Blutroter Champagner - Carlo Feber - E-Book

Blutroter Champagner E-Book

Carlo Feber

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Beschreibung

Ex-Kommissar Cédric Bresson, einst die »beste Spürnase von Paris«, hat es zu einem beinahe ebenso guten Champagnerwinzer gebracht. Bei einem Empfang des Reben- und Rosenzüchters Bernard Grandjean wird Cédrics erster eigener Rosé gereicht - und dem Neu-Winzer gelingt es sogar, vor der versammelten haute volée von Lézy-le-Sec eine 2,20 Meter hohe Champagnerpyramide aufzugießen. Selbst sein skeptischer Schwiegervater ist beeindruckt! Zu später Stunde gellt ein Schrei durch den Festsaal: Der Gastgeber liegt tot im »Liebesnest«, wo er seine Rosensorten kreuzte. Allem Anschein nach mit einer künstlichen Ranke erdrosselt, zudem ragt eine goldene Rose aus seiner Kehle. Auch Staatssekretär Theuilly-Bazet ist unter den Gästen - und ordnet an, dass Cédric die Ermittlungen übernimmt. Mit der Hilfe seines Teams von der örtlichen Polizei, aber auch der ehemaligen Filmdiva Viviane deckt Cédric geheime Rivalitäten zwischen Rosenliebhabern und Champagnerveredlern auf. Auf dem Dorffest in Lézy werden plötzlich die Karten neu gemischt, im wahrsten Sinne des Wortes: Pique Dame erscheint persönlich - aber wer wäre Cédric, sich von einem Verbrecher an der Nase herumführen zu lassen?

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Carlo Feber

Blutroter Champagner

Cédric Bressons zweiter Fall

Roman

Kampa

1

»Et voilà – die Champagnerpyramide!«

Zweihundertundvier aufeinandergestellte Kristallschalen glitzerten in der Rotunde. Cédric drehte auf das Stichwort des Gastgebers hin die Halogenbeleuchtung im quadratischen Podest auf. Das Licht schoss hoch, explodierte geradezu im Glas. Winzige Lichtpunkte tanzten in allen Farben durch die geometrische Form.

»Überirdisch«, flüsterte eine Frauenstimme.

Schweißtreibend traf es besser. Für Cédric war die Pyramide harte Arbeit gewesen. Er griff zur ersten Champagnerflasche im Eiskühler auf dem Serviertisch.

Zusammen mit seinem Schwiegervater hatte er acht mal acht Kristallgläser an der Pyramidenbasis ausgerichtet, mit Wasserwaage und Lineal, sonst wäre das Bauwerk schief und instabil geworden. Darauf hatten sie sieben mal sieben, sechs mal sechs und so weiter Kristallschalen so aneinandergestellt, dass eine Stufe jeweils halb unter der darüberliegenden hervorragte.

Erwartungsvolles Schweigen hatte sich über den Raum gelegt. Alle hatten nur noch Augen für das eine Glas ganz oben, über das Cédric nun die Pyramide befüllen musste.

Auch Gastgeber Bernard Grandjean, der seine Rosenneuzüchtung feierte, war darunter. Dessen Gesicht und die grauweiße Lockenpracht wurden vom lichtsprühenden Kristall ausgeleuchtet wie ein Königsgemälde im Louvre.

Cédric knipste ein Lächeln an, wie es ihm seine Frau Maryse geraten hatte. So ein gespielt scheues wie bei unserem ersten Sonnenuntergang an der Sacré-Cœur, als du mich doch noch geküsst hast.

Aber anders als in Liebesdingen war Cédric diesmal wirklich unerfahren. Überdies hatte der Rosenzüchter bei der Kristallpyramide auf einem klassischen Aufbau bestanden. Lézy-le-Sec liegt in der Champagne, wir stehen noch für Handwerk und Tradition! Wenn er, Bernard Grandjean, weitbekannter Rebenveredler und eingeschworener Rosenverehrer, seine neueste Züchtung präsentierte, gäbe es keine Tricks, die Pyramide mit dünnen Plexiglasplatten zu stabilisieren, wie bei billigen Hochzeitsfeiern.

Der Gastgeber konnte es sich leisten, dass für die Kaskade nun sehr viel Rosé-Champagner fließen würde.

Cédric drehte die Flasche mit der Linken ganz langsam, bis es zischte. Mit dem rechten Daumen hielt er den freigelegten Korken fest darauf, zählte bis vier. Das reichte, damit der Schaum nicht herausschoss. Diese erste zu öffnen war der leichteste Teil der Präsentation. Cédric hob den Fuß auf die dreistufige Trittleiter.

Dass das Aufgießen einer Champagnerpyramide dieser Größe Übung brauchte, hatte sogar sein Schwiegervater Paul zugegeben. Hätte Cédric doch gleich auf ihn gehört, statt sich im Netz schlauzumachen, dann hätte er das Video nicht gesehen, das ihn von da an bis in den Schlaf verfolgt hatte: Beim Empfang einer russischen Bank vertat sich der Kellner mit dem schäumenden Strahl nur um ein paar Grad im Eingießwinkel – wodurch das erste Glas kippelte. Schale für Schale, Schicht für Schicht sackte die ganze Pyramide in sich zusammen.

Langsam zog Cédric den anderen Fuß auf die Trittleiter nach. Draußen verblasste das Abendlicht, weshalb ihn das Halogen aus dem Podestboden viel stärker blendete als bei seinen Übungsaufbauten in der Versandhalle.

Noch eine Stufe auf dem Tritt. Cédric hatte nicht bedacht, wie sehr ihn der intensive Rosenduft in der Rotunde benebeln würde. Alle Fenster waren mit Girlanden geschmückt, in die rotgoldene Blüten eingeflochten waren. Cédrics sehr gute Nase konnte Fluch wie Segen sein. Er roch es genau: So seltsam es war, der Duft seines ersten selbst komponierten Champagner Rosé glich tatsächlich dem der neu gezüchteten Rose. Und weil Gastgeber Bernard Grandjean ein alter Freund seines Schwiegervaters war, hatte der das bei der Verköstigung im kleinen Kreis sofort bemerkt und Champagnes Cherriot-Bresson für die Präsentation gebucht.

Cédric mochte es nicht, wenn er den Kontakt zum Fußboden verlor. Türme, Aussichtsplattformen mied er. Leider galten die Gesetze der Physik: Jede Kaskade floss nur von oben nach unten. Cédric stellte sich auf die oberste Stufe der Trittleiter. Einmal mehr verfluchte er die Bande aus dem benachbarten Viertel, die ihn als Sechzehnjährigen beinahe vom Hochhaus in Sucy-en-Brie gestürzt hätte, in der Banlieue von Paris, wo er groß geworden war. Revierkämpfe aus einem anderen Leben, noch vor der Kriminalpolizei, die er ebenso vergessen wollte. Und vor allem, an die er jetzt überhaupt nicht denken sollte.

Cédric drückte den Rücken durch und gab Spannung in den Bauch, wie Schwiegervater gepredigt hatte. Er hielt den Rosé einhändig, den rechten Daumen im Flaschenboden, und führte ihn langsam in einem eleganten Bogen zu dem einen Glas ganz oben hin.

Aber ganz, ganz langsam gießen. Einfach ganz genau ins Zentrum des Glases. So hatte seine Frau ihn beruhigen wollen. Erst sanft wie dein Kuss am Morgen. Rosé perlte in die eine weiße Kristallschale, genau auf den glitzernden Punkt in der Mitte über dem Stiel.

Der Champagner schäumte auf. Dann leidenschaftlich wie bei Nacht … Cédric ließ seinen Rosé herausschießen, führte mit dem Flaschenhals einen Zirkel aus, damit der Champagner richtig schwappte bis über den Rand.

Ein spitzer Ton, leise …

O Gott! Noch ein Klirren, weiter unten?

