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Als in einem Frankfurter Pharmaunternehmen ein Mitarbeiter vergiftet wird, ist LKA-Kommissar Peter Groß und seinem Team schnell klar, dass der Mord mit den Versuchsreihen des Konzerns zusammenhängen muss. Doch wieso wurde der Mitarbeiter umgebracht und wer manipuliert die wichtige Forschungsarbeit? Als Peter Groß bei seinen Nachforschungen einem Pharmaskandal auf die Spur kommt, erhält er selbst Morddrohungen. Doch Aufgeben gehört nicht zu seinen Stärken, und er muss mit seinem Team unkonventionelle Methoden anwenden, um dem Täter auf die Spur zu kommen. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, an dessen Ende schließlich eine menschenverachtende Entdeckung steht …
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Seitenzahl: 557
Veröffentlichungsjahr: 2021
Als in einem Frankfurter Pharmaunternehmen ein Mitarbeiter vergiftet wird, ist LKA-Kommissar Peter Groß und seinem Team schnell klar, dass der Mord mit den Versuchsreihen des Konzerns zusammenhängen muss. Doch wieso wurde der Mitarbeiter umgebracht und wer manipuliert die wichtige Forschungsarbeit? Als Peter Groß bei seinen Nachforschungen einem Pharmaskandal auf die Spur kommt, erhält er selbst Morddrohungen. Doch Aufgeben gehört nicht zu seinen Stärken, und er muss mit seinem Team unkonventionelle Methoden anwenden, um dem Täter auf die Spur zu kommen. Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, an dessen Ende schließlich eine menschenverachtende Entdeckung steht …
Erstausgabe Januar 2021
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-351-1 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-499-0
Covergestaltung: Rose & Chili Design unter Verwendung von Motiven von depositphotos.com: © robertsrob, kjpargeter shutterstock.com: © bogdan ionescu, worawut2524, Vasilii Koval, AjayTvm Lektorat: Daniela Pusch
E-Book-Version 19.09.2024, 11:55:55.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
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Der Oktober bringt euch den TOD!
Mein Name ist Peter Groß. Ich saß regungslos in meinem Auto. Ich hatte am Straßenrand gehalten, nachdem ich aus der Tiefgarage gefahren war. Das Radio lief. Die Stimme der SWR3-Nachrichtensprecherin drang in mein Bewusstsein und mutierte zu unverständlichem Geschwätz. Wurde zum lästigen Hintergrundgeräusch der absonderlichen Bilder, die sich in meinen Kopf drängten. Regen platschte gegen die Autofenster. Die Tropfen brachen das Licht der Straßenlaternen wie Prismen, bevor die Scheibenwischer sie zerfetzten und wegfegten. Wie Splitter zerbrochenen Glases. Ihr Glitzern verwandelte meine Gedanken in surreale Szenerien. Nackte Menschenkörper auf gleißend hell beleuchteten Seziertischen, mit aufgesägten, leeren Schädeln, ihr Hirn lag neben ihnen in einer Schüssel. Wissenschaftler mit grellweißen Kitteln und irren Fratzen stocherten mit meterlangen Nadeln und Pipetten darin herum. Wenn sie fertig waren, zogen sie Saugrohre von der Decke, Schläuche wie überdimensionale, gefräßige Raupen, die gierig das unnütz gewordene Gewebe aus den Schüsseln verschlangen. Die Kittelträger auf der anderen Seite des Labors öffneten die Bäuche toter Schwangerer und zogen Föten aus ihren Gebärmuttern. Das auslaufende, geronnene Blut und das tote Gewebe schwappten auf die Seziertische. Es färbte ihre reinen Kittel rot, aber es störte sie nicht. Sie interessierten sich nur für die Föten, legten sie in Stahlwannen und griffen nach Skalpellen. Mir entfuhr ein gellender Schrei. Ich presste mir die Hand auf den Mund.
Der Oktober bringt euch den TOD!
Den Zettel hatte ich vor zwanzig Minuten in unserem Briefkasten gefunden. Ein kleines, unscheinbares Blatt Papier, das nur zweimal gefaltet und eingeworfen worden war. Ungläubig hatte ich die sechs handschriftlich verfassten Wörter angestarrt, mit zittrigen Händen, unfähig, mich zu rühren. Die Schrift war schmal, lang gezogen, zackig und kippte nach rechts. Es schien, als würden die ersten fünf Wörter dem TOD hinterherlaufen, und ihn überrennen, ihn auslöschen wollen, um den Oktober vor seinem bitteren Schicksal zu bewahren. Aber der TOD blieb stehen. Er ließ sich nicht abdrängen, nicht widerrufen, er war das Urteil der letzten Instanz. Wie eine ungerechte, unabwendbare Todesstrafe, die alles Vorherige sinnlos machte. Als ich die Bedeutung der anonymen Nachricht erfasst hatte, setzte mein Herzschlag für einen Moment aus, eine unsichtbare Hand drückte mir die Kehle zu.
Nachdem meine Atmung wieder eingesetzt hatte, war ich stolpernd losgegangen, hatte weder rechts noch links geschaut, hatte mich hinunter in die Tiefgarage geschleppt, ohne den Regen, den Wind und die Geräusche wahrzunehmen. Meine Gedanken, wie Scheuklappen, schotteten mich von der Umwelt ab. Es gab nur noch diesen Zettel. Ich steckte ihn in die Jackentasche, setzte mich in mein Auto, atmete tief ein und fuhr los. Mit dem Zettel. Er steckte noch immer in meiner Tasche. Ich konnte ihn nicht spüren, zu klein und formlos war er. Aber er war da. Ein winziger Zettel so schwer wie ein Betonklotz, ein Gewicht, dass einen herunterzog, tiefer, immer tiefer, bis in die Hölle. Eine Bedrohung, die einem jeden klaren Gedanken raubte, einen durchdrehen ließ.
Der Oktober bringt euch den TOD!
Es war früh am Morgen, noch dunkel. Ich startete den Motor, schwenkte vom Seitenrand auf die Fahrbahn und fuhr mit meinem alten Opel Kombi zum LKA. Häuserzeilen, Lichter und Bäume flogen an mir vorbei, aber ich nahm sie kaum wahr. Meine Hände und Füße kribbelten, blanke Angst davor, dass jede Sekunde etwas passieren könnte. Das Autoradio lief immer noch. Nachrichten, Wettervorhersage und Staumeldungen hatten mich nicht erreicht, aus den Lautsprechern plärrte jetzt Musik. Sie begann mich zu nerven, ich stellte es aus. Endlich Stille. Ich hörte nur noch den ruhigen Motor meines Kombis, das monotone Tackern, das nur hin und wieder von einem leisen Quietschen unterbrochen wurde. Der Keilriemen. Ein vertrautes Geräusch, seit Jahren. Es beruhigte mich, ich konnte wieder denken. Dann kam die Einsicht. Mir wurde heiß. Ich hatte einen entsetzlichen Fehler begangen.
Um die Schuldigen identifizieren zu können, musste ich alle Gesprächsnotizen, Protokolle und Berichte noch einmal durchgehen. Und nach meinem Fehler suchen. Das war jetzt das Wichtigste.
Der Oktober bringt euch den TOD!
Ich parkte vor dem LKA ein.
Mein Name ist Peter Groß. Heute war der 30. September 2019. Zwei Wochen war es erst her. Ich blieb in meinem Auto sitzen. Auf meinen Knien lag eine Kladde mit Protokollen, getarnt mit einer Urlaubskatalog-Hülle. Meine zittrigen Hände blätterten sie zögerlich durch, schlugen die Seiten zurück zum Anfang. Ich fing an zu lesen.
Gesprächsnotiz: LKA Wiesbaden, Büro 1.21 Peter Groß und Karin Weidmann, Freitag 13.09.2019, 07:32 Uhr: Telefonanruf von Dienstellenleiter Gerhard Driller, 17. Polizeirevier (Höchst) - Polizeipräsidium Frankfurt
„Groß!“
„Schönen guten Morgen, Peter. Gerd hier. Erheb dich, es gibt was für euch zu tun. Scheint eine größere Sache zu sein, vermutlich Kampfstoff.“
„Guten Morgen, Gerd. Was liegt an?“
„Ein Toter in einem Büro der Pharmorena AG in Frankfurt Höchst. Es handelt sich um Dieter Kuschinski, dreiundfünfzig Jahre alt. Keine äußeren Anzeichen von Gewaltanwendung. Sein Chef hat ihn gefunden, er lag regungslos vor einem Fenster im vierten Stock. Die Handflächen des Toten sind stark gerötet.“
„Verstehe, ein Toter mit feuerroten Handflächen im Büro eines Pharmakonzerns …“
Protokoll: Frankfurt, Industriepark Höchst, Pharmorena AG, Büro 4-1.25, Freitag 13.09.2019, 08:08 Uhr: Zeugenbefragung durch Peter Groß von Bernhardt Moscher, männlich, 48 Jahre, Teamlead Quality Validation bei der Pharmorena AG
„Guten Morgen, mein Name ist Peter Groß, ich leite die Ermittlungen. Wer sind Sie?“
„Guten Morgen, Herr Groß. Ich bin Bernhardt Moscher. Ich habe meinen Mitarbeiter Dieter Kuschinski um kurz vor 07.00 Uhr dort hinten vor dem geschlossenen Fenster liegen sehen. Hier, durch diese Glastür. Ich habe den Raum nicht betreten.“
***
„Es ist also niemand zu ihm hinein gegangen, um ihm zu helfen? Die Tür wurde bisher nicht geöffnet?“, hatte ich gefragt. Ich hatte nicht verstehen können, wie man einen seiner engsten Kollegen dort hatte im Todeskampf liegenlassen können. Mich überkam ein ungutes Gefühl, das mich noch einige Male während der Ermittlungen heimsuchen sollte. Damals wusste ich es noch nicht. Heute war mir klar, dass sich der Beginn des Falles noch äußerst harmlos darstellte.
