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In Hugo Bettauers BOBBIE taucht der Leser in das Wien der 1920er Jahre ein, eine Zeit geprägt von politischer Instabilität und sozialen Umbrüchen. Der Roman erzählt die Geschichte des jungen Bobbie, der als Straßendieb und Glücksspieler sein Leben bestreitet. Bettauers literarischer Stil zeichnet sich durch eine präzise Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände und der psychologischen Motivationen seiner Charaktere aus. Mit seiner realistischen Darstellung der Wiener Unterwelt hebt sich BOBBIE von seinen Zeitgenossen ab und zeigt Bettauers kritisches Bewusstsein für die gesellschaftlichen Missstände seiner Zeit. Als progressiver Autor setzt er sich offen mit Themen wie Armut, Kriminalität und sozialer Ungerechtigkeit auseinander, und schafft damit ein fesselndes Leseerlebnis, das den Leser zum Nachdenken anregt. Der Roman BOBBIE ist nicht nur ein literarisches Meisterwerk, sondern auch ein wichtiges Zeitdokument, das die Leser dazu ermutigt, die Gesellschaft aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten und sich aktiv für positive Veränderungen einzusetzen.
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Seitenzahl: 211
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Inhaltsverzeichnis
Leichtfüßig wie eine junge Ziege sprang Bob die steinerne Freitreppe hinauf und drückte anhaltend auf den Glockentaster an dem großen, mit schönen Ornamenten geschmückten Haustor. Die wenigen Augenblicke, die er warten mußte, blickte er nach dem Haus auf der anderen Seite der Straße hinüber und beschattete mit der schmalen, schlanken Knabenhand die Augen, um besser zu sehen, schien aber doch nicht das erspähen zu können, was er suchte. Nun öffnete aber auch schon ein alter grauhaariger Diener, dem der weiße Backenbart einen ehrwürdigen und gravitätischen Ausdruck verlieh. Zärtlich und dabei doch gemessen steif begrüßte er den Knaben mit »Guten Tag, junger Herr!«, worauf ihm Bob vergnügt auf den Arm klopfte, mit »Grüß’ Gott, Eduard!« erwiderte, den Schulranzen auf eine mit einem Teppich bedeckte Bank in der Diele warf und ungeduldig ausrief:
»Wo ist Mama?«
»Die gnädige Frau hat eben die Toilette beendet und liest im Wohnzimmer die Zeitung.«
Mit vier Riesensätzen, immer drei Stufen auf einmal nehmend, stürmte Bob die Treppe empor, und schon war er in dem behaglichen, einfach eingerichteten Zimmer, in dem Frau Holgerman das Morgenblatt las.
Bevor die schlanke, schöne Frau noch hatte aufstehen können, war Bob schon bei ihr und schlang einen Arm ungestüm um ihren Hals, während er in der freigebliebenen Hand ein Papier schwenkte.
»Vorzugszeugnis, Mama, Vorzugszeugnis! Mit Ach und Krach in Mathematik einen Zweier, sonst lauter Einser! Hurra, jetzt bekomm’ ich einen Hund!«
Mama machte sich glücklich lächelnd frei, strich dem Knaben die braunen Locken aus der heißen Stirn, drückte ihn dann fest an sich und sagte leise:
»Ich danke dir, Bobbie, du hast mir eine große Freude bereitet!«
»Weißt du, Mama, eigentlich wollte ich sehr traurig hereinkommen und dir zuerst mit weinerlicher Stimme erzählen, ich sei durchgefallen. Aber im letzten Augenblick habe ich es mir überlegt. Du hättest dich doch eine Sekunde lang gekränkt, und es ist schade um jede Sekunde, die sich der Mensch kränkt, besonders wenn er sich freuen kann.«
»Du bist mein lieber, guter Junge, Bob, und wenn Papa dir den Hund schenkt, so gebe ich dir ein schönes Hundehaus und alles, was du sonst brauchst, dazu. Nun ruf’ aber schnell Papa an, damit auch er seine Freude hat.«
Bob eilte ins Nebenzimmer, in dem das Tischtelephon stand, und ließ sich mit der Fabrik des Vaters verbinden.
