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»Wir haben deine Frau. Der Preis für ihre Freiheit beträgt zwei Millionen Euro. Ihr Leben liegt in deinen Händen.« Als der vermögende Unternehmer Flosi nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt, muss er feststellen, dass sein Haus durchwühlt wurde. Glas ist geborsten, das Abendessen auf dem Fußboden verteilt, und von seiner Frau Guðrún fehlt jede Spur. Eine auf dem Küchentisch hinterlassene Nachricht bestätigt Flosis Befürchtung: Guðrún wurde entführt. Wenn er nicht das geforderte hohe Lösegeld zahlt, wird seine Frau sterben. Da er sich nicht an die Polizei wenden darf, kontaktiert er Áróra, die sich eigentlich auf das Aufspüren versteckter Vermögenswerte spezialisiert hat. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Polizisten Daníel, versucht sie fieberhaft, den Fall zu lösen und die Entführte zu finden, bevor es zu spät ist. Gleichzeitig setzen die beiden die rätselhafte Suche nach Áróras Schwester Ísafold fort, die vermutlich ermordet wurde. Und während sich in diesem kalten, regnerischen Herbst der Nebel über Reykjavík senkt, entwickelt sich die Suche zu einem Wettlauf gegen die Zeit. Die Áróra-Reihe: Band 1: Höllenkalt Band 2: Blutrot Band 3: Schneeweiß Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Als der vermögende Unternehmer Flosi nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt, muss er feststellen, dass sein Haus durchwühlt wurde. Glas ist geborsten, das Abendessen auf dem Fußboden verteilt, und von seiner Frau Guðrún fehlt jede Spur. Eine auf dem Küchentisch hinterlassene Nachricht bestätigt Flosis Befürchtung: Guðrún wurde entführt. Wenn er nicht das geforderte hohe Lösegeld zahlt, wird seine Frau sterben. Da er sich nicht an die Polizei wenden darf, kontaktiert er Áróra, die sich eigentlich auf das Aufspüren versteckter Vermögenswerte spezialisiert hat. Gemeinsam mit ihrem Freund, dem Polizisten Daníel, versucht sie fieberhaft, den Fall zu lösen und die Entführte zu finden, bevor es zu spät ist. Gleichzeitig setzen die beiden die rätselhafte Suche nach Áróras Schwester Ísafold fort, die vermutlich ermordet wurde. Und während sich in diesem kalten, regnerischen Herbst der Nebel über Reykjavík senkt, entwickelt sich die Suche zu einem Wettlauf gegen die Zeit.
© Gassi
Lilja Sigurðardóttir wurde 1972 in der isländischen Kleinstadt Akranes geboren und wuchs in Mexiko, Spanien und Island auf. Bereits mehrfach ausgezeichnet für ihre Theaterstücke, wurde sie mit ihrer Island-Trilogie auch einem internationalen Publikum bekannt. Der erste Band der Reihe, ›Das Netz‹, erschien 2020 bei DuMont, gefolgt von ›Die Schlinge‹ und ›Der Käfig‹ (beide 2021). 2022 erschien der Thriller ›Betrug‹ und 2023 mit ›Höllenkalt‹ der erste Teil der preisgekrönten Áróra-Reihe.
LiljaSigurðardóttir
BLUTROT
EIN ISLAND-KRIMI
Aus dem Isländischenvon Tina Flecken
Von Lilja Sigurðardóttir sind bei DuMont außerdem erschienen:
Das Netz
Die Schlinge
Der Käfig
Betrug
Höllenkalt
Deutsche Erstausgabe
E-Book 2024
DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
© Copyright Lilja Sigurðardóttir 2020
Die isländische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel Blóðrauður sjór bei Forlagið, Reykjavík.
This translation is published by arrangement with Forlagið, Reykjavík, and Arrowsmith Agency, Hamburg.
© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Übersetzung: Tina Flecken
Redaktion: Friederike Arnold
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © DTG Photography/Alamy Stock Foto
Satz: Fagott, Ffm
E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-8321-6093-7
www.dumont-buchverlag.de
BLUTROT
Wir haben deine Frau, Guðrún Aronsdóttir, in unserer Gewalt.
Wir fordern ein Lösegeld von zwei Millionen Euro in nicht nummerierten Zweihunderteuroscheinen bis Ende der Woche.
Du bekommst eine Nachricht, wo du das Geld hinbringen sollst.
Wir wollen deiner Frau nichts antun, aber wenn du die Polizei einschaltest, bringen wir sie um.
Und wenn du nicht bezahlst, bringen wir sie auch um.
1
MONTAG
Der Brief lag auf dem Küchentisch. Eine A4-Seite, auf einem Tintenstrahldrucker ausgedruckt. Die wenigen Zeilen auf dem ansonsten leeren Blatt erklärten nicht, was passiert war, aber ihre Aussage war so erschreckend, dass Flosi weiche Knie bekam und ihm schwindelig wurde. Er sank auf einen Küchenstuhl und las die Nachricht noch einmal. Dabei bemühte er sich, in den Bauch zu atmen, der sich beim Anblick der unordentlichen Küche zusammengekrampft hatte.
Die Zutaten für das Abendessen lagen auf der Arbeitsplatte. Hummer aus dem Hornafjörður, der wohl schon länger dort lag, denn die Schale hatte sich schwarz verfärbt. Guðrún war offenbar mit der Vorbereitung des Essens beschäftigt gewesen, auf dem Schneidebrett häuften sich gehackte Kräuter, und in der Pfanne auf dem Herd schmolz ein Klacks Butter, über den sie wie üblich Zitrone geträufelt hatte. Guðrúns Hummergericht war köstlich, und Flosi spürte zu seinem Entsetzen, wie ihm beim Gedanken daran das Wasser im Mund zusammenlief. Er konnte die Beschaffenheit des Hummers, den Guðrún kurz in Knoblauch-Zitronenbutter mit Kräutern und frisch gemahlenem schwarzem Pfeffer in der Pfanne anbriet, fast auf der Zunge schmecken.
Als wäre das eine ganz neue Erkenntnis, schoss ihm durch den Kopf, wie glücklich er sich schätzen konnte, mit einer so fantastischen Köchin verheiratet zu sein. Manche Männer mussten sich mit Gerichten zufriedengeben, deren Zubereitung mehr auf Pflichtbewusstsein denn auf Können beruhte. Und manche Männer mussten sich sogar selbst um ihr Essen kümmern. Dabei sollte er nach zwölf Jahren Ehe eigentlich wissen, dass seine Frau eine gute Köchin war, aber es wurde ihm auf einmal so klar: Er konnte sich in vielerlei Hinsicht glücklich schätzen, mit Guðrún verheiratet zu sein. Aber jetzt war das Unheil über ihn hereingebrochen.
Er hatte sich schon öfter gefragt, wann ihm endlich mal ein Unglück zustoßen würde. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und hatte miterlebt, wie seine Altersgenossen Krebs bekamen, Pleite gingen, Autounfälle hatten. Einer hatte sogar ein Kind verloren. Alle hatten ihr Päckchen zu tragen. Außer ihm. Er war stets auf dem Wellenkamm des Glücks durchs Leben gesurft und hatte gehofft, dass ihm die kalten Güsse erspart blieben, die das Leben über anderen ausschüttete.