„Nein. Seine Augen standen weit offen, sein Gesicht war verzerrt, so wie jetzt auch noch“, verteidigte Moscher sein distanziertes Verhalten. „Er war schon tot, das konnte ich von der Glastür aus erkennen. Wir haben bei der Pharmorena strenge Sicherheitsrichtlinien, da wir mit hochsensiblen, chemischen und organischen Verbindungen arbeiten. Ich habe also den Alarm ausgelöst. In einem Fall wie diesem ist es jedem unserer Mitarbeiter untersagt, etwas anderes zu unternehmen, als die Rettungsdienste und die Polizei zu verständigen. Auf keinen Fall darf man die Türen öffnen, verstehen Sie?“
„Auch nicht hier oben in den Büros?“, wollte ich wissen und hinterfragte die für mich unsinnig klingenden Sicherheitsvorkehrungen.
Moscher kam mir gleich zu Beginn aalglatt vor. An ihm perlte jeder Vorwurf ab. Er hatte seine eigenen Werte, seine eigenen Richtlinien. Er trat selbstsicher auf, war niemand, der sich etwas vorschreiben ließ. Ein Alpha-Tier.
„Auch nicht hier oben. Wir haben unten vor den Labors mehrere Sicherheitsschleusen. Ein Übergreifen von gesundheitsgefährdenden Stoffen in die oberen Etagen sollte nicht möglich sein. Aber durch unglückliche Geschehnisse, menschliches Fehlverhalten oder technisches Versagen können Substanzen entweichen und auch nach hier oben oder sogar nach draußen gelangen.“
„Sie rechnen also mit einem Worst Case Szenario?“, unterstellte ich ihm.
„Ich halte mich an unsere Richtlinien!“
„Hat Herr Kuschinski Familie?“, wechselte ich das Thema, um weiterzukommen und mehr über die Hintergründe der Tat zu erfahren.
„Er war alleinstehend, hatte eine Eigentumswohnung in Kriftel. Dieters Eltern sind tot. Sonst weiß ich nur von einem Onkel in Salzburg, Gundolf Kuschinski. Dieter hat öfters von ihm erzählt, amüsante Geschichten. Der Onkel ist Bühnenbildner am Marionettentheater, ein Lebenskünstler. Von anderen Familienangehörigen weiß ich nichts.“
Moscher schaute durch die Glastür zum Tatort hinüber. Er sah nicht begeistert aus. Unterdrücktes Entsetzen schimmerte in seinen Augen. Es schien mir, als ginge es ihm nicht um den bedauerlichen Tod seines Kollegen. Nein, es ging um etwas anderes. Etwas, das nicht hätte passieren dürfen. Etwas, das den Lauf der Dinge stören würde.
„Sie sind Dieter Kuschinskis Chef?“, fragte ich und riss ihn damit offensichtlich aus seinen Gedanken. Es zuckte kurz in seinem Gesicht, dann hatte er sich wieder unter Kontrolle.
„Ja.“
„Was war seine Aufgabe in Ihrem Team?“
„Er ist, äh, war Senior Quality Engineer und zuständig für das Quality Risk Management. Er hat einen Risikoplan aufgestellt und Prozeduren zur Risikobewertung entwickelt.“
Mit diesem Metier hatte ich in meinem bisherigen Leben keine Berührungspunkte gehabt, es waren böhmische Dörfer für mich. Ich musste es wohl oder übel zugeben: „Ganz ehrlich, davon verstehe ich absolut nichts, Herr Moscher. Was genau hat er in den letzten Wochen gemacht? Erklären Sie es mir bitte so, dass ich es verstehe!“
„Er hatte regelmäßige Treffen mit den Drug Developern, also mit unseren Wissenschaftlern, die an neuen Wirkstoffen forschen und Medikamente entwickeln. Er hat ihre Systeme, Apparate, Prozesse und Arbeitsweisen untersucht, und eventuelle Risiken identifiziert, bewertet und Gegenmaßnahmen zur Risikominimierung aufgestellt.“
Risiken. Ich wurde hellhörig. Risiken konnten durchaus eine Ermordung nach sich ziehen. Vor allem Risiken während einer Medikamentenentwicklung. Es musste dabei um sehr viel Geld gehen, vermutete ich.
„Verstehe. Wie oft hat er Sie über identifizierte Risiken informiert, Herr Moscher?“
„Wir hatten wöchentliche one-to-ones, also Einzelgespräche, in denen er mich über den aktuellen Stand seiner Tätigkeit informiert hat. Dazu hat er gemeinsam mit zwei Quality Engineers aus unserem Team Tagesberichte über unser Tracking-Tool verfasst und an mich assigned. Dort ist seine Arbeit nachzuvollziehen.“
„Würden Sie meinen Kollegen von der KTU Zugriff auf dieses Tool gewähren?“, bat ich Moscher. „Die werden auch sein Notebook mitnehmen. Sie melden sich gleich bei Ihnen.“
„Ja, natürlich“, meinte Moscher kühl.
„Wir gehen davon aus, dass Herr Kuschinski ermordet wurde, Herr Moscher. Man sieht seine knallroten Hände von hier aus. Da Sie vom Fach sind, was könnte die Rötungen an seinen Handflächen hervorgerufen haben und binnen kurzer Zeit tödlich wirken?“, wollte ich von ihm wissen, davon ausgehend, dass er sich in der Giftküche auskannte.
„Ist reine Spekulation, aber mir fällt als erstes Kontaktgift ein. Deshalb habe ich auch den Raum nicht betreten. Wenn ein solches Gift diffundiert, liegt man kurz darauf tot daneben.“
Bingo, er kannte sich also tatsächlich in der Giftküche aus!
„Tödliches Gift scheint in Mode zu kommen, ist ja in letzter Zeit öfters durch die Presse gegangen“, merkte ich an. „Aber wie ich gelesen habe, kann man es nicht einfach in der Apotheke kaufen. Welches käme da also infrage, Herr Moscher?“
„Nun ja, ich gehe davon aus, dass es schnell gewirkt haben muss, daher könnte es ein Nervenkampfstoff wie Sarin oder VX gewesen sein. Bei Rizin und anderen Giften dauert es Tage, bis das Opfer verstirbt. Aber an sowas kommt man in der Regel nicht heran. Schnell wirkt auch das natürliche Gift aus den Knollen des Blauen Eisenhuts, der ist wiederum erheblich einfacher zu beschaffen. Es gibt auch einige Fische, deren Sekrete hochtoxisch auf menschliche Zellen wirken.“
„Sehr interessant. Werden solche Gifte hier bei Ihnen im Gebäude gelagert?“
Ich schaute Moscher unverblümt an. Er verzog keine Miene bei seiner Antwort. Ungewöhnlich, die Worte klangen nach Entrüstung, sein Gesicht war wie eine nichtssagende Maske.
„Natürlich nicht! Wir entwickeln keine biologischen oder chemischen Waffen, Herr Kommissar. Wir sind ein Pharmakonzern, kein Rüstungsunternehmen.“
„Wie auch immer, unsere Rechtsmedizin wird bald herausfinden, ob und welches Gift es war, dann sehen wir uns nach der Bezugsquelle um“, drohte ich Moscher. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er so ahnungslos war, wie er sich gab.
„Eine Bezugsquelle werden Sie bei uns auf keinen Fall finden, das kann ich Ihnen versichern.“
„Gut, Herr Moscher. Eine andere Frage: Ich habe mich auf dem Weg zu Ihnen kurz schlaugemacht. Es geht bei der Entwicklung neuer Medikamente um Millionenbeträge, erstens bei der Vergabe von Forschungsaufträgen, zweitens beim Absatz, richtig? Bei so viel Geld hört die Freundschaft bekanntlich auf. Können Sie sich vorstellen, dass etwas aus Herrn Kuschinskis Arbeitsumfeld der Grund für seine Ermordung sein könnte?“
„Nein, auf gar keinen Fall!“
***
Nein, auf gar keinen Fall! Bernhardt Moscher hatte mir auf widerliche Art und Weise direkt ins Gesicht gelogen, das wusste ich inzwischen. Diese verdammten Wissenschaftler. Ich ekelte mich vor ihnen. Sie waren wie ein bösartiges Geschwür. Im Laufe der Ermittlungen war mir klar geworden, dass dieses Geschwür unaufhaltsam weiter und weiter wuchs, es hatte sich in Frankfurt Höchst festgefressen und war aus dem Industriepark bis über die deutschen Grenzen hinaus gewuchert. Selbst wenn wir das abnorme Gewebe zu packen bekämen und herausreißen würden, es war schon zu groß. Die hinterlassenen Schäden wären irreparabel. An einigen Stellen würden unverwüstliche Reste hängen bleiben, die neue unkontrollierbare Geschwüre wachsen ließen. Würden wir das abnorme Gewebe zu packen bekommen? Ich verspürte eine lähmende Angst um meine Kollegen. Würden alle der Bedrohung standhalten? Selbst ich alter Hase konnte mich nicht davon freisprechen. Waren einige bereits von ihnen manipuliert worden? Auf Karin konnte ich mich verlassen, da war ich mir sicher. Aber die anderen?
Ich hatte mir zur Sicherheit alle Dokumente auf mehrere USB-Sticks kopiert, falls mir etwas passieren sollte, und diese an unterschiedlichen Stellen deponiert, damit die Informationen nicht verloren gingen, wenn jemand etwas verschwinden ließ oder unsere internen Systeme angegriffen würden. Ich hatte alles mehrfach ausgedruckt, und die Kladden an verschiedenen Orten gelagert. Das war weiß Gott nicht zulässig, aber selbst bis in das LKA könnten ihre giftigen Tentakel eindringen. Und ich wusste nicht, wer von meinen Kollegen schon infiziert war. Ich nahm mir das nächste Protokoll vor.
