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Arne Petersen

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  • Herausgeber: beTHRILLED
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Mitten im Winter verschwindet in dem norddeutschen Dorf Greiderheide ein junges Mädchen spurlos in den Wäldern. Die junge Kommissarin Anika Bartelsen übernimmt den Fall. Kurz darauf taucht auch noch Kommissar Gustaf Ohlsen aus Berlin in dem Dorf auf. Er sucht nach seiner Tochter, einer Journalistin, die ebenfalls vermisst wird und hier zuletzt für eine Story recherchiert hat - Zufall?

Nach anfänglichem Widerstand bezieht Anika Bartelsen Ohlsen in ihre Ermittlungen ein. Gemeinsam stoßen sie schließlich auf ein schreckliches, nie aufgeklärtes Verbrechen. Hat der alte Fall etwas mit dem aktuellen zu tun? Immer mehr verfangen sich die Kommissare in einem Netz aus Schein, Lügen und Aberglauben, bis sie selbst in großer Gefahr schweben ...

Ein spannender Krimi aus der norddeutschen Provinz, der seine Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.



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Seitenzahl: 326

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Inhalt

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Über dieses Buch

Ein vermisstes Mädchen. Ein Dorf mit einem dunklen Geheimnis. Und ein nie aufgeklärtes, schreckliches Verbrechen.

Mitten im Winter verschwindet in dem norddeutschen Dorf Greiderheide ein junges Mädchen spurlos in den Wäldern. Die junge Kommissarin Anika Bartelsen übernimmt den Fall. Kurz darauf taucht auch noch Kommissar Gustaf Ohlsen aus Berlin in dem Dorf auf. Er sucht nach seiner Tochter, einer Journalistin, die ebenfalls vermisst wird und hier zuletzt für eine Story recherchiert hat – Zufall? Nach anfänglichem Widerstand bezieht Anika Bartelsen Ohlsen in ihre Ermittlungen ein. Gemeinsam stoßen sie schließlich auf ein schreckliches, nie aufgeklärtes Verbrechen. Hat der alte Fall etwas mit dem aktuellen zu tun? Immer mehr verfangen sich die Kommissare in einem Netz aus Schein, Lügen und Aberglauben, bis sie selbst in großer Gefahr schweben …

Über den Autor

Arne Petersen, geboren 1970, ist Autor, Drehbuchschreiber und freier TV-Redakteur. Er studierte Kommunikationswissenschaften an der LMU in München und lebt in Berlin. »Blutritual« ist sein dritter Spannungsroman.

Arne Petersen

Blutritual

beTHRILLED

 

Originalausgabe

 

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

 

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Covergestaltung: Manuela Städele-Monverde unter Verwendung von Motiven © Triff / shutterstock und © borchee / istockphoto

eBook-Erstellung: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-5773-8

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

Dezember

Die Graupelkörner, die ihm der Wind ins Gesicht peitschte, fühlten sich auf seiner Haut wie kleine Nadelstiche an. Davon unbeirrt stapfte er weiter durch den tiefen Schnee. Die Temperaturen waren kurz vor Weihnachten noch einmal um einige Grad gefallen, und selbst in dem dicken Parka und der Schneehose aus wasserdichter Kunstfaser fror er. Die weiße Pelzmütze aus echtem Nerz, die er von seiner Großmutter geerbt hatte, war ihm etwas zu groß, und er sah damit aus wie ein Eskimo. Die Kälte kroch durch jede noch so kleine Öffnung seiner Kleidung, und seine Hände wurden starr und taub in den abgenutzten, an den Nähten schon an einigen Stellen eingerissenen braunen Lederhandschuhen mit dem Lammfellfutter.

Doch umzukehren kam Hendrick nicht in den Sinn. Die schiere Verzweiflung und ein Schmerz, der kaum auszuhalten war, trieben ihn weiter durch die unbarmherzige Winterlandschaft, die mit einer Winter-Wonderland-Postkartenidylle nicht das Geringste gemein hatte. Das hier waren arktische Zustände. Seit vorgestern tobte der Schneesturm, und nur ein Lebensmüder setzte bei diesem Unwetter einen Fuß vor die Tür. Die Menschen im Dorf verbarrikadierten sich in ihren Häusern, ernährten sich von Lebensmitteln aus ihren Vorratskammern und hofften, dass der kalte Spuk bald vorüber sein würde.

Sie ist nicht tot! Ich weiß es! Sie muss leben!, sagte er sich immer wieder vor. Eine Träne lief ihm die Wange herunter und gefror sofort zu Eis.

Der Graupel war in Schnee übergegangen, während er sich im Sturm Schritt für Schritt vorwärtskämpfte. Für sie würde er bis ans Ende der Welt und noch weiter laufen. Er blieb einen kurzen Moment stehen und drehte sich auf dem Acker um. Durch die Wand aus dichten Flocken konnte er in einiger Entfernung die Umrisse der Häuser des Dorfes sehen. Es waren jetzt nur noch wenige Meter bis zum Waldrand. Er blickte hinüber zu der Stelle, einem schmalen Weg, der zwischen den Bäumen hindurch in den Wald führte. Dort war seine Schwester zum letzten Mal gesehen worden.

Wenn einer Merle finden würde, dann er. Seit ihrer Kindheit hatte eine Art telepathische Verbindung zwischen ihnen bestanden. Am Tag ihres Verschwindens jedoch war sie abgerissen. In der Nacht, in der sie nicht nach Hause kam, war er noch aus dem Schlaf hochgeschreckt, weil er die Gefahr gespürt hatte, in der sie schwebte. Doch dann hatte er nichts mehr gesehen. Es gab nur noch dieses krisselige Schwarzbild in seinem Kopf, wie bei einer Übertragungsstörung beim Fernsehen. War ihre Verbindung abgebrochen, weil sie tot war?

Er verdrängte diesen quälenden Gedanken und marschierte tiefer in den Wald hinein. Die hohen Tannen ragten bedrohlich wie riesige Schatten in den grauen Himmel, und der Wind blies das weiße Pulver, das mehrere Zentimeter hoch auf den Ästen lag, in alle Himmelsrichtungen. Er hatte nicht allzu viel Zeit für seine Suche, denn bald schon würde die Dunkelheit hereinbrechen.

