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Ex-Kommissar Cédric Bresson genießt sein Glück als frisch verheirateter Neu-Winzer in Lézy-le-Sec in der Champagne, der Heimat seiner Frau. Doch sein Ruf als beste Spürnase der Pariser Kriminalpolizei holt ihn ein: Als inmitten der Weinberge Sylvain Clouet, Präsident der einflussreichen Winzervereinigung Vigne d'Or, ermordet aufgefunden wird, zwingt das Innenministerium Cédric, die Ermittlungen zu übernehmen. Wie er neben der Arbeit im Weinberg und der Vorbereitung auf seine baldige Vaterschaft noch ein Verbrechen aufklären soll, ist ihm schleierhaft. Sylvain Clouets Leiche liegt unter einer Holzskulptur, an der eine sabrierte Champagnerflasche hängt, auf dem Etikett: das Gesicht des Opfers. Und es kommt noch schlimmer: Vier weitere Kunstwerke sind mit Hinweisen versehen, die eine Mordserie in den höchsten Kreisen der Champagne ankündigen. Beim Versuch, den Täter aufzuhalten, ergründet Cédric gemeinsam mit dem örtlichen Kommissar und einer ehemaligen Filmdiva die komplizierten Verhältnisse des Champagnerbusiness.
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Seitenzahl: 365
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Carlo Feber
Der Champagner-Präsident
Cédric Bressons erster Fall
Kampa
Non, je ne regrette rien … Cédric bereute nichts. Édith Piafs Ohrwurm ging ihm nicht aus dem Kopf, als er das Glitzern der Morgensonne auf den Reben bewunderte, die er beschneiden sollte. Reihe für Reihe zogen sie sich den sanften Hügel hinunter bis zu den ersten Häusern von Lézy-le-Sec. All das gehörte zu seinem neuen Leben.
Sein Schwiegervater Paul hatte den ganzen Hang mit dem seltenen Petit Meslier bepflanzt, der Spezialität von Champagnes Cherriot. Bis zum Wäldchen von Château de Grécy, unter dem sich der Fluss entlangschlängelte, reichte der Weinberg der Familie, einer von sieben.
Cédric rieb sich mit dem groben Sicherheitshandschuh über die verschwitzte Stirn. Nein, er bereute nicht, dass er nicht mehr Commissaire Cédric Bresson war, der für die steile Karriere bei der Pariser Kriminalpolizei beneidet worden war, sondern bloß noch der kritisch beäugte Stadtmensch von Schwiegersohn. Der erst mal alles lernen musste, was ein echter Viticulteur in der Champagne so draufhaben sollte. Kräftig genug dafür war er allemal. Und hartnäckig sowieso.
Cédric stapfte über das niedrige Gras weiter zum nächsten Rebstock. Darunter abzumähen stand ihm auch noch bevor.
Non, rien de rien … Die Knochenarbeit im Weinberg war hundertmal besser, als dass jeder dritte Tag mit einer übel zugerichteten Leiche begann oder damit, im Kommissariat im 19. Arrondissement von Paris Powerpoint-Präsentationen der Herren und Damen Polizeifunktionäre abzunicken. Lieber bückte Cédric sich hier zwölf Stunden, grub Erde um oder kontrollierte zig Schädlingsfallen.
Und … Schnitt. Cédric warf die überzähligen Triebe in den Korb neben seinen Füßen und sog dabei die Morgenluft ein, diese herrliche Mischung aus kräutriger Frische und erdigem Hauch. Seine Nase war fein genug. Vielleicht könnte er bald schon wie sein Schwiegervater allein am Geruch des Blattgrüns und den feinen grasigen Nuancen erkennen, wann gedüngt werden musste.
Bis Cherriot senior die Kellereigeheimnisse lüftete, würde es noch ein Weilchen dauern. Einen erstklassigen Jahrgang hatte er vorausgesagt, aber nicht verraten, woran er das erkannt haben wollte. Cédric war der stärkere Blattansatz aufgefallen; sein Schwiegervater hatte nur undeutlich gebrummt. Dafür hatte er ihm den richtigen Schnitt gezeigt, mit dem man verhinderte, dass sich die Reben zu sehr verausgabten.
Cédric streckte sich, über die Reihen hinweg ahnte er in der Ferne das Weingut, wo Maryse im Büro die Bestellungen abarbeitete. Was gab es zu bereuen? Er stand – ja – in der Provinz, aber in der frischen Luft und hockte nicht in einem Dienstwagen im Stau auf dem Pariser Périphérique. Dass die Hetze von Büro zu Tatort zu Laboren zu Gerichten ein besseres Leben wäre, sollte ihm mal einer von den Ex-Kollegen erklären.
Cédric schulterte den Korb und trug ihn bis zum übernächsten Pfosten. Kaum zu glauben, dass noch vor gut einem Jahr der heimliche Kollegenneid wie auch die offene Bewunderung seinem Ego so hatten schmeicheln können. Gut, es kam nicht oft vor, dass sie bei der Pariser Kripo einem mit nur vierunddreißig einen Spitznamen verpassten: Le furet, die Spürnase.
Cédric hätte die Blitzkarriere machen können, die ihm alle prophezeit hatten.
Car ma vie, car mes joies, aujourd’hui ça commence avec toi … Aber alles hatte mit Maryse eine andere Bedeutung bekommen: Lust, Liebe, Leben.
Balayés les amours avec leurs trémolos, balayés pour toujours, je repars à zéro … Cédric summte vor sich hin, im leisen Rauschen der Reben hörte ihn ja niemand. Er musste lachen, er klang fast wie seine Großmutter morgens um fünf, wenn sie beim RER von Sucy-en-Brie gut gelaunt ihren kleinen kiosque aufschloss. Aber Piaf hatte recht. Seine Affären waren ohne Bedeutung. Maryse war die faszinierendste Frau, die ihm jemals begegnet war. Und auch die wandlungsfähigste. Selbst er – Spürnase – hatte sich im Pariser Rockclub L’Utopia in der Frau getäuscht, die mit drei Freundinnen abfeierte. Mit ihrem Lack-Bustier, ihren derben Lederstiefeln und ihrem grün schillernden Neo-Grunge-Make-up war sie ihm wie eine feministische Rocksängerin vorgekommen. Sie war es gewesen, die ihm einen Secrestat spendiert hatte und ihn schließlich in ein Hotel in der Rue de Rivoli mitgenommen hatte. Nichts hatte Cédric geahnt. Denn am nächsten Morgen um Punkt sieben Uhr hatte Maryse aus einem soliden Louis-Vuitton-Koffer eine seriöse Seidenbluse gezogen und übergestreift …
Bei den Cherriots begann der Arbeitstag immer so früh. Cédric zählte die Augen am nächsten Rebenaustrieb vor seiner Nase. »Drei zu fünf«, hatte sein Schwiegervater ihm eingebläut, diese Regel war im Champagnergut Cherriot seit sieben Generationen heilig. Wie so manche mehr.
Cédric würde dafür sorgen, dass es auch der achten Generation der Cherriot-Bresson eingetrichtert würde. Und die war schon bald auf der Welt. Cédric gönnte sich ein stolzes Lächeln. Es war verrückt. Er konnte es kaum erwarten, dass er das in Maryses Bauch schon heftig strampelnde bébé selbst halten dürfte. Manchmal glaubte er in den Fingerspitzen schon zu fühlen, wie er ganz vorsichtig über zarte Babyhaut strich, die noch empfindlicher war als die von Champagnertrauben.