***
Protokoll: LKA Wiesbaden, Verhörraum 4, Samstag 14.09.2019, 12:45 Uhr: Zeugenbefragung durch Peter Groß von Bernhardt Moscher, männlich, 48 Jahre, Teamlead Quality Validation bei der Pharmorena AG
„Sie arbeiten bei der Pharmorena AG in Frankfurt Höchst, ist das richtig, Herr Moscher?“
„Ja, richtig, das wissen Sie doch alles schon. Und dafür bestellen Sie mich an einem Samstag her?“
„Wir zeichnen die Befragung auf, ist nur fürs Protokoll. Herr Moscher, wie haben Sie gestern den Tag noch verbracht?“
„Ich bin nach Hause. Unser Büro wird für unbestimmte Zeit gesperrt sein. Egal was es war, es war tödlich. Der Raum ist kontaminiert, er wurde versiegelt. Wirklich schade, das ist ein Hindernis für Ihre Spurensucher. Es darf aktuell keiner rein.“
***
Es darf aktuell keiner rein. Dieser Mistkerl. Als wenn er das bedauert hätte. Ich konnte mich an das Gespräch erinnern, als wäre es erst gerade eben gewesen. Mit seiner einbetonierten Unschuldsmiene hatte er mir während der gesamten Befragung direkt in die Augen gesehen. Nichts Bedauerndes, Befremdetes, Aufgerütteltes, einfach nichts. Den Mord an seinem direkten Kollegen hatte er wie nichts weggesteckt. Ich vermutete, weil sich hinter der sauberen, wissenschaftlichen Fassade Abgründe verbargen.
„Das stimmt, aber machen Sie sich darüber keine Sorgen, bald sind wir wieder vor Ort. Unser Spezialkommando hatte entsprechende Schutzkleidung, als sie die Leiche abtransportiert haben. Und die Kollegen haben, soweit sie das konnten, Spuren gesichert. Sobald wir wissen, worum es sich bei dem Gift handelt, geht es weiter“, erwiderte ich.
„Ich drücke Ihnen die Daumen, dass es klappt, Herr Groß. In den anderen Büros lief die Arbeit jedenfalls nach Dieters Ermordung nur schleppend weiter. Der Schock darüber sitzt immer noch tief. Aber wir können die Versuchsreihen nicht sich selbst überlassen. Es hängen Menschenleben davon ab, dass wir zu guten und sicheren Ergebnissen kommen.“
„Wie läuft eine Medikamentenentwicklung bei Ihnen ab, Herr Moscher?“
Ich hatte mich bei der Frage vorgebeugt, um ihn genauestens beobachten zu können. Jede Zuckung in seinem verlogenen Gesicht, jeden Wimpernschlag, jeden Tropfen Schweiß, der ihm aus den Poren drang, wollte ich sehen, den Wahrheitsgehalt seiner Worte erkennen.
„Das ist gar nicht so einfach. Pro Jahr werden abertausende Anträge für die Entwicklung neuer Medikamente gestellt. Die Forschungsarbeit ist verdammt teuer, man braucht Fördergelder, es handelt sich meist um Millionenbeträge. Über neunzig Prozent der Anträge werden abgelehnt. Man kann sich also glücklich schätzen, wenn man unter den wenigen Antragstellern ist, denen eine Zusage erteilt wird. Und nach jeder Testphase wird weiter aussortiert. Vieles wird während der Entwicklung wieder eingestampft.“
Auch wenn ich es nicht wollte, diese Aussage hatte mich an dem Tag der Befragung beeindruckt. Das war mir nicht bewusst gewesen. Zu Beginn hatte ich Bernhardt Moschers Worten noch Glauben geschenkt. Sie klangen sachlich. Ehrlich. Wahrhaftig. Und mit dieser Masche hatte er mich hereingelegt. Ich hatte mich blenden lassen von seiner charismatischen Art. Verdammter Mistkerl!
„Also ein hart umkämpfter Markt, richtig?“, hakte ich nach.
Nun beugte er sich vor, sah mir mit seinem durchdringenden Blick tief in die Augen, als wolle er mir damit seine Worte direkt ins Gehirn einspritzen, um keinen Zweifel aufkommen zu lassen. Ich spürte seinen Atem, so nah kam er mir.
„So ist es, Herr Kommissar“, meinte Bernhardt Moscher.
„Wer gibt Ihnen so viel Geld, Herr Moscher?“, wollte ich wissen, lehnte mich zurück, um wieder Abstand zu gewinnen.
„Das ist ein internationaler Markt, kaum ein Unternehmen operiert lediglich in Deutschland. Die Globalisierung ist im Pharmasektor in vollem Gange. Fördergelder kommen von überall her, auch von der Europäischen Union. Darin sind Megainvestoren und Forschungseinrichtungen genauso involviert wie Politiker“, erklärte Moscher ohne Regung.
Wie konnte er nur dermaßen emotionslos bleiben? Hing doch seine gesamte Forschung von den Fördergeldern ab. Sobald der Geldhahn abgedreht wurde, war es mit ihm und der Pharmorena vorbei. Genau an dieser Stelle musste ich nachhaken. Sei auf der Hut, Peter Groß, lass dich jetzt nicht an der Nase herumführen!
„Und trotzdem kann einem in der nächsten Entwicklungsphase die Genehmigung verweigert werden?“, fragte ich.
„Genau so sieht es aus, Kommissar Groß“, antwortete er.
Er blieb kühl, zurückhaltend. Zumindest versuchte er es. Aber ich bemerkte ein kaum sichtbares Zucken an seiner linken Augenbraue. Er schien selbst zu bemerken, dass ihn seine kurz abhandengekommene Kontrolle verraten könnte, und senkte für einige Sekunden seinen Blick. Jetzt hatte ich ihn. Bleib am Ball, Peter Groß!
„Auf welchem Gebiet forschen Sie, Herr Moscher? Ein neues Insulinpräparat?“
Ich versah die Frage mit einem Tonfall, der dem eines Vorwurfs gleichkam. Ich wusste, dass es kein Insulin sein konnte. Hier musste es um etwas Sensationelles, Bahnbrechenderes gehen, wenn ein Mensch dafür ermordet worden war. Ich hoffte ihn damit aus der Reserve locken zu können.
„Der Industriepark Höchst ist bekannt für Insulin. Aber nein, wir haben uns auf etwas anderes spezialisiert: Psychopharmaka. Die Medikamente, die wir entwickeln, sind etwas völlig Neues auf dem Markt“, meinte er überheblich, als ginge es nur darum. Der Mord an Kuschinski spielte jetzt schon keine Rolle mehr.
Psychopharmaka. Damit hatte ich nicht gerechnet. Es hörte sich banal an. Mit dieser Antwort erwischte er mich auf dem falschen Fuß. Ich musste eine neue Strategie entwickeln. Ich musste Zeit gewinnen, um mir etwas zurechtzulegen, das mich in dieser Befragung weiterbrachte.
„Worum genau handelt es sich bei den Medikamenten?“, fragte ich abwesend.
„Ich gehe davon aus, dass Sie auf dem Gebiet ein Laie sind, Herr Kommissar. Ich versuche es Ihnen zu erklären“, fing er an und haute mir Fachterminologien um die Ohren. „Es gibt verschiedene genetisch bedingte Erkrankungen, die zu abweichendem menschlichen Verhalten führen. Gegen viele dieser psychischen Erkrankungen gibt es noch keine Medikamente, da Gendefekte oder eine Erbkrankheit sie verursacht haben. Ein Beispiel dafür ist Chorea Huntington, bei dieser Krankheit werden Teile des Gehirns zerstört, infolgedessen treten Störungen bei der Steuerung der Muskeln und psychischen Funktionen bis hin zur Demenz auf.“
„Das klingt nach einem bedeutenden Durchbruch, wenn Sie damit erfolgreich sind“, versuchte ich, ihm noch mehr zu entlocken.
„Das stimmt, es existiert eine Menge von Krankheitsbildern, die wir in naher Zukunft beheben oder von vornherein verhindern können, und zwar nicht durch die umstrittene Genmanipulation, sondern medikamentös, sogar pränatal!“
Er war wieder in seinem Element. Wenn ich jetzt richtig vorging, würde er hoffentlich zum Punkt kommen. Zu dem Punkt, der die Ermordung eines Wissenschaftlers nach sich geführt hatte.
„Also Medikamente, die Gendefekte reparieren? Und das noch vor der Geburt?“, wollte ich wissen.
„So ist es.“
Das war alles, was er daraufhin gesagt hatte. Ich hatte damit gerechnet, dass er mehr über seine Versuche herausrücken würde. Nichts dergleichen. Ich schluckte meinen Ärger hinunter.
„Wie lange sind Sie schon bei der Pharmorena, Herr Moscher?“, wechselte ich das Thema, um zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal auf die Medikamente zurückzukommen.
„Seit Firmengründung vor dreieinhalb Jahren“, antwortete Bernhardt Moscher knapp.
Er war also von Anfang an dabei.
„Wie ist die Pharmorena AG entstanden?“, wollte ich wissen.
„Es war so etwas wie eine feindliche Absplitterung von einem französischen Konzern. Unsere vier Gesellschafter haben sich von ihm getrennt und sich zusammengetan. Sie haben einiges an Kapital mitbringen können, dazu kamen noch Fördergelder, stille Teilhaber und andere Investoren. Der Industriepark Höchst ist ein innovativer Chemie- und Pharmastandort, wird gefördert und soll weiter ausgebaut werden. Da waren wir einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, erzählte Moscher in einem Tonfall, als wäre es allein sein Verdienst.
„Wie groß ist Ihr Team, Herr Moscher?“
Ich fragte weiter erst einmal unverfängliche Dinge, um ihn in einer angenehmen, bequemen Situation zu belassen. Bevor ich wieder zuschlagen konnte.
„Wir sind zu acht. Ich, drei Kolleginnen und vier Kollegen, von denen jetzt einer tot ist.“
„Nennen Sie bitte noch einmal die Namen Ihrer Mitarbeiter?“, bat ich ihn und schrieb einige Stichpunkte mit.
„Das sind Birte Hanssen, Yvonne Heitmann, Doris Kern, Adam Frost, Joachim Wert und Karlheinz Schumann.“
„Waren gestern alle im Büro?“, pirschte ich mich langsam vor, um wieder zum eigentlichen Thema zurückzukommen.
