ahnung, wann sie zurückkommen würde. Was das bedeutete, wurde ihr schnell klar: Sie würde vermutlich Stunden mit Damianos allein im Haus verbringen müssen. Augenblicklich krampfte sich ihr Magen zusammen. Psychisch und physisch fühlte sie sich am Ende. Sie war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Den Gemeinheiten ihres Bruders war sie nicht mehr gewachsen.

Lautlos lief sie ins Haus zurück, verschwand in ihrem Zimmer und verschloss die Tür. Mechanisch, ohne zu überlegen, zerrte sie eilig den kleinen blauen Koffer unter ihrem Bett hervor. Er war schnell gepackt. Sie stopfte die nötigen Papiere und ihre mageren Ersparnisse in den Rucksack und legte sich noch einmal entspannt auf ihr Bett. Die Magenschmerzen waren verschwunden, ihre Gedanken glasklar. Endlich. – Warum traf ich nicht schon früher diese Entscheidung? – Ich bin frei, und wenn es dunkel ist, werde ich gehen. – Wohin? – Mal sehen!«

2

Berlin, 2010

Donnerstag, ein verregneter Donnerstag. Windstärke acht oder neun, zumindest fühlte es sich so an. Der Regen prasselte auf mein Fensterbrett und der große Baum neben der Garage ächzte und knirschte verdächtig laut. Es war ein alter Baum, sturmerprobt und zäh.

Jetzt noch raus, in die Stadt fahren, Parkplatz suchen, ich war unschlüssig. Andererseits wollte ich die Verabredung mit meiner besten Freundin Ellen nicht absagen. Wir sahen uns sowieso schon viel zu selten. Noch während ich überlegte, klingelte mein Telefon.

Ellen war dran. »Sarah, ich weiß, das ist nicht dein Traumwetter, aber du kommst doch, oder?«

»Ja, sicher Ellen, ich bin schon auf dem Weg!«

Normalerweise erreichte ich das »Chapeau Claque« in knapp zwanzig Minuten, bei Regenwetter dauerte es fast doppelt so lange. Der Regen platschte gegen meine Windschutzscheibe, die Scheibenwischer kamen kaum nach.

Glücklicherweise fuhr gerade, als ich ankam, jemand aus einer Parklücke. Einen Parkplatz direkt vor der Künstlerkneipe hatte ich noch nie gefunden. Es war wie im Märchen.

Ellen und ein paar andere Freunde waren bereits da und drängelten sich um unseren Stammplatz. Der beste Platz im Raum: etwas erhöht, mit freiem Blick zu den Musikern. Außerdem konnte man von dort gut beobachten, wer kam oder wer das Lokal verließ.

Die Stimmung war ausgelassen, die Musikrichtung Jazz und Blues, gespielt von meiner – und scheinbar nicht nur meiner – Lieblingsband. Der Laden platzte fast aus allen Nähten. Wer etwas später kam, musste sich hartnäckig einen Stehplatz erkämpfen.

Ich bemerkte Nora, Ellens jüngere Schwester, zuerst. Nora war groß und schlank. Mit ihren blonden, langen Haaren und den mandelförmigen, grünen Augen zog sie wie immer alle Blicke auf sich. Nora konnte man nicht übersehen. Sie wirkte, wenn man sie nicht kannte, leicht arrogant und oberflächlich, doch genau das Gegenteil war der Fall. Sie war schon immer ein sehr gefühlvoller, emphatischer Mensch gewesen. Ihre herzliche Art und ihre positive Denkweise machten sie immer wieder zu einer Bereicherung auf jeglicher Plattform.

Heute war sie nicht allein gekommen. Zielsicher steuerte sie auf unseren Tisch zu und stellte uns ihren Begleiter vor: »Das ist Milan, Milan Pagonis« – ein griechischer, mehr oder weniger erfolgreicher, aber sehr, sehr netter Maler, erklärte sie lächelnd.