Aber bis dahin – und danach erst recht – hatte er viel Arbeit. Cédric traf sogar schon den Korb, obwohl die dünnen Stängel des Rebenverschnitts schlecht flogen.
Es gab wirklich nichts zu bereuen. Nach drei Monaten TGV-Paris-Reims-retour-Beziehung mit Maryse war klar, dass der Rhythmus im Champagnerbusiness mit dem von Polizeiermittlungen inkompatibel war. Cédric konnte sich da schon nicht mehr vorstellen, dass er jemals darauf würde verzichten können, alle Facetten von Maryse zu entdecken. Sogar wie sie als alte Dame Champagnerflöten füllen würde, wollte er erleben. Cédric hatte nur ein kleines Appartement und viele Überstunden Abwesenheit anzubieten. Auf dem Pont Saint-Louis zwischen den beiden Seine-Inseln hatte er vorgeschlagen: »Ich verlasse die Polizei, wenn du mich heiratest.« Maryse hatte ganz langsam und sanft sein Gesicht gestreichelt. »Du oder keiner, egal was Papa sagen wird. Küss mich!« Ein vorbeiflanierendes amerikanisches Ehepaar hatte sogar geklatscht. Lachend wie Teenager waren Cédric und Maryse zur Inselspitze gelaufen.
Und jetzt … vier Wochen noch. Cédric vermutete stark, dass Maryse und er doch früher ins hôpital nach Châlons fahren müssten. Frühgeburten waren offenbar Familienerbe, Cédric konnte sich die Namen der vielen Tanten und Cousinen immer noch nicht merken, bei denen es so gewesen war. Er blickte die Reben entlang hinunter ins Tal, wo die Dächer von Lézy-le-Sec in einem leichten Dunst verschwammen. Maryse – tout commence avec toi …
Piafs Chanson setzte abrupt aus. Seine Unterarme durchfuhr ein nervöser Impuls, wie immer, wenn ein Detail – halb wahrgenommen – darum kämpfte, ganz in sein Bewusstsein vorzudringen. Etwas stimmte nicht. Und er hatte es gesehen.
Cédric wog die Schere in seiner Hand, blickte dabei die lange Reihe zurück. Aber zwischen hellgrünem Gras und braunen Rebstöcken gab es nichts, was dort nicht hingehörte. Auch an den Spanndrähten, an denen die Triebe emporwuchsen, flatterte nichts als Laub.
Cédric drehte den Kopf und ließ seinen Blick wieder ins Tal schweifen. Sonnenlicht glitzerte noch immer silbern im grünen Laub. Aber nicht nur. Dazwischen glitzerte – nein, blinkte! – etwas blau.
Kollegen-Blaulicht.
Das Blinken strich gerade knapp oberhalb der Arbane-Rebenreihen entlang, die Nachbar Guyot zum Fluss hin genau auf Südsüdwest ausgerichtet hatte. Die Gendarmerie war das nicht, dunkelblauer Wagenlack hätte zwischen den Blättern aufscheinen müssen, nicht schwarzer. Aber sonst fuhr nur die Kriminalpolizei mit Blaulicht, erst recht in der Provinz.
Der asphaltierte Weg führte im Tal um ihren Weinberg herum weiter zum Château de Grécy und zu ein paar anderen Weingütern. Möglicherweise hatte es wieder gebrannt. Bei den vielen Gärbehältern entzündete sich schon mal etwas von selbst.
Unsinn, Cédric. Wind strich über seine Wangen. Feuer hätte er längst gerochen, so sauber, wie die Luft in der Champagne war.
Der schwarze Wagen bog ab, vor der alten Postsäule, die die Grenze zur Domaine von Château de Grécy markierte. Der geschotterte Weg von da unten endete nirgendwo anders als an ihrem Weinberg.
Außer Maryse wusste niemand, dass er hier oben schnitt. Und sie hätte ihn hundertprozentig angerufen, wenn sie vor der Zeit … Cédric legte die Schere in den Korb. Der Wagen verlangsamte sich auf Schrittgeschwindigkeit. Maryse war etwas passiert!
Der Energieschub war so groß, dass Cédric die Rebenreihe entlang hangaufwärts rannte.
Beinahe wäre er über die Verspanndrähte gestolpert, die den äußersten Pfosten der Reihe besonders fest verankerten. Cédric machte einen extra großen Ausfallschritt, fing sich und rang nach Luft, die Hände auf die erdigen Hosenbeine gestützt.
Der schwarz lackierte Dienstwagen rollte zwanzig Meter voraus auf dem geschotterten Weg. Cédric brachte sich in die Blickachse des Rückspiegels und winkte mit beiden Armen.
Das Blaulicht erlosch prompt, der Wagen setzte zurück. Durch die abgedunkelten Scheiben konnte Cédric nicht erkennen, wer innen saß.
Die Fahrertür schwang auf. Ein Kopf.
Die Linie zwischen ausrasiertem Seitenschädel und dichtem braunen Deckhaar brachte niemand so messerscharf fertig wie Guy Lacoste. Er war genau der Typ ehrgeiziger Kriminalkommissar, der immer genau dieselbe Sorte Krawatten wie der Innenminister trug, egal wer das gerade war.
Cédric machte einen Satz auf ihn zu. »Ist Maryse etwas passiert?«
Lacoste wand seine langen Beine ganz hinter dem Steuer hervor und richtete seine knapp zwei Meter langsam auf wie unter einem Muskelkater.
Cédric musste ein wenig zu ihm aufsehen. Das lange Gesicht war blass, die Lider verquollen wie bei jemandem, der die ganze Nacht durchgearbeitet hatte. In den schilfgrünen Augen, die gegen die Sonne blinzelten, konnte Cédric nichts lesen außer dem Wunsch, ganz woanders zu sein.
»Verdammt, Lacoste, rede schon! Ist was mit Maryse?«
»Wer ist das?«, fragte eine Männerstimme von der aufgehenden Beifahrertür her.
»Seine Frau«, sagte Lacoste über das Wagendach mit dem aufgesetzten auslaufenden Blaulicht. »Die Schwangere, die uns vom Gut der Cherriots heraufgeschickt hat.«
Nichts passiert. Cédric blies laut Luft aus.
An der Beifahrerseite des Dienstwagens zeigte sich ein mittelgroßer Mann und schwieg erst mal, ganz Chef. Die teure Designerbrille mit dem mattierten Metallrand passte nicht zu dem alten Gesicht. Der graue Einschlag im gebräunten Teint verriet Cédric den schweren Raucher. Diese Art Funktionär zeigte ihre Gehaltsklasse gern: natürlich Maßanzug, natürlich Schuhe von Guimondi.
In den Falten unter dem Brillengestell kräuselte sich das Lächeln eines Connaisseurs.
»Madame ist sehr charmant.«
Das sollte heißen: Sie haben eine sehr attraktive Frau.
»Welch Überraschung, Bresson, dass man Sie jetzt hier draußen findet.« Er winkte in Richtung der Weinberge wie zu Publikum hin.
Und das sollte heißen: Warum um Himmels willen zieht jemand mit Ihren Karriereaussichten Handarbeit vor? Cédric schämte sich nicht für seine Jugend in einer Banlieue, wo das keine Schande war, sondern Alltag der meisten.
Cédric schenkte ihm extra das dümmliche Grinsen der Kleinganoven.