Plötzlich nahm er zwischen dem Heulen des Windes ein Krächzen wahr. Er sah Schatten blitzschnell über sich hinwegschießen, hinauf zu den Wipfeln der Bäume, wo sie sich in unzählige schwarze Flecken auf weißem Grund auflösten. Er stellte seinen Blick scharf.

Jetzt sah er sie, die Krähen, die dort ganz oben saßen und auf ihn herabblickten. Mit einem Mal lösten sich einige Vögel vom Schwarm und stürzten zwischen den Bäumen etwas entfernt von ihm zur Erde. Er lief dorthin und beobachtete, wie sich mehrere Krähen über etwas hermachten, das im Schnee lag. Sie hackten mit ihren Schnäbeln auf ein totes Waldtier ein und rissen Fleischstücke aus dem Körper. Ein Hase, soweit er es erkennen konnte. Der Schnee war blutgesprenkelt. Kurz wurde ihm übel.

Ein leises Knurren ließ ihn herumfahren. Ein spitzer Zweig streifte schmerzhaft seine Schläfe und Wange. Er spähte zwischen den Bäumen hindurch, konnte aber nichts entdecken. Auch die Krähen hatten das Geräusch gehört. Sofort ließen sie von dem Kadaver ab, krächzten einmal laut auf und erhoben sich in die Lüfte.

Sein Blick fiel auf den völlig zerfetzten Hasen im Schnee. Und er spürte, dass da noch etwas in seiner Nähe war. Ganz dicht, hungrig und gefährlich. Ein Schauder überlief ihn, und er wollte nicht mehr herausfinden, was es war. Einen kurzen Moment zögerte er, lauschte in die Stille, dann rannte er los.

*

»Wie ist denn das passiert?«, rief Jana erschrocken, als sie den tiefen, blutigen Kratzer sah, der über seine Wange lief. »Du bist im Wald gewesen, stimmt’s?«

Hendrick ließ die Frage seiner Freundin unbeantwortet. Kopfschüttelnd stellte Jana die Gläser mit Bier ab und ging um den Tresen herum nach hinten, um Verbandzeug zu holen. Er setzte sich auf einen Hocker an die Bar und blickte auf den ramponierten Holztresen, auf dem die halbstarken und betrunkenen Gäste mit ihren Taschenmessern beim Finger-Metzger-Spiel tiefe Löcher und Furchen hinterlassen hatten.

Den Wirt des Easy Rider störte die Beschädigung seines Inventars nicht. Ganz im Gegenteil. Für Manni und seine Gäste war der Laden der »letzte Hort der Freiheit in diesem gottverdammten Kaff«, wie er das in seiner schnodderigen Art auszudrücken pflegte. Hier war alles erlaubt, und deshalb hielt sich auch keiner an irgendwelche Vorschriften und Gesetze. Die galten nur »draußen«, und so waren Schlägereien, Glücksspiel und andere Laster geradezu erwünscht und an der Tagesordnung.

Verständlicherweise war der Schuppen allen Moralaposteln und Gesetzeshütern ein Dorn im Auge. Was sie zusätzlich erzürnte, war die Tatsache, dass das Easy Rider nicht weit von der Dorfkirche von Greiderheide entfernt lag und sich die Wege der Betrunkenen und der Gläubigen des Öfteren kreuzten. Obwohl Manni ständig mit dem Gesetz im Clinch lag und man mindestens einmal im Monat damit drohte, ihm die Lizenz zu entziehen und den Laden zuzumachen, waren bisher alle Versuche in dieser Richtung gescheitert. Das lag hauptsächlich daran, dass die verschworene Gemeinschaft dieses kleinen anarchischen Paradieses dichthielt, auch wenn der eine oder andere schon mal mit ein paar Zähnen weniger oder einem blauen Veilchen frühmorgens aus dem Laden taumelte. Im Easy Rider waren all jene willkommen, die ganz einfach mal Druck ablassen wollten, egal, warum, und egal, wie alt. Volljährigkeit war keine Voraussetzung, um das Lokal zu betreten.

»Ich versuch’s morgen noch mal, wenn es nicht mehr so stürmt«, sagte Hendrick, als Jana zurückkam.

»Das lässt du gefälligst sein«, erwiderte sie, während sie seine Wunde mit Jod betupfte und dann ein Pflaster darauf klebte. »Die Polizei hat das Gebiet doch schon tagelang mit einer ganzen Suchmannschaft durchkämmt!«

»Jana, noch mal zwei Bier«, rief ein Gast von einem der Tische. Das Lokal war an diesem Abend recht gut besucht.

»Gleich, Wilhelm«, rief Jana etwas genervt zurück, stellte sich an den Zapfhahn und hielt ein Glas darunter.

»Was willst du damit sagen? Dass es keinen Sinn macht weiterzusuchen, weil sie vielleicht schon gar nicht mehr lebt?«, erregte sich Hendrick.

»Nein, aber bei diesem Wetter ist es Selbstmord, im Wald rumzulaufen.« Jana zapfte das zweite Bier.

»Ich werde erst aufhören, wenn ich sie gefunden hab!«

»So hat damals … auch alles angefangen«, ließ sich eine zittrige Stimme vernehmen.

Hendrick und Jana drehten ihre Köpfe in Richtung eines alten Mannes, der allein vor seinem Bier in der Nähe an einem der Tische saß. Sein rechtes Auge war rot entzündet. Er wischte gelbes Sekret mit einem Stofftaschentuch weg.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Hendrick.

»Erst kamen die Wölfe … und dann kam das Böse.«

»Das Böse? Wie viele Schnäpse hast du schon intus, Theo?« Jana feixte und bedeutete ihm mit einer beiläufigen Handbewegung, Ruhe zu geben. Dann wandte sie sich wieder ihrem Freund zu. »Hör nicht auf ihn! Der erzählt nur Blödsinn.«

Aber Hendrick war neugierig geworden. Er stand auf und ging zu dem Alten, der jetzt schweigend dasaß und in sein Bierglas starrte.

»Wie haben Sie das gemeint?«, wiederholte er eindringlich.