Etwas verhalten begrüßte Milan die Anwesenden und blieb auch den Abend über einsilbig. Des Öfteren starteten wir den Versuch, Milan in das Gespräch mit einzubeziehen, doch seine kurzen, knappen Sätze ließen darauf schließen, dass er keinen Wert darauf legte. Er wirkte aber trotzdem nicht desinteressiert. Mir fiel auf, dass er unsere Gruppe genau musterte, ja regelrecht taxierte. Milan war ohne Frage ein außergewöhnlich gut aussehender, interessanter Mann: Er war einen halben Kopf größer als Nora, hatte dichte, lockige Haare, die zu einem Zopf gebunden waren, einen Dreitagebart und einen Blick, der weder freundlich noch unfreundlich die Anwesenden musterte. Für mich war dieser Milan Pagonis schwer einschätzbar. Andererseits sagte ich mir: Ein Mensch, mit dem Nora befreundet war, konnte nicht verkehrt sein. Wir blieben an diesem Abend länger als gewöhnlich. Der Gesprächsstoff ging nicht aus und Noras humorvolle Erzählweise ließ keine Langeweile aufkommen.

Mitternacht war längst vorbei, und die Kneipe war, bis auf uns und ein händchenhaltendes älteres Paar, so gut wie leer. Edgar, der Wirt, hatte seine eigene Methode, den Gästen klar zu machen, dass er jetzt den Laden dicht machen möchte. Nach und nach schaltete er die Lichter aus. Sämtliche Stühle um uns herum hatte er schon auf die Tische gestellt. Als Letztes löschte er demonstrativ die Kerze auf unserem Tisch.

Wir mussten lachen, und ich meinte noch zu ihm: »Sorry Edgar, bei manchen Gästen dauert es eben etwas länger, bis sie kapieren, dass die Sperrstunde eingeläutet wurde.«

Lachend verließen wir die Kneipe. Es regnete nicht mehr und auch der Sturm hatte sich gelegt. Ellen und die anderen Freunde wohnten ein paar Straßen weiter und waren auf keinen fahrbaren Untersatz angewiesen. So stand ich nun mit Nora und Milan unschlüssig vor meinem Auto. Höflichkeitshalber fragte ich, ob ich sie ein Stück mitnehmen könne. Milan lehnte höflich ab, aber Nora zögerte keinen Moment. Sie drückte Milan einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sprang ins Auto.

Irritiert startete ich den Wagen. »Nora, was war das denn? Ich dachte, er ist dein Freund.«

»Ja, ja, Sarah, das ist er schon, aber wir kennen uns erst seit Kurzem und wir möchten nichts überstürzen. Ich glaube, daraus könnte mehr werden, und wir wollen es langsam angehen lassen. Milan sieht es übrigens ähnlich. Vor einigen Tagen war ich bei ihm, weil er mich malen wollte. Erst gingen wir ausgiebig im Schlosspark spazieren und danach landeten wir schräg gegenüber in seinem Atelier in der Schloßstraße. Sarah, ich war total begeistert. Ein großer heller Raum, mit Blick auf das Charlottenburger Schloss. Außergewöhnlich fand ich das große verschiebbare Dachfenster mitten in seinem Atelier. Milan erklärte mir, dass er dadurch tagsüber ideale Lichtverhältnisse zum Arbeiten hat. Aber besonders fasziniert war ich von seinen unterschiedlichen Werken: Landschaften, Portraits, surrealistische Arbeiten und einige abstrakte Bilder. Ich war tief beeindruckt, und es war eine tolle Erfahrung, ihn bei der Arbeit zu erleben. Er war konzentriert und gleichzeitig distanziert. Nach drei Stunden konnte ich nicht mehr ruhig sitzen und er bat mich zu gehen. Er würde danach noch in Ruhe an dem Porträt weiterarbeiten. Sarah, ich kam mir vor wie eine Sechzehnjährige, die man nachhause schickt, bevor es dunkel wird, und nicht wie eine erwachsene Frau von achtundzwanzig Jahren.«

Ich musste lächeln. Das war Nora: mal das kleine Mädchen, mal knallharte Geschäftsfrau, und dann wieder die lustige, unterhaltsame Partymaus. An ihr wirkte nichts aufgesetzt.