Die Pyramide kippte aber nicht unter ihm weg. Cédric atmete mit spitzen Lippen aus. Die warmen Gläser hatten wohl nur geknackt, weil der eiskalte Champagner hineinstürzte.

Die zweite Stufe Kristallschalen lief voll. Cédric goss die Flasche ganz aus.

»Chéri, hier!« Maryse stand neben der Trittleiter.

Ihr herzförmiges Gesicht war dezent geschminkt. Sie hatte das lange Haar zu einem seitlichen Zopf gebändigt. Mit dunklen Jeans und weißer Bluse hatte sie sich ganz in die nette Winzerin von nebenan verwandelt. Cédric liebte diese Facette an ihr genauso wie die resoluten und zarten.

Mit nicht ganz spiegelbildlich geschwungenen Lippen, die er so gern küsste, lächelte sie nur für ihn. »Voilà.« Sie hob die nächste schon geöffnete Flasche zu ihm herauf und griff nach der ausgeleerten, als jonglierte sie elegant mit federleichten Bällen.

Für eine schöne Kaskade brauchten sie mindestens zehn davon. Cédric goss weiter.

Flasche für Flasche füllte sich die Pyramide. Aus seiner Position, von oben betrachtet, schwappten winzige roséfarbene Brunnenbecken über.

Wie sie wohl von der Seite aussah für die Gäste? Um sie herum war die Crème de la crème von Lézy-le-Sec versammelt.

Cédric spürte, wie sich seine Wangen zu einem Grinsen verschoben, das zu dem dummen Jungen gepasst hätte, der er einmal gewesen war. Dessen Horizont von der RER-Station mit Großmutters Kiosk kaum über die Pariser Ringautobahn hinausgereicht hatte.

Cédric schloss für einen Moment die Augen. Er schnupperte in der aufsteigenden kühlen Frische wieder den Blütentau einer sich öffnenden Rosenknospe. Von der Farbe her war sein Rosé nur ein wenig mehr dem Rot zugeneigt als die Rosen Grandjeans, mit deren Duft sich das Champagnerparfum im Raum gerade »vermählte«, wie man gern bei Verköstigungen sagte.

Aber hier unter ihm schäumte tatsächlich Lebensfreude pur über. Maryse hatte so recht gehabt. Nicht anders als Rosé absolu hatten sie ihn taufen können, seinen ersten Champagner, den er mit Schwiegervater zusammen hatte komponieren dürfen!

Und wieder war eine Flasche leer.

Ein jähes Kribbeln im Unterarm irritierte Cédric. Beinahe hätte er an der nächsten Flasche vorbeigegriffen, die Maryse heraufjonglierte. Dieses Gefühl hatte er damals als Kommissar gehabt, wenn ein wichtiges Detail nicht in sein Bewusstsein hatte vordringen können, weil er zu abgelenkt gewesen war.

Aber hier standen doch bloß die Gäste des Empfangs vor den großen Glasscheiben der Rotunde zum Garten hin. Und draußen in der Dämmerung schirmte die lange Rosenpergola den Parkplatz ab wie immer.

»C’est magnifique … superbe«, raunten die ersten Damen.

Seiner Trittleiter am nächsten stand an einem Stehtisch André Mancy, Inhaber der örtlichen Fayences Mancy, die Spezialkeramik für die europäische Weltraumrakete Ariane herstellten. Wie immer trug er eine auffallende Brille, ein Keramikgestell in Grün, der Firmenfarbe. Er applaudierte als Erster.

An seiner Seite nahm Viviane, die Patentante seiner Frau Maryse, den Impuls auf. Als ehemaliger Filmstar wusste sie, wie Applaus bei einer Soirée zu klingen hatte. Laut, lange, heftig. Viviane streckte die Arme vor und klatschte einen schnelleren Takt. »Großes Kino!« Ihre blonden Haare schwangen elegant um den faltenfreien Hals. Breite Armbänder schimmerten so rotgolden wie die Rosen, die Bernard Grandjean gezüchtet hatte. Vivianes perfekt sitzendes Kostüm war allerdings zitronengelb. Selbst mit wahrscheinlich neunundsechzig – ihr genaues Alter durfte niemand wissen – war ihre Figur noch die gleiche wie in den Filmen auf dem Höhepunkt ihres Ruhms im letzten Jahrhundert.

»Die Beleuchtung der Kaskade ist phantastisch. Bernard kann das einfach.«

Der Applaus wurde lauter. Das Ganze folgte der ungeschriebenen Hierarchie in Lézy: Tante Viviane setzte als reichste Frau der Gegend die Maßstäbe. Sie residierte im Schloss über den Hügeln; aber wichtiger war, dass ihr die besten Lagen bis hinter St. Félix gehörten.

Der massige Bürgermeister Blaque beeilte sich natürlich. Er richtete kurz den Sitz seines gut geschnittenen Jacketts, das besser nach Paris gepasst hätte. Wer zuerst das Wort ergriff, wäre todsicher auf den Fotos für die sozialen Medien.

»Mon cher ami, einfach großzügig wie immer, bravo!«

»Ich möchte lieber hören, was du erst sagst, wenn du ihn probiert hast.« Bernard Grandjean schüttelte seine grauweiße Löwenmähne und sah herauf. »Cédric, kipp noch eine drauf, dann serviere ich!«

In Wirklichkeit würde Bertrand nur die ersten coupes reichen, danach würden Maryse und Cédric mit Tabletts herumgehen.

Eigentlich waren flache Schalen bei Kennerinnen und Kennern verpönt, weil auf dem breiten Flüssigkeitsspiegel Aroma und Perlung so schnell verloren gingen. Aber bei einer Pyramide wie dieser machten alle gern eine Ausnahme. Danach würde man nur in der klassischen flûte anbieten – dazu hatte Grandjean klare Ansagen gemacht.

Gastgeber Grandjean verneigte sich vor seinen Gästen wie der altersschwere Depardieu, mit dem er die etwas aus der Form geratene Figur teilte, dabei war er erst achtundfünfzig. »Ihr wisst, dass Rosen meine Passion sind. Und weil ich so anspruchsvoll bin und unbedingt die alte Rose Thibauts des Vierten, des Grafen der Champagne, als gefüllte Variante pflücken wollte, und auch noch in der Farbe Rotgold, musste ich sie eben züchten.«

Manche nannten ihn spaßeshalber Lézys Rosenpapst.

Grandjean drehte sich um seine Achse und wies auf die vielen Gestecke auf den Tischen und die rotgoldenen Blüten in den Girlanden um die großen Fensterflächen. »Wie heißt es so schön? ›Pflücke die Rose und sorge dich nicht um dein Schicksal.‹« Er nickte, die Hand am Doppelkinn. »Hätte von mir sein können.«

Die Gäste lachten brav. Cédric zog die letzte Flasche in elegantem Bogen zurück.

Maryse strich über den im braunen Band gebändigten Zopf. »Chéri, die ersten coupes, bitte. Oben das erste und …«

»Ich weiß, immer diagonal von den Ecken her abbauen.«

Das oberste Glas war noch immer sehr kalt, aber natürlich auch gefährlich nass. Mach eine Kralle. Er hob es, wie Schwiegervater Paul gesagt hatte, vorsichtig senkrecht nach oben ab.

Geschafft.

Unter der weißgrauen Lockenpracht leuchteten Grandjeans kluge blaue Augen, als Cédric es ihm hinabreichte.

Ganz in Wallung ging der Rosenzüchter mit dem Glas in großem Bogen vor seinen Gästen her, fast um die ganze Pyramide herum.

Die Rotunde war an das Garteneck des Haupthauses angebaut worden. Sie reichte vom Parkplatz herum zur Gartenseite, wo sich die Hanglinie entlang noch fünf Gewächshäuser anschlossen. Drei Viertel des Kreisbogens nahmen große Fenster ein, die einen Blick über den Garten, den Hang hinab und auf die Weinberge von Lézy und Daverny eröffneten.