Der Alte hob langsam den Kopf. Sein wässeriger, starrer Blick ließ Hendrick kurz erschaudern. In dem Moment sah der Mann selbst ein wenig aus wie das Böse.

»Kurz nach Kriegsbeginn hat das Böse schon mal unser Dorf heimgesucht.«

Hendrick setzte gerade an, nachzufragen, als Theos Kopf nach vorn kippte. Er knallte auf den Rand des Bierglases, das zerbrach. Der Alte stöhnte auf und hielt sich die Stirn. Blut tropfte auf den Tisch und vermischte sich mit der Bierlache zu einem kleinen dunkelroten See.

»Mein Gott, Theo!«, fluchte Jana und kam herbeigerannt.

Zusammen mit Hendrick schleppte sie den Alten auf die Toilette, wo sie seine Wunde säuberten und Jana Verbandsmull um seine Stirn wickelte. Als sie wieder in den Gastraum gingen, stießen sie auf den Wirt, der zwischenzeitlich gekommen war.

»Theo muss aufpassen mit dem Saufen«, sagte Manni nur und kratzte sich an seiner tätowierten Glatze. »Ich kümmere mich um ihn.« Er hakte ihn unter und schob ihn zur Tür.

Theo ächzte und schnaufte. Ein langer Speichelfaden lief aus seinem geöffneten Mund und tropfte zu Boden.

»Die frische Luft wird dir guttun. Und morgen gehst du gleich zum Doc, okay? Ich fahr dich jetzt nach Hause.«

Die Tür fiel hinter den beiden zu.

»Ich wasch mir mal kurz die Hände«, sagte Jana und verschwand in Richtung Toilette.

Hendrick glitt von seinem Hocker. Er schob den roten Samtvorhang beiseite, der den hinteren Teil des Ladens vom Barbereich abtrennte. Dort war es vergleichsweise ruhig. Einige Männer spielten konzentriert Pool-Billard oder kloppten Karten. Der Geruch undefinierbarer Körperausdünstungen vermischte sich mit dem dichten Qualm von Zigaretten, der die nackten Hundert-Watt-Glühbirnen, die über den Tischen hingen, einnebelte und sie wie schummerige Grablichter aussehen ließ.

»Zum Wohle Eurer Majestät«, grölte einer, woraufhin alle Kartenspieler ihre Gläser in die Luft schwenkten und ihre Schnäpse auf ex hinunterkippten.

Hendrick ließ sich in einer dunklen Ecke nieder und starrte vor sich hin.

»Wieso sitzt du denn hier?« Plötzlich stand Jana vor ihm.

»Ich hab’s gespürt, Jana. Vorhin im Wald.«

»Was meinst du?«

»Das Böse, von dem der Alte gesprochen hat.«

1

Januar

Schnee lag auf den Ästen der Trauerweide, was sie wie das schlaffe weiße Haar einer alten Frau aussehen ließ. Der Stein, auf dem er saß und dessen Eiseskälte durch seine Cordhose drang und seinen Hintern betäubte, befand sich nicht weit davon entfernt am Rand des kleinen Flusses, der stellenweise von einer dicken Eisschicht bedeckt war. Außer dem leisen Plätschern des Wassers darunter und dem gelegentlichen Aufheulen des Windes herrschte Stille. Vom Himmel schien bleich die Sonne. Keine Menschenseele war weit und breit zu sehen an diesem Morgen, an diesem abgeschiedenen Ort. Nur einmal bezeugte das Kreischen eines Reihers, der sich in die klirrend kalten Lüfte erhob, dass er nicht allein auf dieser Welt war.

Gustaf Ohlsen seufzte schwer. Genauso war es gewesen, als er Sofia zum letzten Mal gesehen hatte. Sie hatten eng nebeneinander auf dem Stein gesessen und schweigend auf den Fluss und das dahinterliegende schneeweiße Feld geblickt. Das laute Getöse des Alltags, das mit seinen Eindrücken und Fragen noch in ihren Köpfen nachhallte, war allmählich verstummt, und ein wohliges, warmes Gefühl in der Magengegend und im Herzen hatte sich eingestellt. Innerer Friede. In diesem Moment hatte er sie beide als Einheit empfunden, was sonst nie der Fall gewesen war, denn sie kannten sich nicht wirklich, obwohl er ihr Vater und sie seine Tochter war. Sie war ihm fremd geblieben und er ihr wohl auch. Aber darüber hatten sie nie gesprochen. Eigentlich nie über die Dinge, die sie wirklich beschäftigten. Nichts Persönliches war je über ihre Lippen gekommen, wenn sie sich gelegentlich trafen, nur Small Talk, das übliche Geplauder über den Job, der bei beiden den Mittelpunkt ihres Lebens bildete. Dass sie sich überhaupt verabredeten, kam ohnehin sehr selten vor. Vielleicht einmal im Jahr, wenn überhaupt. Gelegentlich hatten sie telefoniert, aber das waren kurze Pflichtanrufe gewesen. Sie hatten sich nur manchmal daran erinnert, dass er eine Tochter und sie einen Vater hatte.

Was wollte er jetzt hier? An diesem Morgen, an dieser Stelle. Das Gefühl einer Verbundenheit noch einmal herbeirufen, das damals für einen kurzen Moment aufgeleuchtet war?

Sofia war verschwunden. Schon seit einigen Wochen. Spurlos.

Ohlsens Ex-Frau Annegret hatte sie bei der Polizei vermisst gemeldet, ihm aber nicht Bescheid gegeben. Er hatte erst kurz danach von einem Kollegen bei der Vermisstenstelle davon erfahren, als er am Morgen nach seinem achtundvierzigsten Geburtstag mit einem dicken Schädel im Büro erschienen war. Er hatte die Nacht zuvor »gefeiert«, allerdings nicht im herkömmlichen Sinne mit guten Freunden in einer Bar. Für ihn war es seit Jahren das Gleiche: er und seine zwei Rotweinflaschen, Médoc, Zweitausender-Jahrgang, erstanden in einem Edelkaufhaus. Ein treuer Freund, der ihm schon über viele schwere Zeiten und Gedanken hinweggeholfen und ihm stets gute Dienste erwiesen hatte. In letzter Zeit allerdings ziemlich oft. Sein konstanter Alkoholkonsum seit Sofias Verschwinden war in der Dienststelle nicht unbemerkt geblieben.