»Hier Bob Holgerman, bitte, wollen Sie mich mit meinem Vater verbinden.«
Rasch war auch das geschehen.
»Papa, ich bekomm’ den Hund!«
»Warum, und was für einen Hund?«
»Aber Papa, hast du vergessen, daß heute Schulschluß ist und du mir einen Hund versprochen hast, wenn ich ein Vorzugszeugnis bekäme? – – – Ja, natürlich bin ich ein Vorzugsschüler, sonst würde ich ja vom Hunde gar nicht sprechen. Danke, Papa, Mama hat sich auch gefreut, und sie will mir für den Hund eine Hütte kaufen. Gelt, Papa, ich darf schon Umschau nach einem Hunde halten? – – – du bist lieb, Papa, ich danke dir.«
Bob war schon wieder bei der Mama und sagte:
»So, jetzt geh’ ich zu Gertie hinüber, sie wird schon auf mich warten. Sie hat eine Stunde früher aus gehabt und wird neugierig sein. Ich werde dann mit ihr im Park Diabolo spielen.«
»Geh’, mein Junge, unterhaltet euch gut, aber sag’ mir nur, warum immer Gertie und nichts als Gertie? Warum hast du gar keine Kameraden, warum spielst du nicht lieber mit anderen Jungen?«
Bob zuckte die Achseln, ein wenig wurde er rot, ein wenig zupfte er verlegen an seiner Bluse.
»Schau, Mama, ich mag nun einmal gerne mit Gertie sein! Und die Jungens, die hab’ ich schon immer in den Schulpausen, und ich kann mit ihnen nicht so nett plaudern wie mit Gertie, die mir zuhört und, wenn ich etwas sage, nicht gleich mit ›Quatsch‹ oder ›Das ist gar nichts, da weiß ich ganz was anderes‹ dazwischenfährt.
»Nun, gut, mein Junge, ich habe ja nichts dagegen! Gertie ist ein liebes, braves Mädchen, ich wollte, ich hätte auch so ein Töchterchen wie sie! Also geh’ nur und sei pünktlich um ein Uhr zu Hause. Du weißt, Papa ärgert sich sehr, wenn er auch nur eine Minute mit dem Essen warten muß. Und ich werde der Kathi sagen, sie soll noch rasch eine Schokoladentorte machen.«
»Nochmals hurra! Das ist ein schöner Tag heute, und ich werde Gertie sagen, daß ich ihr ein Stück Torte aufhebe, und beim Aussuchen des Hundes muß sie auch dabei sein.«
Kopfschüttelnd, lächelnd und ein bißchen nachdenklich sah Frau Holgerman dem über die Straße stürmenden Jungen durch das Fenster nach. Frau Holgerman hatte allen Grund, auf ihren Jungen stolz zu sein. Ungestüm war er wohl wie ein Füllen, mitunter auch recht eigenwillig, aber dabei gut und vornehm, ein echter, kleiner Kavalier, klug und begabt, und schön, wie ein Junge es nur sein kann. Schlank und geschmeidig war er, dabei frei von jener Eckigkeit, die sonst Knaben um das zwölfte, dreizehnte Jahr herum gewöhnlich anhaftet, und braune, bis fast auf die Schultern fallende Locken umrahmten das ovale, eher bräunliche als rosige Gesicht, aus dem klare, große, von langen Wimpern umschattete Augen mit fast männlicher Energie strahlten. Kein Wunder, wenn in der ganzen Umgebung Bob von alt und jung geliebt wurde und ihm sogar die griesgrämigsten alten Schulfüchse mit väterlicher Milde entgegenkamen und ihm manchen Streich, manche voreilige Bemerkung verziehen, die jedem anderen eine Eintragung ins Klassenbuch gebracht hätte.