Das letzte Viertel der Rotunde nahm eine Wand ein, vor der ihr Serviertisch stand. Dahinter lag der Flur zum Toilettentrakt.

Grandjean schwenkte die volle coupe, ein paar Tropfen flogen auf seinen weißen Hemdsärmel: »Den Spruch mit den Dornen, ohne die es keine Rose gibt … kennt ihr bestimmt. Haltet euch besser an die schlauen alten Chinesen.« Er wies auf das große Gesteck neben dem Durchgang. »›Rosen haben nur Dornen für die, die sie pflücken wollen.‹ Meine Rosen sehen zwar aus wie aus massivem Rotgold, aber sie haben zarte empfindliche Blüten. Lasst also schön die Finger bei euch, ja? Sonst fließt heute noch Blut!«

Léonore Voissinet stand dem Gastgeber am nächsten. Sie trug ein zu geschäftlich wirkendes Kostüm. Sie war beruflich ebenfalls mit Rosen befasst. Ihr Teint war sonnengebräunt.

Ihr aber reichte Grandjean die erste coupe nicht.

Stattdessen drehte Grandjean seine füllige Figur weiter wie ein eleganter Musketier, der statt eines Glases einen Fechtdegen führte, und reichte die erste Schale schließlich doch Bürgermeister Blaque, weil Viviane zu weit weg stand.

Wieder die stillschweigend akzeptierte Hierarchie von Lézy also … Cédric nahm über Eck zwei der vier Gläser der nächsten Ebene und stieg rückwärts von der Trittleiter.

Kaum spürte er wieder festen Boden unter den Sohlen, seufzte er leise. Nirgendwo gab es Champagnerpfützen, in denen Scherben schwammen wie in dem russischen Video.

Blaque zelebrierte sich als Kenner und hielt die Nase lange über den Champagner.

Grandjean wartete aber nicht auf dessen Urteil. »Madame Lemonnier, Monsieur Mancy. Und für dich Sandrine, voilà.«

Der Gastgeber kehrte für weitere Schalen zu Cédric und der Pyramide zurück und setzte die Runde unter seinen Gästen fort.

»Wer hat noch nicht? Ah, wie konnte ich dich übersehen, mein Bester? – Mais oui! Die Girlanden sind auch eine handwerkliche Tradition, ja, ja … Ach, Marie-Antoinette ist nicht an allem schuld. Madame Pompadour steckt dahinter … Glaubst du nicht? Schau’s nach im Netz. – Monsieur …«

Grandjean versorgte seine weiteren Gäste, die jetzt an ihm vorbeidefilierten. Die üblichen Gesichter aus Lézy.

»Die Rose ist so prachtvoll.« – »Es hat mich so berührt, dass du sie nach deiner Frau benannt hast.«

»Sie fehlt mir jeden Tag mehr.« Grandjean breitete die Arme aus. »Aber sie hätte als gute Französin gewollt, dass wir das Leben lieben.«

Die volle Stimme Grandjeans schwankte ein wenig. Cédric fühlte schon wieder das Kribbeln im Unterarm. Aber dass sein Gastgeber den tragischen Tod seiner Frau betrauerte, war eigentlich normal. Cédric ärgerte sich, schon lange wollte er nicht mehr wie ein Kommissar reagieren. Zumal heute Abend sein erster Rosé öffentlich präsentiert wurde und er jetzt wirklich Winzer war.

»Bien sûr, wir alle vermissen Madame Mô.« – »Ohne sie wäre ich meinen Ischias nie losgeworden, sie hatte Zauberhände.« – »Ohne die Alt-Stimme Ihrer Frau ist der Kirchenchor ehrlich gesagt … Der Pfarrer ist ja nicht hier …«

Cédric hörte nicht weiter hin, weil Grandjean sich mit seinen Gästen durch die Rotunde treiben ließ und er mit vollen Schalen hinterherflitzen musste.

 

Cédric war bei Ebene fünf, als Grandjean mit zwei coupes gleichzeitig nach vorn zu einem Stehtisch zeigte. »Alle sind versorgt. Bis auf die drei Männer da hinten.«

Keine Lézyois. Und gleich drei davon. Cédric kannte keinen von ihnen. Wie seltsam an solch einem Abend. Zwei waren im Alter des Gastgebers Mitte fünfzig, einer eher Ende dreißig.

»Die Herren sind in meinem Kurs Historisches Handwerk ›Wein machen wie früher‹, der gerade läuft«, sagte Grandjean. »Wir haben sogar schon den Pinot-Schnitt durchgenommen.«

Cédric hatte keine Ahnung, was Grandjean meinte. Hauptberuflich veredelte der Rosenzüchter als Inhaber einer Pflanzenschule im großen Stil Setzlinge für Champagner-Rebsorten. Seit der Reblauskrise in den 1890er Jahren wurden auf amerikanische Reben die Triebe zugelassener Sorten in speziellen Verfahren aufgepfropft. Im Entrée der Firma, durch das man die Rotunde betrat, lief eine digitale Präsentation in einer stummen Endlosschleife.

»Deinen genialen Rosé kann man nicht oft genug probieren.« Grandjean nahm ihm ein volles Glas vom Tablett.

Cédric hatte wirklich Grund, ein bisschen stolz zu sein – als Anfänger der Kellereimagie. »Merci, merci. Ohne Schwiegervater …«

»Ach, was. Paul hat mir gestanden, dass ohne deine Spürnase bei Cherriot-Bresson nichts mehr geht.« Grandjean zwinkerte, drehte sich weg und trudelte mit vollen Gläsern aus der Rotunde.

»Na, Messieurs, gleich wissen Sie wieder, warum Sie sich mit Pfropfmesser und Bindewachs so abmühen sollen!«, rief Grandjean auf der Gartentreppe.

Cédric beeilte sich. Maryse zeigte schon auf die Tabletts mit den flûtes, die sie für die zweite Runde aufgegossen hatte. Cédric hörte es zwar gern, aber so richtig glaubte er dem Rosenzüchter nicht, was sein eitler Schwiegervater von sich gegeben haben sollte. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte der Cédric überhaupt nicht abgenommen, dass er wirklich bei der Kriminalpolizei aussteigen und Winzer werden wolle. Je mehr Cédric inzwischen von der Vielfalt der Aufgaben im Weinberg und im Keller begriff, desto mehr verzieh er das. Ein von der École Nationale Supérieure de la Police – der nationalen Polizeihochschule – diplomierter Kriminalkommissar war wirklich nicht der Traumschwiegersohn für einen bodenständigen Winzer wie Paul Cherriot. Für ein Weingut schien solch einer noch unbrauchbarer als selbst ein Einheimischer ohne Geld und Rebhänge.

Aber eine Amour fou war immer stärker als die Welt, die sich gegen sie verschwor.

Maryse verteilte am Serviertisch die Häppchen mit einer Geschwindigkeit, die nur viel Übung verlieh. Cédric würde auch das noch lernen. Maryse hatte er wirklich für eine Neo-Punk-Rocksängerin gehalten bei ihrer ersten Begegnung in einem Club, wo sie mit Lederjacke herb aufgestylt mit Freundinnen abgefeiert hatte. Und noch weniger hatte Cédric damals geahnt, dass er wirklich glücklich sein würde, wenn er morgens um sieben in einem Weinberg wie ein Lehrling Reben schnitt. Es tat ihm noch immer keinen Funken leid, dass er für Maryse seine Blitzkarriere als beste Spürnase der Pariser Kriminalpolizei aufgegeben hatte. Samt aller Privilegien des Beamtenstatus.

Manche der Gäste wie das Apothekerpaar Signoret, beide so schlank und rank wie Models in einer Bio-Vitamin-Werbung für die Generation sechzig plus, hielten ihre Kristallschalen sogar neben die Rosengestecke. Sie steckten die silbergrauen Köpfe tuschelnd zusammen.

