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An einem dunklen, verschneiten Wintermorgen wird in der Nähe von Reykjavík ein verlassener Schiffscontainer entdeckt. Darin: die leblosen Körper von fünf jungen Frauen. Wie kann so etwas Furchtbares geschehen, und wer zur Hölle steckt dahinter? Während der Polizist Daniel sich mit dem brutalsten Verbrechen seiner Karriere konfrontiert sieht, untersucht die Finanzermittlerin Áróra den Hintergrund eines Verdächtigen, der sich als Verlobter von Daniels Ex-Frau entpuppt. Daniel und Áróra treffen auf skrupellose Verbrecher, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen. Unterdessen sucht Áróra weiter nach ihrer vermissten Schwester Ísafold, deren plötzliches Verschwinden sie immer noch verfolgt. Und während die Temperaturen weiter sinken und die andauernde Dunkelheit und der eisige Schnee ihre Arbeit zunehmend behindern, werden ihre Ermittlungen immer gefährlicher ... »Und wieder ein herausragender Thriller« MORGUNBLADID Die Áróra-Reihe: Band 1: Höllenkalt Band 2: Blutrot Band 3: Schneeweiß Alle Bände sind eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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An einem dunklen, verschneiten Wintermorgen wird in der Nähe von Reykjavík ein verlassener Schiffscontainer entdeckt. Darin: die leblosen Körper von fünf jungen Frauen. Wie kann so etwas Furchtbares geschehen, und wer zur Hölle steckt dahinter? Während der Polizist Daníel sich mit dem brutalsten Verbrechen seiner Karriere konfrontiert sieht, untersucht die Finanzermittlerin Áróra den Hintergrund eines Verdächtigen, der sich als Verlobter von Daníels Ex-Frau entpuppt. Daníel und Áróra treffen auf skrupellose Verbrecher, die bereit sind, bis zum Äußersten zu gehen. Unterdessen sucht Áróra weiter nach ihrer vermissten Schwester Ísafold, deren plötzliches Verschwinden sie immer noch verfolgt. Und während die Temperaturen weiter sinken und der Schnee dicht und stetig fällt, werden ihre Ermittlungen immer gefährlicher …
© Gassi
Lilja Sigurðardóttir wurde 1972 in der isländischen Kleinstadt Akranes geboren und wuchs in Mexiko, Spanien und Island auf. Bereits mehrfach ausgezeichnet für ihre Theaterstücke, wurde sie mit ihrer Island-Trilogie auch einem internationalen Publikum bekannt. Der erste Band der Reihe, ›Das Netz‹, erschien 2020 bei DuMont, gefolgt von ›Die Schlinge‹ und ›Der Käfig‹ (beide 2021). 2022 erschien der Thriller ›Betrug. ›Höllenkalt‹ markierte 2023 den Beginn der Áróra-Reihe, gefolgt von ›Blutrot‹ und ›Schneeweiß‹ (beide 2024).
LiljaSigurðardóttir
SCHNEEWEISS
EIN ISLAND-KRIMI
Aus dem Isländischenvon Anika Wolff
Von Lilja Sigurðardóttir sind bei DuMont außerdem erschienen:
Das Netz
Die Schlinge
Der Käfig
Betrug
Höllenkalt
Blutrot.
Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Deutsche Erstausgabe
E-Book 2024
DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
© Copyright Lilja Sigurðardóttir 2021
Die isländische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel ›Náhvít jörð‹ bei Forlagið, Reykjavík.
This translation is published by arrangement with Forlagið, Reykjavík, and Arrowsmith Agency, Hamburg.
© 2024 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln
Übersetzung: Anika Wolff
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Umschlagabbildung: © plainpicture/Jan Erik Waider
Satz: Fagott, Ffm
E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN E-Book 978-3-8321-6094-4
www.dumont-buchverlag.de
SCHNEEWEISS
Die Kälte. Zuallererst bedrohlich, wie sie von allen Seiten über sie herfällt, darauf lauert, an sie heranzukommen, unter ihre Kleider kriecht, ihr ins Fleisch beißt. Sie krallt sich in ihre Glieder, Finger, Hände, Füße; krabbelt bis zum Knie hinauf. Sie wehrt sich, bewegt die Beine. Steht auf und hüpft und tritt später einfach nur in die Dunkelheit, als ihr die Kraft zum Aufstehen fehlt. Dann kauert sie sich zusammen und reibt sich die Hände. Schiebt sie zwischen ihre Beine oder unter die Achseln und zittert. Als das Zittern aufhört, bemerkt sie, dass ihre Beine taub sind. Als wären sie nicht mehr da oder gehörten nicht mehr zu ihr. Sie kann sie bewegen, aber sie spürt sie nicht mehr.
Doch die Kälte lügt. Die Taubheit verschwindet, und ihre Beine melden sich zurück, mit einem stechenden Schmerz, der von innen kommt. Aus den Knochen. Sie weint und sieht doppelt, auch der Lichtschimmer durch das Lüftungsgitter hat sich vervielfacht, und einen Moment lang glaubt sie, zu Hause in ihrem Bett mit den ersten Sonnenstrahlen aufzuwachen, bald wird sie den Hahn krähen hören und aufstehen, auf den Hof treten und sich in der Morgensonne wärmen, sich die Radionachrichten anhören und ihren Kardamomkaffee trinken.
So täuscht die Kälte. Sie gibt vor, Wärme zu sein. Tut so, als wärmte sie ihren Körper, und es ist so herrlich warm, dass sie sich die Kleidung vom Leib reißen will. Doch sie ist zu schwach, um sich auszuziehen. Außerdem liegt Clara halb auf ihr und ist so schwer, dass sie sie nicht bewegt kriegt. Also liegt sie bloß da und genießt es, endlich wieder warm zu sein. Gönnt sich etwas Erholung. Entspannt sich. Vergisst den Albtraum der letzten Tage.
Als sie wieder zu sich kommt, ist die Kälte allumfassend. Die Täuschung ist verflogen. Einzig die ruckelnde Stahlhülle ist real, und die schaukelt und wackelt und bebt, bis Clara von ihr runterrutscht und zu Marsela auf den Boden rollt.
Und es duftet auch nicht nach Morgensonne oder heißem Kaffee, sondern stinkt erbarmungslos nach Angst und kaltem Stahl. Mit großer Mühe öffnet sie die Lider und schließt sie gleich wieder, als die Containertür aufschwingt und ihr das weiße Licht in die Augen schneidet.
1
DIENSTAG
Elín wachte in absoluter Dunkelheit auf, doch hinter dem dicken Vorhang hörte sie es leise durch den Fensterspalt heulen, als drückte der Wind genau auf das Fenster und spielte ein langes Lied mit nur einem Ton, das ab und zu in ein zartes Pfeifen überging. Aber nicht der Wind hatte sie geweckt, sondern Sergeis Stimme irgendwo in der Wohnung. Er telefonierte, und sie hörte es an seinem Tonfall, dass er mit der Frau sprach, die zu jeder Tages- und Nachtzeit anrief und angeblich seine Mutter aus Russland war. Vielleicht stimmte das auch. Dennoch kam es ihr komisch vor, dass er sich immer zurückzog, sobald sie anrief, und hinter verschlossener Tür mit ihr sprach. Warum musste er sich einschließen, wenn er mit seiner Mutter telefonierte? Zumal Elín kein Wort Russisch verstand und er direkt vor ihr stehen und über sie reden konnte, ohne dass sie es mitbekam.