»Das hieße ja, Sie suchen mich, Monsieur …?«
»Michel Theuilly-Bazet.«
»Bresson. Du sprichst mit dem Chef de cabinet des Innenministers.«
Ein Herr Ministerialbeamter, deshalb kuschte Lacoste also. Wenn man so ein hohes Tier verärgerte, drohte Karriereschaden.
»Aha.«
»Deinem Vorgesetzten.«
Cédric lachte. »Ich habe keinen mehr. Außer meinen Schwiegervater und meine Frau vielleicht, in Champagnerdingen.« Er zeigte zu den Rebenreihen der Maison Cherriot den Hang hinunter.
Theuilly-Bazet kam ganz um den Dienstwagen herum und legte die Hände vor der Brust aufeinander. So langsam, dass es an das Zusammenknüllen eines Papiers mit ärgerlichem Inhalt erinnerte.
»Ich bin vom Staatsdienst freigestellt.« Es hatte keine lange Diskussion darüber gegeben, dass er sofort den Polizeidienst aufgeben sollte. Ein kleines Champagnerhaus wie Cherriot brauchte jedes Familienmitglied im Betrieb, zumal Maryses Mutter verstorben war. »Mit Stempel und Urkunde.« Als das offizielle Papier schließlich eingetroffen war, hatte sein Schwiegervater wenig überzeugt gebrummt: Du meinst es also ernst, aber deshalb hast du von Terroir und Kellertechnik noch lange keine Ahnung.
Theuilly-Bazets Falten wirkten auf einmal tiefer, starr, sein Gesicht verwandelte sich in eine Maske.
»Commissaire Bresson. Ich muss Ihnen wohl nicht die einschlägigen Verordnungen zitieren. Formal sind Sie nur auf Zeit nicht verfügbar. So einfach entlässt die République keinen ihrer fähigsten Diener.«
Diesen bürokratischen Ton hatte Cédric selber angeschlagen, wenn es in seinem Ermittlerteam zu Streitereien gekommen war. Den hatte er noch drauf.
»Sie verschwenden Ihre Zeit. Ich werde Widerspruch einlegen. Das dauert.«
Der Chef de cabinet machte einen Wink mit dem Kinn zu Lacoste hin.
Der wischte sich über das müde Gesicht. »Lass es besser gleich, Cédric.« Er griff in die Innentasche seiner Anzugjacke.
Drei Umschläge streckte er Cédric entgegen.
Auf dem ersten prangte der Stempel des Gesundheitsamts, auf dem zweiten der des Trésor public und auf dem dritten stand Inspection des Appellations de la Champagne, die die Einhaltung der Champagner-Qualitätsmerkmale penibel überwachte. Allein eine Steuerprüfung wäre schon heikel genug, wenn Cédric seinem Bauchgefühl traute.
»Sie können Widerspruch einlegen. Natürlich. Frankreich ist ein freies Land.« Theuilly-Bazets Ton klang keine Spur wärmer als zuvor. »Nur werden wir dann die Maison Cherriot, die Ihrer Frau und Ihrem Schwiegervater gehört, mit Steuer- und Normenkontrollen überziehen, bis Sie alle drei nicht mehr wissen, wie man Bürokratie schreibt.« Er nahm Lacoste die drei Umschläge aus der Hand und wedelte damit.
Cédric spürte, wie die Vergangenheit ihn einholte. Er hatte vergessen wollen, wie es gewesen war, als er die missgünstigen Blicke in der Kantine als motivierend empfunden hatte. Als er gelassen die hämischen Gesichter an den Tatorten ausgehalten hatte, wenn er – Spürnase – nicht zack, zack die wichtigste Spur in fünf Minuten identifizierte.
Theuilly-Bazet wedelte noch einmal. »Na? Denken Sie nach?«
Erfolge von gestern. Cédric konnte das: ermitteln. Er wollte aber jetzt lieber lernen, wie man den köstlichen Champagner Cherriot aus diesen grünen und blauen Trauben erzeugte, die hinter ihm den ganzen Hang bewuchsen. Wie im Keller dieses Wunder vollbracht wurde, das die Morgensonne in herrlichen Bläschen einfing und die Menschen heiter und glücklich machte.
Theuilly-Bazet saß am längeren Hebel, das wusste er. Cédric ballte die Faust. Ein Hieb in dieses Lächeln täte so gut. Er schloss die Augen und malte es sich für ein, zwei Sekunden aus: seine auftreffende Faust, die Theuilly-Bazet das mattierte Brillenmetall auf die verlebte Raucherhaut quetschen würde. Aber er war längst kein adolescent aus der Banlieue mehr. Er würde nicht alles kaputtmachen. Das hatte Maryse nicht verdient – und ihr Kind erst recht nicht. Merde. Paris bekam immer, was es wollte.
Cédric machte einen Schritt vor und packte Lacoste am Ärmel. »Warum ich? Er ist hier der zuständige Kriminalkommissar.«
Lacoste zog seine Hand weg. Aus den schilfgrünen Augen traf ihn ein Blick unterdrückten Ärgers.
»Niemand zweifelt an Lacostes Kompetenz.« Theuilly-Bazet schob die drei Umschläge in seinen Händen zusammen. »Aber in diesem Fall wünscht man jemanden, der wie Sie Erfahrung mit prominenten Leichen und verwirrenden Tatorten hat. Sie waren es, der damals das Komplott der drei Angestellten gegen den Modedesigner Jean Serq durchschaut hat, und niemand anders, egal was in den Akten steht.« Theuilly-Bazet ließ den Blick über die Weinberge hinüber zum Wäldchen von Grécy und dann von Cédrics Scheitel bis zu den verdreckten Weinbergstiefeln gleiten. »Der Minister ist wie ich der Ansicht, dass Sie am geeignetsten für diesen Fall sind.« Er wies zum Wagen. »Sie werden Ihren Dienst sofort antreten.«
»Aber … Mit den Stiefeln ruiniere ich jeden Tatort für die Spurensicherung.« Cédric glaubte selbst nicht, dass die Berufung auf übliche Vorschriften noch etwas nützte.
»Oh nein. Gefahr im Verzug.« Diesmal kräuselte Theuilly-Bazet die Lippen ohne ein Lächeln. »Im Übrigen gilt von nun an: Außer mir kann Ihnen in dieser Ermittlung niemand etwas verbieten. Bresson, ab sofort sind Sie der leitende Commissaire. Und: Sie sind ausschließlich mir rapportpflichtig.«
Das klang zwar hilfreich, der direkte Draht nach ganz oben konnte sich aber ebenso gut als vergiftetes Privileg erweisen, sobald Ermittlungsergebnisse die Machtsphäre störten.
Neben der Kühlerhaube stehend wischte Theuilly-Bazet über sein Smartphone, als ob ihn das alles nichts mehr anginge. »Ich übermittle der Flugbereitschaft eben die Geodaten. Der Hubschrauber holt mich gleich hier ab.« Er nickte in Richtung des Dienstwagens. »Nun steigen Sie schon ein.«
Cédric blieb nichts anderes übrig. Er hatte nicht mal zwei Reihen geschafft. Wer sollte bloß den Rest beschneiden?
Theuilly-Bazet beschattete mit der freien Hand die Augen und ließ den Blick schweifen. »Lézy-le-Sec. Ein beeindruckendes Terroir. Ich werde mir ein paar Kisten von Champagnes Cherriot kommen lassen, der Petit Meslier gibt gewiss eine ganz besondere Note.«
Es klang wider Erwarten ehrlich. Cédric staunte. Wenn Theuilly-Bazet die Rebsorten allein am Blattwuchs unterscheiden konnte, musste er selbst Weinberge besitzen. Vielleicht stammte er aus einer der großen Familien der Champagne.