„Nein, zum Glück nicht, nicht auszudenken, wenn noch andere mit dem Gift in Kontakt gekommen wären. Yvonne und Karlheinz sind die nächsten Wochen in London, dort findet ein Kongress statt, sie arbeiten dort zusammen mit externen Wissenschaftlern in einem Partnerlabor an einer Versuchsreihe. Doris und Joachim haben wegen der Zeitverschiebung im Homeoffice gearbeitet, sie hatten tagelange Videokonferenzen mit Medizinern in New York. Es waren also gestern nur Birte und Adam im Haus, aber sie kamen erst nach 09.00 Uhr, wir haben Gleitzeit.“
„Verstehe. Was genau ist die Aufgabe ihres Teams in dem Pharmakonzern?“
Ich musste noch etwas durchhalten, mich zügeln. Ich zwang mich, ihn weiter in seiner Komfortzone zu belassen, ihm keine unangenehmen Fragen zu stellen. Später konnte ich dann angreifen und würde ihn unvorbereitet treffen. So hoffte ich.
„Mein Team ist für die Qualitätssicherung zuständig. Es dürfen keine Fehler passieren, verstehen Sie? Unsere Ergebnisse müssen stimmen, sonst kann man ein neues Medikament nicht auf den Markt bringen, oder man wird schon während der Entwicklung aus dem Programm geworfen.“
Jetzt waren wir unverhofft an einen sensiblen Punkt gelangt. Es war aber noch zu früh. Ich musste zurückrudern, wieder trockene Theorie abfragen.
„Wie läuft so eine Risikominimierung ab, Herr Moscher?“
„Wir müssen an alle Eventualitäten denken. Sie kennen den Contergan-Fall? Da wurden keine Tests an trächtigen Versuchstieren durchgeführt, aber das Schlafmittel wurde an Schwangere ausgehändigt. Unverantwortlich! So etwas darf heute nicht mehr passieren. Unser Ziel ist es, Risiken zu identifizieren, ihre Ursachen zu erkennen und Maßnahmen zur Vermeidung zu entwickeln. Die Qualität muss in jeder Phase stimmen! Das gilt nicht nur für die verwendeten Wirkstoffe, sondern auch für alle Materialien, Prozesse und Systeme, die wir zur Medikamentenentwicklung einsetzen.“
Moscher fühlte sich in seiner Rolle wohl. Das war gut so. Noch.
„Woran hat Herr Kuschinski aktuell gearbeitet?“, fragte ich weiter.
„Er hat die Prozeduren der Forschungsabteilung für erblich bedingte Hirnkrankheiten untersucht. Er hat in den letzten Wochen die Arbeitsprozesse, Methoden und Aufzeichnungen der Kollegen kontrolliert.“
Ich konnte mir darunter absolut nichts vorstellen. Ich hatte ehrlich gesagt zu diesem Zeitpunkt keine Ahnung, was diese Menschen hier trieben. Ich musste die Abläufe besser kennen, mir ein Bild darüber verschaffen.
„Nur, damit ich es besser verstehe, was könnten zum Beispiel Risiken in diesem Bereich sein, Herr Moscher?“
„Zum Beispiel Mängel bei eingesetzten Testverfahren, Materialien und Kontrollstudien. Dann noch bei Sicherheitsüberprüfungen vor der ersten Anwendung am Menschen, beim Zulassungsverfahren und natürlich auch bei der Einhaltung gesetzlicher Vorgaben. Es gilt, die meisten Risiken bereits vor und während der präklinischen Studien zu identifizieren und soweit es geht einzudämmen.“
Man musste also den kontrollierenden Instanzen später eine saubere Arbeitsweise darlegen können, damit das neue Medikament in die nächste Entwicklungsphase kam und letztendlich auch genehmigt wurde.
„Was sind präklinische Studien?“, wollte ich wissen.
„Das umfasst die Zellstudien und Tierversuche. Auf die präklinischen Studien folgen Tests an gesunden Menschen, dann klinischen Studien, also der Test an den Patienten. Das Ganze dauert in der Regel mehrere Jahre.“
Mehrere Jahre. Das hatte ich nicht gewusst. Mir wurde langsam aber sicher klar, wie viel an einer derartigen Medikamentenentwicklung dranhing. Bis zu diesem Tage hatte ich mich nicht damit beschäftigt. Es ging um Millionen, vielleicht sogar Milliarden an Geldern. Auf diesen Moment hatte ich gewartet.
„Welche Risiken hat Herr Kuschinski aufgedeckt, Herr Moscher?“, preschte ich vor und unterstellte mit meiner Frage Risiken.
„Keine erheblichen“, Moscher blieb gelassen. „Dieter Kuschinski war ein Experte auf seinem Gebiet, er hat vieles im Vorfeld ausschließen oder beheben können. Bis auf eines: Wir mussten vor Wochen unsere Petrischalen austauschen, die kostengünstigen Kunststoffversionen haben nicht gehalten, was der Hersteller uns versprochen hat, wir haben auf hochwertigere umgestellt.“
Das sollte alles gewesen sein? Ich ärgerte mich einmal mehr. Rutschte mit meinem Stuhl vor. Ich bekam diesen Moscher einfach nicht zu packen. Ich musste tief durchatmen, um die nächste Frage halbwegs gefasst stellen zu können.
„Was haben Sie mit den Petrischalen gemacht?“
„Wir haben sie für die bEnd.3 Zellkultur-Linie eingesetzt, das sind Brain Endothelzellen des Gehirns, welche die Blood Brain Barrier, auch BBB genannt, bilden. Das ist eine hochspezialisierte, strukturelle und biochemische Barriere, die das Eindringen bestimmter Moleküle in das Hirn reguliert. Es laufen bei uns gerade Versuchsreihen mit Mäusen …“
Ich wäre ihm am liebsten ins Gesicht gesprungen. Er wollte mich wiederholt mit Fachausdrücken erschlagen. Beruhige dich, Peter Groß, bleib ruhig!
„Danke, das reicht, Herr Moscher, ich komme nicht mehr mit“, gab ich schlicht zu und verlangte nach einer verständlichen Erklärung. „Was war das Problem mit den Petrischalen?“
„Einige Kunststoffschalen waren nicht steril, ihre Verunreinigung hat unsere Versuche versaut. Man hat hier am falschen Ende gespart.“
Wieder nichts Greifbares. Dieser Mistkerl!
„Gab es noch andere Probleme, die Herr Kuschinski aufgedeckt hat?“, fragte ich ungeduldig.
„Nein, keine weiteren Probleme. Moment, eines gab es doch noch: Dieter hat einen Software-Fehler in unserem Analyse-System entdeckt, der wurde vor drei Wochen durch ein Update des Software-Herstellers behoben.“
Ich wurde hellhörig. Software. Ich dachte kurz an unsere IT-Spezialisten. Ich wollte sie direkt nach der Befragung auf den Fall ansetzen. Wir mussten das Notebook von Dieter Kuschinski genauestens untersuchen. Aber nicht nur das. Bestimmt konnte man auch einiges aus den IT-Systemen der Pharmorena AG herausholen.
„Ist das eine Software, die nur Sie einsetzen?“, hakte ich nach.
„Nein, die ist im Forschungsbereich weit verbreitet, die nutzen viele Firmen. Und das Update haben alle Anwender erhalten.“
***
Ich saß immer noch in meinem Auto vor dem LKA. Ich schaute hoch zu meinem Büro. Ob Karin bereits dort war? Dann starrte ich wieder auf die Aktensammlung auf meinen Knien. Die Worte aus Dieter Moschers Befragung schallten immer noch in meinen Ohren. Das Protokoll hatte sie mir in mein Gedächtnis zurückgerufen. Hatte mich zurückversetzt an den Anfang der Ermittlungen. Risiken. Es hatte Risiken gegeben. Angeblich. Ich blickte auf. War der Risk Manager Dieter Kuschinski in eine Falle gelaufen? Hatte er mit seinen Analysen die Genehmigung der nächsten Forschungsphase hinausgezögert oder gar unmöglich gemacht? Weil er sich an die offiziellen Regeln gehalten hatte, die andere hatten umgehen wollen? War er Bernhardt Moscher in die Quere gekommen? War Dieter Kuschinski deshalb umgebracht worden, weil der Pharmorena AG durch seine Prüfergebnisse eine Absage für die nächste Entwicklungsphase gedroht hatte? Oder war es ein Konkurrent gewesen, der die Pharmorena AG auf ihrem Weg zum Erfolg ausbremsen wollte?
Wieder blickte ich auf die kastenförmigen LKA-Gebäude. Sie wirkten wie zusammengewürfelte Plattenbauten. Hinter jedem Fenster arbeiteten zig Kollegen unermüdlich an der Verbrechensbekämpfung. Wir machen auch Fehler. Fehler, die genauso lebensbedrohlich sein konnten wie Fehler in der Medikamentenentwicklung. Würde man der Öffentlichkeit mitteilen, wie oft Täter entkamen, wie oft wir den falschen Spuren folgten, wie oft wir einfach danebenlagen, ja, wie oft wir versagten, aber trotz allem nicht aufgaben? Wie oft wir die Bevölkerung vor der abartigen Wahrheit schützten, indem wir sie nicht darüber informierten, was in unserer zivilisierten Welt geschah – viele würden sich fragen, ob es noch einen Sinn machte, in dieser hochentwickelten Gesellschaft zu leben.
War es in der Pharmabranche ähnlich? Hielten Forscher und Entwickler systematisch unbequeme Wahrheiten zurück, um zu ihrem definierten Ziel zu gelangen, ungeachtet dessen, ob es den ethischen Richtlinien entsprach? Hauptsache die Millionenzuschüsse wurden genehmigt und die nächste Entwicklungsphase erreicht? Wussten die Managementetagen dieser Megakonzerne überhaupt, was sie taten? Konnten sie wirklich während einer hochkomplexen Medikamentenentwicklung alle möglichen Auswirkungen abschätzen? Oder gab es die Contergan-Methode auch heute noch? Waren die Pharmorena-Mitarbeiter darüber informiert, was in diesen Konzernen tagtäglich entschieden und durchgeführt wurde?
Obwohl bereits zwei Wochen seit der Ermordung Dieter Kuschinskis vergangen waren, gab es noch zu viele offene Fragen. Ich musste einen Ansatzpunkt finden. Einen Ansatzpunkt, der uns endlich weiterbrachte. Ich nahm mir das nächste Protokoll vor.