Die Nachricht hatte ihn anfangs nicht sofort ins Mark getroffen, er hatte sie zunächst professionell als Polizeibeamter aufgenommen. Er hatte nicht ausgeschlossen, dass sie sich bewusst aus ihrem Verwandten- und Bekanntenkreis abgesetzt hatte, ohne eine Nachricht über ihre Erreichbarkeit zu hinterlassen – obwohl das eigentlich nicht ihre Art war. Erst nach und nach war ihm ins Bewusstsein gesickert, dass ihr etwas Schreckliches zugestoßen und sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte und womöglich nicht mehr lebte.

Hier an diesem Ort wollte er sie wieder greifbar machen. Nach der Odyssee und der emotionalen Achterbahn, die er hinter sich hatte, versuchte er, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Die eiskalte Luft, die in seine Nase drang, tat für einen kurzen Moment weh wie Gehirnfrost bei einem eiskalten Getränk, das man zu schnell durch einen Strohhalm sog. Sie sorgte aber kurz dafür, dass sein durch den Alkoholmissbrauch und den Lärm der Großstadt vernebelter Geist einen Moment licht wurde. Glasklar und unmissverständlich formulierte sich in seinem Kopf der einzige Ausweg: Du musstweg vom Alkohol, mit dem du dich seit Sofias Verschwinden nur noch betäubst. Er hatte immer schon den Hang zur Sucht gehabt, und der Grat zwischen »im Alltag funktionieren« und »nicht auffallen« und dem totalen Absturz war schmal. Im Moment befand er sich im freien Fall.

Er stand auf und rieb sich mit der behandschuhten Hand den Hintern warm. Er spürte, wie das erschlaffte Fleisch, das vor Jahren, als er noch regelmäßig Sport getrieben hatte, deutlich fester gewesen war, an Taubheit verlor und wieder durchblutet wurde. Bevor er den kleinen Pfad betrat, der durch den Schnee kaum mehr als solcher zu erkennen war, schaute er noch einmal zu der Trauerweide hinüber.

Traurig ließ sie ihre langen Äste herabhängen, energielos, müde. So stand sie nun da inmitten der Winterlandschaft. Dieses Bild passte zu dem, wie er sich gerade fühlte. Kurz tauchte eine andere Szenerie vor seinem geistigen Auge auf: Die Weide hob ihr schweres Haupt, links und rechts fiel Schnee ab, und schemenhaft war ein Gesicht unter ihrem wüsten weißen Haar zu erkennen. War das sein Gesicht? Das Hirngespinst verschwand so schnell wieder, wie es gekommen war. Er setzte sich in Bewegung, richtete seinen Blick stur auf den Pfad, auf dem sich eine Spur seiner Fußabdrücke abzeichnete, und stapfte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

2

Die S-Bahn zurück füllte sich mit immer mehr Menschen, je näher sie dem Zentrum der Stadt kam. In den Außenbezirken waren nur wenige Passagiere eingestiegen, jetzt – wo sie fast den Alexanderplatz erreicht hatte – standen sie dicht zusammengedrängt. Er roch das Nass der Stiefel, der Mäntel und Jacken. In der letzten halben Stunde hatte es wieder stärker angefangen zu schneien. Gustaf Ohlsen saß auf einem der Klappstühle in der Nähe der Tür, eingepfercht in einen Pulk von Menschen. Unter seinem schweren Parka lief ihm unangenehm der Schweiß über den Rücken und durchnässte sein T-Shirt. Jetzt bereute er kurz, nicht mit seinem alten Mercedes gefahren zu sein, aber er wollte es genau so machen wie damals mit Sofia, als sie für ihren gemeinsamen Ausflug auch die Bahn genommen hatten.

Nicht nur die Körper der anderen Fahrgäste trugen dazu bei, die Temperatur in dem Waggon hochzutreiben, auch die Heizung war volle Pulle aufgedreht. Einer der Passagiere rief einem anderen zu, der nahe an einem der kleinen Klappfenster stand, dieses zu öffnen. Kalte Luft strömte herein und verschaffte für einen kurzen Moment Erleichterung. Ein kleines Kind fing an zu weinen und konnte nur schwer von seiner Mutter wieder beruhigt werden. Mehrere Leute niesten und schnieften in Taschentücher. Eine Gruppe Jugendlicher unterhielt sich lautstark in einer ihm fremden Sprache. Ein älterer Herr hustete polternd, unverkennbar die chronische Bronchitis eines Kettenrauchers.

Ohlsen war heilfroh, als er nach dem Umstieg in die U-Bahn schließlich die Eberswalder Straße erreichte. An der Straße vor der Station musste er kurz an der roten Ampel warten, bevor er weiter zu seiner Wohnung lief, die nicht allzu weit von der U-Bahn entfernt lag. Im Treppenhaus konnte er im zweiten Stock aus einer Wohnung lautes Gewummer von Musik hören. Die jungen Leute, eine fünfköpfige WG, nahmen es mit den gesetzlichen Ruhezeiten nicht ganz so genau und hatten im Haus bereits für Ärger gesorgt, seitdem sie vor ein paar Monaten eingezogen waren. Einige Nachbarn hatten sich beschwert, andere die Polizei gerufen, weil es zweimal zu längeren, nächtlichen Ruhestörungen gekommen war. Er hatte bisher noch nicht an ihrer Tür geklingelt, obwohl ihn der Krach mitten in der Nacht auch gestört hatte. Er schlief ohnehin nie besonders tief und war sofort hellwach gewesen. Nur mit Ohrstöpseln hatte er einigermaßen weiterschlafen können.

Jetzt war es früher Abend, und ihm schwante, dass die Elektrobeats noch eine ganze Weile durch das Haus dröhnen würden. Wenn es wieder bis in die Nacht ginge, würde er bei ihnen klingeln. Er schloss die Flügeltür zu seiner Altbauwohnung auf. Im Innern war es kühl, weil er die Heizung während seiner Abwesenheit heruntergedreht hatte. Er hängte Parka, Schal und die Strickmütze an den Garderobenhaken im Flur, ging ins Bad, wo er sich kurz die Hände wusch, und danach in die Küche, um eine Kleinigkeit zu essen.