Gewiss hatte er eine Scheidung mit den dazugehörigen Dramen durchlebt, und gewiss war Iða als Jugendliche schwierig gewesen, außerdem hatte er oft viel arbeiten müssen, um die Firma am Laufen zu halten. Und er hatte die Enttäuschung darüber, dass Guðrún und er kein Kind bekommen konnten, schlucken müssen. Aber im Grunde war ihm nie etwas wirklich Schlimmes passiert. Bis jetzt.
Während er heftig atmend dasaß, kam ihm der Gedanke, dass das gewissermaßen seine verdiente Strafe war. Er hatte Guðrún in letzter Zeit nicht genug wertgeschätzt. Sie hatte ihn ziemlich gelangweilt, und auch sie schien jegliches Interesse an ihm verloren zu haben. Zwar sorgte sie für ein behagliches Ambiente, kochte nach wie vor leidenschaftlich gern, und beim Abendessen unterhielten sie sich über Gott und die Welt, aber sobald der Tisch abgeräumt war, wartete nur noch das Sofa. Nichts konnte Guðrún davon abhalten, auf dem Sofa vor der Glotze zu liegen, bis sie einschlief. Er saß in seinem Sessel und zappte durch die Fernsehsender, während sie mit offenem Mund leise schnarchte, das Gesicht schlaff im Kissen eingesunken.
Heute Abend würde sie definitiv nicht vor der Glotze hängen. Augenscheinlich hatte sie sich ihren Entführern widersetzt, denn auf dem Boden lag ein zerbrochenes Glas in einer Weißweinlache. Natürlich hatte sie sich wie üblich beim Kochen ein Glas Wein genehmigt. Daneben lagen eine rote Paprika und eine Gabel, außerdem war ein Küchenhocker umgekippt, als hätte sie um sich getreten, als sie weggezerrt wurde. Und der Kühlschrank stand offen. Guðrún hätte niemals den Kühlschrank offen gelassen. Während Flosi das Chaos in der Küche betrachtete, stieg ihm plötzlich ein Geruch in die Nase. Brandgeruch. Er stand auf und schnupperte. Der Backofen war eingeschaltet und summte leise, als würde der Lüfter laufen. Guðrún hatte diesen sündhaft teuren Backofen genau aus diesem Grund gekauft, weil er einen so genialen Lüfter hatte, den sie unbedingt zum Kochen brauchte.
Flosi öffnete den Ofen und erblickte eine längliche Backform. Ohne nachzudenken, griff er danach, und sein Gehirn brauchte über eine Sekunde, um den Schmerz wahrzunehmen. Dann schrie er auf, zog die Hand zurück, schnappte sich einen Ofenhandschuh und holte das Brot heraus. Obwohl die Kruste zu einem schwarzen Höcker verkohlt war, erkannte er Guðrúns Islandmoos-Brot, das köstlich zum Hummer schmeckte. Nachdem er den Backofen ausgeschaltet hatte, gaben seine Beine nach, und er sank auf den Boden. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und zusammen mit den Schmerzen in der verbrannten Hand drang die Verzweiflung zu ihm durch.
2
DIENSTAG
Áróra musste das Lenkrad des Jeeps gut festhalten, als sie vom Hafnavegur abbog und über die Schotterstraße holperte. Wobei Schotterstraße eine maßlose Übertreibung war – es handelte sich um eine dieser steinigen Pisten, die weder eine Straßennummer noch einen Namen hatte und wahrscheinlich nach einem kleinen Abstecher durch das Lavafeld wieder auf den Hafnavegur führen würde.
Sie hätte nie geglaubt, wie viele dieser schwer befahrbaren Pisten von den nummerierten Straßen in Suðurnes abzweigten, als sie im Sommer begonnen hatte, die Region zu erkunden. Allein vom Hafnavegur, der Straße 44, führten ein Dutzend Wege in unterschiedliche Richtungen. Einige führten nach Norden und endeten an der Versorgungsstraße für die Start- und Landebahnen des Flughafens, andere an einer Kieshalde beim Geothermalkraftwerk. Doch die meisten führten nirgendwohin. Sie verloren sich einfach in der Landschaft und hörten mitten in der Lava auf. In einer Sackgasse. Genau wie die Ermittlung im Fall ihrer verschwundenen Schwester.
Áróra warf einen Blick durch das geöffnete Schiebedach. Die Drohne folgte ihr zuverlässig in zwölf Metern Höhe, so wie sie sie programmiert hatte. Das war hoch genug, um einige Meter rechts und links neben der Piste zu filmen, und tief genug, um scharfe Aufnahmen zu bekommen. Sie brauchte scharfe Bilder, wenn das hier etwas bringen sollte.
Áróra war überrascht, als die Piste abrupt endete. Sie hatte angenommen, es handele sich wieder einmal um ein Wegstück, das in einem Bogen vom Hafnavegur weg- und wieder zu ihm zurückführte, doch als sie die Drohnenbilder mit der Karte abglich, stellte sie fest, dass sie sich auf einer anderen Piste befand als erwartet. Aber das spielte keine Rolle. Sie würde den Bogen einfach als Nächstes abfahren. Heute war der erste windstille Tag seit einer Woche, und sie musste die wenigen Tage nutzen, an denen sie die Drohne fliegen lassen konnte. Die Leute sprachen darüber, dass bald der erste Sturm hereinbrechen würde, und daran konnte sie sich aus ihrer Zeit als Kind in Island noch gut erinnern. So würde es mit Unterbrechungen den ganzen Winter weitergehen, und dann würde es immer wieder schneien, sodass der Schnee alles verhüllte.
Áróra stieg aus dem Auto, brachte die Drohne zum Landen, klappte sie ein und legte sie vorsichtig auf den Beifahrersitz. Sie blieb neben dem Wagen stehen und schaute sich auf dem Handy den Film an, den sie aufgenommen hatte. Das Lavafeld trug schon Herbstfarben, die man aus der Nähe nicht erkennen konnte. In der Luftaufnahme erschienen Tupfen von Rostrot und Brauntöne an jenen Stellen, wo kleine Blattpflanzen aus dem graugrünen Moos wuchsen, das auf den ersten Blick die einzige Bedeckung der schwarzen Lava zu sein schien.
Als sie kurz vor dem Ende der Piste, etwa zwei Meter seitlich davon, etwas Blaues auf dem Film sah, machte ihr Herz einen Sprung. Sie zoomte die Stelle heran, konnte aber nur eine himmelblaue, glatte Fläche erkennen, halb unter einem Lavazacken begraben. Und weiter hinten, kurz nachdem sie vom Hafnavegur abgebogen war, lag etwas Weißes. Groß und weiß und so nah an der Piste, dass Áróra sich fragte, warum sie es nicht bemerkt hatte.
Sie stieg ein, wendete den Wagen und fuhr zurück, ungeduldig, weil sie nur im Schneckentempo vorankam. Aber Gas geben war unklug, sonst würde sie noch auf einen spitzen Stein fahren und müsste wegen eines Reifenwechsels Zeit und Energie verschwenden. Und die brauchte sie, um zu suchen. Um immer weiter zu suchen.