***
Protokoll: LKA Wiesbaden, Verhörraum 3, Samstag 14.09.2019, 13:20 Uhr: Zeugenbefragung durch Peter Groß von Sigrid Mertens, weiblich, 53 Jahre, Leitende Reinigungskraft bei der Saubermann GmbH
„Frau Mertens, Sie leben in Sindlingen und sind Vorarbeiterin bei der Firma Saubermann GmbH, stimmt das?“
„Ja.“
„Wie kommen Sie zur Arbeit?“
„Mit der S-Bahn, S5, um etwa 15:00 Uhr.“
„Die fährt zum Industriepark Höchst?“
„Nein, ich fahre bis zur Galluswarte und gehe dann zum Saubermann in Frankfurt, von dort fahren wir zusammen mit dem Firmenwagen nach Höchst. Ich sammle die Truppe in Frankfurt ein, und nehme unser Arbeitszeugs mit.“
***
Frau Mertens war mir sofort sympathisch. Aber viel helfen würde sie uns leider nicht können, befürchtete ich.
„Was ist das alles?“, fragte ich sie.
„Reinigungsmittel, Wischmops, Besen, Staubsauger, Mülltüten und so.“
„Sie dürfen Ihre eigenen Arbeitsmittel mitbringen?“, wunderte ich mich.
„Bei der Pharmorena nicht, aber bei anderen Kunden, wo wir vorher sind. Wir dürfen ja erst ab 19:00 Uhr bei der Pharmorena antanzen.“
„Aha. Und dort dürfen Sie nichts mit reinnehmen?“, hakte ich nach.
„Nein, das ist strengstens verboten. Unser Wagen wird auf dem Parkplatz abgestellt und wir gehen dann rein. Beim Pförtner müssen wir unsere Taschen, Handys, Jacken und Schuhe abgeben. Dann kriegen wir Kittel und Schuhe von ihm“, meinte Frau Mertens und rollte dabei die Augen.
Das hatte ich vermutet. Die Sicherheitsstandards bei der Pharmorena waren hochgesteckt. Es durfte nichts von außen hereingebracht werden.
„Schuhe abgeben?“, lachte ich.
„Ja, jeder von uns hat beim Pförtner ein Paar Schuhe stehen, nur mit denen dürfen wir die Büros betreten. Wir könnten sonst irgendwas Schäbiges von draußen reinschleppen, oder von dort drinnen was raus.“
„Putzen Sie denn auch in den Labors?“, fragte ich weiter.
„Um Himmels willen, nein! Das ist viel zu gefährlich, das machen Spezialisten, interne Leute von der Pharmorena.“
„Und womit putzen Sie dann die Büros?“
„Es steht alles in den Besenkammern bei der Pharmorena. Es gibt in jeder Etage eine. Aber wenn mal was fehlt, müssen wir Ersatz beim Pförtner anfordern.“
Hier wurde anscheinend sehr großer Aufwand betrieben, damit nichts ins Gebäude hineingeschmuggelt werden konnte. Nicht zu erklären, wie jemand Gift dort eingeschleppt hatte. Wie konnte das passiert sein?
„Fehlte vorgestern etwas in den Besenkammern der Pharmorena AG?“
„Nein“, erwiderte Frau Mertens.
„Sie haben vorgestern Abend zusammen mit ihrem Team wie jeden Tag die Büros der Abteilung Quality Validation bei der Pharmorena AG gereinigt?“
„Ja, wie immer. Wir waren nur etwas später dran, war Stau“, entschuldigte sich Frau Mertens.
„Ist Ihnen etwas aufgefallen? Zum Beispiel an den Schreibtischen, Schränken, Regalen oder Fenstern? War irgendetwas anders als sonst, vor allem bei Herrn Kuschinski im Büro?“, fragte ich gespannt. Ich ging davon aus, dass Frau Mertens über eine hervorragende Beobachtungsgabe verfügte.
„Nein, nichts.“
Schade.
„Bitte geben Sie uns die Namen ihrer Kolleginnen und Kollegen, die dabei waren“, forderte ich sie auf.
„Das habe ich doch schon gestern Herrn Driller aufgeschrieben“, beschwerte sich Frau Mertens und schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die sogleich wieder vor ihr rechtes Auge zurückfiel.
„Heute sind wir hier im LKA und zeichnen das Gespräch mit Ihnen auf, genauso wie mit Ihren Kollegen. Das ist reine Routine, bitte beantworten Sie meine Frage“, bat ich sie.
„Schon gut. Dabei waren gestern Maria Barthel-Garcia, Gitta Busch, Peer Sander. Gitta und Peer sind aber für die unteren Etagen zuständig, sie waren nicht beim Kuschinski im Büro.“
„Sie waren also zu viert im Gebäude, aber nur zwei von Ihnen in dem Kuschinski-Moscher-Büro?“
„Ja, genau so war das. Wir sind meist zu viert, wenn keiner krank oder im Urlaub ist. Andere Leute von der Saubermann GmbH dürfen bei der Pharmorena nicht rein, man muss erst so einen Personencheck machen lassen, den haben nur wir vier bestanden“, erklärte Frau Mertens und rollte wiederholt die Augen.
„Warum muss man diesen Check machen?“, fragte ich, konnte mir jedoch vorstellen, worum es dabei ging.
„Strenge Richtlinien. Die wollten auch ein polizeiliches Führungszeugnis von uns sehen. Es reicht schon, wenn man Verwandtschaft aus einem osteuropäischen Land hat, da nehmen die einen nicht.“
***
Protokoll: LKA Wiesbaden, Verhörraum 1, Mittwoch 14.09.2019, 14:06 Uhr: Zeugenbefragung durch Peter Groß von Maria Barthel-Garcia, weiblich, 41 Jahre, Reinigungskraft bei der Saubermann GmbH
„Frau Barthel-Garcia, was können Sie uns von ihrer Arbeit bei der Pharmorena AG erzählen?“
„Ich nicht wissen, nur putzen.“
„Haben Sie am Abend des 12.09.2019 etwas Besonderes bei der Pharmorena beobachten können.“
„Nein, ich nicht wissen Besonderes.“
„Es gab nichts Ungewöhnliches an dem Abend?“
„No, alles wie sonst.“
„Überlegen Sie bitte noch einmal. Ist Ihnen nichts an dem Fenster im Moscher-Kuschinski-Büro aufgefallen? Sie haben doch dort geputzt!“
„No!“
***
Immer noch prasselte Regen auf die Frontscheibe. Ich beobachtete, wie dicke Tropfen kleine Bäche bildeten, die an dem Glas herunterliefen. Wie meine Gedanken, die ziellos durch meinen Kopf flossen. Ich musste mich konzentrieren, nachdenken. Bei den Befragungen der Reinigungskräfte war mir nichts auffällig vorgekommen. Nun war ich mir nicht mehr sicher. Frau Barthel-Garcia hatte mit spanischem Akzent gesprochen. Deutsch zu reden, war ihr sichtlich schwergefallen. Sie hatte jedwede Ausschweifungen vermieden, sich kurz gefasst, ja, abgeblockt. Ich hatte ihre Ablehnung während der Befragung dahingehend interpretiert, dass es ihr unangenehm war, ihre Aussage in einer Fremdsprache zu machen. Jetzt, wo ich das Protokoll mit zeitlichem Abstand noch einmal durchging, fiel mir auf, dass jeder Satz eine pure Abweisung war. Sie hatte nicht aussagen wollen. Und das hatte nicht an der Fremdsprache gelegen. Ich wusste jetzt, dass ich jeden Satz in den Protokollen kritisch hinterfragen musste, mir die Situation wieder in mein Gedächtnis zurückholen musste, um auf die richtige Fährte zu gelangen. Dieter Kuschinskis Mord musste etwas mit den Vorkommnissen in der Pharmorena AG zu tun haben, da war ich mir einhundertprozentig sicher. Auch, wenn es bisher alle bestritten hatten. Ich griff nach der nächsten Gesprächsnotiz. Gerichtsmedizinerin Dr. Ute Gazek. Trotz der aktuell mehr als ernsten Lage musste ich unwillkürlich grinsen.
Gesprächsnotiz: Goethe-Universität Frankfurt, Montag 16.09.2019, 09:24 Uhr: Besuch Peter Groß im Institut der Rechtsmedizin, Forensische Medizin, bei Dr. Ute Gazek, Rechtsmedizinerin, Obduktionsergebnis Dieter Kuschinski
„Peter, du hier?“
„Welch herzliche Begrüßung, Ute. Du kannst dir denken, warum.“
„Es geht bestimmt um die Leiche von Dieter Kuschinski. Hab ich recht?“
„Sehr scharfsinnig, Ute.“
„Dass ihr immer so früh bei mir auf der Matte stehen müsst! Ich soll euch innerhalb weniger Stunden Todeszeitpunkt, Todesursache, körperliche Konstitution, Vorerkrankungen, sexuelle Vorlieben, Henkersmahlzeit und Hobbys des Toten sowie, wenn es geht, auch gleich noch seinen Mörder präsentieren. Und was macht ihr? Und wie lange braucht ihr für die Aufklärungen?“
***
Ute war einfach unverbesserlich. Mit ihrer unverblümten Art hatte sie es sich reihenweise mit den LKA-Kollegen versaut. Ich nahm es mit Humor, anders konnte man die Sache nicht bewältigen, auch wenn es äußerst schwerfiel.
„Ist schon klar, Ute. Was kannst du denn bisher zu Dieter Kuschinskis Leiche sagen?“
„Er wurde nicht mit Sarin getötet.“
Herrlich. Das waren ihre kurzen, knappen Sätze, die einen zur Verzweiflung brachten. Sie enthielten zwar eine Kernaussage, brachten die Ermittlungen aber keinen Schritt weiter. Ich sah sie fragend an. Sie quittierte meinen Blick mit Genugtuung. Es schien sie zu freuen, mich quälen zu können. Wir standen vor ihrem sogenannten Leichenschrank. Sie zog Schublade Nummer 3.47 auf. In der Gerichtsmedizin stank es in jeder Ecke, aber jetzt wurde es wirklich bestialisch. Ich hielt mir den Ärmel meiner Jacke vor die Nase und schluckte, als Ute das grüne Laken zurückschlug und ich Dieter Kuschinskis Gesicht und Oberkörper sah. Seine Haut war grau, seine Augenhöhlen eingefallen und dunkel verfärbt. Seine Brust war behaart wie die eines Affen.