Sie streckte die Hand aus und tastete auf dem Nachttisch nach ihrem Handy. Als der Bildschirm grell aufleuchtete, musste sie die Augen zusammenkneifen, um die Uhrzeit zu erkennen. Kurz vor halb sieben, also konnte sie auch aufstehen. Sie wachte meist früh auf, ging gleich runter in ihr Atelier und begann zu malen, sodass sie oft schon zwei Stunden gearbeitet hatte, wenn Sergei auf den Boden klopfte, um ihr mitzuteilen, dass er aufgestanden und der Tee fertig war. Es dauerte, wenn er Tee kochte, weil er das in mehreren Schritten tat und ihm diese Zeremonie sehr wichtig war. Zuerst brühte er starken Tee im Kessel auf und ließ ihn eine ganze Weile ziehen, ehe er ihn in die kleine Thermoskanne abgoss. Dann füllte er die große Kanne mit heißem Wasser, schnitt eine Zitrone auf und legte Schnitze in ihre Tassen. Wenn Elín heraufkam, schenkte er meist gerade Tee aus der kleinen Kanne ein, eine halbe Tasse für sich, für sie nur eine Pfütze, weil sie ihn nicht so stark mochte, und füllte dann mit heißem Wasser aus der großen Kanne auf. Das nannte er caravan tea, und es war ihm offenbar den Aufwand wert, während sie genauso gut auch einfach einen Beutel Melrose’s trinken konnte und keinen Unterschied gemerkt hätte.
Elín setzte sich auf, tastete mit den Füßen nach ihren Wollsocken und zog sie im Dunkeln an. Sie hatte nicht vorgehabt, Sergei beim Telefonieren zu belauschen, doch plötzlich stand sie im Flur, drückte ihr Ohr an die Badezimmertür und hörte ihn mit so sonderbar sanfter Stimme säuseln. Er hatte ihr ein paar russische Wörter beigebracht, die sie aussprechen und auch verstehen konnte, wenn er sie zu ihr sagte, aber wenn er in normalem Tempo mit anderen Russen sprach, verstand sie nichts. Dann hörte sie nur einen Schwall fremder Laute, die für ihre Ohren immer gleich klangen. Tsja-tsja-snje-snje-minja-privnja-snje-snje. Daher waren es nicht die Worte, die ihr ins Herz stachen, sondern der Tonfall. Die Zärtlichkeit in seiner Stimme. Sie kannte diese Zärtlichkeit, ihretwegen lag sie ihm zu Füßen, denn sie stand in so starkem Kontrast zu seinem Aussehen und seinem sonstigen Verhalten. Sergei war groß und wirkte etwas plump, sah dabei aber gut aus. Meist trug er einen Trainingsanzug und eine schwere Goldkette; sie schmiegte sich um seinen starken Hals und an seine Brust, die er in der Dusche in einem Zug mit dem Kopf rasierte. Als Elín ihm vorgeschlagen hatte, dass er sich auch mal ein feines Hemd und eine Jeans kaufen könnte, hatte er nur gelacht und gesagt, dass sich da der Altersunterschied bemerkbar mache. Elín begreife einfach nicht, dass das der aktuelle Straßenlook sei. Hemd und Krawatte würde er ab seinem dreißigsten Geburtstag tragen. Es war ihr unangenehm, dass er ihr den Altersunterschied von zwanzig Jahren unter die Nase rieb, und es kam ihr irgendwie lächerlich vor, dass sie sich mit Ende vierzig so verliebt hatte.
Dieses Gefühl überkam sie auch jetzt, als sie vor der Badezimmertür stand und seinem Telefongespräch lauschte. Tsja-tsja-snje-snje. Als sie ein bekanntes Wort hörte, war ihr, als ob ihr Herz einen Riss bekam und das warme Blut unter großen Schmerzen in ihren Unterleib rann. Baby, sagte er. Come on, baby. Das sagte er auch oft zu ihr. Wenn er sie überreden wollte. Sie zu irgendetwas bringen wollte. Zusammen tanzen gehen. Ihm Geld leihen. Sie ins Bett kriegen. Elín stützte sich an den Türrahmen und wagte kaum, Luft zu holen, aus Angst davor, ein weiteres bekanntes Wort zu verpassen. Irgendeinen Hinweis. Mit wem sprach er so? In diesem zärtlichen Ton, der doch eigentlich ihr vorbehalten war? Come on, baby. Come on, Sofia. Snje-snje. Tsja-tsja-snje.
2
Der rostrote Schotter in den künstlichen Kratern wirkte noch greller durch die dünne Schneeschicht, die sich von Norden auf die Landschaft gelegt hatte, auf die Zaunpfosten und auch auf den Container, der vom Weg aus nicht zu sehen war. Daníel hatte an der Ringstraße geparkt, um eventuelle Reifenspuren auf dem wenig befahrenen Heiðmerkurvegur und der Piste ins Rauðhólar-Gebiet nicht zu zerstören. Helena und die Spurensicherung waren auf dem Weg, auch sie würden die Fahrzeuge am Straßenrand stehen lassen und erst prüfen, ob sie mit ihrer Ausrüstung bis zum Container heranfahren konnten, ohne Beweismittel zu gefährden.
Der Schnee war über Nacht gefallen und in der niedriger gelegenen Hauptstadtregion schon längst geschmolzen, doch hier oben war es zwei Grad kälter, wenn die Temperaturanzeige im Auto stimmte. Das erste Tageslicht kündigte sich bereits an, aber es dauerte noch eine Weile, bis die schwache Märzsonne versuchen würde, den Himmel zu erklimmen. Daníel zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Es schauderte ihn, wenn auch nicht vor Kälte. Vielmehr war es die Angst vor dem, was ihn erwartete. Was der Notruf ihnen mitgeteilt hatte, klang wirklich fürchterlich, er rechnete mit dem Schlimmsten. Ein Jogger mit Hund hatte den Container entdeckt. Er drehte dort jeden Morgen vor acht seine Runde und hatte beim städtischen Umweltamt angerufen, weil er wissen wollte, was ein zwanzig Fuß langer Umzugscontainer im Naturschutzgebiet zu suchen hatte. Der städtische Mitarbeiter, der daraufhin hergekommen war, um sich die Sache anzusehen, hatte den Container geöffnet und sich sofort übergeben müssen. Auch die Polizisten, die wenig später angerückt waren, konnten kaum in Worte fassen, was sie gesehen hatten. Ein Haufen Leichen sei darin. Ein Haufen.
Sie standen ein gutes Stück vom Container entfernt. Der eine hatte die Hände in den Taschen vergraben und trat steif von einem Bein aufs andere, während sein Kollege auf der Stelle hüpfte und sich mit den dicken Handschuhen abklopfte. Einen der beiden meinte Daníel zu kennen, doch er war sich nicht sicher. Wahrscheinlich kamen sie von der Wache am Dalvegur. Er angelte im Jackenkragen nach dem Band, an dem sein Ausweis hing, zog ihn heraus und hielt ihn den Kollegen hin.
