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Rachel Morgans erster Fall kostet sie beinahe Kopf und Kragen: Kaum hat sie sich gemeinsam mit der Vampirin Ivy und dem vorlauten Pixie Jenks als Kopfgeldjägerin selbstständig gemacht, hat sie auch schon ein Killerkommando am Hals. Nur ein Mann kann ihr jetzt noch helfen, doch der ist dummerweise ihr Todfeind ...
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Seitenzahl: 724
Das Buch
Nach einer weltumspannenden Seuche hat sich das Leben auf der Erde grundlegend verändert: Die magischen Wesen sind aus dem Schatten getreten. Vampire, Kobolde und andere Untote machen die Straßen unsicher.
Dies ist die Geschichte der Hexe und Kopfgeldjägerin Rachel Morgan, deren Job es ist, diese finsteren Kreaturen zur Strecke zu bringen. Eines Tages hat Rachel jedoch genug von ihrem wenig aussichtsreichen Job in der magischen Sicherheitsbehörde von Cincinnati und kündigt. Gemeinsam mit der abgeklärten Vampirin Ivy, auf deren Enthaltsamkeitsgelübde man sich nicht verlassen sollte, und Jenks, einem vorlauten Pixie, gründet sie eine eigene Agentur.
Doch als Rachels ehemaliger Chef ihr ein Tötungskommando auf den Hals hetzt, sieht sie nur einen Weg, um ihre Haut zu retten: Sie muss Trent Kalamack, den gefährlichsten Gangster der Stadt, als Rauschgiftschmuggler überführen. Der aber hat seine eigenen Pläne …
DIE RACHEL-MORGAN-SERIEBd. 1: Blutspur Bd. 2: Blutspiel Bd. 3: Blutjagd Bd. 4: Blutpakt Bd. 5: Blutlied Bd. 6: Blutnacht Bd. 7: Blutkind Bd. 8: Bluteid Bd. 9: Blutdämon
Die Autorin
Kim Harrison, geboren im Mittleren Westen der USA, wurde schon des Öfteren als Hexe bezeichnet, ist aber – soweit sie sich erinnern kann – noch nie einem Vampir begegnet. Sie hegt eine Vorliebe für Friedhöfe, Midnight Jazz und schwarze Kleidung und ist bei Neumond nicht auffindbar.
Für den Mann, der meinen Hut mochte
Ich stand im Schatten eines verlassenen Geschäfts gegenüber des Blood and Brew Pub und versuchte nicht aufzufallen, während ich an meiner schwarzen Lederhose herumzerrte. Das ist erbärmlich, dachte ich und starrte auf die menschenleere Straße. Ich war viel zu gut für so etwas.
Meine Hauptaufgabe war es, Hexen festzunehmen, die den schwarzen Künsten nachgingen. Nur eine Hexe kann eine Hexe fangen! Aber in dieser Woche war es auf den Straßen ruhiger als sonst. Jede, die es nur irgendwie schaffen konnte, war auf unserem jährlichen Treffen an der Westküste. Für mich blieb dieser Fall übrig, ein wahres »Juwel« : eine simple Festnahme, die jeder Anfänger hingekriegt hätte. Es war einfach das Glück des Wandels, dass ich hier im Dunkeln stand und vom Regen durchnässt wurde.
»Wem will ich hier etwas vormachen?«, flüsterte ich und zog den Gurt meiner Tasche höher auf die Schulter. Seit einem Monat hatte ich keinen Auftrag bekommen, eine Hexe festzunehmen – weiß, schwarz oder sonst wie. Es war wahrscheinlich doch keine so gute Idee gewesen, den Sohn des Bürgermeisters aufgrund öffentlicher Werwolf-Aktivitäten festzunehmen, und das auch noch kurz vor Vollmond.
Ein schnittiger Wagen kam um die Ecke, schwarz, soweit man das im flimmernden Licht der Straßenlaterne erkennen konnte. Das war schon seine dritte Runde um den Block. Ich verzog das Gesicht, als er näher kam und langsamer wurde. »Verdammt noch mal«, flüsterte ich. »Ich brauche wohl ein besseres Versteck für diese Sache hier.«
»Er hält dich für eine Nutte, Rachel«, kicherte mir mein Backup ins Ohr. »Ich hab dir doch gesagt, dass dieses rückenfreie Oberteil billig aussieht.«
»Jenks, hat dir schon mal jemand gesagt, dass du wie eine besoffene Fledermaus stinkst?«, zischte ich wütend.
Mein Backup war in dieser Nacht unangenehm nah, da er auf meinem Ohrring thronte. Ein großes baumelndes Ding – der Ohrring, nicht der Pixie. Jenks gehörte zu den fliegenden Elfen, auch Pixies genannt. Meiner Meinung nach war er ein launischer, zynischer Großkotz, aber er wusste, von welcher Seite des Gartens sein Nektar kam. Seit dem Zwischenfall mit den Fröschen waren Pixies das Beste, womit man mich zusammenarbeiten ließ. Dabei hätte ich schwören können, dass Fairies zu groß sind, um in das Maul eines Frosches zu passen.
Als der Wagen auf dem nassen Asphalt zum Stehen kam, schlenderte ich lässig bis zum Bordstein. Das automatische Fenster gab ein unangenehmes Quietschen von sich, als die getönte Scheibe hinunterglitt. Ich lehnte mich herab, zeigte mein schönstes Lächeln und präsentierte blitzschnell meinen Dienstausweis. Ebenso schnell verblasste das lüsterne Grinsen von Mr. Möchtegern-Casanova und er erbleichte. Der Wagen fuhr so ruckartig an, dass die Reifen leise quietschten. »Ausflügler«, sagte ich voller Verachtung. »Nein«, wies ich mich gleich darauf zurecht. Er war die Norm – ein Mensch. Auch wenn sie sich gut eigneten, waren Bezeichnungen wie »Ausflügler«, »Konfektionsware« und – mein persönlicher Favorit – »Zwischenmahlzeit«, nicht politisch korrekt. Aber wenn der Kerl glaubte, in den Hollows Bordsteinschwalben auflesen zu können, war er so gut wie tot.
Der Wagen fuhr über eine rote Ampel, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Ich drehte mich um und hörte die aufgebrachten Rufe der Nutten, die ich bei Sonnenuntergang vertrieben hatte. Sie hatten schamlos an der gegenüberliegenden Ecke Posten bezogen, wirkten jetzt allerdings nicht besonders glücklich. Ich winkte ihnen kurz zu, und die größte von ihnen zeigte mir den Mittelfinger, bevor sie sich schnell umdrehte und mir ihr kleines, durch einen Zauber aufpoliertes Hinterteil zuwandte. Die Hure und ihre doch sehr herb wirkende »Freundin« sprachen laut, während sie versuchten, ihre gemeinsame Zigarette zu verstecken. Das roch nicht nach normalem Tabak. Heute nicht mein Problem, dachte ich und zog mich in den Schatten zurück.
Ich lehnte mich gegen den kalten Stein des Gebäudes, und mein Blick blieb an den aufleuchtenden Rücklichtern eines bremsenden Wagens hängen, bevor ich mich selbst stirnrunzelnd einer kritischen Musterung unterzog: Für eine Frau war ich groß, ungefähr 1,70 Meter, aber ich hatte nicht so lange Beine wie die »Dame« an der Laterne gegenüber. Auch trug ich nicht so viel Make-up wie sie. Meine schmalen Hüften und flachen Brüste machten mich ebenfalls nicht zur idealen Prostituierten. Bevor ich die Outlets der Leprechauns fand, hatte ich im »Dein erster BH« eingekauft. Es ist schwierig, dort etwas zu finden, auf dem keine Herzen oder Einhörner sind.
Meine Vorfahren waren im 19. Jahrhundert in die guten alten Vereinigten Staaten von Amerika emigriert. Irgendwie haben es die Frauen über die ganzen Generationen hinweg geschafft, das auffällige rote Haar und die grünen Augen unserer irischen Heimat zu behalten. Meine Sommersprossen sind allerdings unter einem Zauber verborgen, den mein Vater mir zu meinem dreizehnten Geburtstag gekauft hatte. Das winzige Amulett ist in einem Ring verborgen, den ich am kleinen Finger trage und ohne den ich niemals das Haus verlasse.
Ich konnte mir einen Seufzer nicht verkneifen, als ich meine Tasche erneut auf die Schulter zurückzog. Die Lederhose, die roten Stiefeletten und das Spaghettiträgeroberteil waren zwar nicht weit von dem entfernt, was ich normalerweise an den sogenannten »Casual Fridays« trug, um meinen Chef auf die Palme zu bringen, aber versuch das mal nachts an einer Straßenecke … »Mist«, raunte ich Jenks zu. »Ich seh’ aus wie eine Nutte.«
Seine einzige Antwort bestand aus einem Prusten. Ich zwang mich, nicht darauf einzugehen, und wandte mich wieder der Bar zu. Aufgrund des Regens ließen die ersten Besuchermengen auf sich warten und von meinem Backup und den »Ladies« mal abgesehen, war die Straße leer. Ich stand jetzt seit einer Stunde hier draußen, von meinem Zielobjekt keine Spur. Genauso gut konnte ich reingehen und dort warten. Außerdem würde ich drinnen mehr nach Nachfrage als nach Angebot aussehen.