Im Kühlschrank fand er nur ein winziges Stück Käse, das schon etwas streng roch. Er warf es angeekelt in den Mülleimer. Neben ein paar Wasserflaschen, Joghurts und ein, zwei Konserven herrschte in seinem Kühlschrank gähnende Leere. Ihm fiel ein, dass er noch eine Pizza in der Tiefkühltruhe hatte, und schob sie in den Ofen. Während er sie aufbackte, schenkte er sich den Rest Rotwein aus der Flasche ein, die auf dem Küchentisch stand. Er dachte daran, wie er früher oft das Abendessen zubereitet und bei Kerzenschein mit seinen Verflossenen gemeinsam gegessen hatte. Alle hatten sein Kochtalent gelobt.

Er seufzte. Lang, lang war das her. Das mit dem Kochtalent und den Freundinnen. Beides war verkümmert. Statt Steinbutt mit Trüffeln gab es jetzt Tiefkühlpizza und einfache Gerichte, die schnell gingen. Häufig griff er auch auf irgendeinen Lieferservice zurück. Es machte ihm keine Freude, für sich allein zu kochen. Seine letzte Beziehung lag schon etliche Jahre zurück. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, warum sie in die Brüche gegangen war.

Sofias Mutter Annegret war seine zweite Freundin gewesen. Als sie mit Sofia schwanger war, hatten sie kurz über Abtreibung nachgedacht, sich dann aber doch für das Baby entschieden. Ihre Ehe hielt genau drei Jahre. Dann war Annegret mit Sofia ausgezogen. Sie hatte, so drückte sie sich aus, seine Leidenschaftslosigkeit und Gefühlskälte satt. Und seine Hingabe an den Job als Kommissar, was in vielen Überstunden Ausdruck gefunden hatte. Manchmal hatte er sich dabei erwischt, dass er wegen der andauernden Streitereien lieber in der Dienststelle geblieben war, statt nach Hause zu gehen. Annegret war noch jung gewesen und hatte wohl mehr vom Leben erwartet als einen erschöpften Ehemann, der zu keiner Gefühlsregung mehr imstande war. Wer konnte ihr das übel nehmen?

Es folgte eine schmerzvolle Verlustphase, die jedoch recht kurz ausgefallen war, so wie alles in seinem Leben, was mit Emotionen zu tun hatte. Er war noch nie ein Mann der großen Gefühle gewesen, geschweige denn einer, der großartige Liebesschwüre von sich gab. Manchmal war er selbst darüber erschrocken, wie wenig er fühlte, wie wenig Qualen ihm das Schicksal bereitete. Er war ein Meister darin, Schmerz zu verdrängen.

In seinem Leben folgten neben einigen wenigen Affären noch drei weitere Frauen, mit denen er echte Beziehungen hatte. Echt in seinem Sinne, wohl nicht in dem der Frauen, die sich eine tiefere emotionale Bindung gewünscht hatten. Er stand jedes Mal da wie der Ochs vorm Berg, wenn vom nächsten Schritt, den man zu gehen wünschte, die Rede war. Er war zufrieden mit der Beziehung und konnte nicht verstehen, was seinen Partnerinnen fehlte.

Nachdem er die Pizza verspeist hatte, ging er ins Wohnzimmer und drehte die Heizung hoch. Er zog die Schublade des kleinen Sekretärs auf, der am Fenster stand, nahm eine Akte heraus. Zwischen eigenen Notizen befanden sich darin auch Kopien der Polizeiakten, die ihm ein befreundeter Kollege zugespielt hatte. Das war nicht legal, da er seit einiger Zeit krankgeschrieben war. Im Blick seines Vorgesetzten glaubte er am Tag der Verkündung herausgelesen zu haben, dass er bei seiner psychischen Verfassung, sollte diese sich nicht bessern, wohl bald in den »vorzeitigen Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit« versetzt werden würde. Und das mit gerade mal achtundvierzig.

In den letzten Jahren war er dünnhäutiger geworden, was die Verarbeitung der Fälle betraf. Hatte er früher die professionelle, kühle Brille nie abgesetzt, so erwischte er sich dabei, dass ihm manche Fälle besonders nahegingen. Stellte sich bei ihm bereits eine altersbedingte Rührseligkeit ein, oder warum hatte er den professionellen Abstand verloren? Er wusste es nicht. Das Verschwinden seiner Tochter hatte seiner Psyche einen weiteren heftigen Schlag versetzt.

Sofia wurde seit knapp fünf Wochen vermisst. Dadurch war auch seine Ex-Frau Annegret wieder in seinem Leben aufgetaucht, die er zwei Jahrzehnte weder gesehen noch gesprochen hatte. Sie hatte ihn angerufen, kurz nachdem die Polizei ihn wegen des Verschwindens von Sofia kontaktiert hatte. Er hatte Annegrets Stimme am Telefon zunächst nicht sofort wiedererkannt, vielleicht weil sie so verzweifelt geklungen hatte.

Die ermittelnden Kollegen für Vermisstenfälle beim Landeskriminalamt waren trotz eingeleiteter Suchmaßnahmen bislang nicht weitergekommen. Die Aufenthaltsermittlung hatte ergeben, dass Sofia sich zuletzt in einem kleinen Ort irgendwo im hohen Norden Deutschlands in einem Hotel eingebucht hatte. Sie hatte dort als freie Journalistin im Rahmen eines Artikels über gewalttätige Übergriffe Rechtsextremer auf Flüchtlinge für die Berliner Zeitung recherchiert. Danach verlor sich ihre Spur.

Seit seiner Krankschreibung war er als Privatermittler auf eigene Faust unterwegs. Zeit hatte er ja jetzt zur Genüge. Er hatte mit den Leuten bei der Zeitung gesprochen. Der Redaktionsleiter hatte ihm erzählt, dass Sofia ihn eines Abends aufgeregt angerufen und ihm mitgeteilt hatte, an einer ganz heißen Story dran zu sein. Sie sei während ihrer Recherchen auf etwas Unglaubliches gestoßen. Worauf, darüber hatte sie sich bedeckt gehalten. Sie wollte die Katze erst aus dem Sack lassen, wenn sie herausgefunden hatte, ob an der Geschichte überhaupt etwas dran war. Von einem Informanten in der Sache hatte sie gesprochen, das aber nicht weiter konkretisiert.