»Grandjean hat mir verraten, als er gestern sein übliches Päckchen geholt hat, dass er die Macarons für heute Abend mit Rosenwasser hat parfümieren lassen, das er extra aus diesen Blüten destilliert hat.«

»Quatsch. So viele davon hat er doch noch gar nicht großziehen können. Du darfst Bernard Grandjean nicht alles glauben. Der nimmt gern Leute auf die Schippe.«

»Er lässt aber gerade eine alte Destille mit den fünf Rohren restaurieren. Das weiß ich vom Restaurator selbst.«

»Und wo kriegt Grandjean dafür die riesigen Glasballons her? Bestimmt nicht im nächsten Supermarkt.«

»Der Hausherr kennt Gott und die Welt in der Bewegung ›Schützt unser altes Handwerk‹. Bestimmt auch Glasbläser.«

Cédric kam mit seinem Tablett einfach nicht an ihnen vorbei.

»Der kennt noch ganz andere Leute. Früher soll er ganz schön halbseiden gewesen sein.«

»Du kannst unseren Gastgeber einfach nicht leiden, Marion. Aber seiner Einladung folgst du.«

»Ich wollte einfach selber sehen, ob er … Ach, Bonsoir Monsieur Bresson. Gratuliere, Ihr Schwiegervater hat sich selbst übertroffen!«

Mit Cédrics Hilfe. »Ich werde es ausrichten, Madame Signoret. Darf ich?« Er nahm ihnen die beiden geleerten Schalen ab und stellte sie auf sein Serviertablett.

»Merci.«

Drei Jahre nach der Hochzeit mit Maryse war Cédric in der Kellerarbeit schon so weit, dass er ein Gefühl für die Geheimnisse der Assemblage, dem Zusammenfügen der Basisweine vor der zweiten Gärung in der Flasche, gewonnen hatte. Nur mit den Erdarbeiten im Weinberg haperte es noch. Da half auch seine Nase nichts – die Erde roch zwar unterschiedlich, mal mehr sandig wie am Strand, mal mehr nach Winterschlamm, aber das verriet Cédric gar nichts über die Pflege der Bodenmikroben oder die richtige Dosierung des Düngers. Deshalb hatte Cédric noch den Abendkurs für die Zusatzausbildung an der Abendschule des Avize Viti Campus auf sich genommen. An die Prüfung morgen wollte er lieber nicht denken. Richtig vorbereitet ging anders.

Zurück am Serviertisch öffnete Maryse in einer Geschwindigkeit, die er nur bewundern konnte, neue Flaschen.

»Die Mütter«, sie blickte kurz hinaus zu den Damen aus Lézy, die sich am Gartenbecken um Grandjean geschart hatten, »fragen alle, ob Luise und Constantin gut versorgt seien. ›Wie alt sind Ihre Zwillinge denn jetzt? Ach, schon siebzehn Monate‹.« Maryse platzierte ohne hinzuschauen die Flaschen im Kühler.

Cédric machte zwei Schritt auf sie zu, beugte sich vor und stupste mit seiner Stirn auf die kleine Falte zwischen ihren Augenbrauen. »›Wie die Zeit vergeht, ja, ja … Zahnen sie schon?‹, hörst du wahrscheinlich auch«, flüsterte er. »Wenn es dich beruhigt, chérie, sie fragen mich das auch.«

»Sie sind nur neidisch, dass wir den besten Betreuer gleich in der Familie haben. Weil mein Vater seinen Enkeln einfach gern die Äpfel mundgerecht schneidet, Tee fünfmal umgießt, bis er für Luise trinkbar ist, oder Constantin die Wuttränen abwischt, wenn er das größte Stückchen nicht gleich kriegt. Was grinst du so frech?«

»Von wem Constantin diese Ungeduld wohl hat?«

»Wenigstens hat er deine schönen schwarzen Locken.« Sie wuschelte ihm über den Kopf.

Seit es die beiden Enkel auf Erden gab, war Cédrics Schwiegervater wirklich ein anderer Mensch – zumindest zu Hause. Er schimpfte kaum noch, wenn Cédric an der Mostpresse Fehler machte oder im Weinberg die Erde zu tief umzackerte. »Wir können ihm wirklich dankbar sein. Ohne ihn würden wir das alles kaum schaffen.« Cédric tippte noch mal mit der Stirn gegen Maryses.

»Ach was.« Sie packte leere Flaschen unter den Serviertisch. »In Wirklichkeit tun wir ihm einen Gefallen. Papa hat solche Veranstaltungen nie gern gemacht.« Maryse blickte durch die Rotunde.

Cédric glaubte eher, dass sein Schwiegervater einfach glücklich war, dass es nach ihm nicht nur eine, sondern bestimmt noch zwei Generationen Champagnes Cherriot-Bresson geben würde. Wer so viel arbeitete, wollte wissen, wofür.

»Nimm eins.« Maryse reichte ihm ein Canapé mit Käse.

Die kurze Pause täte gut. Er wurde die Anspannung nicht los, dabei war die Pyramide doch überstanden.

Maryse zupfte das braune Band zurecht, das den Zopf auf ihrer Schulter zusammenhielt. »Ich bin schon zwölf Karten mit dem Barcode losgeworden, der direkt auf die Bestellseite führt«, nuschelte Maryse mit halb vollem Mund.

Cédric hob den Daumen. Sie krempelte gerade die Vertriebsstrategie um.

An den Stehtischen wurde laut gelacht. Die strenge Léonore Voissinet wanderte von Tisch zu Tisch, ebenso Bürgermeister Blaque, nur in entgegengesetzter Richtung. Auch Grandjean blieb mal hier, mal dort auf ein Wort, trank aber als Gastgeber vernünftigerweise wenig.

»Auch eins?« Cédric schenkte sich ein Mineralwasser ein. Nüchtern bleiben war eine der goldenen Regeln bei solchen Empfängen.

»Ganz voll.« Maryse hielt ihm einfach ihr Glas hin. »Serviere bitte erst die salzigen Pasteten. Sonst sind die Leute zu schnell betrunken.«

Umsatz ging vor, immer. Die Konkurrenz war groß. Champagner war ein hartes Geschäft.

2

Die Poesie des Augenblicks war längst verflogen, als Cédric wieder die Rotunde betrat: Reste von Schaum zerfielen in den wenigen verbliebenen Schalen. Ein paar Damen und Herren von der örtlichen Verwaltung winkten beim Durchgang zum Entrée schon Adieu.

Ein Mann lachte wie ein Tenor, der zu viel rauchte.

Cédric erschrak. Sein Polizistengedächtnis mit diesem vermaledeiten Sinn für Details, für den er bei den Pariser Kollegen so berühmt wie beneidet gewesen war, identifizierte sofort die Stimme, bevor er sie dem Mann hinter dem Podest zuordnete: Es war tatsächlich Staatssekretär Theuilly-Bazet aus dem Innenministerium. Schon wieder jemand, der nicht zur Abendgesellschaft passte.

Niemand anderes als dieser hatte Cédric vor knapp zwei Jahren in Ermittlungen gezwungen, als der Präsident der Vigne d’Or in Lézy tot aufgefunden worden war. Daher rührte also das Kribbeln im Unterarm. Er musste sich später unter die Gäste gemischt haben.

»Was will der hier?«, entglitt es Cédric halblaut.

Natürlich trug Theuilly-Bazet einen auffällig gut sitzenden Anzug, der seine Tennisspieler-Figur zur Geltung brachte. Und natürlich war der faltige Teint des Staatssekretärs nicht besser geworden. Starkes Rauchen behielt seinen Preis.

»Ich habe keine Ahnung«, flüsterte Maryse, die ihm gefolgt war und Blätterteigtäschchen auf ein Tablett sortierte. »Trotzdem: Immer schön lächeln.«

Cédric gab sich Mühe, spürte aber, wie seine Wangen Widerstand leisteten gegen das freundliche Wir-sind-immer-für-Sie-da-Gesicht, das Maryse ihm für Präsentationen oder Kundengespräche vorm Badezimmerspiegel antrainiert hatte.