Ich atmete tief ein, zog einige Strähnen meiner schulterlangen Locken aus dem Haarknoten, arrangierte sie kunstvoll, sodass sie in mein Gesicht fielen, und spuckte schließlich meinen Kaugummi aus. Als ich die nasse Straße überquerte und in die Bar ging, bildete das Geräusch meiner Absätze einen schicken Kontrast zum Rasseln der Handschellen, die an meiner Hüfte baumelten. Die stählernen Schließen wirkten wie protzige Requisiten, waren jedoch echt und schon oft gebraucht worden. Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, warum Mr. Möchtegern-Casanova gehalten hatte. Ja, ich brauche die Handschellen für meine Arbeit – aber nicht für die Art von Arbeit, an die du gedacht hast.
Man hatte mich trotz des Regens in die Hollows geschickt, um einen Leprechaun, einen irischen Glückskobold, der wegen Steuerhinterziehung gesucht wurde, »an die Leine zu legen«. Wie viel tiefer, fragte ich mich, konnte ich noch sinken? Okay, ich hatte einen Blindenhund festgenommen. Doch woher sollte ich wissen, dass er nicht der gesuchte Werwolf war? Er passte auf die Beschreibung, die mir gegeben worden war.
Als ich im schmalen Eingang stand und die Feuchtigkeit abschüttelte, ließ ich meinen Blick durch den Raum wandern – der typische irische Mist: langstielige Pfeifen an der Wand, Werbeschilder für irisches Bier, schwarze Plastiksitze und eine kleine Bühne, auf der ein Möchtegern-Star sein Zimbal und seinen Dudelsack zwischen den riesigen Verstärkern postierte. Ein Hauch von Brimstone hing in der Luft. Mein Jagdinstinkt erwachte. Der Geruch war drei Tage alt, nicht stark genug, um ihm nachzugehen. Doch falls ich den Lieferanten festnageln konnte, würde ich vielleicht von der »Hitliste« meines Chefs gestrichen und eventuell würde er mir endlich wieder etwas geben, das meinem Talent gerecht wurde.
»Hey«, ertönte eine tiefe Stimme. »Bist du der Ersatz für Tobby?« Ich vergaß den Brimstone. Meinen schönsten Augenaufschlag aufsetzend, drehte ich mich um und starrte auf den Bauch eines Mannes, der ein grell-grünes T-Shirt trug. Mein Blick wanderte an diesem Bär von einem Mann hinauf – ein Rausschmeißer, wie er im Buche stand. Passenderweise stand »Cliff« auf seinem Hemd. »Wer?«, schnurrte ich, während ich mit dem Saum seines Shirts den Regen aus meinem zugegebenermaßen nicht gerade üppig bestückten Ausschnitt tupfte. Er blieb völlig ungerührt – es war deprimierend.
»Tobby. Staatlich lizensierte Nutte. Zeigt sie sich hier noch mal?«
Von meinem Ohrring kam ein leiser Singsang. »Ich hab es dir ja gesagt.«
Mit einem gezwungenen Lächeln erwiderte ich: »Ich weiß es nicht. Ich bin keine Nutte.«
Er grunzte nur und betrachtete mein Outfit. Ich durchwühlte meine Tasche und gab ihm meinen Dienstausweis. Jeder, der zusah, würde annehmen, dass er mich kontrollierte.
Bei all den verfügbaren Zaubern, die das Alter verbargen, war das eine obligatorische Maßnahme. Wie auch das Kontrollamulett, das er um den Hals trug: Es wechselte die Farbe, wenn es einen Zauber entdeckte. In Reaktion auf meinen Ring glühte es jetzt in einem hellen Rot. Er würde mich daher wohl nicht komplett durchsuchen. Aus genau diesem Grund hatte ich die Amulette in meiner Tasche bis jetzt noch nicht beschworen. Nicht, dass ich sie heute Nacht wirklich brauchen würde.
»Inderland Security«, erklärte ich ihm, als er die Karte nahm. »Ich bin hier, um jemanden zu finden, nicht um deine Stammgäste zu schikanieren. Darum benutze ich diese, ähm, Tarnung.«
»Rachel Morgan«, las er laut, wobei seine dicken Finger fast die ganze Karte bedeckten. »Inderland Security Runner. Du bist ein I. S.-Runner?« Er warf einen prüfenden Blick auf den Ausweis, dann auf mich und dann wieder auf die Karte, und seine fetten Lippen öffneten sich zu einem Grinsen. »Was ist mit deinem Haar passiert? Bist du in eine Lötlampe gelaufen?«
Wütend biss ich mir auf die Unterlippe. Das Bild war drei Jahre alt. Es war keine Lötlampe, sondern ein Streich gewesen. Eine Art Aufnahmeritual in den offiziellen Status des Runners. Sehr witzig.
Der Pixie flitzte von meinem Ohrring und brachte ihn dadurch zum Schwingen. »Ich würde meine Klappe halten«, sagte er und neigte seinen Kopf, als er auf meinen Ausweis schaute. »Der letzte Idiot, der über ihr Bild gelacht hat, verbrachte die Nacht in der Notaufnahme mit einem Cocktailschirmchen in der Nase.«
Mir wurde warm. »Du weißt davon?«, fragte ich, schnappte meinen Ausweis und steckte ihn in die Tasche.
»Jeder in der Bereitschaft weiß darüber Bescheid.« Der Pixie lachte herzlich. »Genauso wie über deinen Versuch, einen Werwolf mit einem Juckreiz-Zauber festzunehmen, nur um ihn dann auf dem Klo zu verlieren.«
»Versuch du mal, einen Werwolf so kurz vor Vollmond einzufangen, ohne gebissen zu werden«, erwiderte ich abwehrend. »Es ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Ich musste einen Zaubertrank benutzen. Solche Sachen sind teuer.«
»Und was war mit der Enthaarung eines voll besetzten Busses?« Die libellen-ähnlichen Flügel verfärbten sich rot, als er lachte und seine Blutzirkulation stieg. In seinem schwarzen Seidenoutfit und dem roten Halstuch sah Jenks aus wie ein kleiner Peter Pan, der als Mitglied einer Straßengang posierte. Ein zehn Zentimeter großer, blonder Quälgeist, dessen unberechenbares Temperament mich oft genug zur Weißglut brachte.
»Das war nicht meine Schuld«, sagte ich. »Der Fahrer ist durch ein Schlagloch gefahren.« Ich runzelte die Stirn. Außerdem hatte jemand meine Zauber vertauscht. Der Versuch, die Füße des Fahrers zu fesseln, endete unglücklicherweise in der vollständigen Enthaarung aller Anwesenden bis zur dritten Sitzreihe. Zumindest hatte ich mein Zielobjekt erwischt, obwohl ich drei Wochen lang einen Großteil meines Gehaltsschecks für Taxis opfern musste, bis mich endlich wieder ein Bus mitnahm.
»Und der Frosch?« Jenks wich geschickt aus, als der Rausschmeißer versuchte, ihn mit einem Finger wegzuschnipsen. »Ich war als Einziger bereit, heute Nacht mit dir rauszugehen. Und ich bekomme eine Gefahrenzulage!« In einem Anflug von Stolz stieg der Pixie einige Zentimeter auf.
Cliff schien davon nicht beeindruckt zu sein. Ich war schockiert. »Schau mal«, sagte ich. »Alles, was ich will, ist eine ruhige Ecke, wo ich mir unauffällig einen Drink genehmigen kann.« Ich nickte in Richtung Bühne, wo der späte Teenager seine Verstärkerkabel entwirrte. »Wann fängt das an?«
Der Türsteher zuckte mit den Schultern. »Er ist neu. Ich schätze, in einer Stunde.« Dann gab es einen Knall, gefolgt von Applaus, als einer der Verstärker von der Bühne fiel. »Oder zwei.«
»Danke.« Jenks’ helles Gelächter ignorierend bahnte ich mir einen Weg zwischen den leeren Tischen hindurch in einen dunkleren Teil des Pubs, wo einige Sitzgruppen standen. Ich entschied mich für eine mit einem Elchkopf dekorierte Ecke und versank einige Zentimeter tiefer als erwartet in dem schlaffen Polster. Sobald ich den kleinen Mistkerl gefunden hatte, würde ich mir meine Papiere holen. Das war demütigend. Ich war nun schon seit drei Jahren bei der I. S., sogar sieben, wenn man die vier Jahre praktische Ausbildung mitrechnete, und hier war ich nun und machte Anfängerjobs.