Eilig sprang sie aus dem Jeep, ließ die Tür offen stehen und stapfte über eine dicke Lavaplatte zu dem Zacken, der den blauen Gegenstand verdeckte. Das rhythmische Piepen des Autos wurde zum Begleitgeräusch ihres eigenen Herzschlags, der lauter wurde, als sie sich der Stelle näherte. Das blaue Ding war aus Plastik, und eine Welle der Enttäuschung überrollte sie, wie üblich vermischt mit Erleichterung, wenn etwas, das sie auf den Drohnenfilmen entdeckt hatte, sich als Müll entpuppte. Diesmal war es eine zerbrochene Plastiktonne.
Áróra seufzte und zog an dem Plastikteil. Es lag bestimmt schon lange dort, war fast mit der Lava verwachsen, sodass sie mehrmals daran ruckeln musste, bis es sich löste und sie es zum Auto schleppen und in den Kofferraum zu dem anderen Müll werfen konnte, den sie an diesem Morgen eingesammelt hatte. Der weiße Gegenstand, der fast direkt neben dem Hafnavegur lag, stellte sich als zerfetzte Baufolie heraus. Áróra faltete sie zusammen und legte sie ebenfalls in den Kofferraum. Müllsammeln ist wenigstens sinnvoll, dachte sie und vermied es wie üblich, sich ihre Reaktion vorzustellen, wenn sie tatsächlich fände, wonach sie suchte. Wenn sie die Leiche ihrer Schwester fände.
Sie war gerade wieder in den Jeep gestiegen, als ihr Handy klingelte. Normalerweise ging sie während ihrer Suchexpeditionen nicht ans Telefon, weil sie es als eine Art Verletzung der Heiligkeit des Moments empfand, an etwas anderes als an ihre Schwester Ísafold zu denken. Aber es war Michael, ihr Freund und Kollege aus Schottland, deshalb machte sie eine Ausnahme.
»Hi, Michael!«, sagte sie fröhlich, aber er hatte es so eilig, dass er ihren Gruß kaum erwiderte.
»Ich muss dich um einen außergewöhnlichen Gefallen bitten«, sagte er. Áróra konnte seiner Stimme anhören, dass es nicht infrage kam, ihm diesen Wunsch abzuschlagen.
3
Wer schon einmal ein traumatisches Erlebnis hatte, kennt den Moment der Gnade beim Aufwachen, wenn man langsam zu Bewusstsein kommt und noch alles ruhig ist, bis die Wirklichkeit über einen hereinbricht, eiskalt und heftig wie ein Tiefdruckgebiet. Flosi lag da, starrte an die Decke und überlegte, warum er im Wohnzimmer war. Dann kam die Erinnerung. Der gestrige Tag. Guðrún.
Nachdem er seinen Steuerberater in Großbritannien angerufen und gebeten hatte, die Summe für das Lösegeld lockerzumachen, musste er auf dem Sofa eingeschlafen sein. Er hatte Michael erzählt, was passiert war. Es ging nicht anders, er musste es jemandem erzählen. Michael hatte ihm gesagt, er solle Ruhe bewahren, sich einen doppelten Whisky genehmigen und versuchen, runterzukommen, er werde jemanden vorbeischicken. Zur Unterstützung. Und Flosi hatte zugestimmt, weil er Unterstützung brauchte. Er fühlte sich, als würde er an einem Abgrund stehen und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit hinunterstürzen, wenn ihn niemand zurückhielt. Er nahm das Handy vom Tisch und schickte Iða eine Nachricht: Bitte komm her, mein Schatz. Ich brauche dich.
So wie er seine Tochter kannte, wäre sie innerhalb einer Stunde da. Sie hatten sich schon immer sehr nahegestanden, und sie tat alles für ihn. Erst durch Guðrún hatte sich die Sache verkompliziert. Ein typisches Stiefverhältnis. Aber wenn Flosi Zeit mit seiner Tochter verbrachte, war es immer sehr harmonisch. Vielleicht war sie deshalb so darauf erpicht, ihm bei allem, was die Firma betraf, zur Seite zu stehen. Weil Guðrún damit nichts zu tun hatte.
Bei dem Gedanken an Guðrún brach ihm der kalte Schweiß aus. Wo befand sie sich jetzt? Wie ging es ihr? Hatte sie Angst? War sie verletzt? Vor seinem inneren Auge tauchten Bilder auf, deren Ursprung ihm schleierhaft war. Vielleicht aus Fernsehkrimis oder Nachrichten über Entführungen. Er stellte sich Guðrún gefesselt auf einem schmutzigen, kalten Fußboden vor, und dann sah er sie plötzlich mit einer Schlinge um den Hals auf einem schäbigen Bett liegen. Die schlimmste Vorstellung war jedoch, dass sie sich in einem winzigen, verriegelten, fensterlosen Raum befand. In seiner Fantasie war dieser Raum nicht schmutzig, und es mangelte ihr an nichts, sie hatte sogar einen Fernseher, trotzdem war es der schrecklichste Aufenthaltsort, den er sich für sie vorstellen konnte. Guðrún litt unter Platzangst. So stark, dass sie noch nicht einmal Aufzug fuhr.
Flosi hatte immer noch das Telefon in der Hand und tippte aus Gewohnheit Guðrúns Nummer ein, die er auswendig konnte, nur um ihr Handy vorne im Flur klingeln zu hören. Dort lag es, seit er nach Hause gekommen war. Er wollte aufstehen, aber es war, als würde das Sofa ihn wieder runterziehen. Wie sarkastisch, dass er ausgerechnet hier saß und sie vermisste, auf diesem Sofa, über das er sich abends immer ärgerte, weil sie es ihm vorzog. Er vermisste sie so sehr. Vermisste sie schmerzlich. Was würde er dafür geben, wenn Guðrún heute Abend und die nächsten Abende hier wäre und schnarchend auf dem Sofa läge, während er auf der Fernbedienung herumtippte und nach einem vernünftigen Sender suchte.
Er war total verheult, als er endlich die Haustür aufgehen und Iðas Stimme aus dem Flur rufen hörte.
»Papa!«
Er wollte zurückrufen, er sei im Wohnzimmer, aber das Geräusch, das er hervorstieß, ähnelte eher dem Jaulen eines verletzten Tiers. Iða trat in die Wohnzimmertür und starrte ihn an.
»Papa, was ist los?«
4
Das Haus war eines der schönsten in der Hraunbrún in Hafnarfjörður. Man konnte es von der Straße aus nicht direkt sehen, denn die Einfahrt lag an einer Sackgasse, die zu drei Einfamilienhäusern führte. Das Haus machte einen prachtvollen Eindruck, wie für festliche Anlässe entworfen, schicke Abendessen, Bälle, Besuche hochgestellter Gäste. Nichts ließ erkennen, dass hier auch ein normaler Alltag stattfand. Keine Gartengeräte vor der Garage, kein Strohbesen vor der Tür, um mal eben das Laub wegzufegen, das sich in unterschiedlichen Rostrottönen auf Straßen und Gehwegen türmte, keine Mülltonnen.
Die Einfahrt war gepflastert, genau wie der Fußweg, der in einem Bogen zur Haustür führte. Beidseitig des Wegs standen in Abständen von einem Meter Außenlampen zwischen den dichten Birkenblättrigen Spiersträuchern, die zu hübschen Kugeln geschnitten und jetzt mit herbstlich gefärbten, rotbraunen Blättern geschmückt waren.