»Daníel Hansson, Kriminalpolizei«, sagte er, und die Männer in Uniform nickten synchron, ohne sich den Ausweis anzusehen. Ihre Gesichter waren starr, und Daníel hatte das Gefühl, dass sie mit den Tränen kämpften.
»Wir haben den Mann von der Stadt nach Hause geschickt. Der war nicht mehr dienstfähig, nachdem er das gesehen hatte.«
»Habt ihr seine Personalien aufgenommen?«, fragte Daníel und zog Latexhandschuhe aus der Jackentasche.
»Ja«, antwortete einer der Polizisten. »Ich habe ihn auch schon kurz dazu befragt, weshalb er hergekommen ist, warum er den Container geöffnet und was er darin gesehen hat.« Er zeigte sein Notizbuch, und Daníel nickte.
»Gut. Den fertigen Bericht bitte gleich an mich schicken. Was ist mit dem Jogger, der den Container entdeckt hat?«
»Die Kollegen von der Stadt haben leider vergessen, seinen Namen zu notieren, aber vielleicht könnt ihr von der Kriminalpolizei seine Nummer nachverfolgen lassen?«
Daníel verzog sein Gesicht zu einem kurzen Lächeln. Streifenpolizisten hatten manchmal merkwürdige Vorstellungen davon, wo bei solchen Ermittlungen die Prioritäten lagen.
»Das wird sicher nicht nötig sein.« Er zog sich den ersten Handschuh über, sah abwechselnd die beiden Männer an und fügte hinzu: »Über wie viele Personen sprechen wir eigentlich?«
Die beiden Männer sahen sich an. »Ich habe gezählt«, sagte schließlich der, der auf der Stelle gehüpft war. »Es sind fünf.«
»Alles Frauen?«, fragte Daníel.
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst?« Daníel sah ihn forschend an.
»Ähm, ja. In dem Container ist es dunkel und ähm … Ich weiß nicht. Der Mann von der Stadt stand davor und hat alles vollgekotzt. Ich musste ihn wegbringen, während Jonni Verstärkung angefordert hat und … ja. Ich bin da einfach nur schnell wieder raus und dachte mir, ihr guckt euch das später ja sowieso noch genauer an.« Jetzt hatte Daníel beide Handschuhe an.
»Hast du bei allen die Vitalfunktionen überprüft?«
»Die Vitalfunktionen?«
»Ja. Puls. Atmung.«
Der Polizist sah ihn fassungslos an. »Das ist, ähm …«, stotterte er. »Du wirst es verstehen, sobald du den Container betrittst. Schon allein der Geruch. Dieser widerliche Gestank. Genau wie bei dem alten Mann, der nach einem Monat in seiner Wohnung gefunden wurde …«
»Verstehe«, sagte Daníel. »Dennoch entspricht es der Vorschrift, die Vitalfunktionen zu prüfen.« Er lief zum Container hinüber und zog den einen Handschuh wieder aus, holte das Döschen mit dem Tiger Balm aus seiner Jackentasche und rieb sich reichlich davon unter die Nase. Zum Glück war das nicht oft nötig, doch nachdem er einmal den Gestank alten Todes gerochen hatte, reagierte sein Körper automatisch mit einem Würgereflex. Der Beschreibung der Polizisten nach zu urteilen würde es eine Herausforderung sein, die Fassung zu wahren. Wenn tatsächlich die Leichen von fünf Frauen in dem Container lagen, würden diese Ermittlungen der reinste Horror werden. Schon allein beim Gedanken daran fühlte Daníel sich wie ausgelaugt. Doch dieses Gefühl verschwand schlagartig, als er vor den offenen Container trat. Das war kein Verwesungsgeruch. Das war der Geruch der schieren Verzweiflung. Das Gefühl, das ihn an manchen Tatorten überkam, entstand als Lichtblitz ganz hinten in seinem Kopf, zuckte nach vorn bis zur Stirn und nahm ihm kurz die Sicht. Danach fegte eine Windböe durch seinen Kopf, und eine Stimme zischte ihm ins Ohr, dass hier der Tod mit eisiger Gnadenlosigkeit zugeschlagen hatte.
3
Das Wasser im Kessel kochte, als Elín die Badezimmertür hörte und Sergei herauskam. Er trug noch Schlafhose und Unterhemd, aber er roch wie frisch rasiert. Hatte er sich vielleicht doch nur zum Rasieren ins Bad zurückgezogen?
»Ich mache caravan tea«, sagte er und legte seinen Arm um ihre Schultern, drückte sie kurz an sich und küsste ihren Hals. Ein seliges Gefühl durchströmte sie, doch schon im nächsten Moment blitzte Enttäuschung in ihr auf, als seine Bartstoppeln ihre Haut schmirgelten. Er war nicht frisch rasiert und hatte sich nicht deshalb im Bad eingeschlossen.
»Wer war am Telefon?«, fragte sie und fixierte ihn mit forschendem Blick, versuchte, aus seinem Gesicht zu lesen, ob er die Wahrheit sagte.
»Das war Mama«, sagte er, sah sie kurz an und widmete sich dann seinem Tee. Elín hatte den Eindruck, dass er die Wahrheit sagte. Aber genau das war das Problem. Sie glaubte ihm immer, wahrscheinlich weil sie ihm glauben wollte. Sie wollte daran glauben, dass diese späte Romantik echt war und richtig und dass am Ende alles gut werden würde. Dass Sergei genauso verliebt in sie war wie sie in ihn, und sie eine glückliche, gemeinsame Zukunft vor sich hatten. Dass diese Frau, mit der er allein telefonieren wollte, wirklich seine Mutter war. Er stellte die Teetassen auf den kleinen Küchentisch am Fenster, und Elín setzte sich ihm gegenüber.
»Und, was sagt deine Mama?«, fragte sie.
Sergei zuckte mit den Schultern. »Dasselbe wie immer«, antwortete er. »Sie braucht Geld. Es ist gerade schwierig in Russland. Vor allem für alte Menschen. Alte Frauen. Mama hat keine Rentenversicherung. Ich hab ihr gesagt, sie muss bis nächste Woche warten. Ich habe einiges bei einem Mann gut, für den ich ein bisschen gearbeitet habe. Sie muss warten, bis er mich bezahlt.« Sergei machte eine Pause, und Elín wusste schon, was als Nächstes kam. »Es sei denn, du … Ach nein, nichts. Vergiss es.« Sergei sah sie mit diesem Blick an, den sie insgeheim den Welpenblick nannte, wenn er sie so schüchtern mit seinen großen braunen Augen anguckte.
»Doch«, brummte Elín. »Ich kann dir ein bisschen was für sie geben.« Sie griff nach ihrer Tasche auf der Fensterbank.
»Nein, nein. Vergiss es«, wiederholte Sergei, doch sie wusste, dass er es nicht so meinte. Es war ihm einfach unangenehm, schon wieder Geld von ihr anzunehmen, nachdem sie ihm gerade erst etwas gegeben hatte. Aber sie wusste, dass er ihre Hilfe brauchte. Er hatte kein festes Einkommen, sondern jobbte hier und da als Türsteher, Umzugshelfer oder übernahm andere Arbeiten, bei denen er seine Muskeln einsetzen konnte und für die er schwarz bezahlt wurde. Außerdem war es für sie eine Selbstverständlichkeit zu helfen. Sie hatte ihm schon oft Geld geliehen, und in den allermeisten Fällen hatte er seine Schulden bei ihr beglichen. Nicht dass sie genau Buch darüber führte. Das passte nicht zu einer Partnerschaft.