Es waren die Anfänger, die in Cincinnati die kleineren, routinemäßigen Polizeiaufgaben erledigten. In ihren Zuständigkeitsbereich gehörten auch die großen Vororte jenseits des Flusses, liebevoll die Hollows genannt. Wir erledigten die übernatürlichen Fälle, mit denen das von Menschen geführte FIB, kurz für Federal Inderlander Bureau, nicht umgehen konnte. Kleinere Belästigungen durch Zaubersprüche und die Rettung von Bekannten aus Bäumen lagen im Aufgabenbereich der I.S.-Anfänger. Ich aber war ein voll ausgebildeter Runner, verdammt noch mal. Ich hatte Besseres verdient; schlimmer, ich hatte schon Besseres gemacht.
Ich war es, die ganz allein den schwarzmagischen Hexenzirkel gefunden und festgenommen hatte, dem es gelungen war, das magische Sicherheitssystem von Cincinnatis Zoo zu umgehen, die Affen zu stehlen und sie an ein illegales Biolabor zu verkaufen. Aber habe ich auch nur ein bisschen Anerkennung dafür bekommen? Nein!
Ich war es, die den Zusammenhang zwischen dem irren Grabschänder und einer Reihe von Todesfällen auf der Transplantationsstation eines von Menschen geführten Krankenhauses erkannt hatte. Jeder nahm an, dass er Material für illegale Zaubersprüche sammelte, stattdessen hatte er die Organe in einen vorübergehend gesunden Zustand verwandelt, um sie dann auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.
Und die Überfälle an Bankautomaten, die vergangene Weihnachten die Stadt in Aufruhr versetzt hatten? Ich hatte ganze sechs Amulette gebraucht, um wie ein Mann auszusehen, aber ich konnte die Hexe festnageln. Sie hatte eine Kombination aus Liebesamulett und Vergessenszauber benutzt, um einfältige Menschen auszurauben. Das war eine besonders befriedigende Festnahme gewesen. Ich hatte die Hexe drei Straßen lang gejagt, ohne die Möglichkeit, einen Zauberspruch zu wirken, als sie sich umdrehte, um mich mit einem möglicherweise tödlichen Amulett anzugreifen. Ich hatte also jedes Recht, sie mit einem Rundumschlag kaltzustellen. Und das Beste war – das FIB war drei Monate hinter ihr her gewesen und ich brauchte nur lächerliche zwei Tage, um sie festzunehmen. Ich ließ sie wie Idioten dastehen, aber habe ich ein »Gute Arbeit, Rachel« bekommen? Habe ich wenigstens eine Fahrt zurück zur I. S.-Zentrale bekommen, nachdem mein Fuß auf die doppelte Größe angeschwollen war? Nein!
Und in letzter Zeit wurde mir noch weniger zugeteilt: Diebstähle wie die der Kids von der Studentinnenvereinigung, die Amulette missbraucht hatten, um Leitungskabel zu stehlen; Zaubersprüche, die eingesetzt wurden, um jemandem einen Streich zu spielen; und mein unvergesslicher Favorit – die Vertreibung von Trollen aus ihren Behausungen unter Brücken und Unterführungen, bevor sie den ganzen Beton auffraßen. Ich stieß einen Seufzer aus, als ich mich im Pub umsah. Erbärmlich.
Jenks entzog sich meinem apathischen Versuch, nach ihm zu schlagen, als er sich wieder auf meinem Ohrring niederließ. Dass sie ihm dreimal so viel zahlten, damit er bereit war, mit mir zu arbeiten, hob meine Stimmung auch nicht gerade.
Eine grün gekleidete Kellnerin eilte zu uns herüber. Für diese Uhrzeit war sie beängstigend fröhlich. »Hi«, sagte sie strahlend. »Mein Name ist Dottie. Ich bin heute Abend Ihre Bedienung.« Noch immer lächelnd stellte sie mir drei Drinks hin: eine Bloody Mary, einen Old Fashioned und einen Shirley Temple. Wie süß.
»Danke, Honey«, entgegnete ich mit einem erschöpften Seufzer. »Von wem?«
Sie rollte ihre Augen in Richtung Theke und versuchte vergeblich, gelangweilte Kultiviertheit zu zeigen. Stattdessen sah sie aus wie ein Highschool-Mädchen auf dem großen Ball. Ich spähte an ihrer schmalen, beschürzten Taille vorbei und betrachtete die drei Schnarchnasen mit ihren lüsternen Blicken und an eindeutiger Stelle eng sitzenden Hosen. Es war eine alte Tradition: Einen Drink zu akzeptieren bedeutete, auch die Einladung anzunehmen, die dahintersteckte. Eine weitere Sache, auf die Ms. Rachel achten musste. Sie sahen normal genug aus, aber man konnte nie wissen.
Als Dottie klar wurde, dass es kein weiteres Gespräch geben würde, kehrte sie an den Tresen zurück, um irgendwelche Kellnerinnensachen zu machen. »Überprüf sie, Jenks«, flüsterte ich, und der Pixie flitzte davon, seine Flügel vor Aufregung gerötet. Niemand sah ihn verschwinden. Pixiearbeit vom Feinsten.
Im Pub war es ruhig, aber da zwei Kellner hinter der Bar standen, ein alter Mann und eine junge Frau, ging ich davon aus, dass sich der Laden bald füllen würde. Der Blood and Brew war eine bekannte Adresse, wo die Normalos sich unter die Inderlander mischten. Anschließend fuhren sie mit verschlossenen Türen und verriegelten Fenstern zurück über den Fluss – erregt und in dem Glauben, sie seien heiße Typen.
Und obwohl ein einziger Mensch unter Inderlandern auffällt wie ein Pickel im Gesicht einer Schönheitskönigin, kann sich ein Inderlander leicht unter Menschen bewegen. Es ist eine Überlebensstrategie, die schon seit der Zeit vor Pasteur immer weiter verfeinert wurde. Darum auch der Pixie. Fairies – die kleinen, geflügelten Blumenfeen – und Pixies können sprichwörtlich schneller einen Inderlander riechen, als ich »Spuck« sagen kann.
Halbherzig sah ich mich in der fast leeren Bar um. Meine schlechte Laune verschwand schlagartig und ich lächelte, als ich ein bekanntes Gesicht aus dem Büro sah. Ivy.
Ivy war ein Vampir, der Star unter den I. S.-Runnern. Jahre zuvor waren wir uns während meines Praktikums begegnet, als wir während meines letzten Ausbildungsjahres bei Trainingsläufen ein Team gebildet hatten. Sie hatte sich direkt als ausgebildeter Läufer einstellen lassen, nachdem sie die Universität nach sechs Jahren abschloss, statt, wie ich, den Weg über zwei Jahre College und ein vierjähriges Praktikum zu wählen. Irgendjemand hatte es wohl witzig gefunden, uns einander zuzuweisen.
Mit einem Vampir zusammenzuarbeiten – lebendig oder tot –, hatte mich völlig verängstigt, bis ich herausfand, dass Ivy kein praktizierender Vampir war, sondern dem Blut abgeschworen hatte. Wir waren so verschieden, wie es zwei Leute nur sein können, aber irgendwie ergänzten wir uns, denn ihre Stärken waren meine Schwächen. Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ihre Schwächen meine Stärken waren, aber Ivy hatte keine Schwächen, von der Angewohnheit, alles akribisch zu planen, mal abgesehen.
Wir hatten seit Jahren nicht mehr zusammengearbeitet, und trotz meiner widerstrebend bewilligten Beförderung hatte Ivy einen höheren Rang. Sie wusste einfach immer, wann man wem was am besten sagte. Es schadete natürlich auch nicht, dass sie zur Tamwood-Familie gehörte, ein Name so alt wie Cincinnati. Sie war das letzte Familienmitglied, im Besitz einer Seele und genauso lebendig wie ich, da sie bereits im Mutterleib mit dem Virus infiziert worden war. So hatte sie ein bisschen was von beiden Welten – der der Lebenden und der der Toten.
Auf mein Nicken hin schlenderte sie zu mir rüber. Die drei Männer an der Bar stießen sich gegenseitig mit den Ellbogen an und drehten sich anerkennend nach ihr um. Sie warf ihnen einen herablassenden Blick zu, und ich hätte schwören können, dass ich einen Seufzer hörte. »Wie läuft’s, Ivy?«, fragte ich, als sie es sich auf der gegenüberliegenden Bank bequem machte.