Áróra drückte auf die Klingel und überlegte kurz, ob sie erst hätte nach Hause fahren und sich umziehen sollen, aber der Gedanke verflüchtigte sich im selben Augenblick, als der Mann die Tür öffnete. Sein Gesicht war rot und verquollen, und sie bezweifelte, dass er solche Details wie ihre verschlissene Jeans und ihre Windjacke überhaupt registrierte.
»Bist du Flosi?«, fragte sie und reichte ihm die Hand. Seine Handfläche war feucht, und sie spürte ein leichtes Zittern, als er ihre Hand drückte. »Ich heiße Áróra. Michael, dein Steuerberater in Edinburgh, schickt mich.« Sie folgte Flosi ins Haus, von der geräumigen Diele durch eine große Halle mit einer Treppe, die in die obere Etage führte, und mit Spiegelschränken, die vom Boden bis zur Decke reichten. Als sie in die Küche kamen, zeigte Flosi auf den Boden, wo ein zerbrochenes Glas und Gemüse lagen, nahm ein bedrucktes Blatt vom Tisch und reichte es ihr.
»So sah es hier aus, als ich gestern nach Hause kam. Und dieser Brief lag auf dem Küchentisch. Deshalb habe ich sofort Michael angerufen und ihn gebeten, Geld flüssig zu machen und … und … ja.« Er wusste nicht weiter und blickte Áróra ratlos an.
»Wenn es dazu kommt, werde ich diejenige sein, die das Geld in England abholt und nach Island bringt«, erklärte sie. Flosi nickte, und kurz dachte Áróra, er würde in Tränen ausbrechen, aber er räusperte sich nur und straffte die Schultern. »Michael hat mich auch gebeten, dich zu unterstützen. Er meinte, du willst nicht zur Polizei gehen, deshalb hielt er es für richtig, dass du es nicht alleine mit den Entführern aufnimmst«, fügte sie hinzu.
»Gut. Ja. Vielen Dank«, murmelte Flosi. »Ehrlich gesagt bin ich völlig ratlos. Aber ich muss das Geld greifbar haben, falls sie sich wieder melden. Ich kann nicht tagelang auf eine Überweisung mit den üblichen Formalitäten warten. Ich muss die Summe bereithalten. Damit sie Guðrún freilassen.« Es war, als würde das Aussprechen des Namens seiner Frau das fragile Gleichgewicht zerstören, an das Flosi sich seit Áróras Eintreffen verzweifelt geklammert hatte. Tränen flossen ihm über die Wangen. Er schniefte, griff nach einer Rolle Küchenpapier und wischte sich das Gesicht ab. »Es ist unerträglich, nicht zu wissen, wie es ihr geht. Ob sie gut behandelt wird. Ob sie Angst hat.« Áróra legte ihre Hand beruhigend auf seinen Oberarm.
»Jedenfalls scheinen sie Guðrún für sehr wertvoll zu halten, wenn sie schon eine Lösegeldforderung gestellt haben.« Áróra schaute wieder auf den Brief. »Sie ist ihnen zwei Millionen Euro wert. Dann werden sie sie bestimmt gut behandeln.«
»Du hast recht«, sagte Flosi und griff erleichtert nach diesem Strohhalm. »Natürlich hast du recht.« Áróra musterte den Brief eine Weile, bis ihr klar wurde, was sie an der Lösegeldforderung störte.
»Es ist seltsam, dass sie Euros haben wollen und keine Kronen«, bemerkte sie. »Wer weiß davon, dass du Geld auf Auslandskonten hast?« Flosi griff nach dem Brief und starrte ihn an, als sähe er ihn zum ersten Mal, obwohl er ihn bestimmt schon hundertmal gelesen hatte.
»Ob das eine dieser ausländischen Banden ist, die ständig in den Nachrichten sind? Und deshalb verlangen sie eine Währung, die sie nicht wechseln müssen?« Achselzuckend gab er Áróra den Brief zurück.
Sie legte ihn wieder auf den Küchentisch, wo Flosi ihn angeblich gefunden hatte, und machte ein Handyfoto. Es irritierte sie, dass Flosi ihre Frage nach den Auslandskonten nicht beantwortet hatte. War er einfach zu aufgewühlt, um logisch zu denken? Oder hatte er absichtlich nicht geantwortet? Wie auch immer, es überzeugte sie davon, dass er mehr Hilfe brauchte, als sie ihm gewähren konnte.
5
Die Frau, die Michael zu ihm geschickt hatte, war groß und kräftig, und ihre ruhige Ausstrahlung übertrug sich auf Flosi, was ihn überraschte. Vielleicht war er einfach so erleichtert, mit jemandem zu reden, der ihm womöglich helfen konnte. Dass jemand diese Bürde mit ihm teilte.
Nachdem die Frau durchs Wohnzimmer und durch die Küche gewandert war, hinter Bilder und Spiegel gespäht hatte und auf Stühle geklettert war, um die Deckenlampen nach versteckten Kameras und Wanzen abzusuchen, setzte sie sich und schaute ihm eindringlich in die Augen.
»Ich kenne einen Polizisten, der sicherlich bereit wäre, uns zu treffen und dir einen Rat zu geben«, schlug sie vor. »Du musst ihm nur sagen, dass du ein Bekannter von mir bist, und ihm die Situation schildern.«
»Aber da steht, dass sie meine Frau umbringen, wenn ich zur Polizei gehe! Dieses Risiko kann ich nicht eingehen. Ich kann ihr Leben doch nicht aufs Spiel setzen!« Trotz des Nebels, der seine Gedanken umhüllte, war dieser Punkt in seinem Kopf ganz klar. Flosi würde nichts tun, was Guðrúns Leben noch mehr in Gefahr brachte. Er würde alles dafür geben, sie unversehrt zurückzubekommen.
Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen, denn es war zynisch, dass er monatelang frustriert gewesen war, weil sie in ihrer alltäglichen Routine festgesteckt hatten, die er so gerne durchbrochen hätte. Durchbrochen, verändert oder sogar komplett verweigert hätte. Aber jetzt hatten ihm die Ereignisse buchstäblich den Boden unter den Füßen weggerissen, und er hätte alles für einen ganz normalen Abend gegeben. Einen dieser gewöhnlichen Abende, an dem Guðrún sich nach dem Abendessen und zwei Gläsern Weißwein aufs Sofa fläzte und er einsam in seinem Sessel saß und versuchte, ein halbwegs interessantes Fernsehprogramm zu finden. Jetzt erkannte er, dass Einsamkeit nicht das Schlimmste war. Das Entsetzen, das sich in sein Herz gekrallt hatte, war schlimmer. Viel, viel schlimmer.
»Wenn wir mal versuchen, die Angst beiseitezuschieben, die dich gerade lähmt», sagte Áróra beschwichtigend, »dann ist es logisch, dass die Entführer nicht leichtfertig eine Frau töten, von der sie glauben, dass sie zwei Millionen Euro wert ist.«
»Aber das Risiko ist zu groß«, erwiderte Flosi. »Wenn sie dahinterkommen, dass ich in Kontakt mit der Polizei bin, habe ich eine ihrer Bedingungen missachtet. Und ich könnte nicht weiterleben, wenn ich …« Er brachte den Satz nicht zu Ende, weil der Kloß in seinem Hals, mit dem er schon aufgewacht war, sich weiter nach oben gedrückt hatte und seine Worte erstickte.