Bobs Vater stammte aus alter, dänischer Familie und war der Alleinbesitzer einer großen Fabrik für Stahlwaren, ein sehr reicher, ein wenig verschlossener Mann, hoch in den Vierzig, während Frau Alma Holgerman viel italienisches Blut in den Adern hatte, lebhaftes, leicht erregbares Blut, das wohl Bob von ihr, zusammen mit den dunkelbraunen Haaren, mitbekommen hatte. Herr Holgerman hatte vor fünfzehn Jahren, als er die Fabrik in der großen Stadt übernahm, ein schönes, geschmackvolles, für ein junges Ehepaar wohl zu geräumiges Haus in dem Villenviertel gekauft. Er und seine Frau hatten reichen Kindersegen erwünscht und erhofft, aber Bob, der erst nach dreijähriger Ehe zur Welt kam, blieb der einzige, sehr zum Kummer Herrn Holgermans, der sich gerne eine Schar von Jungen, auch zum Kummer Frau Holgermans, die sich gerne nach dem Sohne noch ein Töchterchen gewünscht hätte.
Bob stürmte über die Straße und betrat das Haus, in dem seine kleine, nur um zwei Jahre jüngere Freundin Gertie mit ihrer Mutter wohnte. Dieses Haus war aber keine Villa mit Garten wie bei Holgermans, sondern ein recht gewöhnliches, unansehnliches Mietshaus, das in seinen drei Stockwerken neun Wohnungen barg. Es war halb zwölf Uhr, als Bob das Haus betrat; die kleinen Beamten und Geschäftsleute, die in solchen Miethäusern wohnen, essen früher zu Mittag als die reichen Leute, die eigentlich nie so recht Hunger haben, und so roch es denn, als Bob die Treppe zum zweiten Stockwerk hinaufging, von allen Seiten nach Kohl, Gemüse, gekochtem Fleisch und anderen Dingen, die gut schmecken mögen, aber der Nase des Unbeteiligten nicht zu sonderlicher Freude dienen. Bob, gegen unangenehme Gerüche, Geräusche und Anblicke sehr empfindlich, wie so oft die Sprößlinge alter, kultivierter Familien, verzog das Gesicht. Gleich darauf glättete es sich aber wieder, denn er erinnerte sich, daß ja Gertie hier im Hause wohne.
»Wenn ich erst groß bin,« sagte er sich, »so werde ich mit Gertie nicht in einem solchen Hause mit fremden Leuten zusammen wohnen, sondern in einer Villa, wie wir sie haben. Sie muß aber ganz aus weißem Marmor sein, weil Weiß Gertie so gut steht.«
Und schon hatte er die Glocke gezogen, unter der »Frau Anna Sehring« stand, und schon hüpfte ihm ein schneeweiß gekleidetes, kleines Mädchen entgegen und rief:
»Nun, Bobbie, wie ist es ergangen?«
»Vorzugsschüler!« sagte Bob mit möglichst viel Leichtigkeit in der Stimme, um ja nur nicht den Eindruck zu erwecken, als würde er das gar zu wichtig nehmen.
Gertie aber sprang jubelnd in die Höhe, packte Bob bei beiden Händen, zog ihn ganz in den Vorraum zur Wohnung hinein, drehte ihn im Wirbel umher und schrie: »Mama, Mama, komm’, Bob ist Vorzugsschüler geworden!«
Frau Anna Sehring, Gerties Mutter, kam lächelnd herein, beglückwünschte Bob und ließ sich das Zeugnis zeigen. Mit einem wehmütigen Lächeln auf dem blassen, abgehärmten Gesichte, in das viele, viele Tränen kleine Rinnen gezogen hatten sagte sie ganz leise:
»Sicher hätte mein Harry mir auch nur gute Zeugnisse gebracht, er war ein guter und kluger Junge.« Und nun tropften wieder Zähren über die Wangen. Das kleine Mädchen schlang den Arm um den Hals der Mutter, lehnte seine rosigen Backen an das Gesicht der weinenden Frau und sagte begütigend:
»Mutti, Mutti, nicht weinen –«
Bob aber meinte ernst: »Sie sollten nicht immer so traurig sein, Frau Sehring. Unser Geschichtsprofessor hat ganz recht, wenn er sagt, man dürfe um die Toten nicht klagen, weil es ihnen gut geht und man ihnen ihre Ruhe und den ewigen Frieden nicht neiden darf. Und dann haben sie doch Gertie und –« Er wollte sagen, ich bin ja auch noch da, aber irgendwie schien es ihm unpassend zu sein und er schwieg errötend.