Als stummen Protest behielt Cédric auf dem Beifahrersitz die groben Arbeitshandschuhe an.
Lacoste blickte ihn vom Steuer her finster an. »Was jetzt?« Die Pause war unüberhörbar. »Chef?« Lacoste würgte es zwischen den zusammengepressten Kiefern geradezu hervor.
So gern er seine Vergangenheit bei der Polizei vergessen hätte, jetzt galt es, sich an alles zu erinnern. Schnellstens. Maryse brauchte ihn jetzt, sein Kind brauchte ihn sehr bald, und Champagnes Cherriot brauchten ihn dann erst recht, aber nicht als Ermittler irgendwo da draußen, sondern zu Hause.
Alle Rangeleien mit den Kollegen verliefen nach demselben Muster. Cédric holte tief Luft. Man musste zeigen, wo der Hammer hing. Eigentlich. Aber hier ging es nicht um Karriere. Er sah Lacoste direkt an. »Mir wäre nichts lieber, als dass du ganz allein ermittelst, Guy, wenn schon mal in unserer braven Gegend einer abgemurkst wird, damit ich dort unten an unserem Weinberg weiterschneiden kann. Und es ist nur einer von vieren, die ich bis Monatsende durchhaben muss.« Er war nicht einmal richtig laut geworden.
Trotzdem zog Lacoste den Kopf zwischen die Schultern ein. »Mein Schwiegervater muss auf eine Verkaufsmesse und kann nicht einspringen. Und was Fachkräfte kosten, die das für uns erledigen – davon fallen dir die Augen aus. Da reicht kein mickriges Kommissarsgehalt.« Cédric hieb auf das Armaturenbrett. »Funktionäre wie der da draußen kümmern sich einen Dreck, was ihre Entscheidungen mit uns Fußvolk machen. Mir wäre es verdammt noch mal lieber, wenn Paris dir den Fall übertragen hätte.«
Lacoste blinzelte nur, die Hände am Lenkrad.
Cédric sah im Rückspiegel, wie Theuilly-Bazet mitten auf dem geschotterten Weg stand und die wie betend aneinandergepressten Hände vor den Mund legte. Er sah aus wie ein Schauspieler, der sich hinter der Bühne vor einem Auftritt sammeln musste. Der Chef de cabinet war aber eher der Regisseur, der Cédric in den Fall zwang.
Auch wenn er zu den Besten gehörte, niemand war unersetzlich. Einige seiner Kumpels und starken Frauen aus der École Nationale Supérieure de la Police hatten mindestens das Gleiche drauf. Jemanden aus dem regulären Dienst abzustellen wäre viel einfacher gewesen. Stattdessen hatte sich das Innenministerium mit seiner Reaktivierung verdammt viel Mühe gemacht. Und das musste irgendwie mit Theuilly-Bazet persönlich zusammenhängen.
»Alles klar.« Lacoste legte die Hand auf den Schaltknüppel. »Also. Was tun wir, Chef?«
Die Klarstellung hatte gewirkt. Lacoste hörte sich an wie ein richtiger Co: Er sprach ein bisschen leiser als Cédric, aber mit derselben Entschlossenheit. Das war schon mal geklärt. Cédric ließ sich in den Sitz zurückfallen.
»Ab mit uns zum Tatort. Allez, vite!«
»Dort unten.« Lacoste sprang über den Straßen- graben, blieb aber gleich an einem orange blühenden Rosenstock stehen, der an die erste Rebenreihe gepflanzt war.
Sie hatten eine Abkürzung genommen, bei der sie das letzte Stück laufen mussten. Cédric hatte das Gefühl, dass zwar einerseits Ermittlungsroutinen in seinem Gehirn einrasteten, die er in seinem früheren Leben auf der ENSP gelernt hatte – Tatort besichtigen, Identität des Opfers prüfen –, sie sich aber andererseits wie verrostet verhakten. Oder die Gehirnwindungen, die er nun brauchte, waren verbogen, weil sie mit Informationen zu Rebendüngung – Gleichgewicht der Biomasse erhalten, optimale Feuchtigkeitsrate – verstopft waren. Fast glaubte er ein Knirschen im Kopf zu hören.
Hinter ihnen thronte auf einem spitzen Hügel die Mühle Patou über den Rebhängen. Ihre weißen Flügel drehten sich langsam im Kreis. Eigentlich war das alte Gemäuer zum Hotel umgebaut worden, aber es stand gerade leer. Zeugen könnten sie dort keine auftreiben. Wieder hörte Cédric so etwas wie ein Geräusch im Schädel: Zeugensuche vor der Tatortbesichtigung zu erwägen, war überhaupt nicht professionell, andersherum war es richtig.
»Gib mir alle Infos, die du schon hast.«
»Ist nicht viel.« Lacoste wiegte so heftig den Kopf, dass Cédric dessen Nackenwirbel knacken hörte. »Ich möchte dich lieber nicht beeinflussen. Die Leiche ist … arrangiert, würde ich sagen.«
Die Mühlflügel surrten über ihren Köpfen, allerdings erstaunlich leise. Von hier wechselten sich bis zum Horizont Weinberge mit Waldstücken ab, dazwischen lagen eingeschmiegt die Dörfer Couzy, Daverny und Saint-Félix-en-Champagne.
Einen Panoramablick des Tatorts nicht vergessen. Unten am Abhang, rechts Richtung Lézy-le-Sec, erstreckte sich eine blühende Wiese gut fünfzig Meter bis hinunter zu einer Schleife des Flüsschens. Ein Polizeiwagen parkte dort unten vor dem Buschwerk.
Arrangiert, das war offensichtlich. Daneben ragte über einem sehr großen Kreis aus hellem Kies ein Kunstobjekt bestimmt fünf Meter hoch auf. »Das Ding heißt Schwurhand, nicht wahr? Auf die Entfernung erinnert es wirklich an eine«, sagte Cédric. Die eines Riesen, nur dass dessen Finger aus groben Baumstämmen geformt waren.
Zwei Kollegen der Spurensicherung in weißen Schutzanzügen, wohl ein Mann und eine Frau, steckten darunter Messmarkierungen in den Kies. Cédric war dort nur einmal mit Maryse herumspaziert, als sie ihm ihre erstaunlichen Kenntnisse über Frösche und Molche offenbart hatte.
»Die Jungs von der Gendarmerie halten uns die Leute vom Hals.« Lacoste tippte mit dem linken Schuh auf das Gras. »Von hier oben hat Mireille beim Joggen bemerkt, sagt sie, dass da unten etwas nicht mehr ganz so war wie bei ihrer Runde gestern.«
Cédric konnte sich einfach nicht daran gewöhnen: Alle in Lézy-le-Sec gingen immer davon aus, dass er wusste, welche Sandrine oder welcher Jean-Marie gerade gemeint war. »Hat diese Mireille auch einen Nachnamen oder einen Beruf?«
Lacoste breitete die Arme aus. »Es gibt nur eine Mireille, die joggt.«
»Muss ich erst Maryse anrufen oder meinen Schwiegervater, der mir Mireilles Genealogie bis zu den Urgroßeltern runterbeten wird?«
Lacoste zog den Kopf so weit zurück, dass sein Hals unter dem Kinn Falten warf. »Aber du kennst doch Mireille Langradin. Sie mischt wie deine Maryse groß mit bei den Femmes’tastiques.«
Cédric konnte nicht anders, er zwinkerte Lacoste zu. »Wie könnte ich die vergessen?« Maryses blonde Freundin war sehr sportlich und muskulös wie eine Profitänzerin bei den Sommerfestivals. Die selbst erklärten Epikureerinnen wollten das Champagnerimage mit einem gehörigen Schuss féminité, élégance und Prickeln ins einundzwanzigste Jahrhundert katapultieren. Des femmes de cœur, des vigneronnes de talent – Frauen mit Herz, Winzerinnen mit Talent stand auf der Internetseite, die Cédric sich nach der ersten Nacht mit Maryse sofort angesehen hatte, kaum dass sie ihren Beruf verraten hatte. Cédric durfte gar nicht darüber nachdenken, wie er zu Hause erklären sollte, dass er offiziell wieder Kriminalkommissar war und ermitteln musste. Egal, wie viel sie im Gut zu tun hatten.