Über einen Kollegen bei der Polizei brachte Ohlsen in Erfahrung, an welchem Standpunkt ihr Handy zum Zeitpunkt des Anrufs in der Redaktion eingeloggt gewesen war. Greiderheide hieß das Dorf.

Ohlsen legte die Papiere wieder in die Akte, klappte sie zu und schob sie zurück in den Sekretär. So kam er nicht weiter. Er musste irgendeinen Anhaltspunkt finden, der ihn voranbrachte. Sein Blick fiel auf den kleinen Plastikbeutel, der in der Schublade neben der Akte lag. Er zögerte, ihn herauszuholen, doch dann gab er sich einen Ruck. In dem Beutel befand sich der Ersatzschlüssel zu Sofias Wohnung, den Annegret ihm geschickt hatte. Er nahm ihn heraus und drehte ihn zwischen den Fingern. Bisher hatte er die Wohnung noch nicht betreten. War es sein schlechtes Gewissen? Oder gar Angst, in diesen für ihn intimen Bereich vorzudringen, in dem er womöglich zum ersten Mal persönliche Dinge seiner Tochter entdecken würde, für die er bisher null Interesse gezeigt hatte? Aber wenn er weiterkommen wollte, musste er sich überwinden und diesen Schritt tun. Er steckte den Schlüssel in seine Hosentasche, zog den Parka über und verließ einige Minuten später das Haus.

3

Von seiner Wohnung am Prenzlauer Berg bis zu der seiner Tochter in Tempelhof brauchte er mit dem Auto nicht länger als dreißig Minuten. Da wohnte man nicht mal eine halbe Stunde voneinander entfernt und sah sich trotzdem nicht. Andere Menschen mit Verwandten, die in anderen Regionen und Städten wohnten, trafen sich öfters. Was für ein Elend!

Ohlsen parkte seinen alten Mercedes am Straßenrand vor dem schlichten Mehrfamilienhaus aus der Nachkriegszeit, das idyllisch und ruhig in der Nähe einer kleinen Parkanlage lag, und stieg aus. Mit dem Schlüssel in der Hand blieb er vor dem Haus stehen. Etwas hielt ihn davon ab, schnurstracks hineinzugehen. Einer älteren Dame im Parterre schien das aufgefallen zu sein, denn er sah ihr Gesicht, wie sie ihn, den Fremden, vom Fenster hinter der halb zur Seite gezogenen Gardine aus beobachtete. Als er länger in ihre Richtung blickte, ließ sie die Gardine fallen.

Er gab sich einen Ruck und schloss die Eingangstür auf. Sofias Apartment befand sich im zweiten Stock. Es gab keinen Aufzug, und so nahm er die Treppe. Als er die Wohnung betrat, stieg ihm schon im Flur der schwache Geruch eines Parfüms in die Nase. Er hatte ein sehr gutes, sensibles Riechorgan und nahm Gerüche wahr, die andere nicht bemerkten. Ist kürzlich jemand in der Wohnung gewesen?

Annegret hatte ihm erzählt, dass sie vor ein paar Tagen hier gewesen war. Das Parfüm roch etwas zu herb für eine Frau, aber vielleicht irrte er sich auch. Soweit er sich erinnerte, hatte sie nichts von einer männlichen Begleitung erzählt. Er hatte sie auch nicht gefragt, ob sie wieder liiert war. Oder konnte der Geruch im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Sofia ein mögliches Indiz sein? Er schob den Gedanken für den Moment beiseite.

Insgesamt roch es in der Wohnung recht frisch. Es war möglich, dass Annegret einmal durchgelüftet hatte. Seine Ex hatte schon früher abgestandene Luft nur schwer ertragen und davon immer Beklemmungsgefühle bekommen.

Ohlsen überlegte, ob Sofia nach dem Telefonat mit ihrem Redaktionsleiter womöglich nach Berlin zurückgekehrt war. Aber dann hätte man sie über ihr Handy lokalisieren können. Nein, Greiderheide war ihr letzter Aufenthaltsort gewesen.

Er sah sich um. An den Haken einer schlichten Garderobe hingen ein Trenchcoat und ein roter Schal. Er griff nach dem Schal und schnupperte daran. Ja, das war Sofias Duft. Auch wenn es nur schwach nach ihr roch, wurde ihm sofort flau im Magen. Er konnte es nicht mehr unterdrücken, Tränen schossen ihm in die Augen. Ein noch stärkeres Gefühl der Trauer als an dem gemeinsamen, einsamen Ort am Fluss übermannte ihn. Er hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Wie lange war es her, dass er solch starke Gefühle gespürt hatte? Eine Ewigkeit, in einem anderen Leben. Er schloss die Augen und legte die Hände darüber, bevor er sich nervös übers Gesicht strich.

Allmählich beruhigte er sich wieder. Er durfte sich nicht von seinen Emotionen ablenken lassen. Präzise und scharf wie eine gut geschliffene Klinge, durch nichts benebelt musste sein Geist sein, um selbst die kleinsten Dinge zu erkennen, aus denen sich vielleicht Hinweise ableiten ließen. Er wollte den Schal schon zurückhängen, doch dann entschied er sich, ihn mitzunehmen. Er schob ihn in die Tasche seines Parkas, dann öffnete er die Tür zu seiner Rechten.

Durch den hohen Dachgiebel wirkte das Wohnzimmer großzügig. Das unbehandelte, dunkle Holz der breiten Dachträger stand im Kontrast zu den weiß gestrichenen Wänden. Eine Glastür führte hinaus auf eine kleine Terrasse, von der aus er auf die Dächer und die Kronen der Bäume blicken konnte. Nichts versperrte die Sicht auf den Himmel und in die Ferne. Dass Sofia sich eine Wohnung direkt unter dem Dach ausgesucht hatte, passte zu ihrem Charakter.