Der Plastiksitz quietschte, als sie sich an die Wand lehnte und ihre Füße, die in hohen Stiefeln steckten, auf die Bank legte, sodass ihre leicht angezogenen Knie am Rand des Tisches ruhten. Sie war einen halben Kopf größer als ich. Während ich jedoch einfach nur groß wirkte, verfügte sie über eine grazile, anziehende Eleganz. Ihr leicht orientalisches Aussehen verlieh ihr eine geheimnisvolle Ausstrahlung und bestärkte mich in meinem Glauben, dass die meisten Models Vampire sein müssen. Sie kleidete sich auch wie ein Model: dezenter Lederrock mit Seidenbluse, alles vom Feinsten, alles aus der Vampir-Kollektion und natürlich alles in Schwarz. Das weiche, dunkle Haar betonte ihre bleiche Haut und ihr schmales Gesicht. Egal, was sie mit ihrem Haar anstellte, es ließ sie immer exotisch erscheinen. Ich konnte mit meiner Frisur Stunden verbringen und das Resultat war immer rot und kräuselte sich. Mr. Möchtegern-Casanova hätte bei ihr nicht gehalten, dazu hatte sie zu viel Klasse.
»Hey Rachel«, sagte Ivy. »Was machst du hier unten in den Hollows?« Sie hatte eine tiefe, melodiöse Stimme, weich und kühl wie graue Seide. »Ich dachte, diese Woche holst du dir an der Küste Hautkrebs«, fügte sie hinzu. »Ist Denon immer noch sauer wegen des Hundes?«
Verlegen zuckte ich mit den Schultern. »Naja.« Tatsächlich hatte der Boss fast einen Schlaganfall bekommen. Ich war nur einen Schritt von einer Strafversetzung zur Putzkolonne entfernt gewesen. »Es war wirklich ein unglückliches Missverständnis.« Ivy ließ ihren Kopf mit einer verführerischen Bewegung zurückfallen und entblößte dabei ihren Hals in seiner gesamten Länge. Es war keine Narbe zu sehen. »Das hätte jedem passieren können.«
Jedem außer dir, dachte ich säuerlich. »Yeah«, sagte ich laut und schob ihr die Bloody Mary rüber. »Dann wollen wir doch mal sehen, ob du mein Ziel ausmachen kannst.« Ich spielte mit den Amuletten an meinen Handschellen und berührte dabei das aus Olivenholz geschnitzte Kleeblatt.
Fast liebkosend berührten ihre schlanken Finger das Glas. Dieselben Finger konnten mir, mit ein wenig Kraftaufwand, ein Handgelenk brechen. Sie würde wohl noch bis zu ihrem Tod warten müssen, bevor sie es spielend schaffte, war aber jetzt schon stärker als ich. Die Hälfte des roten Drinks verschwand in ihrer Kehle. »Seit wann interessiert sich die I. S. für Leprechauns?«, fragte sie, während sie die restlichen Amulette begutachtete.
»Seit der Boss seinen letzten schlechten Tag hatte.«
Sie zuckte mit den Schultern, zog ihr Kruzifix unter der Bluse hervor und ließ die Kette provozierend durch die Zähne gleiten. Ihre Eckzähne waren scharf wie die einer Katze, aber nicht größer als meine. Sie würde wohl erst nach ihrem Tod die Luxusausführung bekommen. Ich zwang mich, den Blick von ihrem Mund zu lösen und betrachtete stattdessen das metallene Kreuz. Es hatte die Länge meiner Hand und war aus wunderschön gearbeitetem Silber. Ivy hatte erst vor kurzem begonnen, es zu tragen, da es ihre Mutter in den Wahnsinn trieb. Sie verstanden sich nicht besonders gut.
Ich berührte das kleine Kreuz an meinen Handschellen und überlegte, dass es wohl nicht ganz einfach war, eine untote Mutter zu haben. Ich hatte bis jetzt nur wenige tote Vampire getroffen. Die richtig alten blieben unter sich, und die jüngeren tendierten dazu, gepfählt zu werden, wenn sie nicht schnell genug lernten, unter sich zu bleiben.
Tote Vampire waren völlig gewissenlos und folgten unbarmherzig ihren Jagdinstinkten. Gesellschaftliche Regeln waren für sie lediglich ein Spiel, an dem sie sich beteiligten. Tote Vampire kannten Regeln. Die gesamte Erhaltung ihrer Existenz beruhte auf Regeln, gegen die zu verstoßen Tod und Schmerz bedeuten konnte, wie etwa bei ihrem höchsten Gebot, die Sonne zu meiden. Um bei klarem Verstand zu bleiben, brauchten sie täglich Blut. Jede Art von Blut war geeignet, doch es von den Lebenden zu nehmen, war ihre einzige Freude. Sie waren mächtig, verfügten über fast unerschöpfliche Kraft und Ausdauer und heilten überirdisch schnell. Abgesehen von der traditionellen Enthauptung und Pfählung war es schwierig, sie zu vernichten. Im Tausch gegen ihre Seele konnten sie Unsterblichkeit erlangen. Die alten Vampire behaupteten, das sei der angenehmste Teil: die Möglichkeit, sich jedes sinnliche Bedürfnis zu erfüllen, ohne Schuld zu empfinden, wenn jemand starb, um ihnen Vergnügen und geistige Klarheit zu verschaffen.
Ivy hatte sowohl das Vampir-Virus als auch eine Seele und war somit zwischen den Welten gefangen, bis sie durch ihren Tod zu einer wahren Untoten werden würde. Obwohl sie weder so mächtig noch so gefährlich war wie ein toter Vampir, zog die Möglichkeit, sich frei in der Sonne zu bewegen und sie ohne Schmerzen zu genießen, den Neid ihrer toten Brüder auf sich.
Die Glieder ihrer Kette schlugen rhythmisch gegen ihre perlweißen Zähne, während ich ihre ausgeprägte Sinnlichkeit mit geübter Selbstbeherrschung zu ignorieren versuchte. Ich mochte sie mehr, wenn die Sonne am Himmel stand und sie den erotischen, raubtierhaften Teil ihres Wesens besser unter Kontrolle hatte.
Mein Pixie kam zurück und landete auf den künstlichen Blumen, die in einer Vase voller Zigarettenkippen standen. »Großer Gott«, geschockt ließ Ivy das Kreuz fallen. »Ein Pixie. Denon muss wirklich angepisst sein.«
Jenks’ Flügel setzten kurz aus, um dann umso schneller zu flattern. »Geh und wandel dich, Tamwood!«, sagte er schrill. »Denkst du, Fairies sind die Einzigen, die eine Nase haben?«
Ich zuckte zusammen, als Jenks mit voller Wucht auf meinem Ohrring landete. »Nur das Beste für Ms. Rachel«, sagte ich trocken. Ivy lachte und ich fühlte, wie meine Nackenhaare sich aufstellten. Ich vermisste das Prestige der Zusammenarbeit mit Ivy, aber sie machte mich immer noch nervös. »Wenn du denkst, dass ich dir deinen Fang versaue, kann ich auch später wiederkommen«, fügte ich hinzu.
»Nein«, erwiderte sie. »Bleib ruhig. Ich hab schon zwei Blutsauger in der Toilette festgesetzt, nachdem ich sie dabei erwischt hatte, wie sie verbotenes Wild gejagt haben.« Mit dem Drink in der Hand rutschte sie zum Ende der Bank, erhob sich und streckte sich lasziv. Dabei stöhnte sie fast unhörbar. »Sie sehen zu billig aus für einen Fluchtzauber«, fuhr sie fort. »Trotzdem habe ich meine große Eule draußen, nur für den Fall. Sollten sie es wagen, aus dem zerbrochenen Fenster zu fliehen, sind sie Vogelfutter. Ich bringe sie gerade mal raus.« Sie nahm einen Schluck und ihre braunen Augen fixierten mich über den Rand des Glases hinweg. »Falls du hier früh genug fertig wirst, sollen wir uns vielleicht ein Taxi in die Stadt teilen?«
Der sanfte Hauch der Gefahr in ihrer Stimme verunsicherte mich, sodass ich nur unverbindlich nickte. Meine Finger spielten nervös mit einer Locke meines roten Haares, und ich beschloss, sie noch einmal genau unter die Lupe zu nehmen, bevor ich mit ihr zu dieser nächtlichen Zeit in ein Taxi stieg. Es mochte ja sein, dass sie kein Blut zum Überleben brauchte, aber es war offensichtlich, dass sie noch immer ein starkes Verlangen danach hatte, öffentliches Enthaltsamkeitsgelübde hin oder her.