Sie öffnete ihr Portemonnaie, zählte ein paar Fünftausender ab und gab sie ihm. Er strahlte kurz, nickte und nahm die Scheine.
»Danke, Elín«, sagte er. »Ich gebe es dir zurück, sobald ich mein Geld kriege.«
»Mach dir keinen Kopf deswegen«, sagte sie und trank von ihrem Tee. Einen Moment lang war da nur dieses Glücksgefühl, das sie in Sergeis Nähe erfüllte. Der Tee wärmte von innen, sein Rasierwasser duftete, und sie hätte bis in alle Ewigkeit so sitzen und seine muskulösen Arme bewundern und ihn inhalieren können. Diese vertrauten Gewohnheiten, die sich wie von selbst eingespielt hatten, und die Liebe, die sie wie eine Wolke umhüllte, wenn sie zusammen waren.
Doch dann meldete sich das mulmige Gefühl zurück, das mit jedem Anruf dieser Frau mehr Fragen in ihr weckte. Warum schloss Sergei sich ein, wenn es doch nur seine Mutter war? Und ehe sie sichs versah, versank sie in der kalten Einsamkeit der Eifersucht.
»Wie heißt deine Mutter?«, fragte sie und wunderte sich selbst darüber, dass sie ihm diese Frage erst jetzt stellte.
Sergei sah sie an, überhaupt nicht mehr welpenhaft, sondern mit zu Schlitzen verengten Augen. »Wieso fragst du?«, entgegnete er, und in seiner Stimme lag keinerlei Wärme.
»Nur so«, sagte Elín und bemühte sich um einen unbekümmerten Ton. »Ich habe mich nur gefragt, wie sie wohl heißt.«
»Galina«, antwortete Sergei. Immer noch sah er sie scharf und gleichzeitig abwartend an. Als spürte er, dass sie noch mehr fragen wollte. Ihm etwas vorwerfen würde. Damit lag er richtig.
»Ach ja? Ich dachte, sie heißt Sofia«, sagte Elín und wünschte sich im selben Moment, sie hätte sich auf die Zunge gebissen und geschwiegen. Sergei sprang so wütend auf, dass sein Stuhl umfiel, und er verpasste ihm einen Tritt in Richtung Wohnzimmer.
»Sofia?«, brüllte er. »Wie kommst du darauf?«
»Ich habe gehört, wie du am Telefon etwas gesagt hast, das wie Sofia klang«, antwortete sie kleinlaut. Sie wollte sich ihm vor die Füße werfen und ihn um Verzeihung bitten. Alles wiedergutmachen, ihn anflehen, sich zu setzen und noch mehr Tee aufzugießen und sie mit seinen warmen Welpenaugen anzusehen und nicht mit diesem harten, kalten Blick.
»Hörst du neuerdings meine Telefonate ab? Hm? Belauschst du meine Gespräche? Und meinst, die Namen irgendwelcher anderen Frauen zu hören? Kannst du auf einmal so gut Russisch, dass du verstehst, mit wem ich telefoniere? Das ist ja allerhand!« Er nahm die Scheine vom Tisch und warf sie auf Elín. »Behalt dein Geld. Ich finde andere Wege, meiner Mutter zu helfen. Mit so einem Misstrauen kann ich nichts anfangen.« Er schnappte sich seine Jacke vom Haken und stürzte aus der Tür. Elín zuckte zusammen, als er sie laut hinter sich zuknallte.
4
Helena drosselte das Tempo und hielt an der Schotterpiste ins Rauðhólar-Gebiet, während der Krankenwagen auf die Ringstraße bog. Sie fuhr bis zum Ende der Piste und stellte ihren Wagen am Wegesrand ab. Als sie ausstieg, hörte sie, wie der Krankenwagen weiter unten auf dem Suðurlandsvegur die Sirene einschaltete. Die würde ihm durch den dichten Morgenverkehr helfen, der genau jetzt seinen Höhepunkt erreicht hatte und noch bis nach neun anhielt. Sorge machten ihr die vielen Fahrzeuge, die sich in unmittelbarer Nähe der Ringstraße angesammelt hatten, mittendrin ein Polizeiwagen mit blinkendem Blaulicht, der den Hunderten Vorbeifahrenden, die aus der Stadt in Richtung Hochebene fuhren oder umgekehrt, natürlich nicht entging. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand die Medien informierte. Zum Glück war der Container wenigstens von der Straße aus nicht zu sehen, und auch die Kollegen von der Spurensicherung hatten ihren weißen Transporter außer Sichtweite geparkt.
Der rote Schotter knirschte unter ihren Schuhen, und sie erinnerte sich an die Zeit, als diese Steinchen auf allen Reykjavíker Gehwegen und in allen Einfahrten lagen. Die rote Farbe war damals der letzte Schrei, und niemand hielt die Leute davon ab, ihre Anhänger vollzuladen, denn man wusste noch nichts von der geologischen Einzigartigkeit dieses Gebiets. Helena lief ganz dicht am Wegesrand, obwohl das wahrscheinlich übertrieben war, nachdem der Krankenwagen ohnehin schon mögliche Reifenspuren verwischt hatte. Auch um den Container herum war die dünne Schneedecke komplett zertrampelt. Der Schnee auf dem roten Untergrund und die grünen Mooshöcker, die im späten Morgenlicht hier und dort aus dem Weiß ragten, hatten etwas Weihnachtliches. Doch diese Assoziation verschwand schlagartig, als Helena Daníel entdeckte, der etwas abseits in der Landschaft kniete und sich wie vor Schmerzen krümmte. Sie warf einem uniformierten Polizisten in der Nähe des Containers einen fragenden Blick zu, aber der Mann starrte ihr bloß mit leeren Augen entgegen. Diesen Gesichtsausdruck kannte sie. Er sagte ihr, dass der Polizist gedanklich ganz woanders war, vermutlich bei etwas so Alltäglichem wie den anstehenden Reparaturen in seiner Garage oder der Serie, die er gerade guckte. So schützte sich die Seele vor der Hässlichkeit.
Sie stieg über die grünen Buckel zu Daníel und hockte sich neben ihn. Er atmete schwer, die Zähne fest zusammengebissen, und gab eine Art Knurren von sich, als wollten die starken Kiefer mit aller Kraft ein gewaltiges Weinen zurückhalten.
»Eine war noch am Leben«, stöhnte er. »Sie lag mitten in dem Leichenhaufen. Die toten Körper der anderen müssen sie irgendwie warm gehalten haben.«
Helena legte ihre Hand auf seinen Rücken und strich ein paarmal kräftig darüber. »Das habe ich schon auf der Wache erfahren«, sagte sie. »Dass sie zu Bewusstsein gekommen ist.«
Daníel schnaubte, und Helena kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er es nicht verächtlich meinte, sondern eher erstaunt oder ungläubig. »Ich weiß nicht, ob man von Bewusstsein sprechen kann«, sagte er. »Ich hatte kaum Hoffnung, einen Puls bei ihr zu finden, und als ich die Finger fester auf ihren Hals gedrückt habe, ist sie plötzlich aufgesprungen und aus dem Container gestolpert, wimmernd und steif vor Angst.« Er atmete ein paarmal tief ein und aus.