»Was macht einer vom Range Theuilly-Bazets an einem Donnerstagabend in einem kleinen Ort wie Lézy-le-Sec?«, flüsterte er. Diese Verkaufsrotunde der Pflanzenschule Grandjean hatte gar nichts gemein mit den eleganten Pariser Salons. Hier war ein Staatssekretär fehl am Platz. Dazu war alles zu bodenständig dekoriert: Blumengirlanden im Stil des vorletzten Jahrhunderts samt einer Champagnerpyramide mit Halogenlicht? Hier gab es niemanden, den man wegen Staatsangelegenheiten hofieren müsste. Cédric hatte als Jungkommissar in Paris die dunkle, korrupte Seite der Großbourgeoisie gut genug kennengelernt, um die grüne, offene Seite der Menschen in der Champagne herzlich zu lieben.

Maryse nickte mit dem Lächeln eines Profis in die Rotunde. »Scha-aatz«, flüsterte sie, »Grandjean schaut schon kritisch. Raus mit dem Nachschub.«

Cédric gehorchte. Denn so hatten sie es vereinbart: In der Kellerei würde er irgendwann von Schwiegervater das Zepter übernehmen, beim Vertrieb, Marketing und allem, was dazugehörte, hatte Maryse die Hosen an. Über Geld und die Erziehung der Zwillinge entschieden sie gemeinsam.

Cédric peilte das vornehme Grüppchen an.

Dieses hohe Tier aus dem Innenministerium hatte ihnen hoch und heilig versprochen, dass Cédric nie wieder ermitteln müsste. So erfolgreich er auch im Fall des toten Champagner-Präsidenten gewesen war, die dauerhafte Suspendierung war amtlich.

Cédric zwang seine Wangen wenige Millimeter weiter hoch, damit sie wie ganz entspannt wirkten. »Messieurs, Viviane.« Cédric hob das Tablett in Griffhöhe. »Ein paar Häppchen?«

Sogar Mancys Ehering war wie die Brille in grüner Keramik gefasst. Das war Cédric gar nicht aufgefallen, als er vor knapp zwei Jahren in der Firma ermittelt hatte.

»Ihr Staatssekretär ist extra für unsere morgige Aufsichtsratssitzung angereist.«

Ihre Regeln für Freundlichkeit galten nur für Kunden, die man anwerben oder behalten wollte. Theuilly-Bazet war weder das eine noch das andere. Cédric hielt den Herren das volle Tablett hin. »Mein ehemaliger Staatssekretär ist korrekt.«

Der Inhaber von Fayences Mancy nahm eine mit Speck umwickelte Pflaume, die ihm eine Antwort ersparte.

Theuilly-Bazet umfing seine verschränkten Ellenbogen mit den Händen. »Sie scheinen sehr sicher, dass Sie hier am richtigen Platz sind, Commissaire Bresson. Der Rang steht Ihnen noch zu.«

»Tatsächlich?« Viviane griff nach einem Lachsschiffchen aus Blätterteig. Das Hüpfen des Schönheitsflecks auf ihrer rechten Wange verriet, dass es sie königlich amüsierte. Gerade weil Cédric sich in der Rolle des einfachen Kellners abmühte.

Cédric war inzwischen in die Familiengeheimnisse eingeweiht, denn eigentlich war Viviane die uneheliche Schwester von Maryses Mutter. Als Patentante seiner Frau hatte sie ihren Widerstand gegen Cédric längst aufgegeben, seit sie zusammen den Mörder des Champagner-Präsidenten enttarnt hatten. Inzwischen besuchten Maryse, die Zwillinge und Cédric Viviane öfter auf ihrem Schloss, wo man so herrlich über Lézy-le-Sec und das Flüsschen schauen konnte.

»Überzeugen Sie sich doch selbst mit einem Gläschen meines Rosé absolu, ob es sich gelohnt hat, dass ich das Metier gewechselt habe.«

»Dieser außerordentlich ausgewogen tiefgestaffelte Rosé ist wirklich von Ihnen komponiert, Bresson?«

Wenn man in einer Brennpunkt-Banlieue großwurde, lernte man, mit dem Körper zu sprechen. Cédric legte den Kopf schräg, schob das Kinn vor und hob die Augenbrauen kurz, aber kräftig so weit hoch als möglich: Was denkst du denn, Großer?, sollte das heißen.

Theuilly-Bazet löste langsam die Hände von den Ellenbogen, hob die Zeigefinger wie eine Verkehrsschranke und führte sie neben seine Ohren. Das hieß: Ach Kleiner. »Ich denke, dass Sie ihn sec dosiert haben und dass dies das eigentliche Geheimnis des breiten Geschmacksbouquets ist.«

Der Süßegrad wurde selten gewählt, obwohl er nur siebzehn bis maximal zweiunddreißig Gramm Zucker auf den Liter erlaubte, also kaum mehr als die gängige Stufe brut bis zwölf. »Die Idee dazu hatte mein Schwiegervater. Sie haben recht. Ein bisschen mehr Zucker trägt das Aroma besser.«

Jeden anderen hätte Cédric dafür umarmt. Wer so viele Stunden mit Geschmacksproben verbrachte, hoffte auf Zungen, die die ganze Arbeit im Weinberg und im Keller zu würdigen vermochten.

Gastgeber Grandjean streifte mit dem Uhrarmband Cédrics Handrücken und stibitzte eine Tartelette mit Hummercrème. »Am besten ordern Sie gleich ein paar Kisten für Ihre Empfänge im Matignon, oder wo sitzt noch mal das Innenministerium in Paris?«

»Im Hôtel de Beauvau«, sagte Theuilly-Bazet.

»Bald bekommen Sie ihn vielleicht nur noch zusammen mit meiner Rose im Doppelpack«, sagte Grandjean. »Das könnten wir doch ausprobieren, oder was meinst du, Cédric?«

»Dafür ist Maryse zuständig.«

Viviane lachte gutmütig und räumte die beiden letzten Häppchen ab.

Cédric ließ das Tablett sinken. Er nutzte lieber die Gelegenheit zu entkommen.

»Ich glaube, da möchte jemand etwas von Ihnen, Monsieur Grandjean.« Theuilly-Bazets kratzige Raucherstimme konnte die Ironie nicht ganz verbergen.

Die Innenarchitektin Sandrine Clément pirschte sich zwischen Pyramide und Apotheker-Ehepaar heran. Wobei heranwogen es besser beschrieb. Sie war groß, üppig gerundet wie das Steinfigürchen einer archaischen Muttergöttin und konnte sich mit Stoffen, Schmuck und wechselnden Hochsteckfrisuren so souverän inszenieren wie keine andere in Lézy-le-Sec.

Cédric machte ihr Platz und kehrte zu Maryse die paar Schritte hinter den Serviertisch zurück.

»Halt, du edler Ritter!«

Grandjean machte sich steif und hob den rechten Arm wie einen Schild. Er schüttelte die grausilberne Lockenpracht. »Mich kannst du nicht meinen, o edle Herrin.«

Bei jedem Empfang erschien Sandrine anders und wurde nicht zuletzt deshalb gern eingeladen. Ihr Repertoire reichte von ethnischer Große-Muster-Mode à la Neuestes aus Dakar über riesige Hut-mit-Tüllaufbau-Kreationen à la Pferderennen von Longchamps bis hin zur schlichten geschäftsmäßigen Rock-mit-Halstuch-Uniform. Sie führte ein kleines feines Atelier in Lézy.

Cédric mochte die wollweiße Tunika mit den geometrischen Mäanderbändern an den Säumen, die sie trug. Das Gewand erinnerte ihn an eine Hohepriesterin aus Delphi, die gleich ein Orakel verkünden würde. Erst auf den zweiten Blick entdeckte er die feine goldene Kordel im braunen Haar. Die züngelte wie eine goldene Schlange auf ihrer Schulter. »Indem wir an die Rosen glauben, bringen wir sie zum Blühen.« Sandrine Clément breitete die Arme aus.