Schon als kleines Mädchen wollte sie dem Himmel immer ganz nah sein. An Aussichtspunkten hatte sie immer länger als die anderen verharrt und gedankenverloren in die Ferne geblickt. Ihr Gesicht hatte dann außergewöhnlich entspannt ausgesehen, und die kleine Falte auf ihrer Stirn war verschwunden gewesen. In einem Artikel in einem Wohnmagazin über Die Psychologie von Räumen hatte er gelesen, dass Menschen, die unter Dächern wohnten, das Entrücktsein mögen und auch das Gefühl, niemanden mehr über sich zu haben. Im räumlichen wie im übertragenen Sinne. War das auch Teil von Sofias Wesen oder einfach Küchenpsychologie des Autors, der sich das für den Artikel aus den Finger gesogen hatte? Er schüttelte den Gedanken ab und sah sich weiter um.

Alles wirkte sehr aufgeräumt. Es gab nur wenige, aber besonders geschmackvoll ausgewählte Möbel. Ein rotes, geradliniges Sofa, frei in den Raum gestellt. Ein Lederstuhl mit Chromfüßen, eine schlichte schwarze Stehlampe, ein Board im Mid-Century-Stil, wie es momentan modern war. Insgesamt war die Einrichtung für ihn fast einen Tick zu nüchtern, wäre da nicht das bis zum unteren Rand der zwei Dachfenster entlang der Wand laufende Regal gewesen, das mit Büchern vollgestopft war. Er ging hinüber und ließ seinen Blick kurz über die Buchtitel schweifen – Autoren deutscher und internationaler Herkunft, Kunst- und Sachbücher, auch viel über journalistische Themen. Ein großformatiges Buch, dessen Ecken schon ziemlich abgestoßen aussahen, fiel ihm auf, und er zog es heraus. Es war ein Kinderbuch: Eduard in Afrika.

Er musste nicht lange überlegen. Das war Sofias Lieblingsbuch gewesen, aus dem ihre Mutter und er ihr als Kind immer vorgelesen hatten. Es ging um einen schrägen Abenteurer, der in Afrika auf Expeditionsreise war. Alles wunderschön illustriert. Jede Seite mit einer Fülle von Motiven. Exotische Landschaften, wilde, gefährliche Tiere, Piraten, Räuber, Schatzkisten, die von Diamanten und Gold überquollen. Auf jeder Seite gab es tausenderlei zu entdecken. Sofia hatte das Buch geliebt und konnte sich stundenlang damit beschäftigen. Er schlug es auf. Auf der ersten Seite stand in seiner Handschrift: Für Sofia. Kurz tauchten Bilder von damals vor seinem geistigen Auge auf. Wie er mit ihr auf dem Sofa oder vor dem Schlafengehen auf dem Bett gesessen, er ihr den Text vorgelesen und sie sich die Zeichnungen angeschaut hatte. Er klappte das Buch zu, und wieder überkam ihn tiefe Wehmut.

Als er sich wieder gefasst hatte, öffnete er die Tür zum nächsten Raum und knipste auch dort das Licht an. Es war ihr Schlafzimmer. Die Bettdecke auf dem Kingsizebett war aufgeschlagen. Sofia hatte dort wohl allein geschlafen. Offenbar hatte sie momentan keinen festen Freund, oder wenn doch, übernachteten sie nicht gemeinsam in ihrer Wohnung. Die beiden Kissen lagen übereinander und waren aufgeschüttelt worden.

Links und rechts neben dem Bett standen Nachttische. Unter dem Schirm einer kleinen Lampe lag auf dem einen Nachttisch ein Buch. Dürrenmatt. Der Auftrag. Vom Beobachten des Beobachters der Beobachter. Er drehte das Buch herum und las kurz die Inhaltsangabe. Es war die Geschichte der Filmemacherin F., die den Auftrag erhielt, einem Mord auf den Grund zu gehen und auf der Suche nach der Wahrheit selbst in die irrwitzige Geschichte verwickelt wurde. Er legte das Buch zurück und ging zum Schrank.

Nachdem er die Schiebetür geöffnet hatte, warf er kurz einen Blick auf die ordentlich gestapelten Pullover und T-Shirts und die auf Bügeln hängenden Mäntel, Jacken und Blusen. Er zog eine Schublade heraus – Unterwäsche und BHs. Schnell schloss er Schublade und Schrank wieder. Er fühlte sich unwohl dabei, einen Blick auf Sofias Intimstes zu werfen. Als würde er in etwas herumschnüffeln, was ihn nichts anging. Dafür war er als ihr treuloser Vater zu befangen.

Die nächste Tür stand offen. Sie führte in ein deutlich kleineres Zimmer, etwa halb so groß wie das Schlafzimmer. Das war wohl ihr Büro. In einem Metallregal auf der rechten Seite standen einige Aktenordner mit Steuererklärungen Versicherungs- und andere Unterlagen, die man als Selbstständiger so archiviert. Links im Raum an der Wand sah er einen kleinen Laserdrucker, daneben auf einem Metallcontainer weitere Aktenordner mit Recherche-Aufzeichnungen für kürzlich erschienene Artikel. Aktuelle Recherchen zu den Übergriffen auf die Flüchtlinge fand er nicht. Es gab nichts, was ihm irgendwie weiterhalf. Auch der Laptop, von dem ihm der Redaktionsleiter erzählt hatte und den Sofia gewöhnlich benutzte, war nicht hier. Sie musste ihn wohl mitgenommen haben. Eine externe Festplatte suchte er ebenfalls vergeblich. Womöglich sicherte seine Tochter ihre Daten in einer Cloud. An den Inhalt dort heranzukommen, war nicht leicht, dafür war ein Gerichtsbeschluss notwendig. Und momentan war Sofia »nur« als vermisst gemeldet.

Er ging in die Küche und öffnete die Spülmaschine. Darin stand nur wenig benutztes Geschirr. Zwei kleine Teller, eine Tasse, aus der Kaffee getrunken worden war, etwas Besteck. Der Inhalt des frei stehenden Kühlschranks war ebenfalls ziemlich übersichtlich. Im Gemüsefach welker Salat. Ein paar Flaschen, Dosen, ein abgelaufenes Stück Käse. In den Küchenschränken fand er nur wenige Lebensmittel – Nudeln, Reis, ein paar Konserven. Sofia schien keine passionierte Köchin zu sein. Wahrscheinlich hatte sie nie die Zeit dazu und aß außer Haus.