»Ich habe immer wieder gesagt, dass ich von der Polizei bin, police, police. Keine Ahnung, ob sie mich verstanden hat, aber immerhin hat sie es zugelassen, dass ich meine Jacke um sie lege. Vielleicht war sie auch nur zu schwach und durchgefroren, um sich dagegen zu wehren.«
»Mein Gott, Daníel«, seufzte Helena. »Wie furchtbar.«
Daníel stand auf, schwankte kurz und blickte wütend auf den Container. Helena zuckte zusammen, als er einen lauten Schrei ausstieß, der jedoch nicht weit hallte, sondern vom Verkehrsrauschen auf der Suðurlandsbraut und den eingeschneiten Moospolstern von Rauðhólar verschluckt wurde.
5
Elín war immer noch ganz flattrig, als sie schon längst in ihrem Atelier saß und überlegte, ob sie heute vielleicht doch nicht arbeiten, sondern gleich wieder hoch in die Wohnung gehen und fernsehen sollte. Aber selbst eine Krimiserie würde sie im Moment nicht ablenken und schon gar nicht eine der Seifenopern, die sie oft mit Sergei guckte. So ging es ihr immer, wenn sie mit Sergei stritt. Oder eher, wenn sie uneins waren. Uneinigkeit passte besser, denn es kam höchstens zu einem kurzen Wortgefecht, bis Sergei hinausstürmte. Beim ersten Mal hatte Elín sich wer weiß was ausgemalt und schon befürchtet, er wäre vielleicht für immer gegangen und hätte sie verlassen. Als er zurückkam, war sie völlig verheult gewesen. Inzwischen wusste sie, dass er das brauchte, um sich abzukühlen, um sich zu beruhigen und einen klaren Kopf zu kriegen. Wenn er zurückkam, war er friedlich und besonnen und vernünftig. Meist bat er sie um Entschuldigung, und sie versöhnten sich wieder.
Doch obwohl sie wusste, dass er zurückkehren und sie die Sache in Ruhe klären würden, fühlte sie sich schlecht. Sie hatte Bauchschmerzen, ihr war übel, und ihre Nerven bebten wie straff gespannte Geigensaiten. Würde sie ein Mikro an ihre Haut halten, könnte sie ihre überspannten Nerven singen hören, ein ängstliches Klagelied. Einen Appell an Sergei, zurückzukommen und sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Wobei vermutlich diesmal sie diejenige war, die ihn trösten sollte. Ihn um Verzeihung bitten und sich für den Eifersuchtsanfall entschuldigen. Sie verstand selbst nicht, was sie da geritten hatte, woher dieses Misstrauen kam.
Elín ließ den Blick durch ihr kleines Atelier schweifen, das sie sich in der Garage unter dem Reihenhaus eingerichtet hatte und das ihr auf einmal völlig chaotisch vorkam. Dabei war es gar nicht unordentlicher als sonst. Sicher war dieser Eindruck nur ihrer aufgewühlten Verfassung geschuldet. Sie hatte es aufgegeben, an ihrem aktuellen Bild weiterzuarbeiten, und wollte sich gerade daranmachen, einen neuen Rahmen mit Leinen zu bespannen, als ihr Handy klingelte. Sie ging sofort ran, glaubte, dass Sergei anrief, doch es war ihr Vater.
»Na, Liebes«, sagte er freundlich. »Was gibt es Neues in der Welt der Kunst?« Das fragte er jedes Mal, wenn er anrief oder sie ihn besuchte. Und auch ihre Antwort fiel meist gleich aus: Wenig. Denn in ihrem Beruf war ein Tag wie der andere. Sie bezog einen Rahmen, grundierte, machte eine grobe Bleistiftskizze und begann zu malen. Während sie an einem Bild arbeitete, konnte sie nicht darüber sprechen. Sobald sie versuchte, das Thema zu umreißen oder die Entwicklung zu schildern, geriet der künstlerische Fluss ins Stocken, und sie verlor das Interesse. Vielleicht war das wie eine Schreibblockade bei einem Schriftsteller. Daher erzählte sie erst von ihren Werken, wenn sie fertig waren, und hatte ihrem Vater dementsprechend wenig Neues zu berichten. Bisher hatte sie ungefähr alle zwei Jahre eine Ausstellung gemacht, doch jetzt stapelten sich die Bilder; sie hatte das Gefühl, dass der rote Faden fehlte, ihre Werke nicht gut genug waren. Irgendetwas in ihr sträubte sich gegen eine Ausstellung. Vielleicht mangelte es auch nur am nötigen Selbstvertrauen. Früher hatte sie hin und wieder ein Bild direkt aus dem Atelier verkauft, aber in letzter Zeit kam das nur noch selten vor. Sie lebte hauptsächlich von den Mieteinnahmen der Wohnung, die sie gekauft hatte, nachdem der Vater ihr vorzeitig ihr Erbe ausgezahlt hatte, und da sie auch das Reihenhaus davon abzahlen konnte, kam sie gut über die Runden.
»Ich beziehe einen Rahmen«, sagte sie zu ihrem Vater.
»Schön, schön«, sagte er, und sie sah vor sich, wie er in seinem Rollstuhl am Wohnzimmerfenster saß und zum Burgerladen und zur Werft auf der anderen Straßenseite blickte.
»Welches Schiff liegt gerade im Trockendock?«, fragte sie und hörte, wie er sich aufrichtete, froh darüber, etwas erzählen zu können.
»Die SaltvíkRE«, sagte er, und sie kritzelte den Namen unter die anderen Schiffsnamen, die sie auf einer Wand ihres Ateliers sammelte. Das war zu einer Art Spiel zwischen ihnen geworden, seit ihr Vater sich vor einem Jahr die Wohnung gegenüber der Werft gekauft hatte. Es machte ihr Spaß, die Schiffsnamen zu sammeln, und sie wusste, dass irgendetwas davon mal in ein Bild einfließen würde. So begannen Ideen. Mit irgendetwas Unbedeutendem, manchmal sogar Verschrobenem. Mit einer Schrulle oder Besessenheit, die plötzlich die Kreativität entfachte wie ein Funke das Feuer.
»Schön, schön«, sagte er dann, und Elín wusste schon, was als Nächstes kam. »Ist der Russe anständig zu dir?«, fragte er. Elín seufzte.
»Natürlich, Papa. Sergei ist ein feiner Kerl.« Ihr Vater sagte nie seinen Namen, sondern nannte ihn nur den Russen, und Elín hörte an seiner Stimme, dass ihm ihre Partnerwahl nicht so recht behagte, obwohl er Sergei gegenüber immer absolut höflich war, wenn sie sich sahen.
»Von einer Heirat hat er nicht mehr gesprochen?«
»Doch, hat er«, antwortete sie zögerlich. Sie hatte keine große Lust, mit ihrem Vater darüber zu reden, besonders jetzt, nach ihrer Uneinigkeit. »Er braucht, wie gesagt, eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, und eine Heirat ist der einfachste Weg dorthin.« Das hatte sie ihrem Vater schon unzählige Male erklärt, doch er schien ihr nicht richtig zuzuhören, denn jedes Mal tat er wieder so, als hörte er es zum ersten Mal.