Ich wandte mich ab und fragte: „Nicht Sarin?“
Mehr konnte ich nicht sagen, der Gestank brachte mich um. Ich war nicht fähig, den Mund noch länger zum Sprechen zu öffnen.
„Nein.“
Hervorragend. Ich war kein Stückchen weitergekommen. Ute war eine noch härtere Nuss als Bernhardt Moscher. Ich musste mir auf die Lippen beißen, um nicht loszuschreien.
„Womit dann?“, fragte ich knapp und wusste, dass sie diese Spielchen liebte, mich gerne quälte.
„Mit dem Gift aus den Knollen des Blauen Eisenhuts.“
Jetzt war es endlich raus. Ich schüttelte den Kopf. Es würde wieder ewig dauern, bis ich alles aus Dr. Ute Gazek herausgequetscht hatte. Und das genau war der Grund, warum die Kollegen jedes Mal mich vorschickten, wenn es um die Ergebnisse der Gerichtsmedizin ging. Ich fuhr mir durchs Haar und atmete tief durch, bereute es aber gleich. Dieser widerliche Gestank.
„Wie macht man das, Ute?“, fragte ich und stopfte mir meinen Ärmel dabei fast in den Mund, um beim Sprechen den ekelhaften Gerüchen zu entgehen.
Ute ließ das unbeeindruckt. Sie kam nicht auf die Idee, Dieter Kuschinskis sterbliche Überreste wieder einzupacken und sie in den Leichenschrank zurückzuschieben.
„Die Spurensicherung hat ergeben, dass an der Rückseite des Fenstergriffs eine kleine Klinge mit einem Power-Kleber angebracht worden war, wie die Spitze eines Skalpells, von vorne nicht sichtbar. Genau auf dieser wurde ein Extrakt aus der Knolle des blauen Eisenhuts angebracht.“
Sie sah mich auffordernd an, zog eine Augenbraue hoch, als wollte sie mich darauf aufmerksam machen, dass ich mich noch nicht mit ihrer Antwort zufriedengeben sollte. Ich spielte das Spielchen weiter mit.
„Verstehe, Dieter Kuschinski hat sozusagen in die Vollen gegriffen und sich dabei die Handfläche aufgeschlitzt. Durch den Schnitt in der Haut ist das Gift in Nullkommanichts in seinen Körper gelangt, stimmt’s?“
Ich weiß heute nicht mehr, wie ich es schaffte, in Anbetracht des Gestanks diese große Anzahl an Wörtern heurauszubekommen. Aber Ute Gazek lächelte! Das kam wirklich nicht oft vor. Ich war stolz auf mich.
„Gar nicht so schlecht, Peter, kannst als Praktikant bei mir anfangen.“
Bleib auf der Hut, Peter Groß, das ist gewiss eine Falle!
„Hmm, ist bestimmt ein ruhiger Job.“
„Du musst die ersten drei Monate Seziertische reinigen.“
Du Giftspritze, dachte ich bei mir.
„Okay, Ute, ich bleibe beim LKA.“
„Wusste ich doch. Aber das allein hätte ihn nicht so schnell umgebracht, auf diese Weise hätte es mehrere Stunden gedauert. Eine wichtige Sache fehlt noch an der Geschichte.“
Ich hatte es befürchtet.
„Und das wäre?“, stellte ich die Frage, die sie so gerne hören wollte.
Endlich bedeckte sie den Ermordeten und schob ihn zurück in den Leichenschrank. Wir schlenderten gemeinsam aus dem Raum heraus.
„Dieter Kuschinski hatte Spuren des Gifts an und in der rechten Hand. Über die Wunde ist es in seinen Blutkreislauf gelangt. Ich konnte es aber auch in seinem Mund nachweisen.“
„In seinem Mund?“, fragte ich entsetzt.
Mir blieb der selbige offen stehen. Nun kein Problem mehr, wir hatten die Leichenhalle bereits verlassen und standen im Flur.
„Ja, Peter. Und an seiner verletzten Hand habe ich seinen Speichel gefunden. Es muss so gewesen sein: Er hat zum Öffnen oder Schließen des Fensters den Fenstergriff umfasst, sich die Haut an der Klinge aufgeschlitzt. Seine Hand hat daraufhin stark zu bluten angefangen, er hat sich reflexartig das austretende Blut abgeleckt, hat damit das Extrakt mit dem Mund aufgenommen, ist unter Krämpfen und mit extremer Atemnot auf den Boden gestürzt. Er hat sich den Hinterkopf dabei aufgeschlagen und verstarb während seiner Bewusstlosigkeit.“
Was für ein Drama. Ute hatte die ganze Geschichte bis zum geht-nicht-mehr in die Länge gezogen.
„Der Sturz war aber nicht todesursächlich, nehme ich an?“, fragte ich, um auch den letzten Zweifel auszuräumen.
„Sehr fachmännisch ausgedrückt, Peter. Überleg es dir doch noch einmal, ich könnte dich hier wirklich brauchen. Nein, der Sturz war nicht todesursächlich, er hat ihm vermutlich nur kurzzeitig die Lampe ausgeschaltet, währenddessen ist er auf Grund von Lähmungserscheinungen an den Atemorganen, die das Gift hervorgerufen hat, erstickt.“
„Wie lange hat der Todeskampf gedauert?“
„Höchstens eine halbe Stunde.“
Eine halbe Stunde. In dieser halben Stunde hätte jemand in das Büro kommen und ihn retten können. Warum war das nicht passiert?
„Wie viel von dem Gift ist notwendig, um einen Menschen damit zu töten?“, wollte ich noch wissen, bevor ich endlich aus der Gerichtsmedizin herauskam.
„Lediglich zwei Gramm. Als Schnittblume ist die Pflanze nicht zugelassen, Peter, also denk gar nicht erst darüber nach, mir demnächst mal einen Blumenstrauß zu schicken.“
Das wäre einmal eine gute Idee gewesen.
„Ich mag deine Art von Humor, Ute. Woher bekommt man denn diese Knollen, wenn nicht im Blumengeschäft?“
„Während einer Wandertour durch die Dolomiten. Vielleicht auch in heimischen Beeten mutiger Gartenbesitzer. Und in der Pharmaindustrie?“ Ute zwinkerte mir zu.
„Sehr witzig, Ute, sehr witzig.“
„Eine Sache noch, Peter: Je länger die Pflanze gelagert wird, desto mehr nimmt die Wirkung ab. Der Mörder muss sie also irgendwo angebaut, kurzfristig geerntet, ein Extrakt angemischt und es zusammen mit der Klinge am Fenstergriff angebracht haben, bevor Dieter Kuschinski in seinem Büro ankam.“
***
Mir wurde langsam kalt. Der Motor war bereits seit einer halben Stunde aus. Der Innenraum meines Kombis kühlte gnadenlos ab. Ich musste ins Büro, wollte aber vorher noch die Fragen in meinem Kopf sortieren, die dieses Protokoll aufgeworfen hatte. Warum mordete jemand auf diese Art? Warum so viel Aufwand? Der Mörder musste zum Tatzeitpunkt nicht am Tatort sein. Ein großer Vorteil. Niemand hätte ihn während der Tötung beobachten können. Niemand hätte wissen können, wann er den Fenstergriff präpariert hatte. Niemand hätte sagen können, wer es gewesen war. Wer kommt also infrage? Jemand, der sich außerhalb der Bürozeiten im Pharmorena-Gebäude aufgehalten hat und somit ohne Zeugen in aller Ruhe einen Mord vorbereiten konnte. Jedoch auf die Gefahr hin, dass es den Falschen erwischt. Es war jemand, der sich unauffällig in den Büroräumen bewegen konnte, jemand der Zutritt hatte oder sich unrechtmäßig Zutritt verschaffen konnte. Ein Gebäudereiniger? Ein Pförtner? Ein Techniker? Ein Lieferant? Oder gar einer der internen Angestellten, die Schichtdienst leisteten?
Mehrere Menschen waren bereits tot. Weil ich einen Fehler begangen hatte? Sollten noch mehr sterben?
Der Oktober bringt euch den TOD!
Der Zettel in meiner Jackentasche! Der Zettel mit den sechs Wörtern. Kurze Wörter mit großer Macht. Über denjenigen, der sie liest, der sie hasst, der sie nur noch loswerden will, der sie am liebsten nie gelesen hätte. War meine Familie als Nächstes dran? Oder war es bereits passiert? Mein Handy drückte in meiner Gesäßtasche. Ein Fremdkörper wie ein eingepflanzter Sensor in der Haut, der gleich Alarm schlagen und mir dabei einen Stromschlag durch alle Glieder jagen würde. Aber es blieb stumm. Noch.
Ich musste Hanne und Finn schnellstmöglich von hier wegschicken. Heute war der letzte Schultag, am 01.10.2019 begannen die Herbstferien in Hessen. Heute Abend mussten sie fort. Die Stunden, die mir heute noch bevorstehen, würden sich hinziehen wie eine zähe, klebrige Masse, die sich nicht bewegen lassen, sich nicht von ihrem Untergrund ablösen ließ. Jede einzelne Minute würde mich umbringen, und die Ungewissheit, ob nicht bereits etwas passiert war. Sechshundert Minuten. Welchen gottverdammten Fehler hatte ich nur begangen? Ich musste weiterlesen. Ich würde später ins Büro gehen.