Inzwischen waren wir fast vor ihrer Wohnung angekommen. Tiefstes Neukölln. Zu allem Überfluss befand sich ihre Wohnung auch noch im dritten Hinterhof. Nicht nur ihre Schwester Ellen, auch ich und diverse Freunde hatten mehrmals versucht, sie zu überreden, in einen anderen, unserer Meinung nach »weniger düsteren« Bezirk zu ziehen. Fehlanzeige. Sie dachte nicht im Traum daran, »ihren Kiez« aufzugeben, um in eine Spießersiedlung zu ziehen. Unser Argument, dass es zwischen Kiez und – wie sie es nannte – »Spießersiedlung« auch noch etwas anderes gab, ignorierte sie.

»Fahrziel erreicht, liebe Nora.«

Als wir uns verabschiedeten, versprach ich ihr, wenn es Gregors Dienstplan zulasse, demnächst ein Treffen bei uns zu organisieren.

3

Bisweilen verfluchte Nora diese klobige, alte Haustür. Das Schloss klemmte mal wieder. Sie schimpfte und stemmte sich mit vollem Körpereinsatz dagegen. Nichts passierte. Wütend rüttelte sie an der Türklinke, und siehe da: Die Tür sprang auf. Sie war, wie häufig in letzter Zeit, gar nicht abgeschlossen. Nora nahm sich vor, den Hausmeister auf den Missstand aufmerksam zu machen. In dieser Gegend würde es nicht lange dauern, bis sich Obdachlose oder sonstiges Gesindel in den Fluren und Nischen niederließen. Vor ein paar Jahren hatte es ein ähnliches Problem gegeben: Die Haustür stand ständig offen und die Wohnungs- und Kellereinbrüche nahmen rapide zu. Erst als die fünfzehn-jährige Tochter einer Mieterin von herumlungernden Jugendlichen im Hausflur belästigt wurde, bekam die Tür ein neues Schloss.

Wütend und mit einem flauen Gefühl in der Magengegend eilte sie durch die drei Hinterhöfe. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, erreichte sie ihre Wohnung im vierten Stockwerk und wich erschrocken zurück. Am Knauf ihrer Tür hing kopfüber eine rote Rose mit einem kleinen Kärtchen, auf dem stand:

Ich träume nur noch von Dir, meine Schöne!

Nora starrte irritiert auf das Geschriebene: kein Absender, nichts, gar nichts. Verunsichert betrat sie ihre Wohnung.

4

Milan schaute dem Wagen nach, in dem sich Sarah und Nora befanden. Nachdenklich begab er sich ebenfalls auf den Heimweg. Den heutigen Abend im Kreis von Noras Freunden hatte er als sehr angenehm empfunden. Aufmerksam hatte er den Gesprächen zugehört, die Anwesenden beobachtet und dabei auf deren Körpersprache geachtet. Er konnte seine Mitmenschen schon immer relativ schnell einordnen. Lügner und Angeber wurden von ihm zielsicher aussortiert.

Nora am heutigen Abend beobachten zu können, hatte ihn ganz besonders erfreut: Sie stand im Mittelpunkt, ohne sich aufzudrängen.

Als er sie vor einigen Monaten kennenlernte, wusste er von der ersten Sekunde an, dass genau sie die Frau war, nach der er immer gesucht hatte. Sie war ihm merkwürdigerweise auf Anhieb vertraut. Dabei hatte ihm der Moment des Kennenlernens ein dickes Knie beschert. Nora stand vor ihm am Lufthansa-Schalter, um genau wie er für den Flug nach Paris einzuchecken. Um jemandem den Weg frei zu machen, schob sie schwungvoll ihren Koffer nach hinten, genau gegen sein Knie. Ihre echte Betroffenheit, ihr schuldbewusstes Lächeln und ihr Bemühen, ihm irgendwie behilflich zu sein, waren der Beginn einer hoffnungsvollen Liebesbeziehung.