Frau Sehring hatte viel Kummer erlebt, unter dessen Last sie frühzeitig gealtert war. Ihr Sohn, der jetzt vierzehn gewesen wäre, war vor sechs Jahren, als Gertie kaum fünf Jahre alt war, plötzlich an einer Gehirnhautentzündung gestorben, und ihr und ihres Mannes Jammer war grenzenlos gewesen. Herr Sehring war Offizier und immer hatte er davon geträumt, seinen Jungen dieselbe Laufbahn ergreifen und einen großen Feldherrn werden zu lassen. Er konnte über den Verlust des einzigen Sohnes nicht hinwegkommen und war von da an ein verschlossener, wortkarger und unwirscher Mann geworden, den nicht einmal der Anblick des heranwachsenden Töchterchens trösten wollte. Dann kam der Krieg, Major Sehring rückte ein, zeichnete sich vielfach aus und fiel an der Spitze seines Regimentes. Vermögen hinterließ er nicht, und so war seine Witwe mit Gertie ganz auf die schmale, staatliche Pension angewiesen und konnte nur mühsam, unter Verzicht auf jeden Luxus und jedes Wohlleben, ihr Auskommen finden.
Gertie aber war das süßeste kleine Blondchen, das man sich auf der Welt vorstellen konnte. In der ganzen Stadt hätte man vergebens nach einem zierlicheren Figürchen, nach ähnlich tiefblauen Augen, nach so schönen, wie lauteres Gold glänzenden Locken suchen können, und es war wirklich kein Wunder, wenn sich alle Leute nach Gertie auf der Straße umdrehten. Täglich hörte es Gertie auf ihrem Schulweg in allen Tonarten an ihr Ohr klingen:
»Sapperlot, seht nur das schöne, kleine Mädchen! Sieht es nicht wie ein Engel aus?«
Aber Gertie war zu kindlich, zu harmlos, um durch solche Worte selbstbewußt und stolz zu werden; sie freute sich einfach darüber, daß alle Leute lieb zu ihr waren und sie schön fanden, wie sich etwa ein kleines Mädchen freut, wenn man seine Puppe oder sein Kleidchen lobt.
Wie die beiden Kinder nun Hand in Hand die Straße entlang gingen, um nach dem nur wenige Schritte entfernten großen Park zu gelangen, boten sie ein so harmonisches Bild knabenhafter und mädchenhafter Lieblichkeit, daß sogar der Fleischer an der Ecke, berühmt wegen seiner Grobheit und Unfreundlichkeit gegen Kinder, die er unnützes Unkraut zu nennen pflegte, ihnen aus dem Laden freundlich zunickte, seiner dicken, kinderlos gebliebenen Ehehälfte einen sanften Rippenstoß gab und sagte:
»So was, wenn man hätte, das könnt’ einem schon das Leben angenehm machen!«
Inhaltsverzeichnis
Die Freundschaft zwischen den beiden Kindern war damals vor drei Jahren entstanden, als Gertie zum erstenmal in ihrem Leben nach dem Tode des Majors Sehring statt eines hellen Kleidchens ein schwarzes tragen mußte. Es war ein heißer Sommertag zu Ende Juli wie heute gewesen, und Gertie saß allein, von all dem Jammer zu Hause, den sie in seiner ganzen Tragik wohl empfand, aber nicht verstehen konnte, verstört auf einer Bank im Park. Da trat aus einer Gruppe von Kindern, die irgendein Spiel aufführen wollten, ein grobschlächtiger Junge auf sie zu und sagte, während er mit dem schmutzigen Zeigefinger in der Nase bohrte:
»Komm’ mitspielen, wir brauchen noch eine!«
Schüchtern erwiderte das kleine, blonde Ding: »Ich danke, ich mag’ aber heute nicht spielen.«
Wohl hatte Mutter ihr das Spielen nicht verboten, aber trotz ihrer acht Jahre fühlte sie doch, daß sie heute, wo Papa irgendwo in weiter Ferne in einem frisch geschaufelten Grab lag, nicht spielen und heiter sein durfte. Und dann gefielen dem feinen Kinde, das immer wie eine Prinzessin aussah, der Junge und seine Gefährten durchaus nicht.