Ohlsens Blick fiel auf ein politisches Magazin, das auf dem frei stehenden Kühlschrank lag. Als er es hochhob, entdeckte er ein iPad. Er zog es hervor und klappte die Lederschutzhülle auf. Der Bildschirm war schwarz. Er drückte den Anschaltknopf, aber nichts passierte, nur das Batteriezeichen blitzte auf. Natürlich! Die Batterie war leer. Er suchte nach dem Ladekabel, das er in einer Steckdose im Wohnzimmer neben dem Board entdeckte. Er zog es heraus, steckte es zusammen mit dem iPad ein und verließ die Wohnung.

4

Bevor es wieder nach Hause ging, hatte Ohlsen noch etwas zu erledigen. Er hatte einer Freundin, die bei der Einsatzhundertschaft der Polizei arbeitete, versprochen, bei ihr vorbeizuschauen. Sie wohnte in Steglitz.

Anne empfing ihn mit einem erschöpften Lächeln, als sie ihm die Tür öffnete.

»War ’ne harte Nacht gestern«, sagte sie, als sie durch den Flur ins Wohnzimmer gingen. »Ein Einsatz zwischen Kottbusser Tor und RAW-Gelände. Wir haben mit einem Großaufgebot Taschendiebe und Drogendealer gejagt.«

Neben der Couch lag Daska, ihre Schäferhündin. Sie war nicht mehr die Jüngste, was an ihrem stumpfen Fell zu erkennen war. Mit warmem, aber wachsamem Blick schaute sie ihn an. Er beugte sich zu ihr hinunter und streichelte ihr über den Kopf.

»Wie geht’s ihr?«, fragte er und zeigte auf den Verband, der um ihren Unterkörper gewickelt war.

»Die Operation ist gut verlaufen. Sie ist nur noch ein bisschen schwach«, entgegnete Anne. Sie ging zum Fenster, öffnete es, zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch in die eisige Luft hinaus. »Ich kann mich nicht weiter um sie kümmern. Die Arbeit. Ich hab nicht die Zeit, verstehst du?«

Ohlsen nickte.

»Der Tierarzt hat mir erklärt, dass Daska wohl nicht mehr lange leben wird. Er hat was von etwa einem Jahr gesagt. Sie haben alle Metastasen, die sie finden konnten, rausoperiert. Aber da es ein höchst aggressiver Krebs ist, werden höchstwahrscheinlich wieder neue nachwachsen.« Anne nahm einen intensiven Zug, bevor sie weitersprach. »Ich kann Daska die wenige Zeit, die sie noch hat, nicht einfach an irgendwen abgeben. In einem Tierheim würde sie bloß vor sich hin vegetieren. Ich hab kurz daran gedacht, sie einschläfern zu lassen. Aber das bringe ich nicht übers Herz. Außerdem hab ich Bernd versprochen, mich bis zum Schluss um sie zu kümmern.«

Bernd war ein Kollege von Anne gewesen. Bei einem gemeinsamen Einsatz war er mit einem Messer attackiert und schwer verletzt worden. Anne hatte miterleben müssen, wie er noch am Tatort in ihren Armen starb.

»Ich dachte … du bist ja jetzt krankgeschrieben … da könntest du dich vielleicht um Daska kümmern.«

Sie wusste nichts von seiner verschwundenen Tochter. Er hatte ihr bisher noch nichts davon erzählt und hatte auch nicht vor, es zu tun. Noch nicht. Sie drückte die Zigarette in dem kleinen Teller aus, der draußen auf dem Sims stand, und schloss das Fenster.

»Natürlich unterstütze ich dich dabei, wenn ich Zeit habe.«

Anne schaute ihn weiter an. Auch Daska hatte den Kopf gehoben und blickte in seine Richtung, als hätte sie verstanden, was Anne gerade gesagt hatte und erwartete ebenso eine Antwort.

Er horchte kurz in sich hinein. »Also gut. Daska kann zu mir kommen.«

Was hätte er auch dagegen vorbringen können, bei einem Leben, in dem ihm vierundzwanzig Stunden zur freien Verfügung standen. Welches Argument dagegen hätte er gehabt, das für Anne nachvollziehbar gewesen wäre. Keines. Zumindest nicht, wenn ihm etwas an ihrer Freundschaft lag.

Anne strahlte übers ganze Gesicht. Sie wirkte auf einmal fröhlich und gelockert. »Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann«, sagte sie und lächelte. Die Müdigkeit in ihrem Gesicht war wie weggeblasen. »Oh, ich hab ganz vergessen, zu fragen, ob du was trinken möchtest. Wie unhöflich von mir!«

Er schüttelte den Kopf. »Nein danke, ich muss wieder los.«

»Ich hab dieses Wochenende Schichtdienst. Ich würde Daska dann Freitag Abend bei dir vorbeibringen. Geht das in Ordnung?«

Er nickte. Daska schaute ihn mit ihren treuen blauen Augen an. Er spürte, dass sie sich gut verstehen würden. Sie würde ihm nicht zur Last fallen. Zumindest nicht in der nächsten Zeit, solange sie noch einigermaßen fit war. Er strich ihr sanft übers Fell, dann ging er zur Tür. Anne folgte ihm und umarmte ihn zum Abschied.

*

Auf dem Nachhauseweg hielt er beim Supermarkt an, um ein paar Dinge einzukaufen und seine spärlichen Vorräte aufzufüllen. Im Treppenhaus hörte er wieder das Wummern aus der WG-Wohnung. Er schaute auf seine Uhr. Es war kurz nach zehn. Er stellte die Tüte mit Lebensmitteln ab und drückte auf den Klingelknopf neben der Tür. Zunächst geschah nichts. Vermutlich hörte es niemand. Er drückte erneut, dieses Mal etwas länger. Von drinnen vernahm er Schritte. Die Tür öffnete sich, und das Gesicht einer wirklich hübschen jungen Frau erschien im Türspalt.

»Könntet ihr die Musik bitte etwas leiser stellen. Es ist schon nach zehn.«