Am Tresen machte sich Traurigkeit breit, da nur noch zwei Drinks vor mir standen. Jenks steigerte sich immer weiter in einen schrillen Wutanfall hinein. »Entspann dich, Jenks«, sagte ich und versuchte, ihn davon abzuhalten, mir meinen Ohrring rauszureißen. »Ich mag es, mit einem Pixie zu arbeiten. Fairies tun doch keinen Handschlag ohne die Einwilligung der Gewerkschaft.«
»Das ist dir aufgefallen?«, knurrte er, während der Luftzug seiner Flügel mein Ohr kitzelte. »Nur wegen einem grausamen Gedicht, das irgendein besoffener Penner vor dem Wandel fabriziert hat, denken die Fairies, sie wären besser als wir. Publicity, Rachel, darauf kommt es an. Gut geschmiert ist halb gewonnen! Weißt du übrigens, dass Fairies für die gleiche Arbeit mehr Geld bekommen als wir Pixies?«
»Jenks ?«, unterbrach ich ihn und warf mein Haar über die Schulter zurück.
»Was ist mit den Typen an der Bar?«
»Und dieses Bild!«, fuhr er unbeirrt fort, wobei mein Ohrring bebte. »Hast du das gesehen? Das mit dem menschlichen Gör, das in eine Verbindungsparty reinplatzt. Diese Fairies waren so besoffen, die haben nicht einmal bemerkt, dass sie mit einem Menschen tanzen. Und dafür kriegen sie auch noch Tantiemen.«
»Hör endlich auf, Jenks«, sagte ich knapp. »Was hast du herausgefunden?«
Ich hörte ein leises Murren und mein Ohrring zitterte leicht.
»Kandidat Nummer eins ist ein privater Fitnesstrainer«, meckerte er. »Kandidat Nummer zwei repariert Klimaanlagen und Kandidat Nummer drei ist Reporter bei einer Zeitung. Alles Ausflügler.«
»Und was ist mit dem Typen auf der Bühne?«, flüsterte ich und versuchte dabei nicht in die entsprechende Richtung zu sehen. »Die I. S. hat mir nur eine ungefähre Beschreibung gegeben, da unsere Zielperson wahrscheinlich einen Tarnzauber benutzt.«
»Unsere Ziel person ?«, meinte Jenks. Sein Flügelschlag beruhigte sich und der Zorn verschwand aus seiner Stimme.
So konnte man mit ihm umgehen. Ein bisschen Zugehörigkeitsgefühl war vielleicht alles, was er brauchte. »Warum überprüfst du ihn nicht?«, fragte ich, anstatt zu fordern. »Der sieht so aus, als könnte er einen Dudelsack nicht von einem Banjo unterscheiden.«
Jenks lachte auf und sauste ab, jetzt entschieden besser gelaunt. Verbrüderung zwischen einem Runner und seinem Backup war zwar nicht erwünscht, aber zur Hölle – Jenks fühlte sich besser, und vielleicht war so mein Ohr noch ganz, wenn die Sonne aufging. Die Typen am Tresen stießen sich mit den Ellbogen an, als ich mit meinem Zeigefinger eines der verbliebenen Gläser zum Klingen brachte, während ich wartete. Ich war gelangweilt und ein kleiner Flirt ist gut für die Seele.
Das laute Geschwätz einiger Neuankömmlinge ließ mich vermuten, dass der Regen aufgehört hatte. Sie redeten aufeinander ein, während sie an das hintere Ende der Bar drängten und versuchten, durch hektische Gesten die Aufmerksamkeit des Barkeepers auf sich zu ziehen. Als ich sie flüchtig überprüfte, zog sich mein Magen leicht zusammen – unter ihnen befand sich mindestens ein toter Vampir. Da sie alle Gothic-Outfits trugen, war schwer zu sagen, wer es sein könnte.
Meiner Vermutung nach war es der zurückhaltende junge Mann im Hintergrund. Zwischen seinen tätowierten, gepiercten und ganz in Leder gekleideten Begleitern wirkte er in Jeans und Hemd erstaunlich normal. Er musste wohlhabend sein, um eine solche Schar von Menschen um sich sammeln zu können. Ihre Hälse waren voller Narben, die Körper wirkten ausgemergelt und blutleer. Trotzdem schien es ihnen gut zu gehen in ihrer eng verknüpften, fast familienähnlichen Gruppe. Sie bemühten sich besonders um eine schöne Blondine, umsorgten sie und fütterten sie mit Erdnüssen. Als sie lächelte, sah man ihr die Erschöpfung an. Sie hatte ihm wohl als Frühstück gedient.
Als ob meine Gedanken ihn angezogen hätten, drehte sich der attraktive Mann um. Er betrachtete mich über seine Sonnenbrille hinweg und ich verlor die Kontrolle über mein Gesicht, als sich unsere Blicke trafen. Ich holte tief Luft – sogar aus dieser Distanz konnte ich die Regentropfen auf seinen Wimpern erkennen und mich erfüllte das plötzliche Bedürfnis, sie zu berühren. Fast konnte ich die sanfte Feuchtigkeit des Regens auf meinen Fingern spüren. Seine Lippen bewegten sich, als er begann, Worte zu flüstern, die ich hören, aber nicht verstehen konnte; Worte, die sich um mich schlossen und auf ihn zu schoben.
Mit klopfendem Herzen warf ich ihm einen wissenden Blick zu und schüttelte den Kopf. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielte seine Mundwinkel, dann wandte er sich ab. Ich zwang mich, meinen Blick von ihm zu lösen, wobei ich erleichtert aufatmete. Yeah. Er war definitiv ein toter Vampir. Ein lebender Vampir hätte mich nicht mal so ein bisschen verführen können.
Hätte er es wirklich versucht, wäre ich hilflos gewesen. Aber dafür gab es schließlich die Gesetze. Toten Vampiren war es nur gestattet, Freiwillige aufzunehmen, und zwar erst nachdem offizielle Verzichtserklärungen unterzeichnet worden waren. Aber wer konnte schon sagen, ob das vor oder nach dem Tod passiert war? Hexen, Tiermenschen und andere Inderlander konnten nicht in Vampire verwandelt werden, was aber wenig half, wenn der Vampir die Kontrolle verlor und dir einfach die Kehle zerfetzte. Natürlich gab es auch dagegen Gesetze.
Immer noch beunruhigt schaute ich hoch und sah den Musiker geradewegs auf mich zukommen, ein fiebriges Flackern in den Augen. Dummer Pixie. Er hatte sich erwischen lassen.
»Bist du gekommen, um mich spielen zu hören, meine Hübsche?« Der Kleine hatte meinen Tisch erreicht und gab sich nun die größte Mühe, möglichst männlich zu klingen.
»Mein Name ist Sue, nicht Hübsche«, log ich, und starrte an ihm vorbei zu Ivy hinüber. Sie grinste über das ganze Gesicht. Großartig. Das würde in unserem Büro-Newsletter fantastisch aussehen.
»Du hast deinen Fairy-Freund geschickt, um mich zu ü-ber-prü-fen«, sagte er in einem singenden Tonfall.
»Er ist ein Pixie – kein Fairy«, sagte ich. Der Typ war entweder ein dummer Mensch oder ein gerissener Inderlander, der vorgab, ein dummer Mensch zu sein. Ich tippte auf Möglichkeit eins.
Er öffnete seine Faust, und Jenks schwebte in torkelndem Flug auf meinen Ohrring. Einer seiner Flügel war verbogen, und er verlor Pixiestaub, der auf dem Tisch und meiner Schulter kurzzeitig aufleuchtete. Ich schloss meine Augen, um mich zu sammeln. Natürlich würde das hier auf meine Kappe gehen, war ja klar.
In meinem Ohr ertönte Jenks’ wutentbranntes Fauchen und ich runzelte die Stirn. Ich hielt keinen seiner Vorschläge für anatomisch machbar – aber zumindest wusste ich nun, dass der Kleine ein Mensch war.
»Komm, ich zeig dir meine große Pfeife im Wagen«, sagte der Kleine. »Ich wette, du bringst sie zum Si-i-i-ngen.«
Ich schaute an ihm hoch. Das Angebot des toten Vampirs machte mich immer noch nervös.
»Hau ab.«
»Ich werde es voll bringen, Suzy-Q«, prahlte er, und ließ sich, meinen feindseligen Blick für eine Einladung haltend, an meinem Tisch nieder. »Ich werde zur Küste fahren, sobald ich genug Geld habe. Ich habe einen Freund im Musik-Biz. Er kennt ’nen Typen, der den Typen kennt, der Janice Joplins Pool reinigt.«
»Hau ab«, wiederholte ich. Er lehnte sich jedoch nur zurück, verzog sein Gesicht und sang in hohem Falsetto »Sue-sue-sussudio« zu einem holprigen Rhythmus, den er auf den Tisch trommelte.
Was für eine peinliche Szene. Es würde mir sicher niemand verübeln, wenn ich ihn so richtig vermöbelte. Aber nein, schließlich war ich ein aufrechter kleiner Soldat im Kampf gegen Verbrechen an den Normalos, auch wenn niemand dieses Weltbild mit mir teilte. Lächelnd lehnte ich mich zu ihm hinüber, bis er einen guten Ausblick in mein Dekolleté hatte. Damit erregt man immer ihre Aufmerksamkeit, selbst wenn es dort wenig zu sehen gibt. Mit einem schnellen Griff über den Tisch packte ich in die kurzen Haare auf seiner Brust und zog. Das ist eine weitere, weitaus befriedigendere Möglichkeit, ihre Aufmerksamkeit zu wecken.