Der Junge pflanzte sich nun breit vor Gertie auf.
»Was, spielen magst du nicht? Vielleicht weil du ein schwarzes Kleid anhast! Bildest dir wohl ein, wir sind nicht fein genug für dich! Steh’ auf und komm’, sonst setzt es was ab.«
Und schon hatte er Gertie beim Arm gepackt und in die Höhe gezerrt. Gertie fing zu weinen an und wehrte sich, da versetzte ihr der Junge einen Schlag ins Gesicht und wollte weiter drauflosschlagen.
In diesem Augenblicke aber war Bob, der die Szene beobachtet hatte, zur Stelle. Seinen Schulranzen warf er ins Gras, stürzte sich auf den rohen Jungen und haute ihm links und rechts Maulschellen herunter; ein kurzes Ringen und der Unhold flog wie ein Gummiball nieder. Wohl sprang er wieder auf, um sich auf Bob zu werfen; als er aber in dessen bleich gewordenes Gesicht mit den funkelnden Augen sah, schlich er wie ein geprügelter Hund fort. Bob ging nun auf das kleine Mädchen zu, das vor lauter Überraschung zu weinen vergessen hatte und ihn bewundernd ansah.
»Ich heiße Bob Holgermann. Sag’ mir, wie du heißt und wo du wohnst, ich bringe dich nach Hause.«
Gertie machte einen artigen Schulknicks, vergaß aber vor lauter Verlegenheit zu antworten und begnügte sich mit der hingebungsvollsten Feststellung: »Bist du aber stark! Könntest auch unsere Zeichenlehrerin verhauen!«
Dann ergriff sie die warme Hand des Knaben und ließ sich von ihm bis zu ihrem Hause führen, wobei Bob entdeckte, daß das blonde, kleine Mädchen mit den veilchenblauen Augen und dem schwarzen Kleid gerade der Villa seines Vaters gegenüber wohnte.
Von da an wurden diese beiden unzertrennliche Spielgefährten, bald besuchten sie einander täglich und auch Frau Sehring begann im Hause des millionenreichen Fabrikanten und seiner Gattin, die die unglückliche, gebildete und sehr stille Frau schätzte, als Gast zu erscheinen.
Bob ging nun heute als frischgebackener Vorzugsschüler, die herrlich langen Sommerferien vor sich, in fieberhafter Erwartung des versprochenen Hundes, mit Gertie in den Park. Sie hatten zuerst wie gewöhnlich Diabolo spielen wollen, aber das ging heute doch nicht. Bob fühlte sich, er war voll Mitteilungsdrang, er mußte sprechen. Sie gingen zuerst den Weg knapp am Parkgitter entlang, aber ein großes, geschlossenes Automobil, das im langsamsten Tempo fast neben ihnen her, nur außerhalb des Gitters fuhr, störte sie mit seinem Rattern und Benzingestank und so bogen sie in eine schattige Allee ein und ließen sich auf einer Bank nieder.