»Nun denn.« Er räusperte sich leise, und auch Elín räusperte sich, als ob ihr Gespräch auf Grund gelaufen wäre und keiner von ihnen wüsste, wie man das Boot wieder zum Schwimmen brachte. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Denk an die Sache mit dem Ehevertrag, über die wir neulich gesprochen haben«, sagte er. »Du hast Besitz, er aber nicht, deshalb musst du einen Ehevertrag abschließen, wenn ihr heiratet. Was ich aber, wie gesagt, völlig unsinnig fände.«
6
»Erst ein einziges Mal war ich kurz davor aufzugeben«, sagte Daníel zu der Polizeipräsidentin, während sie einen der roten Sessel zu ihm heranschob, die überall in ihrem Büro herumstanden, und sich setzte, so nah, dass ihre Knie sich fast berührten. »Das war während der Ermittlungen zu einem Hausbrand, bei dem eine Person in den Flammen gestorben ist, und ich … ich konnte den Anblick der Leiche und den Geruch nicht mehr vergessen. Der Geruch war das Schlimmste.«
»Trink das«, sagte die Polizeipräsidentin und hielt ihm einen großen Becher Cola unter die Nase. »Der Zucker wird dich aufmuntern.« Daníel nahm den Becher entgegen und trank ihn zur Hälfte leer. Und tatsächlich kam es ihm so vor, als ob sein Körper sich etwas entspannte, als wenigstens seine Geschmacksknospen freigespült wurden, während seine anderen Sinne immer noch ganz bei der Frau waren, die er vor zwei Stunden in seine Jacke gewickelt und fest an sich gedrückt und zu beruhigen versucht hatte, indem er ihr immer wieder zugeraunt hatte, er sei police und here to help, in der schwachen Hoffnung, dass seine Worte durch ihre Panik drangen und dass sie überhaupt eine Bedeutung für sie hatten.
»Es zerreißt mich«, sagte er. »Ich will zum Hafen laufen und den Zoll dazu verdonnern, jeden einzelnen Container zu durchleuchten, der hier ankommt. Jeden einzelnen zu öffnen und …« Er verstummte, als der Container von Rauðhólar vor seinem inneren Auge auftauchte. Die Frauenkörper, in Kleidung und Decken gewickelt, die völlig unzureichend gegen die nordische Winterkälte in einem nicht isolierten Container gewesen waren.
»Das wäre der Idealzustand, ist aber völlig unrealistisch, selbst wenn der Etat des Zolls verzehnfacht würde«, entgegnete die Polizeipräsidentin. »Sie können nur einen winzigen Bruchteil der Container kontrollieren. Deshalb ist unsere Arbeit so wichtig. Wir müssen die Leute fassen, die hinter diesen abscheulichen Machenschaften stecken.« Daníel schüttelte den Kopf, ohne zu wissen, ob er damit die Worte der Direktorin abschütteln wollte oder die Erinnerung an den üblen Geruch der krausen Haare der Frau, die er an sich gedrückt hatte in der verzweifelten Hoffnung, dass sie seine Wärme spürte. Einen Hauch von Menschlichkeit und Wohlwollen.
»Der Geruch …«, begann er, und als er den Kopf hob, sah er in die Augen der Direktorin. »Ihr Geruch und ihr Blick … Ich kann das nicht. Ich kann an diesem Fall nicht mitarbeiten.« Die Direktorin straffte ihren Rücken.
»Du bist einer meiner erfahrensten Leute«, sagte sie. »Wir brauchen hierfür ein großes Team. Ich kann den Kriminalhauptkommissar bitten, dich nicht als Verantwortungsträger einzusetzen, zumal du ja auch eigentlich um Urlaub gebeten hast, weil du Zeit für deine Kinder haben willst, aber wir brauchen für diesen Fall jemanden deines Kalibers. Jemanden, der Menschen lesen kann. Der über so viel Menschenkenntnis verfügt wie du. Der empfindsam ist und Mitgefühl hat.«
»Das, was du Empfindsamkeit nennst, arbeitet in diesem Fall aber gegen mich«, sagte Daníel. »Die Welt wird mir zu … Ich weiß auch nicht … einfach zu viel. Nach so vielen Jahren mit allen möglichen Fällen stoße ich hier an meine Grenzen. Ich packe das nicht, wenn es noch schlimmer kommt.« Die Polizeipräsidentin legte ihre Hand auf seinen Arm und drückte ihn fest.
»Daníel«, sagte sie und suchte wieder Blickkontakt. »Schlimmer wird es nicht. Schlimmer kann es gar nicht mehr werden.«
7
Helena erschrak, als sie den großen Raum betrat, der so voll war, dass einige Leute stehen mussten. Schon allein das zeigte, dass dieser Fall höchste Priorität hatte, denn es waren so gut wie alle Abteilungen der Polizei vertreten. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge, bis sie ein freies Stück Tischkante fand. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung, die Leute unterhielten sich leise, und die wenigen Wörter, die sie aus dem allgemeinen Gemurmel heraushörte, waren Fragepronomen. Offenbar wusste noch kaum jemand, um was es hier eigentlich ging.
Sie hielt nach Daníel Ausschau, entdeckte ihn aber erst, als er mit der Polizeipräsidentin und Kriminalhauptkommissar Gylfi von der zentralen Ermittlungsabteilung den Raum betrat. Als sie seinen betretenen Gesichtsausdruck sah, befürchtete sie schon, sie hätten ihm die Ermittlungsleitung aufgedrückt, doch als sich ihre Blicke trafen, zwinkerte er ihr kurz zu. Helena atmete auf. Das Zwinkern sagte ihr, dass alles in Ordnung war und nicht er die Hauptverantwortung in diesem furchtbaren Fall schultern musste. Sie sah ihn vor sich, wie er am Morgen zwischen den Mooshöckern gekniet hatte, voller Verzweiflung, Wut und Abscheu. Sie wusste, was es mit Menschen machte, die derart schlimme Verbrechen aufklären sollten, und dass die Verantwortlichen sich oft persönlich schuldig fühlten, wenn das nicht gelang.
Schlagartig kehrte Stille ein, als die Polizeipräsidentin sich räusperte. Kriminalhauptkommissar Gylfi sah sie an und nickte, dann blickte er in den Raum und nickte noch mehrere Male, ehe er das Wort ergriff. Diese Angewohnheit ging vielen unsäglich auf die Nerven, doch Helena betrachtete sie als lustige Marotte, die immer wieder Anlass zu Scherzen bot. Es hieß, je öfter er nicke, umso ernster sei das Thema, über das er sprechen wolle. In diesem Fall traf das sicher zu, denn er hatte mindestens siebenmal genickt.
»Heute früh kurz nach acht wurde dem Notruf ein zwanzig Fuß langer Container im Naturschutzgebiet Rauðhólar südlich des Suðurlandsvegur gemeldet, darin mehrere Leichen. Wie die Polizei bereits festgestellt hat, handelt es sich um fünf Frauen. Nur eine davon lebt. Als Todesursache kommen Unterkühlung oder auch generell der offenbar lange Aufenthalt der Frauen in dem Container in Betracht. Die Nationalität der Opfer ist noch unklar, doch vieles deutet darauf hin, dass sie ausländischer Herkunft sind. Es ist davon auszugehen, dass sie in dem Container ins Land gebracht wurden. Die Tatsache, dass die Frauen nicht zugedröhnt in einen Flieger gesetzt wurden, wie wir es schon häufiger erlebt haben, deutet darauf hin, dass sie aus Ländern stammen, die keine Mitglieder des Schengener Abkommens sind, und ein Visum bräuchten.«
»Sprechen wir also von Menschenhandel?«, fragte Kristján aus einer Ecke des Raums.