Auch die Lautstärke war bühnenreif. Die anderen Gäste an den Stehtischen hatten ihre Gespräche unterbrochen.

»Sie zitieren aus dem Theaterkurs letzten Sommer«, flüsterte Maryse. »Sie schafft es immer, dass sie nicht wie verkleidet aussieht, selbst mit so einer Tunika, sondern nur wie eine Sandrine, die man noch nicht kennt.«

Léonore Voissinet rückte von der Seite zu Cédric auf. »Steht in jeder zweiten Rosenbroschüre. Das Zitat stammt von Anatole France, nicht von ihr.«

»Tatsächlich?« Maryse reichte ihr ein Rosen-Macaron vom Desserttablett.

Grandjean wechselte mit wirbelnden Unterarmen von der Ritterpose zum Troubadour. »Um mehr Rosen zu ernten, reicht es, mehr Rosen zu pflanzen«, schmetterte er geradezu durch den Festsaal.

Léonore Voissinet rümpfte die Nase. »Ach Gott. Die arme George Eliot! Ob er überhaupt weiß, dass er bei einer englischen Schriftstellerin abkupfert?« Wieder wanderte ein Macaron zwischen die rosa geschminkten Lippen. »Nun, Grandjean klaut, wo er kann. Das wissen wir ja.«

Cédric musste sich eine Nachfrage sparen, weil jetzt allgemeines Gelächter und Applaus einsetzten.

Die üppige Hohepriesterin und der nicht gerade schlanke Gastgeber umarmten sich.

»Wir können noch eine Weile Pingpong spielen mit schönen Rosenzitaten, nicht wahr?« Sandrine Clément ließ ihn los und wandte sich zu den Gästen. Sie griff mit großer Geste in ihr Dekolleté und fischte unter dem Saum etwas hervor, das sie bis über ihren Kopf hob: »Deine außerordentlich großzügige Spende erlaubt, die Arbeiten am Heimatmuseum von Lézy-le-Sec abzuschließen. Diese goldene Rose überreicht dir der Trägerverein!«

Den Maßstab schätze Cédric auf 1:2. Filigraner Stängel mit zwei Blättern, darauf eine halb geöffnete Blüte samt Staubgefäßen.

»Respekt! Eine Alba-Rose.« Grandjean kniff ein Auge zu. »Mir kommt das gute Stück bekannt vor.«

»Dir bleibt nichts verborgen.« Sandrine musterte ihn. »Das Vorbild hängt im Schloss von Madame Viviane Lemonnier an der Haupttreppe.«

Grandjean fuhr sanft über das Metall der Rosentrophäe. »Daher kenne ich’s. Vom Frühjahrsempfang.«

»Das Gemälde gehörte zum Inventar, als mein Mann Rollain das Schloss in den Neunzigern gekauft hat«, fügte Viviane erklärend hinzu. »Die Marquise de Sillery, eine frühere Schlossherrin, war eine Schülerin von Vigée-Lebrun, der Lieblingsmalerin von Marie-Antoinette.«

Cédric beteiligte sich am allgemeinen Applaus. Worum genau es bei Vivianes Empfang gegangen war, wusste er allerdings nicht – um Lokalpolitik vermutlich, mit der er sich nicht weiter beschäftigte. Der Lernstoff rund ums Champagnermachen beanspruchte seine geistigen Speicher mehr als genug.

»Interessant, interessant.« Bürgermeister Blaque nahm gleich zwei Macarons vom Desserttablett.

»Sie wussten also bislang von dieser Ehrengabe nichts?« Léonore Voissinet verschränkte die Arme und lehnte sich ein wenig zurück. »Das tut mir aber leid.«

»Ach was.« Blaque drehte sich zu Maryse und Cédric. »Die Macarons sind köstlich. Aber sie sind doch nicht wirklich mit Extrakten der Rosen da parfümiert?« Beim Kauen nuschelte er und zeigte auf ein Gesteck bei der Pyramide.

»Wir haben nur den Champagner geliefert«, sagte Maryse neutral.

»Haben Sie schon …«, der Bürgermeister fischte sein Handy aus der Anzugtasche, »die Fässer gesehen, die bei meiner Tombola morgen versteigert werden?«

»Es ist immer noch das Bürgerfest der Gemeinde Lézy-le-Sec!«, fiel Léonore Voissinet ihm laut ins Wort. »Das der Gemeindeetat bezahlt.«

»Beruhigen Sie sich, Madame. Samstag Punkt elf Uhr geht es los. Sie können immer noch genug Lose kaufen.«

»Das fehlt noch.« Léonore Voissinet schnappte sich das Pistazienmacaron, nach dem der Bürgermeister gerade greifen wollte. »Mal wieder zu spät, mein Lieber.« Sie steckte es sich schnell in den Mund.

Blaque konnte froh sein, wenn dieser Augenblick auf keinem Foto landete. Sein sonst so rosiges Gesicht war lang gezogen, sein Kiefer wirkte für einen kurzen Moment wie ausgehängt.

Léonore Voissinet aber drehte sich auf dem Absatz um. Der Bürgermeister hatte sich wieder in der Gewalt, kaum dass sie am Tischende zum Durchgang zu den Toiletten abgebogen war.

Maryse verdrehte hinter Blaques Rücken die Augen, weil der mit abgekauten Fingernägeln auf seinem Handydisplay Bilder großzog. »Fässer aus sieben verschiedenen Kellern von Lézy. Für die Produktion haben sie ausgedient.«

Amerikanische Eiche. Sogar die Seitenzahl des Lehrbuchs schoss Cédric durch den Kopf, auf der die Holzsorten aufgeführt wurden. Er war froh, dass weder sein Schwiegervater noch Maryse alte Fässer als Raumdekoration oder als Gartenschmuck recyceln mochten. In der Maison Cherriot-Bresson hatte man es lieber modern.

Der Bürgermeister wischte noch ein paarmal über das Handy. »Die Leute reißen sich bereits darum.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Maryse in dem neutralen Tonfall, mit dem sie langwierige Kundenbestellungen telefonisch annahm.

»Kommen Sie rechtzeitig zum Losverkauf.« Der Bürgermeister hob eine Strähne aus der Stirn, stopfte noch zwei Macarons in den Mund und folgte mit einem vollen Glas in der Hand einem weiteren Grüppchen aus Lézy, das hinaus zum Entrée drängte.

»Er ahnt nicht, was ich mit meinen Freundinnen anbieten werde. Er bekommt Konkurrenz …«, Maryse gluckste.

Sie und ihre Winzerinnen-Clique machten ein richtiges Geheimnis daraus. Cédric fing sie mit dem linken Arm an der Hüfte ein.

»Ich auch nicht.« Cédric machte einen Schmollmund wie ihr kleiner Constantin kurz vorm Brüllen. Maryse gab ihm einen schnellen Kuss. »Du wirst auch was davon haben. Versprochen.«

Sie schob ihn weg. »Wir dürfen die Raucher draußen nicht vergessen. Bitte bringe jetzt die nächste Runde Rosé in den Garten. Da stehen ein paar Vieltrinker. Das Letzte, was Grandjean bei seinem Fest gern sieht, sind leere Gläser.«

»Oui, chérie.«

 

Vor der Rotunde bei den Gartentüren stand Tante Viviane beim Keramik-Unternehmer Mancy und dem Staatssekretär Theuilly-Bazet. Sie hatten den Stehtisch gewechselt.