»Bob, freust du dich sehr über dein gutes Zeugnis?«
Bob überlegte und strich sich die Locken aus der freien, hohen Stirn.
»Eigentlich wollte ich sagen: Ach was, es ist mir ganz egal! Weil Jungens immer so tun müssen, als wenn ihnen solche Schulsachen nicht so wichtig wären. Aber ich freue mich doch sehr. Auf den Hund, und weil Mama sich freut, und weil du dich freust. Und dann freue ich mich, weil es mir gelungen ist. Weißt du, Gertie, Mathematik und Geographie sind sehr ekelhaft, und ich denke, man sollte Jungens nicht so damit quälen. Aber wegen des Hundes, den mir Papa versprochen hat, und wegen der Freude von Mama wollte ich Vorzugsschüler werden, und nun sehe ich, daß man kann, was man will. Lebertran kann man nicht essen, wenn man nicht will; wenn man aber will, kann man es auch. Und mit der Mathematik ist es nicht anders. Und drum sage ich auch, ich will dich heiraten, Gertie, und wenn ich groß bin, tue ich es auch gewiß. Papa hat mir, als er es einmal hörte, gesagt, ich sei ein dummer Junge und solle nicht an solche Sachen denken. Aber ich meine, daß ich immer daran denken soll, weil ich dann nie aufhören werde, es zu wollen, und wenn ich etwas ernstlich will, dann kann ich es auch tun.«
Mit scheuer Bewunderung hing Gertie an seinen Lippen.
»Ach, Bob, das wird zu herrlich sein, wenn du mich heiraten wirst. Aber Mami darf immer bei uns wohnen, nicht wahr? Und eine kleine Katze werde ich auch bekommen, mit der ich mir die Zeit vertreiben kann, wenn ich warte, bis du aus der Fabrik kommst, nicht wahr?«
Bob machte ein sehr nachdenkliches Gesicht.
»Deine Mama muß natürlich bei uns wohnen, weil sie sonst ganz allein ist. Unsere Köchin hat zwar neulich gesagt, daß immer die Hölle los ist, wenn die Schwiegermutter im Hause wohnt, aber bei deiner Mama glaube ich das nicht, weil sie sehr gut und sanft ist. Das mit der Katze sollst du dir aber aus dem Kopfe schlagen, Gertie. Ich habe in der Zeitung gelesen, daß ein kleines Kind daran gestorben ist, daß es der Katze ins Fell griff und dann Katzenhaare in den Mund bekam. Und ich denke, wie furchtbar das wäre, wenn das unserem Kinde geschehen würde. Und dann werden wir ja ein eigenes Haus bewohnen, und da gibt es sehr viel zu tun, so daß du dich gar nicht langweilen wirst. Meine Mama langweilt sich auch gar nicht.«
Gertie sah das alles ein, den Mangel an Langeweile und auch die Gefahr für die Kinder, und ging auf ein anderes Thema über.
Bob und Gertie standen aber bald auf, um nun doch ein wenig Diabolo zu spielen. Sie verließen die schattige Allee und begaben sich nach dem großen, freien Spielplatz in der Mitte des Parkes, der mit feinem, weißem Sand bestreut und ringsum von Bänken umgeben war. Da tollte die Jugend des ganzen Villenvororts herum, saßen die Kinderfrauen und Ammen mit ihren Babies, strickten und stickten Mütter, um von Zeit zu Zeit aufzublicken und warnend zu rufen: »Erhitz’ dich doch nicht so, Elsie!« Da wurden zwischen Knaben Schlachten ausgekämpft, kicherten Backfische mit langen Zöpfen, wenn hinter ihnen Gymnasiasten aus den oberen Klassen einhergingen und es an anzüglichen Bewerbungen nicht fehlen ließen; zwischendurch flogen die Gummibälle und Diabolos hoch in die blaue, von der Sonne durchflimmerte Luft.