***
Gesprächsnotiz: LKA Wiesbaden, Büro 1.21 Peter Groß und Karin Weidmann, Montag 16.09.2019, 11:43 Uhr: Telefonanruf von einem Unbekannten
„Groß!“
„…“
„Hallo, wer ist da?“
„…“
„Hier spricht Peter Groß vom hessischen LKA in Wiesbaden! Wer ist da? Hören Sie mich?“
„…“
„Wir können feststellen, von wo aus Sie anrufen, und wahrscheinlich auch wer Sie sind. Also melden Sie sich!“
„Ich …“
„Ja?“
„Ich muss mit Ihnen reden, Herr Groß.“
„Dann tun Sie das doch endlich!“
„Nicht am Telefon. Besser persönlich, sofort.“
„Sagen Sie mir noch Ihren Namen?“
„Später!“
„Dann kommen Sie her, hessisches LKA Wiesbaden, Büro 1.21. Ich warte auf Sie.“
***
Gesprächsnotiz: LKA Wiesbaden, Büro 1.21 Peter Groß und Karin Weidmann, Montag 16.09.2019, 13:58 Uhr: Telefonanruf von Dienstellenleiter Thomas Kraus, 4. Polizeirevier (Bahnhofsgebiet) - Polizeipräsidium Frankfurt
„Hallo Peter, es gibt wieder einen Toten.“
„Verdammt, Thomas. Wo?“
„Frankfurt Gutleutviertel. Er wurde von jemanden auf der Gutleutstraße Höhe Baseler Platz vor einen LKW gestoßen, er war sofort tot. Zeugen haben den Täter flüchten sehen, er konnte entkommen, ist erst durch die Straßen gerannt und dann am Hauptbahnhof unten bei den U-Bahnen verschwunden. Es sind noch zwei Männer hinterhergelaufen, aber sie konnten ihn nicht einholen.“
„War es ein Mann oder eine Frau?“
„War nicht zu erkennen, die Person hatte sich ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen und einen Schal getragen.“
„Verdammt noch mal, Thomas! Haben die Zeugen einen Streit beobachtet?“
„Nein, der Täter ist ihm entgegengegangen und hat ihn sofort auf die Fahrbahn geschubst.“
„Also ein gezielter Angriff. Hatte der Tote ein Handy bei sich?“
„Ja.“
„Ich brauche die Nummer. Und natürlich seinen Namen, seine Anschrift und so weiter.“
„Kriegst du, Peter.“
***
Gesprächsnotiz: LKA Wiesbaden, Büro 1.21 Peter Groß und Karin Weidmann, Montag 16.09.2019, 18:01 Uhr: Telefonanruf von Frank Wedel, Leiter Kriminaltechnik
„Hallo Peter, Neues vom Toten.“
„Schieß los, Frank!“
„Es handelt sich um Orhan Aydin. Wir haben auch seine Mobilfunknummer herausbekommen. Er hat dich heute um 13:58 angerufen.“
„Scheiße.“
„Das ist noch nicht alles, Peter.“
„Was noch?“
„Er hat die letzten sechs Jahre für FlashData gearbeitet, das ist ein IT-Dienstleister aus dem Frankfurter Gutleutviertel.“
„Ja, und?“
„FlashData hat Teile der IT-Infrastruktur bei der Pharmorena AG implementiert.“
***
Orhan Aydin. Was hat der IT-Spezialist über die Pharmorena AG gewusst? Hatte er während seiner Arbeit tiefere Einblicke in die Arbeitsweisen des Konzerns gehabt, als wir bisher wussten?
Der Oktober bringt euch den TOD!
Wieder und wieder musste ich an die Morddrohung denken. An den Zettel, der heute Morgen in meinem Briefkasten gesteckt hatte, und der nun in meiner Jackentasche schlummerte, wie der Tod in einer dunklen Nische. Der hervorsprang, sobald sich jemand nicht nach den Regeln verhielt. Nach den Pharmorena-Regeln. Der zuschlug, kaltblütig und ungeachtet dessen, wen er vor sich hatte und wie dieser Mensch sterben würde. Es ging nur um die eine Sache, die geschützt, nein, verdeckt werden musste. Und wer der Wahrheit zu nahe kam, musste sterben. Aber was war nur die Wahrheit? Was hatte die Pharmorena AG zu verstecken? Was war diese ganzen Menschenleben wert? Sie entwickelten Medikamente, die Menschenleben retten sollten. Stattdessen wurden im Namen der Wissenschaft Zeugen umgebracht, die der Wahrheit zu nahe kamen. Eine Wahrheit, deren Schutz in den Augen der Täter solch brutale, rücksichtslose Vorgehensweisen legitimierte. Mit zitternden Händen griff ich zu den nächsten Protokollen.
***
Gesprächsnotiz: LKA Wiesbaden, Büro 1.21 Peter Groß und Karin Weidmann, Montag 16.09.2019, 18:11 Uhr: Unterhaltung Peter Groß mit Kollegin Karin Weidmann, Kriminalkommissarin
„Karin, wir brauchen unbedingt die heutigen Videos aus den Überwachungskameras der U-Bahnhaltestellen im Hauptbahnhof Frankfurt Main.“
„Ich kümmere mich darum.“
***
Wir hockten in unserem Büro und rauften uns die Haare. Was würde noch alles passieren?
„Kannst du dir vorstellen, dass ein und derselbe Mensch einen Giftmord begeht und einen Tag später jemanden vor einen fahrenden LKW schubst, um ihn zu töten?“, fragte ich meine Kollegin.
„Nein, Peter, eigentlich nicht. Das passt nicht zusammen. Aber wenn der Mörder uns suggerieren möchte, dass die beiden Morde nicht zusammenhängen …“, überlegte Karin.
„Da magst du recht haben.“
Ich dachte nach, wer soweit im Voraus plante. Wer bei der Ermordung von Menschen dermaßen abgebrüht war, dass er unterschiedliche Mordmethoden kombinierte. Ein Profikiller?
„Peter, wir dürfen uns hier nicht verrennen, alles ist möglich. Die Frage ist, warum der Täter so vorging. Warum hat er diesen umständlichen Giftmord begangen?“
Da hatte Karin natürlich recht. Wenn dieser Profikiller einen Fenstergriff präpariert hatte, musste ihm bewusst gewesen sein, dass er nicht garantieren konnte, dass es den Richtigen trifft. Es sei denn, er war sich einhundertprozentig sicher, wer als Nächster diesen Griff berühren würde. Das war doch absurd!
„Er hat den Fenstergriff im Vorfeld präpariert, so musste er nicht anwesend sein, um sein Opfer ins Jenseits zu befördern. Das Opfer war allein, konnte sich nicht selbst helfen. Keiner hat etwas beobachten können.“
„Da hätte es auch einfachere Wege gegeben. Vor allem, wenn man sicherstellen will, dass es den Richtigen trifft. Es ging ihm um das Gift, es hat eine Bedeutung für ihn.“
„Nur welche, Karin? Und wie konnte der Mörder sicherstellen, dass er auch seine Zielperson erwischt?“
„Wir müssen objektiv an die Sache herangehen. Keine voreiligen Schlüsse ziehen, nur weil die Mordmethoden für unterschiedliche Täter sprechen. Wir haben die Verbindung über FlashData. Beide Opfer hatten mit der Pharmorena AG zu tun, Peter!“
***
Protokoll: FlashData, Frankfurt, Gutleutstraße, Besucherraum 0.04, Dienstag 17.09.2019, 10:18 Uhr: Zeugenbefragung durch Peter Groß von Simone Gerling, weiblich, 34 Jahre, Project Manager Unified Communication bei Flashdata
„Guten Tag, mein Name ist Peter Groß, wir haben telefoniert. Frau Gerling, erinnern Sie sich an die Arbeiten bei der Pharmorena AG vor vier Jahren?“
„Ja, das werde ich nie vergessen.“
„Inwiefern?“
„Dort lief alles unter strengster Geheimhaltung, sowas hatten wir noch nie. Nichts durfte das Gebäude verlassen, die Pläne waren nur vor Ort einsehbar. Man musste Notebooks, Smartphones, alle Geräte, mit denen man Fotos oder andere Aufzeichnungen machen konnte, am Eingang beim Pförtner abgeben. Das Einzige, was wir noch hier in der Firma haben, sind die dürftigen Verträge, die wir mit der Pharmorena AG abgeschlossen haben.“
***
Simone Gerlings Augen waren gerötet, ihr Augen-Makeup verschmiert. Sie hatte geweint. Sie bemühte sich, Fassung zu bewahren. Sie faltete ihre Hände und legte sie auf ihre Knie. Wir saßen auf einem schwarzen Ledersofa vor einem Glastisch. Auf ihm waren Prospekte ausgelegt, die die IT-Leistungen der FlashData anpriesen.
„Würden Sie uns die Verträge kopieren?“, bat ich sie.
„Natürlich, ich gebe sie Ihnen gleich mit.“
„Was hat Ihr verstorbener Kollege, Herr Orhan Aydin, für die Pharmorena gemacht?“
Simone Gerling schloss kurz die Augen, bevor sie antwortete: „Er hat die Telefonanlage konfiguriert, die Soft-Phones installiert und Video-Konferenzsysteme implementiert.“
„Wie lange war er dort?“
„Über ein halbes Jahr jeden Tag.“
Das kam mir sehr lang vor, um Telefone aufzustellen. Aber ein anderer Punkt interessierte mich noch mehr: „Das heißt, er kannte die Räumlichkeiten und die Mitarbeiter dort?“
„Mitarbeiter der Pharmorena AG hat er da kaum angetroffen, es war ja zum Teil noch eine Baustelle. Aber ganz bestimmt kannte er das Gebäude gut. Keiner von uns war so lange dort wie er.“
„Das heißt, es waren noch andere Kollegen von Ihnen bei der Pharmorena?“, wollte ich wissen.
„Ja, so viele Telefone schafft einer alleine nicht. Und für das Video Conferencing braucht man immer zwei Leute, weil die Bildschirme groß und schwer sind.“
Ich hatte Hoffnung, dass uns die Mitarbeiter der FlashData weiterhelfen konnten. Sie kannten das Gebäude und eventuell sogar einige der Mitarbeiter.
„Wer war noch vor Ort?“
„Drei unserer Trainees, Leute, die gerade ihr Studium abgeschlossen hatten und bei uns einen einjährigen Trainee Contract abgeschlossen haben. Training on the job“, antwortete Simone Gerling.
„Geben Sie mir bitte ihre Namen?“
„Das kann ich machen, aber sie sind alle nicht mehr bei uns: Silke Jakob, David Korte, Frederick Wilhelm.“
Meine Hoffnung schlug in Enttäuschung um.
„Wo arbeiten sie jetzt?“
„Keine Ahnung, sie haben nach und nach gekündigt“, meinte Simone Gerling. „Ist schon drei Jahre her. Die beiden Herren wollten ins Ausland gehen, das weiß ich noch. Fragen Sie am besten in der Personalabteilung nach, vielleicht wissen die mehr.“
„Okay. Ich habe von strengen Sicherheitsrichtlinien bei der Pharmorena AG gehört. Hat Herr Aydin auch einen Personencheck machen müssen?“
Simone Gerling rollte die Augen.