»Wenn ich diesen Polizisten bitte, uns in Zivilkleidung in einem Café zu treffen, nur um uns mit ihm zu beraten, würdest du dann mitkommen? Ohne Verpflichtungen oder eine offizielle Einschaltung der Polizei?«
»Wie würde das denn ablaufen?«, presste Flosi heraus. »Würde die Polizei nicht einfach ins Haus stürmen und das Kommando übernehmen? Dann würden die Entführer die Polizeiautos vor dem Haus sehen, und Guðrúns Tage wären gezählt.« Im selben Moment, als er das sagte, wurde ihm bewusst, dass er genau davor Angst hatte. Völlig die Kontrolle zu verlieren. Zum Spielball zu werden. Das hatte er noch nie erlebt. Er hatte sein Leben immer mit Entschlossenheit geführt – Rücksichtslosigkeit, würden manche sagen –, jedenfalls hatte er sich nicht zurückgelehnt und abgewartet. Dafür war er zu stark. Zu energisch.
»Es wäre gut, wenn wir wüssten, ob die Polizei etwas über die Sache weiß. Vielleicht bist du ja nicht der Einzige, der so was gerade durchmacht.«
Darauf war Flosi noch gar nicht gekommen. Ob noch mehr Leute auf diese Weise erpresst wurden? In der letzten Zeit war öfter darüber berichtet worden, dass Verbrecherbanden in regelmäßigen Abständen aktiv wurden, eine Zeit lang ihr Unwesen trieben, sich dann wieder aus dem Staub machten und anderen das Feld überließen. Zum Beispiel dieser Betrug mit den Baufirmen, die billige Handwerkerleistungen anboten. Sobald man einen Vorschuss gezahlt hatte, waren die angeblichen Handwerker plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Oder Spam-Mails, in denen man aufgefordert wurde, eine Software runterzuladen, die den Betrügern Zugang zu Bankdaten verschaffte. Über Entführer hatte allerdings niemand berichtet. Vielleicht war das ja das Allerneueste und er eines von vielen Opfern irgendwelcher Verbrecher, denen die Polizei bereits auf der Spur war.
Iða brachte ihm eine Tasse Tee ins Esszimmer, stellte sie auf einen Glasuntersetzer auf den Eichentisch und legte ihm ihre warme Hand auf die Schulter.
»Mein Vater und ich wollen kein Risiko eingehen«, sagte sie zu Áróra. »Am besten fliegst du sofort nach England und holst das Geld, damit es hier ist, wenn die Entführer sich wieder melden.« Flosi nickte und tätschelte seiner Tochter die Hand. Sie war sein Ein und Alles, seine Stütze. Sie war jetzt zweiundzwanzig, würde im Frühjahr ihr BWL-Studium abschließen und danach eine leitende Position in seiner Firma bekommen. Das hatte sie sich verdient. Sie war ungeheuer fleißig und hatte ihn immer unterstützt, auch wenn ihr Verhältnis zu Guðrún nicht das Beste gewesen war. Manchmal hatte sie sich sogar ihr gegenüber regelrecht unverschämt aufgeführt, aber so war das nun mal bei Stiefkindern. Argwohn und Eifersucht. Doch jetzt schien es seiner Tochter nicht anders zu gehen als ihm. Ein schlimmes Ereignis schärfte den Blick. Schärfte die Gefühle. Iða wirkte, genauso wie er, am Boden zerstört.
6
Daníel erschrak, als er Áróras Namen auf dem Display sah, sodass ihm fast das Telefon aus der Hand gefallen wäre. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er seit dem Hochsommer nichts mehr von ihr gehört. Vielleicht weil er sich bei ihrem letzten Telefonat ziemlich abweisend verhalten und ihr gesagt hatte, er werde sich melden, falls es Neuigkeiten über ihre verschollene Schwester gebe. Er war unnötig barsch gewesen, was er nach dem Auflegen sofort bereut hatte. Dass die Ermittlungen im Sande verlaufen waren, hatte ihn genauso enttäuscht wie sie. Aber sie war auch dreist gewesen, hatte ständig nachgefragt und durchblicken lassen, dass die Polizei – und damit auch er – ihren Job nicht richtig mache. Im Grunde hatte er sogar Verständnis dafür und wusste, dass das eine normale Reaktion von Angehörigen von Opfern eines Verbrechens darstellte. Er hätte mehr Verständnis aufbringen sollen und ihre Kritik nicht persönlich nehmen dürfen. Aber Áróra hatte so eine Art an sich, die ihn aus dem Konzept brachte. Schon allein ihre Anwesenheit machte ihn nervös, und er fühlte sich ihr gegenüber wie ein unsicherer Teenager.
»Hallo, Áróra, leider gibt es keine neuen Erkenntnisse«, sagte er unvermittelt und so einfühlsam wie möglich.
»Ich weiß«, entgegnete sie nach kurzem Zögern. »Du hast ja gesagt, du würdest dich melden, wenn es Neuigkeiten gibt.«
»Hm. Ja, genau. Und leider hat sich nichts Neues ergeben. Deshalb habe ich mich nicht gemeldet.«
»Eigentlich rufe ich wegen etwas anderem an«, lenkte sie ein, und sein Herz schlug schneller. »Ich brauche deinen Rat, und es ist ziemlich dringend.« Daníel stand auf, ging in den Flur der Polizeiwache und ein paar Stufen nach unten bis zum Treppenabsatz, wo er aus dem Fenster schauen konnte. Bei dem Ausblick konnte er sich besser konzentrieren. Der eingezäunte Hof hatte einen beruhigenden Einfluss auf ihn, wie ein Aquarium. Streifenwagen kamen und fuhren los, gemächlich wie Goldfische, alles zeugte davon, dass das Leben seinen gewohnten Gang nahm.
»Schieß los!«, sagte er.
»Ich kann am Telefon nicht so gut darüber sprechen«, sagte Áróra. »Ein Bekannter eines Bekannten braucht einen Rat in einer sehr ernsten Angelegenheit, deshalb dachte ich, du könntest uns vielleicht treffen. In einem Café.«
»Ja, klar«, sagte Daníel. Er hatte jede Menge Fragen im Kopf, hielt sich aber zurück. »Wann?«
»Jetzt gleich?«, entgegnete Áróra hoffnungsvoll. Er war es ihr schuldig, schnell zu reagieren, und hatte das Gefühl, etwas wiedergutmachen zu müssen. Bei der Vorstellung, sie zu treffen, durchfuhr ihn ein starkes Kribbeln.
»Okay, ich komme sofort«, antwortete er und glaubte, Áróra am anderen Ende der Leitung aufseufzen zu hören.