Auch Gertie und Bob schleuderten ihre Spulen himmelaufwärts, und bald hatte sich um sie ein Kreis von bewundernden Zuschauern gebildet. Die Kinder wetteiferten an Anmut und Geschicklichkeit miteinander. Flog Gerties Spule so hoch empor, daß sie nur mehr wie ein Punkt aussah, so schleuderte Bob die seine noch um ein gutes Stück höher, um gleich darauf wieder von seiner kleinen Freundin übertroffen zu werden, Und es war ein reines, ungemischtes Vergnügen, zu sehen, wie sich die schlanken Körper der beiden hoben und senkten, drehten und beugten, wie ihnen die Locken um die im Eifer des Spieles erglühenden Wangen flogen und wie sie neidlos einander lobten und ermunterten. Auch der außerordentlich gefürchtete einbeinige Parkwächter in seiner verschlissenen Veteranenuniform konnte sich von dem Anblick nicht trennen, so daß hinter seinem Rücken ungezogene Rangen in aller Seelenruhe die Blumenbeete plündern konnten. Und als er schmunzelnd erklärte: »Das ist das hübscheste Pärchen, das ich seit vierzig Jahren in dem Park gesehen habe«, da nickte man ihm von allen Seiten beistimmend zu.
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Inzwischen war es zwölf Uhr geworden, und Bob mahnte: »Gertie, jetzt hören wir auf und kühlen uns langsam ab, damit du dich im Schatten nicht erkältest. Um ein Uhr müssen wir ja beide zu Hause sein.«
Jetzt erst bemerkten sie, daß sie eine große Zuschauermenge gehabt hatten, und ein wenig verlegen beeilten sie sich, wieder Hand in Hand davonzuschlendern. Unter den Zuschauenden befand sich aber auch ein großer Mann, dessen Häßlichkeit erschreckend wirkte. Er schien ein Negermischling zu sein, sein blatternzerfressenes Gesicht hatte eine Färbung, bei der man nicht wußte, ob sie gelb oder blau sei, und die eine Augenhöhle war leer und das andere Auge blutunterlaufen, tückisch und stechend. Er stand, als die Kinder gingen, dicht vor ihnen, und Gertie erschrak so, daß sie unwillkürlich Bobs Hand krampfhaft umklammerte. Auch Bob durchfuhr ein Grauen, aber er faßte sich rasch und sagte, während er Gertie eilig fortzog:
»Brrr, wie greulich der Mann aussieht! Der Arme! Sicher ist niemand gut und lieb zu ihm! Welches Glück ist es doch, zu wissen, daß man den Leuten gefällt!«
»Gefalle ich dir auch?« fragte Gertie mit dem schelmischen Lächeln des kleinen Weibchens, in dem die Koketterie mit den ersten Gehversuchen erwacht und mit dem letzten Zahne noch lange nicht erlöscht.
»Sehr gefällst du mir, Gertie! Würdest du mir nicht so gefallen, so hätte ich dich wahrscheinlich gar nicht lieb. Ich weiß, das ist sehr häßlich von mir und vielleicht sogar eine Sünde. Aber so bin ich nun einmal, und Papa meint immer, man solle getrost seine Eigenart bewahren. Sicher hab’ ich dich auch lieb, weil du gut bist und mich lieb hast. Aber hättest du solche Blatternarben wie dieser Mann, so würde ich dich doch nicht so lieb haben können und lieber mit anderen Jungens spielen als mit dir.«
Da lachte Gertie hellauf und war sehr glücklich, ein hübsches, kleines Mädel mit samtweicher Haut und blonden Locken zu sein.
Die Kinder waren, um sich abzukühlen, langsam auf und ab gegangen, dann setzten sie sich auf eine Bank im Schatten und plauderten behaglich weiter. Aber nicht lange, denn plötzlich erschien der alte Diener Eduard des Holgermanschen Hauses.