Das Gewusel der Spurensicherer unter dem Kunstwerk würde ihn länger beschäftigen, als ihm lieb war.
»Mireille hat der lange Schatten irritiert, vor dem die Kollegen gerade da unten knien.«
Unten am Ende der Wiese sammelten sich neben dem Hauptstamm, dem Handgelenk der Schwurhand, die Markierungen.
»Genau.« Lacoste machte große Schritte über die Wiese voraus. »Dort liegt das Opfer.«
Fast schien es, als folgten sie den Spuren von Joggingschuhen im niedergedrückten Gras, aber das konnte nicht sein. Bis in der Frühe die übliche Maschinerie von Kripo, Spurensicherung und so weiter angelaufen war, hatte es zwei, drei Stunden gedauert. Die Halme hatten sich längst aufgerichtet. Direkt über ihnen hörte Cédric den Hubschrauber für den Chef de cabinet wummern. Selbst das Innenministerium hatte bestimmt ein bisschen gebraucht, bis es einen organisiert hatte. Cédric würde einen Zeitstrahl an die Wand pinnen, sobald er sein Büro bekam. Sein Büro … Er hatte keines mehr haben wollen, aber jetzt würde das helfen.
Unten am Kunstobjekt spiegelte etwas nicht allzu Großes in der Sonne.
Die beiden Spurensicherer unterbrachen die Arbeit, ein grauhaariger Mann und eine junge Frau, die ihn an Mai Lin erinnerte, die Stewardess von Singapore Airlines, mit der er eine intensive Affäre gehabt hatte.
Lacoste machte den beiden ein Zeichen, dass Cédric trotz Weinbergsklamotten hier zugelassen war. »Macht erst mal weiter.«
Die beiden postierten sich achselzuckend vor ihrem Arbeitstisch schräg hinter der Schwurhand, wo sie ihr Material aufgebaut hatten.
Nach ein paar Schritten auf die Baumstämme des Kunstobjekts zu erkannte Cédric, was daran so seltsam das Licht hatte spiegeln können. »Was für ein Zeichen.« Um den wie zum Schwur abgespreizten Riesendaumen war ein dünnes blaues Seil geschlungen. Raffiniert eingeknotet hing darin eine Champagnerflasche, den grünen Hals nach unten. Maryse hatte ihm die Reihenfolge der Knoten zwar einmal gezeigt, aber die Technik war zu kompliziert, als dass er sie sich gleich hätte merken können. So langsam verstand er sogar Theuilly-Bazet. »Das hier baut kein Täter spontan zusammen.«
Lacoste brummte nur.
So markant diese Flasche auch war, erst musste Cédric sich die Leiche vornehmen, das gebot der Respekt.
Was oben von der Windmühle aus wie ein langer schwarzer Schatten drei Schritte seitlich vom Handgelenk der Schwurhand gewirkt hatte, war der auf dem Rücken liegende Körper eines Mannes, dessen Arme fest an die Seiten gelegt ruhten.
Cédric machte noch zwei Schritte und beugte sich über den von den Spurensicherern aufgeknöpften Kragen ohne Krawatte. »Verdammte …« Den Rest verschluckte er. Dieses runde Gesicht, diese Augenbrauen mit den markanten Winkeln an der Nasenwurzel – wie zwei zueinander gekippte accents circonflexes – kannte jeder in der Region. »Ausgerechnet Sylvain Clouet.«
»Die dunkelrote Linie im Fleisch seines Halses ist wirklich nicht schön.« Lacoste schluckte trocken.
Eher war die tödliche Schlinge abstoßend, die eine Daumenbreite weggerutscht war und böse synthetisch blau schimmerte.
»Er ist gestern Abend erst zum neuen Präsidenten der Ligue de la Vigne d’Or gewählt worden«, sagte Lacoste.
»Auch das noch.« Cédric speicherte das sofort ab. »Dann haben wir erst recht die Medien am Hals.« Cédric erinnerte sich an die Tiraden seines Schwiegervaters über den Strippenzieher. In dem erlesenen Verein versammelten sich alle, die im Champagnerbusiness der Region mitmischten.
Lacoste rieb sich über die müden Augen. »Es gibt Leute, die behaupten, dass Clouets Einfluss bis in den Élysée-Palast reicht.« Lacostes Nase zuckte wegen des unangenehmen Geruchs, der vom Leichnam aufstieg, nicht aus Verachtung, aber richtig den Toten anschauen mochte er wohl nicht. »Bei dem Hubschrauberspektakel ist das Gerücht vielleicht nicht einmal übertrieben.«
»Prominente Leiche« hatte Theuilly-Bazet also nicht ohne Grund fallen lassen.
»Was treibt den neuen président noch in der Wahlnacht hierher? Das ergibt überhaupt keinen Sinn.« Cédric betrachtete wieder die markanten Akzent-Augenbrauen. Die Leichenstarre verfremdete das Gesicht bereits und gab ihm eine Härte, die sonst nur unabsichtlich für Sekunden aufgeblitzt war. Cédric hatte den Politiker Sylvain Clouet zwei, drei Mal bei Empfängen in der Region erlebt. Er wusste nicht mehr, ob da eine neue Abfüllanlage eingeweiht oder eine neue Methode der Flaschenreinigung vorgestellt worden war. In den ersten Monaten in der Champagne war viel Neues auf ihn eingeprasselt, weil er Maryse bei allen Außenterminen begleitet hatte.
Wie das Strippenziehen rund um den Champagner in der Region wirklich funktionierte, hatte Cédric noch nicht ganz durchdrungen. Auch weil sein Schwiegervater zu Rundumschlägen neigte, die in seinen Kommissarsohren ein bisschen wie Verschwörungstheorien klangen. Aber der ermordete Sylvain Clouet hatte sicher zu den Leuten gehört, deren Einfluss nicht leicht auszuhebeln war.
»Brutal stranguliert. Rohe Gewalt passt nicht zur classe und élégance, die das Champagnerbusiness umweht«, sagte Cédric.
Lacoste machte einen Schritt vom massigen Körper weg. »Meinst du wirklich?«
»Es gibt unauffälligere Methoden.« Cédric, denk nach. Was sagt dir deine Erfahrung? Der Täter musste gar nicht unbedingt aus dem Business stammen.
»Chef. Wir müssten …« Lacoste zückte das Dienst- Smartphone.
Er hatte recht. Als ermittelnder Kommissar hatte er Entscheidungen am Tatort zu treffen. Wie zum Beispiel eine Nachrichtensperre verhängen.