»Danke«, sagte sie, und jetzt hörte er es deutlich. Sie atmete erleichtert auf. Diese Sache schien sie wirklich zu belasten. »Und Daníel«, fügte sie hinzu, »bitte komm in Zivil und nicht in einem Streifenwagen.«
Daníel eilte in die Umkleide und öffnete seinen Spind. Áróra hatte das neue Café im alten Hafen Grandi vorgeschlagen, in vierzig Minuten, also schaffte er es noch, sich zu rasieren. Nicht, dass er ungepflegt aussah. Er hatte am Morgen geduscht, aber keine Lust gehabt, sich zu rasieren, und er wollte Áróra nicht mit grauen Bartstoppeln gegenübertreten. Hastig zog er sein Hemd aus, stellte sich vor eines der Waschbecken, hielt die Ecke seines Handtuchs unter den Wasserhahn und wusch sich mit eiskaltem Wasser unter den Armen. Dann seifte er sein Kinn ein, rasierte sich, tupfte sich eine übertriebene Menge Aftershave ins Gesicht und sprühte sich außerordentlich viel Deo unter die Arme. Anschließend holte er ein sauberes T-Shirt aus dem Spind, wickelte sich den Schal um den Hals, den er von seinem Sohn zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, schnappte sich das dunkelgraue Sakko und hastete die Treppe der Polizeiwache mit vor Erwartung klopfendem Herzen hinunter.
7
Obwohl Flosi nur widerwillig in das Café mitgekommen war und sich fest vorgenommen hatte, seinen Namen nicht zu nennen, hatte er diesem Polizeikommissar inzwischen, eine Stunde später, seinen Namen, seine Adresse, seine Telefon- und ID-Nummer gesagt. Eine offizielle polizeiliche Ermittlung bezüglich Guðrúns Geiselnahme war eingeleitet worden. So hatte der Polizist es genannt: Geiselnahme. Und er hatte Flosi erklärt, dass seine Kollegen und er den weiteren Ablauf begleiten würden, jedoch nach außen nicht erkennbar wäre, dass die Polizei eingeschaltet worden war.
Der Mann hatte von nicht uniformierten Polizeibeamten und Zivilstreifenwagen gesprochen, und Flosi hatte sich darauf eingelassen, nachdem er gefragt worden war, was er denn machen wolle, falls seine Frau nach der Übergabe des Lösegelds nicht freigelassen werde. »Was hast du dann für Möglichkeiten?«, hatte der Kommissar gesagt. »Wenn du bezahlst und die Entführer noch mehr Geld verlangen?«
Das hatte Flosi den Rest gegeben. Er war zusammengesackt und vor dem Kommissar und Áróra in Tränen ausgebrochen, weil er begriff, in was für einer ausweglosen Lage er sich tatsächlich befand. Er hatte so oder so nichts mehr unter Kontrolle. Er war diesen Kriminellen ausgeliefert, und wenn er mit der Polizei zusammenarbeitete, hatte er wenigstens noch einen gewissen Einfluss.
Der Kommissar steckte den Erpresserbrief in einen Umschlag und erklärte, das Labor werde ihn auf Fingerabdrücke und Hinweise überprüfen, in Bezug auf die Tinte, das Papier und die Wortwahl. Nachdem Flosi sich mit der Serviette, die Áróra ihm reichte, die Augen abgewischt und sich verlegen nach den anderen Gästen im Café umgeschaut hatte, holte er tief Luft, straffte sich, so als würde er auf seinem Chefsessel in der Gartenzubehör GmbH sitzen, und schaute dem Kommissar ins Gesicht.
»Was schlägst du vor?«, fragte er, und der Mann erläuterte ihm mit der gelassenen Stimme eines Großhandelsvertreters die nächsten Schritte und skizzierte einen groben Plan. Alles klang so, als wüsste er, was er tat.
»Ich fahre jetzt zurück zur Wache und richte ein Ermittlungsteam und eine geheime Kommandozentrale ein. Áróra begleitet dich nach Hause«, erläuterte er. »Anschließend komme ich auch zu dir, informell gekleidet und mit einem Kuchenkarton, wie ein Bekannter, der zum Kaffee vorbeikommt.«
Kurz darauf standen sie auf dem Bürgersteig vor dem Café. Flosi ging zu Áróras Auto, drehte sich aber noch einmal um und sah, wie sich der Kommissar und Áróra zulächelten. Bei der Art ihres Lächelns und ihren Blicken, die sie kaum voneinander lösen konnten, war klar, dass die beiden entweder schon mal etwas miteinander gehabt hatten oder sich gerne näher kennenlernen würden. Flosi spürte Wut in sich hochkochen. Diese Flirterei in seiner Gegenwart, während seine Frau in Lebensgefahr schwebte, war völlig unpassend.
»Na, los jetzt!«, rief er ihnen zu, woraufhin Áróra zusammenzuckte und zum Auto lief, während der Kommissar ihr, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen, hinterherschaute, mit einem durchdringenden, funkelnden Blick, der Flosi keineswegs gefallen hätte, wenn Áróra seine Tochter gewesen wäre.
8
Sprachlos stand Áróra in der Küchentür. Sämtliche Spuren der Entführung waren verschwunden, die Glasscherben zusammengefegt, die Fliesen gewischt, und Flosis Tochter Iða kniete auf dem Boden und schrubbte die Türen der Küchenschränke. Chlorgeruch hing in der Luft.
»Was zum Teufel machst du da?«, zischte Áróra die junge Frau an, die aufsprang, sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn strich und die rosa Putzhandschuhe abstreifte.
»Ich putze nur. Damit es für Papa angenehmer ist, wenn er nach Hause kommt.« Sie wirkte verwirrt, und Áróra tat es leid, sie angeherrscht zu haben.
»Die Polizei ist unterwegs, unter anderem, um Spuren zu sichern, und die hast du jetzt alle weggewischt.« Als Iða sich verwundert umblickte, erkannte Áróra, wie ähnlich sie ihrem Vater sah. Sie hatte eine hohe Stirn und die gleichen graugrünen Augen, aber eine schmalere, leicht nach oben geschwungene Nase, die sie ein wenig überheblich ausschauen ließ, selbst wenn sie eigentlich nur durcheinander war. So wie jetzt.
»Aber wir wollten doch keine Polizei!« Iða schaute Áróra panisch an.
»Leg die Putzsachen weg und komm mit«, entgegnete Áróra seufzend. »Dein Vater hat seine Meinung geändert. Er braucht polizeiliche Unterstützung.« Iða folgte ihr ins Wohnzimmer, wo Flosi auf dem Sofa saß. Auf den ersten Blick wirkte er ruhig, aber er konnte seinen linken Fuß nicht stillhalten. Der Fuß zuckte auf und ab, wobei Flosi mit der Ferse rhythmisch auf den Boden klopfte, als würde diese Bewegung seine innere Anspannung lösen. Iða setzte sich neben ihn, und er streckte die Hand aus. Seine Tochter schmiegte sich in seine Arme. Die beiden mussten sich sehr nahestehen.
»Habe ich das richtig verstanden, dass ihr beide im Familienbetrieb arbeitet?«, fragte Áróra. Vater und Tochter nickten gleichzeitig.
»In diesem Winter jobbe ich während des Semesters nur ein bisschen, aber ich habe schon immer mitgearbeitet, in den Ferien und neben dem Studium«, erklärte Iða. »Im Lager oder im Büro.«
»Sie macht im Frühjahr ihren BWL-Abschluss«, ergänzte Flosi. »Da ist es gut, wenn sie ein bisschen Arbeitserfahrung sammelt. Danach wird sie Vollzeit einsteigen, in einer verantwortlichen Position.« Er betrachtete seine Tochter mit Stolz, und sie erwiderte sein Lächeln verlegen.