»Unsere Firmenfarbe ist zwar pointiertes Hellgrün …«, Mancy zog seine Keramik-Brille in ebenjener Farbe vom Gesicht und schaute hinüber zum Pyramidenrest, den Cédric nachher noch abräumen würde, »… aber beim Champagner denke ich oft, dass die roten Varianten noch nicht ausgereizt sind.« Mancy war gesprächig geworden. Er war offenbar tatsächlich sehr kurzsichtig, so wie er blinzelte, als er sich Viviane zuwandte.

Die entdeckte Cédric, bevor er vorbeischleichen konnte. »Fragen Sie doch einfach Monsieur Bresson.«

»Bislang erlaubt die Reglementierung keinen Champagner, der nur aus Rotweinen komponiert wird, bevor er in die Flaschengärung geht«, sagte Cédric.

»Warum eigentlich?« Mancy drückte die grüne Brille wieder auf die Nase. »Es gibt doch auch Krimsekt.«

»Gibt es irgendwen, den der überzeugt?«, seufzte Viviane. »Außer die Russen natürlich.«

Theuilly-Bazets Blick verlor sich einen Moment in einem angeleuchteten Rosenstrauch im Garten hinter Cédrics Rücken. »Ihnen kann ich es ja verraten, dass selbst der Minister – und ich meine den russischen – bei einem Empfang in Moskau den roten Sekt stehen ließ.« Theuilly-Bazet kniff ein Auge zu. »Ich zitiere: ›Krimskoye, sprudeliger Sirup, aber was erduldet man nicht alles in der Diplomatie.‹ Unser Minister war höflicher und hat wenigstens daran genippt.«

»Einmal ist genug fürs ganze Leben. Den habe ich bei Dreharbeiten kosten dürfen – nie wieder!« Viviane winkte ab, dass ihr breites Armband nur so wackelte. Mancy lachte, und auch Viviane stimmte mit ein und klang fast wieder wie die junge Schauspielerin aus einem ihrer frühen Filme.

»Einer der Oligarchen hat einen der besten Kellermeister der Champagne angeworben. Vielleicht wird’s ja noch was«, fügte Theuilly-Bazet hinzu.

»Ich glaube, die Oligarchen haben inzwischen andere Sorgen«, sagte Mancy.

»Non, non!« Grandjeans laute Stimme brachte die Gespräche zum Verstummen. »Das wirst du schön lassen.«

Cédrics Kopf fuhr herum. Auch der Staatssekretär, Mancy, Viviane und alle anderen verbliebenen Gäste blickten zum Durchgang zu den Toiletten.

Dort reichte eine Rosengirlande am Fensterrahmen bis auf Hüfthöhe herab. Léonore Voissinet wollte gerade eine voll entfaltete rotgoldene Blüte, die sie offenbar von der Girlande gepflückt hatte, in ein Plastiktütchen fallen lassen.

»Finger weg von meiner Mô! Was bildest du dir ein?« Grandjean riss Léonore die Blüte aus den Händen. »Die bleibt schön hier.«

Voissinet war auf ihren hohen Absätzen kaum kleiner als Grandjean. Eine Sekunde oder zwei stand sie hochaufgerichtet, das streng zurückgekämmte Haar hinter dem Reif schwang nicht ein bisschen. Da entriss sie dem Gastgeber wieder die Blüte. »Die Regeln gelten auch für dich!«, zischte sie. »Bagatelle … Das kannst du vergessen.«

»Du …« Grandjean stemmte die Hände in die Seiten und ging mit seinem Gesicht ganz nah an ihres heran, zuckte aber zurück, weil der Apotheker Signoret durch den Durchgang hereintrat.

»Entschuldigen Sie.« Er drängte sich zwischen den beiden und der Rosengirlande durch, streifte Voissinet an der Hüfte. »Pardon, Madame.«

Die reagierte nicht, genauso wenig wie Grandjean.

Zurück am Serviertisch deutete Signoret auf die Flaschen von Cherriot-Bresson im Kühler: »Haben Sie noch ein Glas von Ihrem Halbtrockenen?«

Er blickte durch die Rotunde, weil er wohl jetzt erst bemerkte, wie still es war, bis auf das summende Halogenlicht im Podest der Pyramide. »Oder ist die Bar schon geschlossen?« Der schlanke Signoret hakte beide Daumen am Hosenbund ein.

»Ach was.« Grandjean, der immer noch an der Rosengirlande stand, stampfte kurz auf wie ein Flamenco-Tänzer, nur ohne vergleichbare Eleganz. Er machte drei Schritt auf seinen Gast zu, schwang den ausgestreckten Arm, dass sich der weite Hemdsärmel samt goldener Rose in der Brusttasche straffte, und ließ ihn auf dessen Schulter sacken. »Signoret, mein Lieber. Eine Bar beim alten Grandjean schließt um diese Uhrzeit noch lange nicht. Trinken wir! – Maryse, zwei vom Millesime, bitte.«

»Sehr gern.« Maryse lächelte, griff aus dem Kühler ohne hinzusehen die richtige Flasche, die mit der silbernen Folie um den Flaschenhals, und schenkte ihren Teuersten ein.

Grandjean nahm sein Glas, prostete damit erst Signoret zu, dann allen anderen Gästen in der Rotunde – bis auf Léonore Voissinet, die zur Pyramide trat und eine abgestandene Schale nahm, als ob sie ebenso gemeint wäre.

»Auf meine wunderbare Madame Mô.«

»Auf Madame!«, riefen Bürgermeister Blaque und die Innenarchitektin Sandrine Clément gleichzeitig.

»Wen meint er?«, fragte Theuilly-Bazet hinter Cédrics Schulter.

Sollte Viviane es ihm beantworten.

»Seine vor zwei Jahren verstorbene Frau hieß so«, erklärte sie. »Nach ihr ist die Rose benannt, die wir heute bewundern sollen. Die beste Physiotherapeutin, die ich je erlebt habe. Thalasso-Spezialistin. Sie hat mir mein Knie …«

Körperliche Befindlichkeiten interessierten Cédric nicht, viel mehr jedoch, warum Léonore Voissinet so kurz nach dem Eklat bei den Toiletten auf einmal so ausgelassen mit dem Bürgermeister plauderte, dass sie sogar einen Pumps auf die Spitze aufstellte. Die beiden galten doch als verfeindet im Gemeinderat.

Cédric fing einen Blick von Theuilly-Bazet auf, der seinem zu Léonore Voissinet gefolgt war. Der Staatssekretär hob eine Braue, so als wollte er sagen: Komm schon, Bresson. Einmal Kriminalist, immer Kriminalist. Du langweilst dich längst als Kellner für diese Provinzler.

Cédric hielt dem Blick stand. Hoffte, dass dem anderen seine minimale Kinnbewegung nicht entging. Cédric servierte nur ausnahmsweise, sonst kreierte er Champagner. Dabei war seine Spürnase besser eingesetzt. Ebenfalls eine Art Fahndung, aber die nach der einen Komponente, welche einen Geschmack perfekt machte.

 

»Die drei Männer aus Grandjeans Weiterbildungskurs haben darum gewettet, wer blind unsere Champagner erkennt. Gleich verstehst du, warum ich ohne Mutters Zauberkiste keine Veranstaltung mache.« Maryse ging am Serviertisch in die Knie und langte unter der überhängenden Decke danach.

Sie hatte ihm bislang nicht verraten, warum er die große schwere Holzkiste hatte hierher schleppen müssen.

»Fünfundsechzig Jahre Erfahrung mit den lieben Kunden und Kundinnen.« Maryse strich zärtlich über die einfache, aber sehr stabile Kiste aus solider Eiche. »Mutter hat wie meine Großmutter schon alle seltsamen Wünsche gesammelt. Am verrücktesten sollen die Jahre direkt nach dem Krieg gewesen sein.« Maryse klappte den Deckel auf und schlug ein rotes Samttuch zurück.