»Ist es schon an die Presse raus?«
»Offiziell nicht, aber in Lézy-le-Sec …« Lacoste strich sich über die ausrasierte Schädelseite.
»… ist es bestimmt schon rum. Klar.«
Die sportliche Mireille war nicht gerade eine Geheimniskrämerin. Wenn Cédric an den Geräuschpegel im Salon dachte, wenn die Femmes’tastiques bei ihnen zu Hause tagten. »Die gendarmes sollen das Dorf auch an der anderen Seite absperren. Nur Einwohner dürfen durch. Wir brauchen das Fernsehen hier möglichst spät.«
Lacoste wählte schon einen Kontakt im Smartphone. »Commissaire Bresson übernimmt die Leitung«, sagte er im Vorbeigehen zu den beiden von der Spurensicherung, die gerade am Arbeitstisch Formulare ausfüllten.
Die zwei musterten ihn.
Der Grauhaarige stemmte die Hände an den weißen Schutzanzug. »Bon. Dann werde ich mich mal vorstellen: Meillant, vom Stützpunkt der Spurensicherung in Châlons.« Er blickte Cédric direkt in die Augen. »Die Spürnase kann es also nicht lassen.«
Cédric sparte sich einen Kommentar. Sie kannten alle seine Geschichte, der Kollegentratsch in der Provinz war schlimmer als in Paris. Winzerstiefel hin oder her, das ging so nicht, sonst würde er nie fertig.
»Für Sie beide Commissaire Bresson, bitte«, sagte Cédric ganz betont neutral mit einem bewusst undeutbaren schwachen Lächeln.
Die Botschaft kam an. Der Grauhaarige schnappte kurz nach Luft, die junge Frau an seiner Seite reagierte sofort.
»Mein Name ist Tranh Van. Ich bin die Assistentin der Spurensicherung. Wir waren eben dabei, die Leiche auszupacken. Zirkuläre Adstr…«
»Ist gut, Tranh. Ich zeige es dem Chef.« Er kniete sich neben den Leichnam von Clouet. »Das Seil hat sich tief eingeschnitten. Dem Anschein nach hat es ihn tatsächlich stranguliert, bevor die Schlinge gerissen ist.«
Die Assistentin deutete auf ein Markierungstäfelchen der Spurensicherung, das neben dem Knie postiert war. »Dreck am Hosenstoff, der aber vielleicht nicht vom rauen Kies hier allein verursacht ist. Mineralien und Fasern müssen wir aber noch im Labor mit Spuren an der Stoffseite unterm Po abgleichen.«
Cédric blickte zum weggestreckten Daumen des Kunstwerks hoch. »Was sagt die Erfahrung? Kann der Knoten wirklich unter dem Gewicht der Leiche gerissen sein?«
»Clouet war nicht gerade schlank, wenn auch nicht fett. Zwischen achtzig und fünfundachtzig Kilo, würde ich schätzen. Er ist einen Kopf größer als Sie. War mal Fallschirmspringer.«
»Tatsächlich?«
»Erzählt er doch in jedem zweiten Interview.« Meillant winkte ab. »Fragen Sie Ihre Frau.«
»Das Seil, Meillant.«
»Kann gut sein, dass es unter dem Gewicht des Körpers gerissen ist. Das blaue Ding ist nur so dick wie der kleine Finger von unserer Tranh.« Der Spurensicherer richtete sich auf. »In der Pathologie ziehen wir ihn aus und prüfen noch, ob es Abdrücke eines Sturzes gibt. Wir machen auch den Faserabgleich der Seilenden. Anschließend simulieren wir im Computer, wie er bei solch einem Riss gekippt und herumgerollt sein müsste. Die schwedische Software dafür ist genial.« Meillant legte die Stirn in Falten. »Kann aber dauern. Die Typen im Rechenzentrum und die Leute im Labor streiken.«
Und diese Mitarbeiter würden auch danach nicht schneller beim Abarbeiten des Auftragsrückstaus. Wenn Cédric etwas nicht brauchte, dann war es Zeitverlust. »Aber Ihren Bericht bekomme ich gleich.«
»Wenn die IT-Stelle den E-Mail-Server nicht lahmlegt, auf jeden Fall.« Meillant seufzte leise. »Bei Streiks haben wir schon alles erlebt.«
Cédric richtete sich auf. Ein Tatort hat eine Tiefendimension. Hinter den Baumstämmen der Schwurhand erstreckte sich eine Wiese, die Straße führte dahinter weiter nach Lézy-le-Sec. Normalerweise suchten Täter, die genau planten, unbewusst ihr Publikum. Für den président der Vigne d’Or hätte es aber angemessenere Orte mit größerem Prestige gegeben, wenn man ihn schon umbrachte. »Wo wohnt Clouet?«
»Auf der anderen Flussseite.«
Also nicht in der Nähe. Hätte der Täter Clouet demütigen wollen, wofür die Strangulation aus psychologischer Sicht sprach, wäre vielleicht ein Straßengraben plausibel gewesen oder ein ähnlicher Ort von extremer Banalität. Stattdessen lag die Leiche wie ausgestellt unter diesem, wenn auch nicht besonders genialen, Kunstwerk aus groben Baumstämmen, das fast so aussah, als hätten ein paar Jungs aus Lézy schottisches Baumstammwerfen missverstanden.
Cédric legte den Kopf in den Nacken. Diese Flasche am Riesendaumen … »Diese verknotete Aufhängung kriegt nicht jeder hin.« Auch wenn es für alles Erklärvideos im Netz gab. Er trat unter den auskragenden Holzstamm.
Lacoste ging in größerem Abstand auf dem hellen Kies um das ganze Kunstobjekt herum. »Es sei denn, die geknüpfte Halterung ist irgendwo geklaut. Und jemand anderes hat sie eigentlich für einen Messestand oder einen Empfang vorbereitet.«
»Guter Punkt, Guy.« Cédric war froh, dass Lacoste sich einbrachte. Er arbeitete lieber mit seiner Equipe als allein. »Aber den Flaschenhals so glatt abzuschlagen ist auch eine Kunst.«
»Sabrieren heißt das.«
Cédric wusste das natürlich, aber er ließ ihn lieber reden.
»Schon mal gemacht?« Lacoste hob den Arm.
»Nicht anfassen, der Glasrand ist scharf!«, rief Meillant vom Arbeitstisch her. »Außerdem haben wir eventuelle Fingerabdrücke noch nicht abgenommen.«
»Keine Sorge!« Lacoste hielt einen Zentimeter vor dem scharfen grünen Glasrand inne. »Du setzt den Champagnersäbel mit der Schneide am Bauch der Flasche einen Fingerbreit über dem Etikett an.« Lacoste drehte die Handfläche schräg weg. »Ein Winkel muss sein. Nicht senkrecht zum Glas, eher bloß eine Vierteldrehung. Dann ziehst du den Säbel in einer Bewegung durch, auf den Flaschenhals zu, und schlägst von unten gegen den Wulst des Flaschenkopfes. Der fliegt unter dem Druck des Champagners mit dem Korken leicht viele Meter.«
»Deshalb bleiben keine Glassplitter in der Flasche zurück. Man kann gefahrlos trinken.«
»Genau.« Lacoste klatschte in die Hände. »Hat angeblich Napoleon erfunden.«
Cédric war das egal. Wichtiger war, dass der Täter damit etwas mitteilen wollte, so weithin sichtbar, wie die Flasche aufgehängt worden war.