»Ich weiß noch nicht, ob ich den Master später nachhole. Vielleicht brauche ich den gar nicht. Es war schon immer mein Ziel, mit meinem Vater in der Firma zu arbeiten.«
»Schon seit sie ganz klein war«, bestätigte Flosi lächelnd. Beide wirkten froh, für einen kurzen Moment an etwas anderes als an Guðrúns Verschwinden zu denken. »Ich glaube, sie war etwa fünf, da sagte sie, sie wolle die Firma von mir übernehmen.«
Als es an der Tür klingelte, zuckten alle zusammen, und für einen Augenblick starrten die beiden Áróra mit angstvoll geweiteten Augen an.
»Das ist Daníel«, sagte Áróra, erhob sich und ging zur Haustür. Dort stand Daníel und hatte einen großen Tortenkarton dabei, mit dem Logo einer Bäckerei.
»Seine Tochter hat den Boden gewischt und die ganze Küche geputzt, während wir weg waren«, flüsterte Áróra ihm zu, als er ins Haus schlüpfte.
»Was?« Er blieb im Flur stehen und starrte sie an.
»Ja«, bestätigte Áróra. »Sie hat alles kräftig geschrubbt. Den Boden, die Küchenplatte, die Schränke.«
»Verdammte Sch…«, setzte Daníel an, verstummte aber, als Flosi in die Halle trat. Daníel gab ihm die Torte, ging zielstrebig ins Wohnzimmer, zog die Sonnenschutzjalousien herunter und schloss die bodentiefen Samtvorhänge. »Von jetzt an müssen alle Fenster verdeckt sein, weil wir nicht wissen, ob das Haus beobachtet wird.« Er hielt inne, drehte sich zu Iða und gab ihr die Hand. »Daníel Hansson, Polizeikommissar.«
»Iða Flosadóttir«, entgegnete sie. Daníel sprach weiter, wie ein strenger Lehrer, der einen Klassenraum mit einer Horde ungestümer Pubertierender betreten hatte.
»In ein paar Minuten kommen zwei Polizisten, meine Kollegin Helena von der zentralen Ermittlungsabteilung und ein junger Mann von der Spurensicherung namens Jean-Christophe. Flosi, du trittst vor die Haustür, umarmst die beiden und sagst laut und deutlich, dass es wundervoll ist, sie zu sehen, so als wären sie Freunde, die hergekommen sind, um dir beizustehen. In dem Lösegeldbrief stand nichts davon, dass du Freunden nichts von der Entführung erzählen darfst.« Daníel marschierte ins Esszimmer und zog dort ebenfalls die Vorhänge zu. Sie folgten ihm wie brave Schulkinder, Iða hinter ihrem Vater, und Áróra bemerkte, dass Flosi seine Tochter fürsorglich an die Hand nahm wie ein kleines Kind.
»Ein ziviler Streifenwagen wird unauffällig hier in der Straße Wache halten. Außerdem wäre es gut, wenn du veranlassen könntest, dass wir einen deiner Firmenwagen benutzen können, Flosi; einen, der deutlich als solcher erkennbar ist, dann können wir kommen und gehen, ohne verdächtig zu wirken.« Es war unübersehbar, dass Daníel die Führung übernommen hatte, und Áróra atmete erleichtert auf.
9
Die Atmosphäre im Haus war angespannt, und Daníel merkte schnell, dass diese Anspannung von Flosi ausging. Er durchmaß den Raum mit ruhigen Schritten, aber seine Körperhaltung zeigte, dass er kurz davor war, die Nerven zu verlieren. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, und er atmete flach, als bekäme er kaum Luft. Ratlos starrte er seine Tochter an, die ihren Stress anscheinend durch das Putzen abgebaut hatte.
»Ich wollte nur nicht, dass mein Vater das noch mal sehen muss, wenn er nach Hause kommt«, beteuerte sie zum wiederholten Mal. Daníel lächelte ihr aufmunternd zu und nickte. Sie hatte sich bei allen entschuldigt, bei Helena, bei dem Franzosen von der Spurensicherung, bei ihm und bei Áróra, der einzigen Person, die sie zurechtgewiesen hatte. Trotz aller Beteuerungen schien ihr jedoch nicht klar zu sein, dass diese übertriebene Putzerei mit Chlor und Glasreiniger sie verdächtig machte.
»Schließ mal kurz die Augen und stell dir vor, wie das hier heute Morgen aussah. Wir arrangieren dann alles wieder so, wie es war, und machen Fotos«, sagte Daníel. »Das kann uns weiterhelfen, und bitte denk daran, dass jedes kleinste Detail wichtig ist.« Die junge Frau nickte eifrig, und Daníel wandte sich an Flosi. »Und du hilfst ihr. Versuch dich zu erinnern.« Flosi blieb abrupt stehen und glotzte Daníel an. Er wirkte konfus, wie eine Katze, die nachts von einem Autoscheinwerfer geblendet wird.
Daníel gab Helena mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass sie die Wiederherstellung des Tatorts anleiten solle. Helena nickte zurück. Das war ihre Art von Kommunikation. Ein paar kleine Gesten reichten meistens, sie mussten die Dinge nicht aussprechen. Helena war eine ausgezeichnete Polizistin, vor der viele Männer aus der Ermittlungsabteilung regelrecht Angst zu haben schienen, weil sie ihr nicht das Wasser reichen konnten, aber Daníel arbeitete gern mit ihr zusammen. Ihr großer Ehrgeiz und ihre Motivation machten ihm das Leben leichter, weshalb er sie anderen, erfahreneren Polizisten als engste Mitarbeiterin immer vorziehen würde.
Helena sagte zu Vater und Tochter, dass sie die Küche in denselben Zustand zurückversetzen sollten, in dem sie sie vorgefunden hatten. Unterdessen ging Daníel ins Wohnzimmer. Áróra saß auf dem Sofa, und seine Sinnesorgane richteten sich sofort komplett auf sie. Er sah nur noch sie, er hörte nur noch sie und meinte sogar, sie durch seine eigene Rasierwasserwolke riechen zu können. Sie schenkte ihm ein kurzes, reserviertes Lächeln, als halte sie alles darüber Hinausgehende in dieser Situation für unangemessen.
»Unglaublich«, stöhnte sie. Er schüttelte den Kopf und sank seufzend auf den Sessel ihr gegenüber.
»Sonderbare Geschichte«, sagte er. »Entführungen sind in Island sehr selten. Ich muss mich mit meinen Kollegen in Norwegen und Dänemark beratschlagen; mit so was war ich noch nie konfrontiert.« Ihm war klar, dass er Áróra vernehmen und ihre Beteiligung an der Sache zu Protokoll geben musste. Aber dazu hatte er im Augenblick überhaupt keine Lust. Er wollte diesen Moment auskosten, in dem er ihr nur gegenübersitzen und sie anschauen konnte.