Gylfi nickte zweimal bedeutungsschwer. »Diesen Verdacht müssen wir gründlich untersuchen.« Er nickte weiter, als suchte er den Faden, den er nach Kristjáns Zwischenfrage verloren hatte.
»Die Überlebende wird in der Uniklinik behandelt. Ihr Zustand ist kritisch. Laut den behandelnden Ärzten entscheidet sich in den nächsten Stunden, ob sie wieder zu Bewusstsein kommt.« Der Kriminalhauptkommissar richtete seinen Blick abermals in den Raum hinein, und sein Kopf hob und senkte sich erneut, als ob er prüfen wollte, welche Reaktion diese Informationen bei den Anwesenden auslösten. In den meisten Gesichtern stand Entsetzen.
»Alle, die hier versammelt sind, werden an den Ermittlungen beteiligt sein. Dieser Fall hat ab sofort höchste Priorität«, sagte er. »Die Polizeipräsidentin und ich sind uns einig, dass wir besser mit einem großen Team anfangen und es eventuell später verkleinern als andersherum. Von diesem Moment an ist dies der einzige Fall, an dem ihr arbeitet. Lasst mir bitte die Aktenzeichen der Fälle zukommen, mit denen ihr derzeit befasst seid, damit ich sie an ein anderes Team übertragen kann.« Zum ersten Mal seit Beginn der Besprechung ging ein leises Raunen durch den Raum. Es konnte schwer sein, einen Fall wieder loszulassen, manch einer fühlte sich persönlich verpflichtet und verbiss sich geradezu in die Aufklärung eines Verbrechens.
»Ich selbst werde die Ermittlungen leiten«, fuhr er fort. »Und ich übernehme auch die Kommunikation mit den Medien. Ich muss euch ja nicht sagen, wie unglaublich wichtig es bei einem solchen Fall ist, sich bedeckt zu halten und die Journalisten in die richtige Richtung zu lenken. Der Container wird mit ziemlicher Sicherheit bald in den Schlagzeilen auftauchen, aber die Tatsache, dass eine der Frauen überlebt hat, sollten wir so lange wie möglich für uns behalten.« Fast alle Anwesenden nickten kurz. »Ein solches Thema provoziert Gerüchte und Spinnereien, daher sollten wir uns davor hüten, noch mehr Unsinn zu verbreiten.« Damit trat der Kriminalhauptkommissar zur Seite und machte Platz für die Polizeipräsidentin.
»Ich möchte euch kurz mit den Kolleginnen und Kollegen bekannt machen, die uns unterstützen werden«, begann sie. »Die meisten kennen sich ja bereits, aber es schadet nicht, noch einmal zu klären, wer was macht. Beginnen wir mit unserer Rechtsmedizinerin Jóna.« Die Polizeipräsidentin wies auf eine ältere Frau mit stattlichem grauem Dutt. »Ihre Aufgabe wird es in diesem Fall nicht nur sein, die Todesursache festzustellen, sondern auch die Identitäten der Opfer zu klären. Dabei wird sie von der Internationalen Abteilung des Landespolizeipräsidenten unterstützt, daher möchte ich euch Kriminalhauptkommissar Ari Benz Liu vorstellen, Leiter der Internationalen Abteilung.« Ari Benz stand von seinem Stuhl auf und grüßte in die Runde, obwohl fast alle ihn bereits kannten. Er hatte schon als junger Streifenpolizist in der Wache an der Hverfisgata gearbeitet und sich von dort aus schnell hochgearbeitet. Am berühmtesten aber war er für seine Namensänderungen. Er hatte das Namensrecht mehr als jeder andere Isländer strapaziert, doch auf seinen letzten Antrag hatte er ein klares Nein kassiert. Daraufhin hatte er seinen Vorgesetzten und Kollegen mitgeteilt, dass er Benz als weiteren Vornamen angenommen habe, da sich in seiner vorherigen Namenskombination ein Fluch verberge. Auch die Polizeipräsidentin respektierte diesen Wunsch.
»Oddsteinn von der Staatsanwaltschaft wird von Anfang an mit dabei sein«, sagte die Polizeipräsidentin und zeigte auf einen Mann an der hinteren Wand des Raums. »Sobald wir die potenziellen Täter ins Auge gefasst haben, steht er euch beratend zur Seite. Aber auch vorher könnt ihr euch bei allen Unsicherheiten an ihn wenden. Wir müssen uns unserer Sache absolut sicher sein, und uns dürfen bei den Ermittlungen und im Vorfeld des Prozesses keine Fehler unterlaufen.« Oddsteinn lächelte kurz und steif in die Runde und ruckelte seinen Krawattenknoten zurecht.
»Es steht viel auf dem Spiel«, sagte er. »Dokumentiert jedes einzelne Detail in der LÖKE-Datenbank und ruft mich an, wenn ihr bei irgendeiner Sache auch nur den geringsten Zweifel habt.« Wieder machte er sich an seinem Krawattenknoten zu schaffen, als wollte er damit sagen, dass er fertig war und die Polizeipräsidentin wieder übernehmen konnte.
»Für Verhaftungen, Ortsbegehungen, Hausdurchsuchungen und so weiter bekommt ihr so viele Leute, wie ihr braucht«, sagte sie. »Die Buchhaltung kümmert sich um allen Papierkram und die Kommunikation. Jean-Christophe und sein Team sind mit der Spurensicherung am Tatort bereits fertig. In diesem Moment wird der Container an einen sicheren Ort gebracht, an dem sie ihn von oben bis unten untersuchen werden, daher sind sie nicht anwesend. Rannveig, wo bist du?« Die Polizeipräsidentin stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte suchend durch den Raum, bis Rannveig die Hand hob. »Ja. Rannveig von der IT-Abteilung ist vor allem jetzt am Anfang eure Frau, denn sobald unser Meeting hier beendet ist, nimmt sie sich die Aufnahmen der Überwachungskameras in der Umgebung von Rauðhólar vor, außerdem die Aufzeichnungen der Kameras an allen Häfen im Hauptstadtgebiet. Sobald wir die Person oder die Personen finden, die den Container nach Rauðhólar geschafft haben, kommt der Ball ins Rollen.«
Nun trat Kriminalhauptkommissar Gylfi wieder nach vorn, als wäre das sein Stichwort. Ein kurzes Nicken, dann begann er mit der Aufgabenverteilung, die alle Anwesenden mit einer Mischung aus Spannung und Sorge erwarteten. »Baldvin ist meine rechte Hand«, verkündete er, woraufhin Baldvin aufstand und sich neben ihn stellte. Offenbar wusste er bereits Bescheid, denn seine Ernennung zu Gylfis Stellvertreter schien ihn nicht zu überraschen. Die meisten anderen hatten mit Sicherheit auf Daníel an diesem Posten gehofft, doch sie ließen sich ihre Enttäuschung nicht anmerken. »Bei Baldvin laufen die Fäden zusammen, er entscheidet über die Priorisierung der Aufgaben, hört sich die Vernehmungen an und studiert alle Dokumente auf LÖKE – also gebt euch Mühe!« Wie ein strenger Lehrer fuchtelte Gylfi mit dem Zeigefinger herum und richtete ihn schließlich auf Kristján. »Kristján, du richtest dem Team ein Büro ein und übernimmst die Leitung, hast den Überblick darüber, wie viele Leute für die verschiedenen Aufgaben gebraucht werden, und beschaffst das nötige Equipment.« Kristján nickte bestätigend. Das war sein gewohnter Job, den er offenbar gern übernahm. »Daníel ist unser Verbindungsmann zu der Überlebenden, da er sie im Container gefunden hat und es schon eine gewisse Verbindung zwischen den beiden gibt.« Daníel hob die Hand und kassierte dafür einen fragenden Blick von Gylfi.