Lacoste zog die Augenbrauen zusammen. »Eigentlich ist es üblich, dass man den abgeschlagenen Kopf und die Korken mit dem Datum der Feier beschriftet und als Glücksbringer aufbewahrt. Meine Ex-Schwiegermutter macht noch so etwas. Unsere Generation postet lieber alles gleich auf Instagram.«
»Unwahrscheinlich, dass wir den Korken hier finden.« Cédric drehte sich zu den Spurensicherern um. »Prüft das Etikett unter dem dicken Knoten. Wie wäre es, Mademoiselle Tranh, mit einer Leiter?« Die mitzuführen war Vorschrift. Erhängte Personen waren gar nicht so selten.
Sie spurtete sofort zum Dienstwagen. Meillant rückte seine Brille zurecht und schnappte sich die Kamera vom Klapptisch.
Lacoste postierte sich unter dem Riesendaumen der Schwurhand in gebührlichem Abstand zu Clouets Leiche.
Cédric stellte sich schweigend dazu.
Die Aluleiter war schnell aufgeklappt.
»Das Puder für die Abdrücke zuerst«, sagte Meillant, »dann kannst du die Knoten verschieben.«
»Erst die Schnüre oder das Glas?«, fragte Tranh leise.
»Grundregel: erst die glatten, dann die rauen Flächen.«
»Verstehe.«
Tranh pinselte. Meillant reichte ihr eine Fluoreszenzleuchte. »Nichts.« Sie steckte den Pinsel in die Brusttasche des weißen Schutzanzugs. »Aber das hier brauchen wir gezoomt.« Sie schob die Knoten weg, dabei drehte sie die Flasche für Meillant in Position.
Meillant turnte wie ein Modefotograf darunter herum und pfiff.
Er hatte also etwas. Als Kommissar hatte Cédric diesen Moment in den Ermittlungen gemocht, wenn endlich etwas auftauchte. Aspekte, Verbindungen, am besten Widersprüche zu den Tatortfakten, die er ausleuchten konnte. Dieser Ausgangspunkt für seine Ermittlung machte ihm Mut. Und außerdem erhöhte er seine Chancen für eine baldige Rückkehr in die Weinberge.
»Hört sich gut an.« Lacoste wechselte das Standbein.
Tranh bugsierte schon die Aluleiter weg.
»Und?« Cédric steckte sogar wie früher die Hände in die Hosentaschen.
»Auf der Flasche klebt ein spezielles Champagneretikett.« Meillant kam näher, stellte sich neben Cédric und zeigte das Display. »Eindeutig das Gesicht Clouets. Genau aus dem Winkel, schräg von links unten, habe ich es schon ein paar Mal in der Zeitung gesehen. Da hat einer ein Pressefoto ausgedruckt und darüber das heutige Datum eingefügt.«
Vom Arbeitstisch her hörte Cédric ein Piepsen, gleichzeitig summte Lacostes Smartphone. »Die Kollegen von der Gendarmerie texten.«
Meillant rieb sich ein Ohrläppchen. »Die sind doch sonst nicht so fix.«
»Sie haben den anderen Ortszugang abgesperrt, aber da wo die Jungs geparkt haben, steht noch so ein Holzkunstwerk rum.« Lacostes Stimme klang plötzlich brüchig. »Sie schicken gleich die Fotos an die Spurensicherung.« Er blickte zu Tranh hin, die sich über ein Tablet beugte und darüberwischte.
»Entschuldigung …« Tranh kam mit dem Tablet angelaufen. »Die Aufnahmen müssen Sie sehen, Commissaire.«
Wieder ein blaues Seil, wieder ein mit dem Säbel abgeschlagener Flaschenhals. Aber als Etikett war ein anderes Porträt aufgeklebt. Eine gepflegte Mitfünfzigerin mit Diamantcreolen am Ohr.
»Valérie Varenne, Direktorin Museum in Châlons«, flüsterte Lacoste. »Unter ihrem Kinn ist ein Datum aufgedruckt.«
»Genau in einer Woche.« Cédric überlief ein Schauder.
»In der Mail der Gendarmerie steht, dass an zwei weiteren Holzskulpturen ebenfalls Flaschen baumeln«, sagte Tranh. »Wischen Sie einfach über den Bildschirm.«
Lacoste riss die geröteten Augen auf. »Die Gendarmerie hat echt mitgedacht«, flüsterte er.
Cédric strich schnell mit dem Finger über den Bildschirm zum nächsten angehängten Foto. Das Etikett zeigte einen Mann in den Vierzigern mit rotem Bart. »Kennt ihn jemand?«
»Kein Bretone, auch wenn er so ausschaut. Das ist der Patron von Frigorex, der Kühlmaschinenfabrik in Châlons. Die Firma hat uns vor zwei Jahren die Pathologie ausgestattet. Heißt Marchais oder Marais. Datum in zwei Wochen.«
Eine Serie. Wenigstens gab es nur noch eins. Das vierte Foto zeigte das Gesicht eines Mannes mit grau melierten kurzen Haarlöckchen, der wie ein afrikanischer Professor wirkte. »Jemand eine Idee?«, fragte Cédric.
Alle schüttelten die Köpfe.
Eine Todesliste. Dringender Handlungsbedarf.
»Mailt das letzte Foto sofort an den Erkennungsdienst. Wir müssen schnellstens klären, wer der Mann ist. Ich möchte mich nicht unbedingt auf das Datum in vier Wochen verlassen. Die anderen warnen wir selbst.« Vielleicht sollte er gleich Personenschutz für die angekündigten Opfer anfordern.
Cédric reichte Tranh das Tablet zurück, die ihn erwartungsvoll ansah, wie alle ihn immer in Paris angeschaut hatten, seit er den Spitznamen verpasst bekommen hatte. Konzentriere dich auf die Botschaft des Täters, sonst wird es nichts. Cédric blickte an ihr vorbei zur Schwurhandund der am Daumen baumelnden Flasche. Mit dem ganzen Aufwand hier sprach der Täter zu ihnen. In dem Tatortarrangement verbarg sich etwas, was ihn zum Urheber führen würde. Schon allein Maryses und des Rebenschnitts wegen würde er den Kampf jetzt aufnehmen. Außerdem war auch ein Mensch ermordet worden.
Lacoste legte die Hände auf den braunen Schopf und ging ganz langsam neben ihm in die Hocke. »Wenn ich das allein an der Backe hätte …« Seine Augen wurden groß. »Dieser Killer kündigt uns eine Serie an.«
Cédric wollte schon Ja sagen, aber seine Unterarme kribbelten, wie immer, wenn Dinge, die er registriert hatte, nicht zusammenpassten.
»Die Symbolik ist unscharf.« Cédric beschrieb mit dem rechten Zeigefinger einen Bogen in der Luft vom geköpften Flaschenhals am Kunstwerk zur blauen Schlinge am Hals des Opfers. »Selbst wenn das Seil tatsächlich zerrissen ist, als der Täter Clouet aufgehängt hat: Die Champagnerflasche ist von ihm gesäbelt worden. Das heißt, er hätte Clouet eigentlich den Kopf abschlagen müssen!«
Lacoste pfiff anerkennend und rappelte sich von den Knien wieder auf. »Das bedeutet?«
Viel, viel Arbeit, verdammt.
»Der Täter hat womöglich etwas anderes vor und lenkt nur ab. Filmen wir alles noch mal ganz genau.«
Tatort-360°-Panorama-Kreisel hieß diese Übung, mit der die Ausbilder Cédric traktiert hatten. Gefürchtet von allen in der Abschlussprüfung. Die Prüfer schafften es immer, irgendetwas am Tatort zu verstecken, das einem durchrutschte. Doch vier Jahre in der Pariser Mordkommission hatten Cédric gelehrt, dass es sich auszahlte, die Panorama-Methode zu beherrschen.