Inzwischen war ihm klar, weshalb ihm Nora von Anfang an so vertraut war. Zufällig, beim Sortieren diverser Papiere, war ihm kürzlich ein Bild seiner Schwester Arjana in die Hand gefallen: Ihr Lächeln, die sanften, braunen Augen, das lange, seidige Haar – er hatte das Gefühl, Nora schaute ihm aus dem Bild entgegen. Unerwartet überfiel ihn beim Anblick des Bildes eine tiefe Traurigkeit. Seit sechzehn Jahren war seine Schwester verschwunden. Nur mit einem kleinen Koffer und ihrem bunten Rucksack hatte sie eines Nachts das Elternhaus verlassen. Ein paar flüchtig hin gekritzelte Worte, »Liebe Familie, verzeiht mir«, war alles, was geblieben war. Es kam nie ein Anruf, ein Brief oder ein noch so kleines Lebenszeichen von ihr. Über ein Jahr versuchte ein Privatdetektiv, Arjanas Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Vergeblich. Sie wollte nicht gefunden werden. Danach war nichts mehr wie es war. Die Eltern machten sich Vorwürfe. Täglich gab es Streit. Vater kam jetzt noch seltener nachhause und verbrachte offiziell immer öfter die Nächte in seiner Klinik. Mutter wusste es besser. Er war bei Alisa, seiner langjährigen Mitarbeiterin. Etelka wurde krank, und so peu à peu zerbrach die Familie.

Athen zu verlassen und nach Berlin zu gehen, war für ihn und Damianos das Beste, was sie machen konnten. Endlich konnten sie durchatmen, fühlten sich frei. Die familiäre Situation war weder für ihn noch für Damianos erträglich. Jetzt allerdings, mit Abstand betrachtet, würde er doch gern wieder seine Eltern besuchen. Er nahm sich fest vor, noch in diesem Jahr nach Athen zu fliegen.

5

Nora hatte ich abgesetzt und sah noch im Rückspiegel, wie sie gegen die Eingangstür trat. Bevor ich um die nächste Ecke bog, hielt ich noch mal kurz an, um mich zu vergewissern, dass sie auch im Haus verschwunden war, und genau in diesem Moment bekam sie die Tür auf und war weg. Erleichtert machte ich mich auf den Heimweg.

Die Straßen waren relativ leer und ich kam zügig voran. In Gedanken beschäftigte ich mich noch mit dem heutigen Abend. Ich empfand ihn als ausgesprochen unterhaltsam. Zum Schluss dann noch Edgars Licht-aus-Rauswurf-Nummer und Milans überraschter Blick, als Nora ihm einen Kuss auf die Wange drückte und wie der Blitz in meinem Auto verschwand. Er war vermutlich genauso erstaunt gewesen wie ich. Ich dachte, an solche Spontanaktionen wird er sich bei ihr gewöhnen müssen.

Am Waidmannsluster Damm verließ ich die Autobahn und stand schneller als erwartet im Moorweg vor unserem Haus. Das Licht im Wohnzimmer signalisierte mir, dass Gregor bereits daheim war. Seit er bei der Mordkommission arbeitete, waren gemeinsame Unternehmungen kaum noch möglich. Im ersten Jahr seiner Tätigkeit im Dezernat für Kapitalverbrechen stand unsere Ehe mächtig auf der Kippe. Wir sahen uns kaum noch. Das Telefon klingelte zu jeder Tages- und Nachtzeit und Gregor musste los. Müde und kaputt kam er dann irgendwann nachhause und brauchte natürlich ein paar Stunden Schlaf. Ich fühlte mich vernachlässigt, machte ihm Vorwürfe und hörte ihm einfach nicht mehr zu.

Eines Tages fiel Gregor beim Baumbeschneiden von der Leiter, brach sich zwei Rippen und musste einige Zeit zuhause bleiben. Rückblickend gesehen, haben die gebrochenen Rippen unsere Ehe gerettet. Wir fanden glücklicherweise wieder eine Gesprächsebene und entdeckten unsere Liebe zueinander neu. Das war vor zehn Jahren gewesen.