»Junger Herr, ich suche Sie schon im ganzen Park. Der Herr Professor Brummel hat telephonisch nach dem jungen Herrn gefragt und gebeten, Sie möchten ihn so rasch als möglich anrufen.«
Verdutzt sprang Bob auf.
»Was mag er nur wollen? Na, er hat sich ja in der letzten Zeit immer von mir die Hefte nach Hause tragen und von Hause holen lassen, wahrscheinlich will er wieder so etwas. Aber heute, wo die Ferien begonnen haben? Komm’, Gertie wir gehen jedenfalls.«
Gertie kicherte.
»Vielleicht will er dir sagen, daß er sich geirrt hat und du gar kein Vorzugsschüler bist.«
Bob lachte. »Quatsch! So etwas gibt es nicht! Es war doch vorher Konferenz und da wurde das alles ausgemacht.«
Der alte Eduard war vorausgeeilt. Als die Kinder die Villa Holgerman erreicht hatten, zögerte Bob noch einen Augenblick. »Weißt du, Gertie, warte hier unten auf mich, ich bin gleich wieder bei dir. Wenn du jetzt mitkommst, so hält uns Mama fest, und wir wollen doch noch ein wenig allein miteinander plaudern.«
Bob sprang wieder die Treppen hinauf und eilte in das Zimmer, in dem der Telephonapparat stand. Dieses Zimmer ging wohl auf die Straße, aber das Telephon stand auf einem Schreibtisch an der dem Fenster gegenüberliegenden Seite so daß man, wenn man sprach, nicht hinaussehen konnte. Bob rief das Amt an und gab ihm die ihm wohlbekannte Nummer des Professor Brummel. Es dauerte ziemlich lange, bis sich jemand dort meldete. Gerade als endlich Professor Brummel selbst auf der anderen Seite sein »Hallo, wer dort?« rief, hörte Bob, wie auf der Straße ein Automobil langsam vorbeifuhr und gleich darauf war es ihm, als hörte er einen Schrei. Einen schrillen, ängstlichen Schrei. Im Bruchteil einer Sekunde ging es dem Knaben durch den Kopf, daß Gertie den Schrei ausgestoßen haben könnte. Aber Professor Brummel sagte eben:
»Na, Holgerman, womit kann ich dir dienen?« Und Bob dachte vor lauter Verwunderung nicht mehr an den Ruf von der Straße.
»Herr Professor haben mich doch vorher sprechen wollen und mir sagen lassen, ich möchte sie anklingeln. – Wie, dies ist Ihnen gar nicht eingefallen? Nein, so etwas! – Ja, Sie haben recht, Herr Professor, sicher ein dummer Streich von einem Buben. Also verzeihen Sie, daß ich Sie gestört habe. – Nein, jetzt fahren wir noch nicht aufs Land, erst in vier Wochen. Papa kann noch nicht fort und Mama will ihn nicht allein lassen. – Ich danke, Herr Professor, ich werde es ausrichten. –
Zu dumm«, brummte Bob in sich hinein, als er die Treppe hinabeilte. »Fällt so einem Burschen nichts anderes ein, als den alten Brummel zu ärgern. Gertie wird aber lachen, wenn ich es ihr sage.«
Frau Holgerman kam ihm auf der Treppe entgegen.
»Bobbie, willst du nicht lieber schon zu Hause bleiben? Es ist ja halb ein Uhr!«
»Mama, Gertie wartet unten auf mich, wenn es dir aber lieb ist, so ruf ich sie herein.«
»Tue das, Bobbie, du weißt doch, ich freue mich immer, wenn Gertie bei uns ist. Vielleicht erlaubt ihr die Mama, daß sie bei uns zu Tisch bleibt.«
»Hurra, fein!« schrie Bob, ich werde Frau Sehring die Erlaubnis schon abbetteln.« Und draußen war er.
Gertie war aber nicht unten. Bob schaute die Straße entlang, nach rechts und nach links, von Gertie keine Spur.