Der Aufschrei, in dem sein Singsang endete, ging mir runter wie Öl. »Verschwinde«, flüsterte ich. Ich drückte ihm einen der verbliebenen Drinks in die Hand und wickelte seine schlaffen Finger um das Glas. »Und entsorg das für mich.« Seine Augen weiteten sich noch ein wenig mehr, als ich ein letztes Mal an seinem Brusthaar zog, bevor ich meine Finger widerwillig von ihm löste. Er trat einen überstürzten Rückzug an und verschüttete dabei die Hälfte des Drinks.
Ich hörte Beifall vom Tresen und erntete ein breites Grinsen von dem alten Barmann. »Dummer Junge«, murmelte ich. Er hatte in den Hollows nichts zu suchen. Jemand sollte seinen Arsch zurück auf die andere Seite des Flusses befördern, bevor er ernsthaft verletzt wurde.
Ein Glas stand noch vor mir und es wurden sicherlich Wetten abgeschlossen, ob ich es trinken würde. »Bist du okay, Jenks?«, fragte ich, wohl wissend, wie die Antwort lauten würde.
»Dieser abgebrochene Riese quetscht mir fast die Lunge aus dem Leib und du fragst, ob ich OKAY bin?«, fauchte er. Seine Begeisterung war nicht zu überhören und ich hob gelassen die Brauen. »Meine Rippen sind fast gebrochen. Überall schleimiger Gestank. Allmächtiger, stinke ich. Und sieh dir nur mal an, was er mit meinen Klamotten gemacht hat. Weißt du eigentlich, wie schwierig es ist, so einen Gestank aus Seide rauszukriegen? Meine Frau lässt mich in den Blumentöpfen schlafen, wenn ich so nach Hause komme. Vergiss die dreifache Bezahlung, Rachel. Das bist du nicht wert!«
Jenks bekam nie mit, wenn ich aufhörte, ihm zuzuhören. Er hatte mit keiner Silbe seinen Flügel erwähnt, also wusste ich, dass es nicht weiter dramatisch war. Genervt ließ ich mich in die Sitzecke zurückfallen. Da Jenks in seinem jetzigen Zustand nicht voll einsatzfähig war, war ich so gut wie bewegungsunfähig. Ich war, wie man so sagte, »grandios gewandelt« . Wenn ich mit leeren Händen zurückkehrte, konnte ich bis zum nächsten Frühling nur noch mit Vollmondunruhen und Amulettbeschwerden rechnen. Als ob das hier meine Schuld wäre.
Jetzt wo Jenks nicht mehr unbemerkt fliegen konnte, war der Einsatz so gut wie gelaufen. Wenn ich ihm ein paar Maitake-Pilze kaufte, hielt er dem Diensthabenden gegenüber vielleicht dicht, was den Schaden an seinem Flügel anging. »Zum Teufel«, dachte ich. »Jetzt kann ich auch eine Party daraus machen.« Es mir noch einmal richtig gut gehen lassen, bevor der Boss sozusagen meinen Besen an einen Baum nagelte. Ich könnte einen Abstecher zum Shoppingcenter machen und mir ein Schaumbad und eine neue Slow-Jazz CD gönnen. Meine Karriere befand sich im unaufhaltsamen Sturzflug, da konnte ich die Fahrt ebenso gut genießen.
Voll perverser Vorfreude nahm ich meine Tasche und den Shirley Temple, stand auf und ging zur Bar. Es ist nicht mein Stil, solche Dinge ungeklärt zu lassen. Kandidat Nummer drei erhob sich mit einem eindeutigen Grinsen im Gesicht. Gott, hilf mir. Männer können so ekelhaft sein. Ich war müde, entnervt und hoffnungslos unterschätzt. In dem Bewusstsein, dass ich ihn, ganz egal was ich sagte, nicht von dem Vorhaben abbringen würde, mich abzuschleppen, schüttete ich ihm den klebrigen Drink über sein Hemd und ging.
Mein Grinsen über seinen Wutschrei verwandelte sich in ein Stirnrunzeln, als er mir eine Hand auf die Schulter legte. Ich ging in die Hocke und trat ihn mit einer harten Halbdrehung zu Boden. Er schlug mit einem lauten Knall auf die hölzernen Dielen, das einzige Geräusch in der inzwischen totenstillen Bar. Bevor ihm überhaupt bewusst wurde, dass ich ihn niedergestreckt hatte, saß ich schon auf seiner Brust.
Dann packte ich seinen Hals und kratzte mit meinen blutroten Fingernägeln über die Stoppeln an seinem Kinn. Seine Augen waren weit aufgerissen. Cliff stand mit verschränkten Armen an der Tür und gab sich damit zufrieden, das Ganze zu beobachten.
»Verdammt, Rachel«, sagte Jenks von meinem schaukelnden Ohrring aus, »von wem hast du das gelernt?«
»Von meinem Vater«, antwortete ich und beugte mich ganz nah zu dem entsetzten Gesicht hinunter. »Es tut mir ja so leid«, hauchte ich mit einem starken Hollows-Akzent. »Willst du spielen, Süßer?« Seine Augen waren angsterfüllt, als er merkte, dass ich ein Inderlander war und kein Dummchen auf der Suche nach einer heißen Nacht des schönen Scheins. Er war süß, okay. Ein kleiner Leckerbissen, mit dem man Spaß hatte und den man schnell vergaß. Ich würde ihn nicht verletzen, aber das wusste er nicht.
»Heilige Mutter Tinker Bell!«, rief Jenks aus und lenkte meine Aufmerksamkeit von dem schluchzenden Menschen ab. »Riechst du das? Klee!«
Meine Finger lösten sich und der Typ krabbelte unter mir hervor. Er kam wieder auf die Beine, zog seine beiden Kollegen mit sich und beschimpfte mich leise, um sein Gesicht zu wahren. »Einer der Barkeeper?«, hauchte ich, als ich aufstand.
»Es ist die Frau«, sagte der Pixie, während meine Anspannung zurückkehrte.
Ich hob den Blick und beobachtete sie. Ihre enge, schwarz-grüne Uniform saß wie angegossen und sie erweckte den Eindruck gelangweilter Kompetenz, als sie sich selbstbewusst hinter dem Tresen bewegte. »Spinnst du, Jenks?«, murmelte ich, wobei ich unauffällig versuchte, meine Hose wieder zurechtzuziehen. »Sie kann es nicht sein.«
»Genau!«, blaffte er. »Als ob du das beurteilen könntest. Ignoriere den Pixie. Ich könnte jetzt gerade zu Hause vor dem Fernseher sitzen. Aber nein. Ich hänge hier fest mit einer Bohnenstange von zurückgebliebener Emanze, die glaubt, meinen Job besser machen zu können als ich. Mir ist kalt, ich habe Hunger, und mein Flügel ist fast gebrochen. Wenn die Hauptader reißt, muss ich den gesamten Flügel nachwachsen lassen. Hast du überhaupt eine Ahnung, wie lange das dauert?«
Ich sah mich um und bemerkte erleichtert, dass alle wieder zu ihren Gesprächen zurückgekehrt waren. Ivy war weg und hatte die ganze Sache wahrscheinlich verpasst. Umso besser.