Gregor saß nicht, wie ich annahm, im Wohnzimmer, sondern am Küchentisch. Zwei, drei Kerzen flackerten, und mein Mann starrte in sein halbvolles Glas. Als ich ihn zur Begrüßung umarmte, stöhnte er nur kurz sorgenvoll auf.

»Oh je, Gregor, sieht nach einem anstrengenden Arbeitstag aus.«

Er nickte nur. Nachdem ich mir ebenfalls ein Glas Rotwein eingegossen hatte, setzte ich mich zu ihm.

Unvermittelt fing er an zu sprechen: »Heute haben sie die Frau gefunden. Die Frauenleiche, zu der der Fuß passt. Auf ihrem Oberschenkel wurden die gleichen Zeichen eingeritzt, die wir auch auf dem Fußrücken entdeckten. Auch sie lag nackt – wie schon das Opfer, der man die Hand abgetrennt hatte – unter einem Busch nahe der Avus. Ein Spaziergänger, der mit seinem Hund unterwegs war, hat sie gefunden.

Sarah, da ist ein Psychopath am Werk. Wenn wir nur wüssten, was diese Zeichen zu bedeuten haben. Unser Pathologe tappt ebenfalls im Dunkeln. Es scheint immer die gleiche Vorgehensweise zu sein. Auch dieses Opfer hat sich, ebenso wie das Opfer davor, nicht gewehrt. Es gab keinerlei Hämatome oder Kratzspuren die auf Gegenwehr schließen ließen. Beide Frauen hatten kurz vor ihrem Tod sexuellen Kontakt. Er benutzte noch nicht mal ein Kondom. Wenn wir ihn fassen, könnte seine DNA ein entscheidendes Beweismittel werden. Es gibt nur eine Erklärung für dieses Verhalten: Er fühlt sich sicher. Aber warum verstümmelt er sie, trennt ihnen Gliedmaßen ab und deponiert sie so, dass man sie innerhalb kürzester Zeit finden muss? Unsere Ermittlung stockt, wir kommen kein Stück voran. Beide Frauenleichen lassen die Vermutung zu, dass er sich vorzugsweise große, schlanke, langhaarige Opfer sucht. Die Haarfarbe ist ihm offensichtlich egal.«

Gregor schaute mich fragend an, als wüsste ich die Lösung.

Inzwischen wusste ich, wie wichtig Gregor diese Momente mit mir waren. Es reichte ihm, wenn ich einfach nur zuhörte und keinen Kommentar abgab. Am nächsten Tag interessierte ihn dann meine Sichtweise auf die Dinge.

»Entschuldige Sarah, jetzt habe ich dich wieder zuge-textet. Erzähl mir von deinem Treffen mit Ellen und den anderen.«

Wir gossen uns noch ein zweites Glas Wein ein und ich berichtete ihm von dem Abend. Gregor wollte wissen, welche Musiker heute gespielt haben, wer von unseren Bekannten ebenfalls da war und ob Edgar seine »Licht-aus-Rauswurf-Nummer« abgezogen hat. Ich beantwortete seine Fragen und erwähnte noch, dass ich Nora nachhause gebracht und ihr versprochen hatte, demnächst bei uns ein Treffen zu organisieren.

»Übrigens, Gregor: Nora hat einen neuen Freund. Milan Pagos oder Pagonis, ein Künstler. Um genau zu sein, ein Maler. Ein ausgesprochen attraktiver Mann, aber sehr distanziert. Vielleicht lag es daran, dass er niemand aus unserem Kreis kannte.«

Gregor fand die Idee, ein Treffen zu organisieren, sehr gut und blätterte bereits in seinem Dienstplan. »Am nächsten Wochenende habe ich, wenn alles gut geht, drei Tage frei. Am besten, Sarah, du startest morgen schon mal den ›Rundumruf‹, damit sich unsere Freunde darauf einrichten können.«