Cédric führte die Kamera der Spurensicherer lieber selbst und drehte sich ganz langsam auf der Stelle. Genau unter dem auskragenden Daumen der Riesenhand, wo höchstwahrscheinlich der Täter gestanden hatte, als er die Schlinge für Sylvain Clouets Hals befestigt hatte. Wie auch immer er diese dem Opfer hatte so einfach umlegen können.
Cédric kontrollierte auf dem Display die laufende Aufnahme.
Der gelbe Kies unter dem zentralen Stamm des Kunstobjekts war in einem Kreis mit einem Radius von zehn Metern ausgebracht worden. Der Schärfenausgleich der Kamera war perfekt. Die Maserung der Baumrinde wurde tiefenscharf wiedergegeben. Der Künstler hatte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass sein Werk aus groben Holzstämmen einmal als Galgen missbraucht würde.
Cédric setzte die Füße um. Das Grün der Wiese hinter der fünf Meter hohen Schwurhand sorgte für genug Kontrast. Wie auf einem Gemälde. Cédric drehte sich weiter, der Hintergrund glitt über in eine Hell-Dunkel-Schraffur aus Rebenreihen. Das perspektivisch winzige Flügelrad der Mühle Patou oben auf dem Hügel wirkte wie eine Erinnerung an die Zivilisation, während das näher stehende Buschwerk am Flussufer friedliche Natur suggerierte. Dahinter brachten die fernen Dächer von Lézy-le-Sec ein paar ockerfarbene und rote Pixel ein. Und wieder die Wiese. Cédric vollendete die 360° und ließ die Kamera sinken. »Eigentlich ist der Ort geradezu idyllisch.«
»Stimmt.«
Cédric hörte, wie Tranh die Vakuumdeckel auf die Kisten mit den in Plastiksäckchen gesicherten Spurenträgern klackte. Sie trug sie Meillant zum Dienstwagen hinterher, der unter die Heckklappe gebeugt die Markierungstäfelchen verstaute.
Spontane Täter handelten oft symbolisch, planende Täter waren pragmatisch, meinten die Profiler. Einen Menschen umzubringen war schon schwierig genug. Da konnte man beim Tatort nicht wählerisch sein.
Cédric war überzeugt, dass nicht der Tod eines Opfers, sondern erst der Moment, wenn die Polizei die Leiche wegbrachte, der Endpunkt eines Verbrechens war, weil dessen Spuren in der Wirklichkeit erst dann verwischt wurden.
Lacoste stand weiter weg auf der Wiese, hatte das Telefon am Ohr und gestikulierte wild. Es war wirklich keine leichte Sache, mitten in einem Streik den Abtransport einer Leiche zu organisieren. Cédric hörte ihn irgendwas in sein Handy schreien.
»Sollen wir?« Meillant und Tranh falteten neben dem toten Clouet die schwarze Folie des Leichensacks auseinander.
Cédric hasste den Augenblick, wenn die Leiche gesichert wurde – wie ein sperriges Möbel, das man gleich zur Entsorgung wegschaffte.
»Was sagt eure Erfahrung? War er schon tot, als das Seil seinen Hals stranguliert hat? Oder ist er daran gestorben?« Cédric umrundete noch einmal die auf dem Rücken liegende Leiche. »Die Arme drückt man doch nur so eng an den Körper, wenn man friert?«
»Oder Angst hat.« Tranh presste ihre dünnen Arme an den schmalen Bauch. »Als Kind habe ich das gemacht. So.«
Meillant machte sie nach, allerdings hoppelte er dabei auf einem Bein wie ein Clown. »Glaubst du, ein ehemaliger Fallschirmspringer steht so da, selbst wenn er mit einer Waffe bedroht wird?«
Tranh senkte den Kopf und sagte nichts.
»Seine Füße müssen hier aufgeprallt sein.« Cédric deutete auf den gelben Kies unter dem Stamm. »Die Schwerkraft lässt die Leiche direkt nach unten sacken, wenn das Seil reißt.«
Meillant hob das rechte Knie etwas. »Weil er schon stranguliert war, hielt er seine Füße nicht mehr gerade, er kippt also um.«
Cédric machte mit dem Oberkörper eine Bewegung auf die Leiche zu, ließ aber dabei seine Oberarme baumeln. »Der Winkel für den Körper wie auch die minimale Drehung in der Längsachse sind möglich. Aber müssten die Hände nicht beim Abstürzen unter die Hüfte geraten?«
»Non, non.« Meillant wackelte mit einem Zeigefinger. »Nicht unbedingt. Weil er diese schwere rechteckige Armbanduhr trägt, beeinflusst das Gewicht die Drehung anders. Wenn er irgendwo ein Implantat oder genagelte Knochen hat, am Knie oder Ellenbogen, ebenso. Bei einem Fallschirmspringer wäre das gar nicht so ungewöhnlich.«
Tranh tippte schnell auf dem Tablet mit. »Die Schweden haben das alles als Tools programmiert. Ich gebe das in die Simulation ein und …«
»Ja, ja, ist schon gut.« Meillant lachte. »Ist unsere Digital Native nicht wunderbar? Können wir ihn jetzt einpacken?«
Cédric blickte noch einmal auf das Opfer. Clouets Gesicht war schon maskenhaft versteift, die Hautfarbe unnatürlich gelbgrün. Selbst der Anzug schien verrutscht und eine Nummer zu eng. Cédric folgte mit dem Blick der blauen Schlinge bis zum gerissenen Stück. »Vielleicht hat die doppelte Schlinge des Knotens am Seil gescheuert, als der Täter ihn aufgehängt hat.«
Meillant brummte.
»Es könnte ja sein, dass er gar nicht da gehangen hat.« Cédric deutete zum Daumen über ihren Köpfen. »Habt ihr geprüft, ob es Faserabrieb am Holz gibt?«
»Optisch war es positiv. Faser- und Rindenprobe ist eingesäckelt.« Assistentin Tranh lächelte stolz.
»Gute Arbeit.«
Die Frage »Was ist passiert?« war noch am leichtesten zu beantworten, schließlich regierten im Universum der Dinge, die man anfassen konnte, die Regeln der Logik. Für die Frage nach dem »Warum?« galt leider das Gegenteil. Im Universum der menschlichen Abgründe, aus denen Mordmotive aufstiegen, regierten archaische Triebe, irrationale Lüste oder schiere Bosheit. Manchmal waren die Täter auch einfach verrückt.
»Bewegt eure Hintern verdammt noch mal her!«, rief Lacoste in sein Smartphone und kam von der Wiese her angelaufen. Er versenkte es in seiner Jackentasche. »Faules Pack.«
Cédric nickte Meillant und Tranh zu. Sie falteten den Leichensack neben der Leiche ganz auseinander.
Ding-da-dong. Dreimal knatterten die Töne über die Wiese, jedes Mal näher. Ding-da-dong. Die Hupfanfare fuhr Cédric in die Knochen, wie jedes Mal, wenn sie im Hof des Weinguts ertönte. Sie hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Madame fährt doch tatsächlich ein Facel Vega Cabriolet!« Meillant ließ den Eckzipfel der Matte fallen und richtete sich auf. »So wie das Chrom glänzt, ist es perfekt restauriert.«