»Halt die Schnauze, Jenks«, murmelte ich. »Tu einfach so, als würdest du zur Einrichtung gehören.«
Ich schlängelte mich zu dem alten Barkeeper durch. Er lächelte mich an und präsentierte dabei eine eindrucksvolle Zahnlücke. Als ich mich über den Tresen beugte, verzog sich sein Gesicht anerkennend, während seine Augen überall hinblickten, nur nicht in mein Gesicht. »Gib mir was«, hauchte ich. »Etwas Süßes. Etwas, damit ich mich gut fühle. Etwas Leckeres, Cremiges, und sooo Gefährliches.«
»Ich brauche deinen Ausweis, Mädchen«, sagte der alte Mann mit einem starken irischen Akzent. »Du siehst nicht so aus, als wärst du schon weit vom Rockzipfel deiner Mutter entfernt.«
Sein Akzent war falsch, doch mein Lächeln über sein Kompliment war echt. »Ja natürlich, kein Problem, Schätzchen.« Ich wühlte in meiner Tasche nach meinem Führerschein, bereit, das Spiel mitzuspielen, da wir es offensichtlich beide genossen. »Ups!« Ich kicherte, als die Karte hinter den Tresen rutschte. »Ich dummes, kleines Ding!«
Mithilfe des Barhockers lehnte ich mich halb über die Theke, um besser dahinterschauen zu können. Mein hoch erhobenes Hinterteil gab nicht nur eine wunderbare Ablenkung für die Männerwelt ab, diese Position ermöglichte mir auch einen exzellenten Blickwinkel. Ja, es war erniedrigend, wenn man zu lange darüber nachdachte. Aber es wirkte. Ich schaute hoch und sah den alten Mann grinsen, da er offensichtlich dachte, meine Aufmerksamkeit gelte ihm, doch es war die Frau, an der ich interessiert war. Sie stand auf einer Kiste. Damit hatte sie fast die perfekte Größe und befand sich am richtigen Ort, außerdem hatte Jenks sie identifiziert. Sie sah jünger aus, als ich erwartet hätte, aber wenn du 150 bist, schnappst du sicher das ein oder andere Schönheitsgeheimnis auf. Jenks schnaubte in mein Ohr wie ein eingebildeter Moskito: »Ich habe es dir ja gesagt.«
Ich ließ mich auf den Hocker zurücksinken und der Barmann gab mir meinen Führerschein zurück, zusammen mit einem Dead Man’s Float und einem Löffel: eine Kugel Eiscreme in einem kleinen Glas mit Baileys. Hmm. Ich steckte die Karte weg und zwinkerte ihm zu. Dann ließ ich das Glas stehen und drehte mich um, als ob ich die gerade eingetroffenen Stammgäste beobachten wollte. Mein Puls raste und meine Fingerspitzen kribbelten. Es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
Ich warf noch einen kurzen Blick in die Runde um sicherzugehen, dass ich unbeobachtet blieb, dann stieß ich mein Glas um. Mir stockte der Atem, als die klebrige Flüssigkeit auslief, und meine Aufregung war nicht nur vorgetäuscht, als ich versuchte, das Glas zu fangen, um zumindest die Eiskreme zu retten.
Fast zitterte ich vor Spannung, als die Barfrau mein entschuldigendes Lächeln mit einem herablassenden Blick quittierte. Dieser Kick bedeutete mir mehr als der Scheck, den ich jede Woche auf meinem Schreibtisch fand. Aber ich wusste, dass das Gefühl ebenso schnell wieder vergehen würde, wie es gekommen war. Das hier war eine reine Verschwendung meiner Begabung – hierfür brauchte ich ja noch nicht einmal einen Zauberspruch.
Wenn das alles ist, was die I. S. mir zugesteht, dachte ich, sollte ich vielleicht auf mein geregeltes Einkommen verzichten und selbst etwas auf die Beine stellen. Nicht viele verließen die I. S., aber es gab einen Präzedenzfall. Leon Bairn war eine lebende Legende, bevor er sich selbstständig machte – um dann prompt durch einen misslungenen Zauber umzukommen. Gerüchten zufolge hatte die I.S. ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt, weil er seinen Dreißigjahresvertrag gebrochen hatte. Aber das war vor mehr als zehn Jahren. Immer wieder wurden Läufer vermisst, wahrscheinlich ausgeschaltet von Zielobjekten, die mehr Verstand oder einfach mehr Glück hatten als sie. Es dem I.S.-eigenen Tötungskommando vorzuwerfen wäre reine Boshaftigkeit. Das Geld stimmte und die Arbeitszeiten waren angenehm, deshalb verließ niemand die I.S., das war alles.
Genau, dachte ich, und ignorierte die warnende Stimme in meinem Inneren. Leon Bairns Tod wurde aufgebauscht, immerhin war nichts davon jemals bewiesen worden. Und ich hatte meinen Job schließlich nur noch, weil sie mich nicht legal feuern konnten. Vielleicht sollte ich wirklich mein eigenes Ding machen. Es konnte auch nicht schlechter sein als das, was ich hier tat. Sie würden froh sein, mich loszuwerden. Das ist gut, dachte ich und lächelte. Rachel Morgan, privater Runner, zu Ihrer Verfügung. Alle Rechte werden hochgehalten, jedes Unrecht aufrichtig geahndet.
Ich wurde mir meines versonnenen Lächelns bewusst, als die Frau pflichtgemäß ihr Handtuch zwischen meine Ellbogen klatschte, um die Lache aufzuwischen. Mein Atem beschleunigte sich. Mit meiner linken Hand griff ich das Tuch und fixierte ihre Hand darin. Meine Rechte schwang zurück, griff die Handschellen und schnellte vor, um ihre Handgelenke zu fesseln. Innerhalb eines Augenblicks war alles erledigt. Sie blinzelte schockiert. Verdammt, bin ich gut.
Die Augen der Frau weiteten sich, als sie realisierte, was passiert war. »Verdammt!«, schrie sie, was mit ihrem – echten – irischen Akzent sogar elegant klang. »Was zur Hölle glaubst du, machst du da?«
Die Anspannung schwand und mir entfuhr ein Seufzer, als ich den einsamen Rest Eiscreme erblickte, der von meinem Drink übrig geblieben war. »Inderland Security«, sagte ich und klatschte meinen I.S.-Ausweis auf den Tresen. Mein Gefühlshoch war schon vorbei. »Sie werden angeklagt, einen Regenbogen hergestellt zu haben, mit der Absicht, das erwirtschaftete Einkommen aus besagtem Regenbogen falsch anzugeben. Ihnen wird weiterhin zur Last gelegt, nicht die erforderliche Genehmigung für besagten Regenbogen eingeholt zu haben und die Regenbogen-Behörde nicht über besagten Regenbogen unterrichtet zu haben…«
»Das ist eine Lüge«, schrie die Frau und wand sich in den Handschellen. Mit einem wilden Blick sah sie sich im Pub um, als sich alle Augen auf sie richteten. »Alles Lüge. Ich habe den Kessel gefunden, ganz legal!«
»Du hast das Recht, deine Klappe zu halten«, fügte ich hinzu, während ich etwas Eis aus dem Glas kratzte. Es fühlte sich kalt an in meinem Mund und der Schuss Alkohol war ein schlechter Ersatz für die nachlassende Wärme des Adrenalins. »Wenn du deinem Recht die Klappe zu halten nicht nachkommst, schließe ich sie dir.«
Der Barmann schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. »Cliff!«, bellte er, jetzt vollkommen akzentfrei. »Stell das Schild ›Aushilfe gesucht‹ ins Fenster und komm dann rüber und hilf mir.«
»Ja, Boss«, erwiderte Cliff gleichgültig.
Ich legte meinen Löffel zur Seite und zog den Leprechaun über den Tresen, bevor sie noch kleiner wurde. Sie hatte zu schrumpfen begonnen, da die Amulette an den Handschellen ihren Vergrößerungszauber neutralisierten. »Du hast das Recht auf einen Anwalt«, sagte ich, während ich meinen Ausweis wegsteckte. »Falls du dir keinen leisten kannst, bist du erledigt.«
»Du kannst mich nicht fangen«, stieß der Leprechaun hervor und verdoppelte die Anstrengungen, sich zu befreien, als begeisterte Rufe in der Menge laut wurden. »Stahl allein kann mich nicht halten. Ich bin Königen entwischt, Sultanen und kleinen, fiesen Kindern mit Fangnetzen!«
Ich wandte mich wieder meinen durchweichten Haaren zu, während sie zappelte und kämpfte. Langsam wurde ihr klar, dass sie tatsächlich gefangen war. Die Handschellen schrumpften mit ihr, die Fesseln hielten. »Ich bin so gut wie raus, nur – einen Moment noch«, keuchte sie und hielt inne, um sich ihre Handgelenke anzusehen. »Heiliger Petrus!« Sie fiel in sich zusammen, als sie den gelben Mond, den grünen Klee, das rosa Herz und den orangefarbenen Stern an den Handschellen bemerkte.
»Soll dich doch der Höllenhund holen. Wer hat dir das mit den Amuletten verraten?« Dann schaute sie näher hin. »Du hast mich mit vier gefangen? Vier? Ich wusste nicht einmal, dass diese alten Tricks noch wirken.«
»Nenn mich ruhig altmodisch«, entgegnete ich, ohne von meinem Glas aufzusehen, »aber wenn etwas funktioniert, bleibe ich dabei.«
Ivy ging vorbei und führte zwei schwarz gekleidete Vampire vor sich her, die selbst in dieser Lage noch Eleganz ausstrahlten. Bei einer entwickelte sich ein Bluterguss unter dem Auge, die andere humpelte. Ivy war nicht gerade zimperlich mit Vampiren, die sich an Minderjährigen vergriffen. Ich erinnerte mich an den Bann des toten Vampirs, der noch immer am anderen Ende des Raumes stand, und plötzlich konnte ich Ivy verstehen. Ein Sechzehnjähriger könnte nicht widerstehen, würde nicht widerstehen wollen.