Noch während wir bei der Planung waren, klingelte das Telefon. Als Gregor den Hörer abnahm, wurde sein Gesicht ernst. Schweigend hörte er zu und legte dann seufzend den Hörer auf. »Das war mein Kollege Engels. Soeben hat ein Wachmann bei seinem Rundgang eine Frauenleiche gefunden. Das Gelände liegt unweit der Avus. Der Mann hörte ungewöhnliche Geräusche hinter den Müllcontainern. Als er mit der Taschenlampe dahinter leuchtete, sprang ihm ein Fuchs entgegen und rannte davon. Zwischen den aufgeweichten Kartons und diversen Kabeln entdeckte er dann die Frau. Sie war ebenfalls nackt. Auch sie wurde verstümmelt. Der Täter trennte ihren Kopf vom Rumpf.«

Nach einer kurzen, unruhigen Nacht saßen wir wenige Stunden später am Frühstückstisch, ich mit pochenden Kopfschmerzen und Gregor unausgeschlafen und mürrisch. Er telefonierte noch schnell mit seinem Kollegen und erfuhr von ihm, dass es sich vermutlich um denselben Täter handelte. Auf der Brust des Opfers waren, wie auch bei den beiden anderen, rätselhafte Zeichen eingeritzt worden. Der Kopf blieb verschwunden.

»Ich muss los, Sarah. Zuerst werde ich ins Gerichtsmedizinische Institut fahren, vielleicht gibt es neue Erkenntnisse.«

Gregor umarmte mich und wollte das Haus verlassen als mein Blick auf sein kariertes Hemd fiel. »Stopp, Gregor, so kannst du nicht gehen.«

Er schaute an sich hinunter und bemerkte den riesigen Rotweinfleck auf seinem Hemd. Fluchend rannte er ins Schlafzimmer, zog sich um und wollte an mir vorbeieilen. Das Hemd war zwar sauber, aber schief zu geknöpft. Ungeduldig und mürrisch stand er vor mir, und ich beeilte mich, das Malheur zu beseitigen. Er stürmte danach knurrend an mir vorbei, sprang ins Auto und war weg. Wie immer stand ich am Fenster, aber Gregor schaute sich nicht mehr um. Seine Thermoskanne und die eingewickelten Brote hatte er wieder einmal vergessen.

Sehr oft vergaß er seine Brotzeit mitzunehmen oder zog ein Hemd vom Vortag an, versäumte sich zu rasieren oder lief mit unterschiedlichen Schuhen los. Allerdings hatte diese Schusseligkeit nichts mit seiner Arbeit zu tun. Gregor war schon immer so. Für ihn waren das Nebensächlichkeiten.

Ich war daran gewöhnt und versuchte, diesbezüglich für Schadensbegrenzung zu sorgen. Es gelang mir nicht immer. Allerdings waren das wirklich nur Nebensächlichkeiten. In letzter Zeit machte ich mir eher Gedanken um seinen Gesundheitszustand: Seine Haut war fahl, er schlief schlecht, knirschte neuerdings nachts laut mit den Zähnen und war ständig übermüdet. Diese brutalen Verbrechen setzten ihm gewaltig zu.

Da es noch früh am Tag war, beschloss ich kurzerhand, mich auf die Terrasse zu setzen. Vielleicht halfen mir frische Luft und ein starker Kaffee, endlich wach zu werden. Ich zündete mir eine Zigarette an und kuschelte mich in den bequemen Korbstuhl. Noch lag der größte Teil des Gartens im Schatten. Die Luft war kühl und angenehm. Der gestrige starke Regen hatte dafür gesorgt, dass die Pflanzen nach der langen Hitzeperiode wieder frisch und lebendig wirkten. Einige Vögel suchten emsig den Rasen nach Regenwürmern und sonstigem Getier ab. Über allem lag eine friedliche Stille.

Einen kurzen Moment überlegte ich, ob ich den Ton des Telefons lautlos stellen sollte. Eingewickelt in eine warme Decke wollte ich momentan nicht gestört werden, entschied mich dann aber doch dagegen. Für Gregor wollte ich erreichbar bleiben.

Noch während ich darüber nachdachte, schrillte mein Telefon. Erschrocken fuhr ich hoch. Es war nicht Gregor, sondern Ellen. Sie plapperte ohne Umschweife sofort los.