»Opernmasken, Seidentücher, aber eine Schöpfkelle?«

Maryse zeigte ihm ein schwarzes Notizbüchlein, das im Deckel hinter Haltebändern klemmte. »Steht bestimmt drin, wofür. Mutters Notizen sind ein Schatz!«

Maryses Maman war an Krebs gestorben, als sie vierzehn gewesen war. Ihr Bild hing im privaten Flur. Cédric hätte die so pragmatische Frau gern kennengelernt. Selbst seinen widerborstigen Schwiegervater hatte er einmal heimlich eine Träne vor dem Portrait verdrücken sehen, nach all der Zeit.

»Wusste ich’s doch!« Maryse kramte aus dem vielen Zeugs drei blaue Hüllen hervor. »Halt mal, da fehlt noch was.«

Cédric erkannte am Umriss die Form der Standardflasche, als er die drei Samtteile auf den Tisch legte. »Mit dem Reißverschluss kann man sie wohl ganz schnell einpacken.«

»Genau. Wenn du sie draufschieben oder rollen müsstest, wäre es nur ein Gefummel. Sie müssen ja eng sitzen, sonst würde der Stoff vom Etikett und vom Hals rutschen.«

Maryse drückte sich aus den Knien hoch. »Hier, das brauchst du auch noch.« Sie drehte ein Champagnerglas in den Fingern, blau wie ein dunkler undurchsichtiger Saphir.

»So was gibt es?« Es war sogar dickwandig und verfügte über einen Raffelschliff wie ein Likörglas.

»Polnisch oder russisch, glaube ich.« Maryse überprüfte den Flüssigkeitsstand in den Flaschen im Eiskühler. »So sieht man die Farbe nicht oder die Perlung – der Blauschliff verfremdet das bestens.« Maryse gönnte sich ein boshaftes Mundspitzen. »Mal sehen, wer von den drei Herren wenigstens einmal richtig liegt.«

»Selbst schuld. Champagner ist eigentlich ein synästhetisches Erlebnis.«

»Du kennst ja Worte … Moment, nimm das blaue Seidentuch mit. Das hat die gleiche Farbe. Mutter hat bestimmt ein Ensemble gemacht. Das wird die Augenbinde sein.«

»Oui, Madame.« Cédric steckte ihren Blanc-de-Blancs Nuit blanche in die erste Hülle, den Zéro-brut Blanc de Noirs in die zweite. »Aber den Rosé verschwenden wir nicht.« Cédric stellte noch das blaue Glas auf sein Tablett. Und ab.

 

Große Fackeln, die man in den Rasen gesteckt hatte, flackerten in der Nachtluft. Sowohl in der Pergola als auch in vielen Sträuchern auf der weiten Fläche leuchteten Strahler die Rosen sanft an. Ein Hauch von Abendtau vermischte sich mit dem Duft der Rosen. Hinter der Pergola hörte Cédric mehrere Wagen starten. Es war schon nach zehn Uhr.

Am Stehtisch vor dem türkisen Gartenbecken mit den Unterwasserstrahlern warteten die drei Männer, mit denen Grandjean persönlich angestoßen hatte.

Sie trugen noch die Anstecker mit ihren Namen aus dem Kurs an der Kleidung. Cédric konnte nicht anders, als sie sich einzuprägen wie früher, obwohl er diesen Polizistenreflex an sich hasste.

Roger Sorel stand sehr gerade, mit viel Körperspannung, dabei steckte seine Hand in der Hosentasche. Der Mann war schon über fünfzig, den Falten um die dunkelbraunen Augen nach zu urteilen. Trainierte Sportler standen so breitbeinig. Sein schwarzes Haar war kantig geschnitten. In Paris sahen Türsteher in Edelclubs gern mal so aus, oder vielmehr deren Chefs.

»Spendabel ist Monsieur Grandjean ja, da kann man nicht meckern.« Cordier, der zweite Mann um die fünfzig, trug die Haare mit dünnem Gummiband am Hinterkopf zusammengezogen. Das trugen selbst in der Provinz nur die Bio-Winzer. In Paris oder selbst Reims hätte ein Kerl wie der wenigstens einen japanischen Samurai-Dutt daraus geformt. Außerdem erkannte Cédric die Fairer-Handel-Marke der Gummistiefel. Auf die keiner aus der Generation seines Schwiegervaters etwas gab, weil sie nach drei Jahren am Schaft ausrissen. Arbeitszeug musste länger halten; man brauchte sein Geld für Wichtigeres.

»Na ja, bei den Kursgebühren muss ja wohl mal ein Glas extra drin sein«, sagte der dritte Mann.

Er hieß Gérard Jaquin. Er war eher in Cédrics Alter. Ihm gefiel wohl tatsächlich dieser Mix aus japanischen Zeichen, Gitarre und graphischem Rockergesicht, den er auf seinem T-Shirt trug. Wie bei einem Fahndungsbild aus der Lehrkartei passte es, dass der Typ offenbar den letzten Haarschnitt hatte ausfallen lassen – vielleicht weil der Monat fürs Bankkonto mal wieder zu lang gewesen war oder sogar wirklich wegen der Kursgebühr.

»Jaquin, du bist zu streng. Wein-wie-früher-machen. Das komplette Programm. Ich hätte auch mehr gezahlt«, sagte Sorel in Tenorlage.

»Wenn man ein Weingut in Tonnerre in Burgund geerbt hat wie du, fällt das leicht.«

Sorel blieb entspannt, aber breitbeinig stehen. »Was wollt ihr eigentlich? Wo kriegst du das in Frankreich? An drei Wochenenden die ganze Palette Rebenpflege, vermittelt von Meistern des Fachs, die wirklich für die Tradition brennen!«

»Ist ein toller Mentor. Das Pfropfen von Chardonnay-Setzlingen auf amerikanische Rebstöcke hat er doch super erklärt. ›Stellt euch vor, ihr drückt zwei Puzzleteile ineinander. Nur dass ihr die Omega-Bögen vorher selbst genau ausstanzt.‹ Genial. Das merke ich mir für meine Touristen und Touristinnen im Museum. Auf Grandjean!«

Kaum trug man eine weiße Kellnerschürze und ein Tablett mit Gläsern, verschwand man aus der Wahrnehmung der Leute. Das hätte Cédric sich als Kommissar auch gewünscht: beobachten und belauschen zu können, ohne dass irgendjemand es bemerkte. Jaquin arbeitete offenbar in einem Museum für Weinbau.

»Voilà. Ihre Blindprobe.« Cédric stellte das Tablett auf den Stehtisch und zählte ihnen die unter den blauen Samthüllen verborgenen Sorten auf. Cédric übte sich in Charme, wie Maryse es beim Frühstück befohlen hatte. »Wer möchte beginnen?«

»Geben Sie halt mir das erste Glas.« So samten der Tenor Sorels auch war, Cédric hörte einen winzigen Seufzer darin. Das glatte Gesicht mit der männlichen Kerbe am Kinn verriet allerdings nicht, ob er von dem juvenilen Spaß der beiden anderen wirklich angestrengt war.

»Ich gieße ein wie immer, nur bis zur bauchigsten Stelle. Für die Entfaltung der Aromen …«

»… muss Platz sein. Wissen wir, Bresson, Grandjean predigt uns das schon den ganzen Abend.«

Sorel ließ den ersten Schluck nur zweimal mit spitzem Mund kreisen. Legte den Kopf in den Nacken, der Adamsapfel hüpfte im Hals, wo erste silberne Stoppeln wuchsen. Also war sein Haupthaar schwarz nachkoloriert. Langsam drehte er den Kopf zurück. »Das ist Ihre Cuvée tradition, die angenehme Säure verbindet sich wunderbar mit den Anklängen von grünem Apfel, Agrumen und wildem Salbei.«

»Richtig! Meine Frau hätte es nicht besser in den Katalog schreiben können.« Es stimmte einfach. Sorel war ja der, der ein Weingut geerbt hatte. Burgunder schulte die Zunge.

»Cordier, jetzt bist du dran.«

»Wir müssen noch die Flaschen ein paarmal vertauschen,