»Hey, Rachel«, sagte sie in bester Laune. Jetzt, nach getaner Arbeit, sah sie fast menschlich aus. »Ich will rüber in die Stadt. Wollen wir uns die Fahrt teilen?«
Meine Gedanken kehrten zur I.S. zurück und ich wog die Risiken ab: Entweder selbstständig und pleite sein oder mein Leben lang Ladendiebe und Verkäufer illegaler Amulette jagen. Auf mich würde die I.S. sicherlich kein Kopfgeld aussetzen. Nein, Denon würde wohl eher entzückt darüber sein, meinen Vertrag zu zerreißen. In Cincinnati würde ich mir kein Büro leisten können, aber vielleicht in den Hollows. Ivy verbrachte viel Zeit hier unten. Sie wusste sicher, wo ich etwas Billiges finden könnte. »Yeah«, sagte ich, wobei mir auffiel, dass sie schöne, tiefbraune Augen hatte. »Ich wollte dich sowieso mal was fragen.«
Sie nickte und schubste ihre beiden Gefangenen vor sich her. Die Menge wich zurück, denn das allgegenwärtige Schwarz schien das Licht aufzusaugen. Der tote Vampir hatte sich etwas zurückgezogen und nickte mir anerkennend zu, als ob er mir zu meiner Festnahme gratulieren wollte. Aus einem trügerischen Impuls heraus nickte ich zurück.
»Gut gemacht, Rachel«, trällerte Jenks und ich lächelte. Es war schon lange her, dass ich das einmal gehört hatte.
»Danke«, erwiderte ich. Er thronte wieder auf meinem Ohrring, wie ich im Spiegel hinter der Bar erkennen konnte. Ich schob das Glas zur Seite und griff gerade nach meiner Tasche, als mir der Barmann ein Zeichen gab, dass das Ganze aufs Haus ginge, woraufhin ich ihm ein dankbares Lächeln schenkte. Mir wurde warm ums Herz, als ich vom Hocker rutschte und den Leprechaun hochzog, der taumelnd auf die Füße kam. Vor meinem inneren Auge erschien eine Tür, auf der in goldenen Buchstaben mein Name stand. Das war der Inbegriff von Freiheit.
»Nein! Warte!«, rief der Leprechaun, als ich mir meine Tasche schnappte und ihren Arsch in Richtung Tür zog. »Wünsche! Drei Wünsche. Wie wär’s? Du lässt mich gehen und dafür werden dir drei Wünsche erfüllt.«
Ich stieß sie in den warmen Regen hinaus. Ivy hatte schon ein Taxi gefunden und ihre Gefangenen im Kofferraum verschwinden lassen, sodass mehr Platz für uns blieb. Von einem Verdächtigen Wünsche anzunehmen war ein sicherer Weg, um sich am anderen Ende des Besenstiels wiederzufinden. Allerdings nur, wenn man erwischt wurde.
»Wünsche?«, fragte ich und half dem Leprechaun auf den Rücksitz. »Darüber können wir reden.«
»Was hast du gesagt?«
Ich drehte mich in meinem Sitz um und schaute nach hinten zu Ivy. Sie gestikulierte hilflos auf dem Rücksitz. Schlechte Scheibenwischer und gute Musik kämpften darum, sich zu übertönen. Das Ganze ergab einen bizarren Mix aus aufheulenden Gitarren und quietschendem Plastik. »Rebel Yell« ertönte aus den Lautsprechern. Da konnte ich nicht mithalten. Jenks’ Billy-Idol-Imitation war auch nicht gerade hilfreich, obwohl sie zugegebenermaßen gut mit der hawaiianischen Tänzerin auf dem Armaturenbrett harmonierte. »Kann ich das leiser machen?«, fragte ich den Fahrer.
»Nicht fassen an«, schrie er mit einem seltsamen Akzent. Vielleicht aus den Wäldern Europas? Sein leichter Moschusgeruch verriet, dass es sich bei ihm um einen Tiermenschen handelte. Ich wollte nach dem Lautstärkeregler greifen, woraufhin er eine Hand vom Lenkrad nahm und nach mir schlug.
Das Taxi rutschte aus der Spur. Seine Amulette, dem Aussehen nach alle längst verfallen, rutschten über das Armaturenbrett und landeten in meinem Schoß und auf dem Boden. Der Knoblauchkranz, der am Rückspiegel baumelte, traf mich direkt ins Auge.
Ich musste würgen, als sich der Gestank des Knoblauchs mit dem Geruch des Duftbaums am Spiegel vermischte.
»Böses Mädchen«, beschuldigte er mich, während er den Wagen so heftig wieder auf Kurs brachte, dass ich auf ihn prallte.
»Wenn ich braves Mädchen«, fauchte ich, während ich auf meinen Sitz zurückrutschte, »lässt du mich leise machen Musik«?
Er grinste. Ihm fehlte ein Zahn. Wenn es nach mir ginge, würde ihm bald noch einer fehlen. »Ja«, sagte er.
»Warte, sie gerade sagen etwas.« Statt der Musik war nun ein Sprecher zu hören, der nicht nur unheimlich schnell, sondern vor allem unheimlich laut redete.
»Großer Gott«, murmelte ich und stellte es leiser. Der Regler war mit einer schmierigen Dreckschicht überzogen. Ich starrte auf meine Finger und rieb sie an den Amuletten auf meinem Schoß ab, die sowieso zu nichts mehr zu gebrauchen waren. Der Fahrer hatte sie wohl zu oft benutzt und sie durch das Salz ruiniert. Ich warf ihm einen gequälten Blick zu und stopfte sie in den angeschlagenen Dosenhalter.
Dann drehte ich mich wieder zu Ivy um, die es sich auf ihrem Sitz bequem gemacht hatte. Mit einer Hand hielt sie ihre Eule fest, um zu verhindern, dass diese aus dem Fenster fiel, die andere Hand ruhte hinter ihrem Kopf. Vorbeifahrende Autos und die sporadisch funktionierende Straßenbeleuchtung erhellten hin und wieder ihre dunkle Silhouette. Einen Augenblick lang betrachtete sie mich regungslos, dann sah sie wieder durch das Fenster in die Nacht hinaus. Ich spürte die uralte Tragödie, die sie umgab, und meine Haut begann zu kribbeln. Sie versuchte nicht, mich in ihren Bann zu ziehen – es war doch nur Ivy –, aber sie machte mir Angst. Lachte diese Frau jemals?
Mein Fang hatte sich in die andere Ecke des Wagens verkrochen, um möglichst weit von Ivy entfernt zu sein. Die grünen Stiefel des Leprechaun reichten gerade mal bis zur Sitzkante und sie sah aus wie eine dieser Puppen, die man im Verkaufsfernsehen angeboten bekommt. Investieren Sie in diese detailgetreue Nachahmung von Becky der Barfrau. Ähnliche Puppen haben ihren Wert verdreifacht, sogar vervierfacht. Zahlbar in drei bequemen Raten von nur $ 49,95. Diese Puppe hatte allerdings etwas Verschlagenes an sich. Ich nickte ihr verstohlen zu, woraufhin Ivy mir einen misstrauischen Blick zuwarf.
Die Eule stieß einen gequälten Schrei aus und versuchte mit ihren Flügeln die Balance zu halten, als wir durch ein tiefes Schlagloch fuhren. Aber es war das letzte. Wir hatten den Fluss überquert und waren zurück in Ohio. Von nun an verlief die Fahrt reibungslos, denn der Fahrer reduzierte die Geschwindigkeit, als wäre ihm wieder eingefallen, welchen Sinn die Verkehrszeichen hatten.
Ivy ließ die Eule los und fuhr mit den Fingern durch ihr langes Haar. »Du hast dir noch nie ein Taxi mit mir geteilt. Was ist los?«
»O ja.« Ich legte einen Arm auf die Lehne. »Weißt du, wo ich eine billige Wohnung mieten kann? Vielleicht in den Hollows?«
Ivy sah mir direkt in die Augen. Ihr perfektes Gesicht wirkte im Licht der Straßenlampen fahl. Die Laternen funktionierten hier an jeder Ecke und es war beinahe taghell. Wie paranoid die Normalos doch waren – doch ich konnte es ihnen nicht verdenken. »Du willst in die Hollows ziehen?« , fragte Ivy zweifelnd.
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Nein, ich quittiere den Dienst bei der I.S.«
Jetzt hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit, erkennbar an der Art, wie sie zwinkerte. Jenks unterbrach seinen Tanz mit der kleinen Figur auf dem Armaturenbrett und starrte
Titel der amerikanischen OriginalausgabeDEAD WITCH WALKINGDeutsche Übersetzung von Alan Tepper und Isabel Parzich
Taschenbuchausgabe 6/2011
Copyright © 2004 by Kim Harrison Copyright © 2011 der deutschsprachigen Taschenbuchausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München Satz: Leingärtner, Nabburg
eISBN 978-3-641-09174-3
www.heyne-magische-bestseller.de
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