»Langsam, Ellen, langsam – um deine Fragen zu beantworten: Ja, ich bin gut nachhause gekommen. Nora habe ich auch noch abgesetzt. Ja mir geht’s auch gut. Nein, Gregor ist nicht mehr hier, er ist eben zur Arbeit gefahren!«

Ellen bemerkte wohl meine missgelaunte Stimmung, und ich berichtete ihr im Telegrammstil, warum ich etwas verhalten wirkte. »Ich habe sehr schlecht geschlafen und bekomme die Geschehnisse schwer aus meinem Kopf. Aber ich freue mich trotzdem, denn ich wollte dich später ohnehin noch anrufen. Gregor hat nächstes Wochenende frei und wir wollen ein paar Freunde einladen. Schau mal, ob der kommende Samstag terminlich auch für dich und Athanaseos passt. Die anderen werde ich gleich im Anschluss anrufen.«

Das Telefonat mit Ellen dauerte dann noch eine knappe Stunde. Wir unterhielten uns über dies und jenes, lachten zwischendurch herzhaft, und als ich den Hörer auflegte, hatten sich meine nachdenkliche Stimmung sowie meine Kopfschmerzen im wahrsten Sinne des Wortes in Luft aufgelöst.

Da ich nun schon das Telefon in der Hand hielt, rief ich noch Nora an, um sie für das bewusste Wochenende einzuladen. »Übrigens: Du kannst gern Milan mitbringen. Gregor fände es auch spannend, mal einen Künstler in unserer Mitte zu haben.«

Das Telefonat war kurz, da Nora sich mitten in einer Besprechung befand. Sie bedankte sich für die Einladung und sagte spontan zu, ohne mit Milan gesprochen zu haben.

6

Er stand zögernd vor ihrer Wohnungstür. Ihm war klar, dass er im Begriff war, eine lebenslang geltende Abmachung zu ignorieren. Er wusste auch, dass es das Ende, das Ende von allem bedeuten konnte. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Die Hände wurden feucht. Sein Herz raste. In seinem Kopf fand ein Feuerwerk der Emotionen statt. Lass es – mach es nicht – es ist der falsche Weg! – Doch, du musst es tun - du musst! – Sie ist eine Gefahr – du musst ihn retten, dich retten! – Nein, tu es nicht – doch, du musst …

Noch konnte er umdrehen, die vier Stockwerke nach unten rennen und das Haus verlassen. Noch wurde die Abmachung nicht verletzt. Bewegungslos verweilte er vor der verschlossenen Tür. Sein Atem ging schnell und stoßweise, seine Finger zuckten unkontrolliert. Ständig hatte er ihr Bild vor Augen. Sie verfolgte ihn. Er konnte, seit er sie das erste Mal gesehen hatte, keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie ist schön, wunderschön. Ihr Lächeln war ihm auf eine unangenehme Weise vertraut. Sie verunsicherte ihn, machte ihn aggressiv, sehr aggressiv, und – sie störte seinen Frieden. Ja, genau so war es: Sie störte seinen Frieden!

Langsam, ganz langsam beruhigte er sich. Seine Atmung wurde leiser, regelmäßiger. Die Finger zuckten nicht mehr. Sein Blick wurde starr, seine Mundwinkel verzogen sich zu einem bösartigen Grinsen. Die Tür schnappte auf.

Es war nicht besonders schwierig, die verschlossene Wohnungstür zu öffnen. Das Risiko war gering. Die Wohnung lag im obersten Stockwerk eines heruntergekommenen Hauses. Die grüne Ölfarbe an den Wänden war zum großen Teil abgeplatzt. Die Stufen waren schief, krumm und ausgelatscht. Es gab auf dieser Etage nur noch einen Nachbarn. Oh ja, er wusste Bescheid. Er überließ nichts dem Zufall. Seit einigen Tagen beobachtete er das Haus. Die ältere, kleine, dicke Frau mit dem ebenso kleinen, dicken Hund – ja, genau sie sollte ihm seine Fragen beantworten. Vor ein paar Tagen war er ihr unauffällig in den Park gefolgt. Er mimte einen Hundebesitzer, der verzweifelt seinen Hund