„Ja, das war eine Tortur. Die haben sogar seine Familie interviewt. Sie hatten erst Bedenken, weil er türkischer Abstammung war. Er ist in Frankfurt geboren und aufgewachsen, hat an der TU Darmstadt Elektrotechnik studiert. Nachdem wir ihnen gesagt haben, dass er unser bester Mann ist, haben sie ihn akzeptiert. Nur er durfte dann in den sensiblen Gebäudeteilen arbeiten.“
„Was waren die sensiblen Gebäudeteile?“ Bei meiner Frage bekam ich eine Gänsehaut. Es gab Räume, in die nicht jeder hineindurfte?
„Die Untergeschosse, wo die Forschungsabteilungen und Labore eingezogen sind.“
Das war es also!
„Interessant. Und Herr Aydin war über ein halbes Jahr vor Ort? Ist das normal?“, wunderte ich mich.
„Nein, ist es nicht. Die Pharmorena kam immer wieder mit Sonderwünschen und neuen Anforderungen um die Ecke. Es wurde auch einige Male der Vertrag dafür angepasst, aber vieles hat Orhan einfach auf Zuruf gemacht. Sie haben ihm immer versprochen, dass sie das alles schriftlich fixieren werden. Haben sie aber nicht. Dafür haben wir nie Geld gesehen. War ein Minusgeschäft für uns.“
Moscher und Konsorten waren also auch noch Betrüger. Eine nicht mehr zu bremsende Wut stieg in mir hoch.
„Also war Herr Aydin länger dort, als geplant?“, schloss ich.
„Ja, mit ihren ständig neuen Anforderungen haben sie unseren Zeitplan gesprengt. Orhan hat zwei, drei Monate länger gebraucht. Die Büros waren am Ende teilweise schon besetzt.“
„Dann hat er also doch noch einige Pharmorena-Mitarbeiter kennengelernt, Frau Gerling?“
„Er ist ihnen begegnet, ja. Aber mit ihm gesprochen haben sie kaum. Die haben von der Konzernleitung einen Maulkorb verordnet bekommen, hat Orhan einmal erzählt. Selbst der Pförtner war stumm wie ein Fisch.“
Stumm wie ein Fisch. Die Pharmorena-Mitarbeiter hatten also Redeverbot auferlegt bekommen. Ganz offensichtlich gab es unter den Wissenschaftlern etwas zu verheimlichen. Nur was?
„Den Herren wollte ich mir sowieso vornehmen“, antwortete ich. „Haben Sie Herrn Aydin denn gestern noch gesehen?“
„Ja. Ich kann es noch gar nicht glauben, dass er jetzt … dass er jetzt … tot ist. Wer hat das nur getan?“
Simone Gerling liefen Tränen über das Gesicht. Sie sah mich flehend an. Ich erkannte Angst in ihren Augen. Pure Angst. Sie befürchtete, dass FlashData zum Ziel von Mördern geworden war.
„Das werden wir herausfinden, ich verspreche es Ihnen!“, versuchte ich sie zu beruhigen.
„Ich kann Ihnen sagen, die Chefetage der Pharmorena AG ist besetzt mit aalglatten, scharf kalkulierenden Haien, die haben uns über den Tisch gezogen!“, sprach sie weiter. „Es war Kalkül von ihnen, dass sie gleich nicht alle Anforderungen an uns gegeben haben. Das war Verschleierungstaktik, erst am Ende kam heraus, was sie alles installiert haben wollten, vor allem in den Untergeschossen. Diese Mistkerle haben jetzt Orhan auf dem Gewissen, bestimmt wusste er zu viel.“
Simone Gerling schluchzte, griff in ihre Jackett-Tasche, um ein Papiertaschentuch herauszuziehen.
„Was könnte das gewesen sein?“, wollte ich wissen.
Sie schniefte. „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Aber es ist doch auffällig, dass er gerade jetzt vor einen LKW geschubst wurde, oder? Was sind das nur für Schweine!“
„Ich kann Ihre Aufregung verstehen, Frau Gerling. Ist Ihnen denn gestern etwas an Herrn Aydin aufgefallen?“
Sie tat mir leid, aber ich musste weiterfragen. Das war mein Job.
„Er hat während der Mittagspause den Zeitungsbericht über die Pharmorena AG und den Mord an dem Mitarbeiter gelesen. Dann ist er aufgesprungen und rausgerannt.“
Dieser Satz traf mich wie ein Pfeil. Ich schreckte hoch und fragte: „Hat er etwas dazu gesagt?“
„Nein.“
„Wann war das, Frau Gerling?“
„Muss so um eins gewesen sein.“
Um eins? Kurze Zeit später hatte er mich angerufen!
„Kennen Sie den Zeitungsbericht?“, fragte ich, meine Hände fingen an zu kribbeln. Ich musste diese Zeitung haben!
„Ja, wir haben ihn hier alle noch angesehen.“
„Ist Ihnen daran etwas aufgefallen? Etwas, was Herrn Aydin zu der plötzlichen Reaktion veranlasst haben könnte?“
„Nein.“
***
Ein hämmerndes Klopfen an meiner Autoscheibe riss mich aus meinen Überlegungen, die wie ein Strudel um die geheimen Untergeschosse der Pharmorena AG und den Zeitungsbericht kreisten. Ich zuckte zusammen und schaute von den Protokollen auf. Es war Karin.
„Nächster Halt: HLKA Wiesbaden!“, schrie sie durch das geschlossene Seitenfenster.
Ich musste lächeln. Ihr blonder, strubbeliger Haarschopf glänzte nass im Strahl einer Laterne. Mit ihrem unverwechselbaren Humor brachte sie mich wie gewohnt auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich musste jetzt mit ihr ins Büro gehen, komme was da wolle. Ich öffnete die Fahrertür und stieg aus. Sofort prasselte unerbittlich der kalte Regen in mein Gesicht. Ich zog die Kapuze hoch.
„Hast du einen Regenschirm dabei?“, fragte Karin mich.
„Klar, warte.“
Ich lief zum Kofferraum, holte ihn heraus, spannte ihn sofort auf und hielt ihn ihr entgegen. Wir quetschten uns gemeinsam unter den blauen Stadtschirm Frankfurt, auf dem die Häuserzeile rund um den Römer abgebildet war. Mein Sohn hatte ihn während eines Klassenausflugs in die Finanzmetropole gekauft und mir zum Geburtstag geschenkt.
„Damit kannst du dich in Wiesbaden nicht blickenlassen, Peter“, grinste Karin.
„Muss ich ja auch nicht, du brauchst ihn ja“, versuchte ich mich an einem Scherz.
Sie merkte, dass etwas mit mir nicht stimmte. Es brauchte nur ein Wort, eine feine Nuance in meiner Stimme, einen Blick in mein regennasses Gesicht, und sie wusste Bescheid.
„Was ist los, Peter? Warum hast du so lange im Auto gesessen und im Urlaubskatalog geblättert? Brauchst du eine Auszeit?“
„Das ist nur Tarnung, Karin“, erklärte ich, klemmte mir die Mappe unter den Arm und zog den schwerwiegenden Zettel aus der Jackentasche, den ich heute Morgen in meinem Briefkasten entdeckt hatte.
„Was ist das?“, fragte sie und las die eine Zeile, die den Oktober als Todbringer proklamierte.
„Peter, verdammt, du musst …“
„Ich weiß. Lass uns reingehen und noch einmal ganz von vorne anfangen.“
***
Protokoll: LKA Wiesbaden, Verhörraum 1, Mittwoch 18.09.2019, 11:51 Uhr: Zeugenbefragung durch Peter Groß von Maria Barthel-Garcia, weiblich, 41 Jahre, Reinigungskraft bei der Saubermann GmbH
„Frau Barthel-Garcia, warum wollten Sie uns noch einmal sprechen? Ist etwas passiert?“
„Ich muss Ihnen sagen.“
„Was müssen Sie uns sagen?“
***
Das Protokoll ließ mich wieder in dieses absurde Gespräch eintauchen. Frau Barthel-Garcia hatte es sich offensichtlich noch einmal anders überlegt. Sie hatte sich bei mir gemeldet, um eine weitere Aussage zu machen. Wenig später saß sie vor mir. Sorgenfalten traten auf ihre gebräunte Stirn unter den schwarzen Haaren, die mit feinen silbrigen Strähnen durchzogen waren.
„Was mir wieder eingefallen“, meinte sie.
„Was denn?“, wollte ich wissen und trommelte ungeduldig mit meinen Fingern auf die Tischplatte.
Ich sah ihr an, dass ihr die Aussage schwerfiel. Sie kämpfte mit sich, schaute rechts und links an mir vorbei, vermied jeden Blickkontakt. Dann starrte sie vor sich auf den weißen Tisch und sprach weiter.
„Etwas Wichtig, wegen Fenster bei Pharmorena.“
„Was ist mit den Fenstern?“, fragte ich. Der Satz hatte mich aufschrecken lassen. Es war also doch etwas mit den Fenstern gewesen!
„Fenster von Herr Moscher, Griff waren schief. Als ich war putzen am Abend bevor Kuschinski tot.“
„Wie bitte?“
Ich konnte es nicht fassen. Die kam hierher, um mir zu erzählen, dass ein Fenstergriff schief war? Ich schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Frau Barthel-Garcia zuckte zusammen.
„Si! Griff von Moscher Fenster waren schief“, meinte sie kleinlaut.
Ich musste aufpassen, sie nicht zu verschrecken. Die Aussage strengte sie schon genug an, ich durfte es mir jetzt nicht verscherzen. Nicht, bevor ich nicht wusste, was mit dem Fenstergriff passiert war.
„Aha, er war also schief“, wiederholte ich.
„Si. Und Herr Moscher nicht mögen schiefe Sachen.“
„Soso.“
Der Herr Moscher mag keine schiefen Sachen. Das war es also, was mir Frau Barthel-Garcia hatte mitteilen wollen. Ich kam mir vor wie in einer Realsatire.