10
Flosi hatte das Gefühl, sein Kopf würde platzen. Er saß neben Iða am Esstisch, und die Polizisten fragten ihnen Löcher in den Bauch. Am meisten nervten ihn ihre ungenauen Fragen, die sich um alles Mögliche drehten. Es war, als würden sie kreuz und quer Angelschnüre auswerfen in der Hoffnung, dass einer von ihnen anbiss wie ein unvorsichtiger Lachs.
»Als du in die Küche gekommen bist, hast du da nicht gedacht, dass das ein Scherz sein könnte? Ein dummer Streich?«, fragte Daníel, und Flosi schüttelte den Kopf.
»Warum hätte ich das denken sollen?«, gab er zurück. »Ich kenne niemanden, der so etwas Geschmackloses machen würde.«
»Ja, ich frage das auch nur, weil viele Menschen in einer solchen Situation erst mal ungläubig reagieren und nicht wahrhaben wollen, was passiert ist. Solche Gedanken hattest du nicht?« Flosi schüttelte wieder den Kopf und merkte, wie dieser anschwoll, so als würde er gleich mit einem lauten Knall platzen. Wollte der Kommissar andeuten, dass es richtige und falsche Reaktionen gab? War seine Reaktion falsch gewesen? War das irgendwie verdächtig?
»Bitte erklär mir noch mal, wie du auf die Idee gekommen bist, die Küche zu putzen«, wandte sich die Polizistin an Iða.
»Ich weiß es nicht«, jammerte sie. »Vielleicht wollte ich mich einfach irgendwie beschäftigen, während Papa mit dieser Frau … dieser Frau von dem Steuerberater unterwegs war …«
»Áróra«, sagte Helena.
»Ja, während Papa und Áróra mit dem Polizisten sprachen. Mit dir«, fügte sie hinzu und zeigte auf Daníel. »Ich dachte mir, wenn er gleich nach Hause kommt und das Chaos sieht, ist er total geschockt. Ihr wisst schon, die Scherben auf dem Boden und das verdorbene Essen auf der Arbeitsplatte.« Sie zuckte die Achseln und breitete verzweifelt die Arme aus, sodass ihre Handflächen nach oben zeigten, und für einen Moment dachte Flosi, dass sie aussah wie ein Engel. »Wie gesagt, ich wusste nicht, dass mein Vater die Polizei hinzuziehen wollte, deshalb dachte ich gar nicht daran, dass in der Küche Spuren gesichert werden müssen. Außerdem putze ich gerne. Jedenfalls hier bei Papa, nicht bei mir zu Hause.«
Helena machte sich Notizen und hielt ihren Block dabei so, dass niemand sehen konnte, was sie aufschrieb. Flosi fand sie sympathisch, konnte sie aber schwer einschätzen. Sie war ziemlich klein und hatte kurze, dunkle Haare und dunkelgraue Augen, die einen freundlich anblickten, manchmal aber auch eindringlich musterten. Auf den ersten Blick hatte er sie für sehr jung gehalten, doch als er sie auf Daníels Anweisung hin vor der Haustür laut begrüßt und umarmt hatte, hatte er gesehen, dass sich zarte Fältchen um ihre Augen zogen, also musste sie über dreißig sein.
»Weißt du, warum in dem Lösegeldbrief Euros verlangt werden?«, fragte Daníel jetzt und fixierte ihn. Flosis Blick wanderte zu Helena, die ihn ebenfalls eindringlich anschaute. Er seufzte. Áróra hatte ihm schon gesagt, dass er ehrlich sein und das Geld angeben müsse, weil es eine wichtige Rolle spielen könne.
»Vielleicht hat Áróra schon erzählt, dass ich Geld auf ausländischen Konten besitze. Hauptsächlich in Euro. Michael, der Steuerberater, mit dem Áróra zusammenarbeitet, betreut diese Konten für mich schon seit Jahren. Ich möchte betonen, dass ich diese Beträge natürlich angeben und versteuern wollte. Ich hatte das fest vor, sobald ich das Geld nach Island transferiert hätte.« Das war natürlich gelogen, und Flosi merkte, dass Daníel das wusste.
»Wir sind nicht von der Steuerfahndung«, sagte Daníel. »Dieses Thema vertagen wir erst mal, es gibt jetzt Wichtigeres. Ich möchte wissen, wem bekannt war, dass du Geld im Ausland besitzt. Ich brauche Namen.« Flosi spürte, wie ihm der Schweiß auf dem Rücken ausbrach.
»Glaubst du, es könnte jemand gewesen sein, der mir nahesteht? Jemand aus meinem engsten Umfeld? Der Guðrún entführt hat?«
»Wir müssen herausfinden«, entgegnete Daníel, »ob die Entführer Euros verlangen, weil sie wissen, dass du Geld im Ausland besitzt, oder ob das reiner Zufall ist.«
Zufall. Flosi merkte, wie er sich an diesem Gedanken festklammerte. Es konnte reiner Zufall sein. Diese Vorstellung war erträglicher, als dass ihm das jemand angetan hatte, den er kannte. Der Guðrún das angetan hatte. Jemand, dem er vertraute. Doch die Erleichterung hielt nicht lange an, weil Helena ihren scharfen Blick auf Iða richtete.
»Gehen wir noch mal den gestrigen Tag durch«, sagte sie. »Du warst im Schwimmbad und danach in der Uni …« Weiter kam sie nicht, denn es klingelte zweimal kurz an der Tür. Das war das Zeichen, das die Polizei benutzte. »Bitte begleite mich zur Tür, Flosi«, sagte Helena, woraufhin er aufstand und ihr durchs Wohnzimmer in den Flur folgte, ein mulmiges Gefühl im Bauch, weil er Iða alleine mit Daníel zurückließ. Er wollte nichts verpassen. Wollte wissen, was besprochen wurde. Wissen, was sie seine Tochter fragten. Es kam ihm so vor, als würden sie sie verdächtigen, mit der Sache etwas zu tun zu haben. Völlig absurd, dass sein süßes, blondes Mädchen zu so etwas fähig war.
»Du machst auf und lässt den Pizzaboten rein«, sagte Helena und trat zur Seite, damit man sie nicht sah. Flosi öffnete die Tür.
»Bitte sehr«, sagte er, was natürlich überflüssig war, denn der Pizzabote war kein Pizzabote, sondern ein Polizist mit einer Domino’s-Kappe. Der Franzose von der Spurensicherung kam aus der Küche, nahm die große Thermotasche entgegen, stellte sie auf die Kommode im Flur und nahm verschiedene Gegenstände in kleinen Tüten und Boxen heraus. Dann stopfte er die Plastiktüte, die er aus der Küche mitgebracht hatte, in die Thermotasche. Flosi konnte gerade noch eine Konservendose durch die dünne Plastikfolie erkennen, bevor der Reißverschluss zugezogen wurde. Er begriff, dass es sich um die Mülltüte aus der Küche handelte. Jean-Christophe übergab dem Pizzaboten die Thermotasche, und Helena nickte Flosi kurz zu, damit er ihn wieder hinausließ. Zweifellos, um den Müll in irgendein Labor zu bringen, wo man ihn genau unter die Lupe nehmen würde, so wie man ihr gesamtes Privatleben in der nächsten Zeit unter die Lupe nehmen würde, dachte Flosi und spürte, wie ihm schon wieder der Schweiß auf dem Rücken ausbrach.
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