»Vielleicht kann Helena mich unterstützen. Ich denke, es wäre gut, wenn auch eine Frau dabei ist.« Gylfi stimmte ihm zu.
»Gibt es noch weitere Fragen?« Allgemeines Kopfschütteln. Sein Blick wanderte über das Team, natürlich nicht ohne das obligatorische Nicken. Dann klatschte er in die Hände und beendete das Meeting.
»Gutes Gelingen«, sagte die Polizeipräsidentin, als sich die Versammlung auflöste.
8
Sergei freute sich über das Abendessen, obwohl Elín sich keine große Mühe mit dem Kochen gegeben hatte. Sie hatte einfach nur eine Art Pesto aus dem zusammengemixt, was sie im Kühlschrank gefunden hatte, und über die Nudeln gekippt. Ihr Streit war beigelegt. Er war nach Hause gekommen und hatte sie in den Arm genommen und lange an sich gedrückt, und sie hatte ihm eine Entschuldigung ins Ohr geflüstert. Damit war die Sache vergessen. Ihm war schon nicht mehr anzumerken, dass überhaupt etwas gewesen war, doch sie fühlte sich immer noch elend, und hin und wieder flatterten ihre Nerven wie bei einem Nachbeben.
»Vorhin hat Papa angerufen«, sagte sie. Sergei blickte auf. Er kaute langsam auf seinem Bissen herum, während er sie forschend ansah.
»Und was wollte er?«, fragte er, nachdem er geschluckt hatte. Elín hoffte, dass nicht gleich die nächste Verstimmung aufkam, aber sie wollte diese Sache schnell hinter sich bringen. Immerhin konnte sie ihren Vater vorschieben, denn wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie schon ähnliche Sorgen gehabt wie er.
»Er sagt, dass wir einen Ehevertrag brauchen, wenn wir heiraten«, antwortete sie, ungewohnt leise. Sergei brummte etwas Unverständliches, dann schob er sich die nächste Gabel Nudeln in den Mund und kaute seelenruhig. »Da hat Papa natürlich ein bisschen mitzureden«, fuhr Elín fort. »Denn er hat mir ja schon mein Erbe ausgezahlt, wovon ich die Mietwohnung und dieses Haus hier finanzieren konnte.« Sergei nickte und aß weiter, und kurz dachte Elín, dass er vielleicht tatsächlich einverstanden war. Dass er darüber nachgedacht hatte und einen Ehevertrag vernünftig fand. Es als gerecht ansah. Denn diese Ehe sollte natürlich für sie beide eine faire Sache sein. Sie musste ihren Besitz abgesichert wissen, und er brauchte die Aufenthaltsgenehmigung.
»Darling«, sagte Sergei, wischte sich den Mund mit einem Küchenpapier ab und streckte die Hand nach ihr aus. Sie legte ihre Hand in seine, und es durchströmte sie wohlig, als er ihre Finger umschloss und sanft knetete. Er war immer so warm. Als bullerte in ihm eine Heizung, die nie ausging. »Babe. Die Leute checken das mit dem Altersunterschied einfach nicht«, sagte er und sah sie nun direkt an, sah ihr so tief in die Augen, dass sie das Gefühl hatte zu schmelzen. »Die Leute haben Vorurteile, da ist dein Vater keine Ausnahme. Die begreifen einfach nicht, wie eine mittelalte, mollige Frau wie du sich einen so coolen Typen wie mich angeln kann.« Das schmerzte ein wenig, aber diese Wortwahl war typisch für Sergei. Er feilte nicht an den Wörtern, was zu einem gewissen Teil sicher daran lag, dass seine Englischkenntnisse weder Schnörkel noch Süßholzgeraspel zuließen. Und irgendwie war es auch angenehm, dass er unumwunden sagte, was er meinte, und nicht wie die Katze um den heißen Brei schlich. Außerdem wusste Elín, dass er recht hatte. Den Leuten war ihre Beziehung wirklich suspekt. In Geschäften und im Kino wurden Sergei und sie angestarrt, selbst draußen auf der Straße, und wenn sie irgendwelchen Bekannten begegneten, brachten die kaum mehr ein Wort heraus. Die russischen Freunde von Sergei waren da deutlich toleranter. Jedenfalls die beiden, die sie kennengelernt hatte. Sie kamen manchmal auf ein Bier zu Sergei und verhielten sich ihr gegenüber immer ausgenommen höflich und freundlich.
»Ich liebe dich, und du liebst mich, mehr gibt es nicht zu sagen. Ruf morgen auf dem Amt an und mach einen Termin aus, Babe, okay?« Elín nickte, vermutlich etwas zu zögerlich, denn Sergei fügte hinzu: »Es kann dauern, bis wir einen Termin kriegen, aber ich brauche die Aufenthaltsgenehmigung, damit ich endlich anfangen kann, richtig zu arbeiten. Dann musst du nicht mehr allein für uns sorgen. Come on, Babe, sei ein braves Mädchen und tu, was Sergei sagt.« Er zwinkerte ihr zu und grinste breit, und Elín musste losprusten. Sergei nutzte die Gelegenheit und stand auf und umarmte sie, schmiegte sein Gesicht an ihren Hals und kitzelte sie mit seinen Lippen, und sie quiekte und kicherte, als er sie zum Bett trug.
9
Wie manchmal gegen Mitternacht öffnete Daníel die Tür zum Garten und lief barfuß über den gefrorenen, knisternden Rasen zu Lady Gúgúlús Garage. Seine Schlaflosigkeit schien sich mit der Schlafroutine der Queen synchronisiert zu haben, die in der ersten Nachthälfte für gewöhnlich in Hochform war.
»Ich hab was mitgebracht«, sagte er und suchte vergeblich nach einem freien Fleck auf dem Tisch, um das Bier abzustellen. Schließlich rupfte er sich eine Dose aus dem Sixpack und gab Lady Gúgúlú die übrigen fünf. Lady tat es ihm nach und ließ den Rest in dem kleinen Kühlschrank unter ihrem Tisch verschwinden. »Was nähst du?«, fragte Daníel und setzte sich. Normalerweise interessierte er sich nicht fürs Schneidern, aber heute war er bereit, sich alles Mögliche anzuhören, solange es ihn von der verängstigten Frau und der riesigen Aufgabe ablenkte, die vor ihm lag.