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Manfred fährt Lkw für einen Baumarkt, bringt hundert Kilo Muskelmasse auf die Waage und joggt lieber um den See, als in der Szene abzuhängen. Er mag es bodenständig. Als er seine Mutter in einem winzigen Kaff in Mecklenburg besucht, lernt er dort Toralf kennen, einen Dachdecker, der seine Freizeit mit Bodybuilding und tiefergelegten Autos verbringt. Toralf ist verblüfft, dass auch ganz normale Kerle schwul sein können, und zwischen den beiden bahnt sich etwas an.
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Seitenzahl: 192
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ROLF REDLIN
BODYCHECK
Roman
Männerschwarm Verlag Hamburg 2013
1
Der kleine Briefumschlag roch ganz sanft nach Mama. Manfred nahm den Duft nur unbewusst wahr, doch er weckte zärtliche Erinnerungen: Schokoladenpudding, Strandurlaub auf Amrum und frisch gewaschene Bettwäsche. Manfred warf die restliche Post achtlos auf den Küchentisch. Nun wird sie auf ihre alten Tage noch drollig, dachte er und drehte den Umschlag hin und her. Warum ruft sie nicht an? Er riss den Brief auf und las.
Lieber Manfred,
über Deinen Besuch zu meinem Sechzigsten am Wochenende würde ich mich sehr freuen. Gib Dir bitte einen Ruck, auch wenn Du Eberhard nicht magst. Er gibt sich so viel Mühe mit den Vorbereitungen. Du bist und bleibst mein einziger Sohn. Nur mit Dir wird es eine gelungene Geburtstagsfeier werden. Ich bin mir sehr sicher, dass ich Dir ebenso viel bedeute.
Deine Mutter
PS: Habe eine gute Freundin hier im Dorf. Die hat einen Anbau am Haus, dessen Dach gedeckt werden müsste. Ihr Sohn ist zwar Dachdecker, aber ich habe ihr versprochen, dass Du ihm helfen wirst. Bitte tu mir den Gefallen. Am besten kommst Du schon Freitag, ich habe ein Zimmer für Dich im Gasthof reserviert.
Ach Mama! Ich hasse diese abgepfiffene Gegend im Osten. Ich hasse die Provinz überhaupt. Ich mag diesen Kerl nicht, auch wenn du ihn ins Herz geschlossen hast. Was soll ich dort! Was suchst du dort?
Manfred schaute gedankenverloren zum Fenster hinaus. Er sah Mama, mit kurzen Haaren und sportlich gekleidet, wie sie zusammen mit den Kegelschwestern in den Reisebus stieg, der sie nach Prag brachte. Die Goldene Stadt. Das war jetzt gut zwei Jahre her. In Prag hatte sie Eberhard kennengelernt, der mit ehemaligen Kollegen einen Ausflug unternahm. Ausgerechnet Eberhard, ausgerechnet dieser pensionierte Volkspolizist aus Mecklenburg, aus einem Kaff irgendwo im Nirgendwo. Für Manfred war es Abneigung auf den ersten Blick. Eberhard war untersetzt, mit stattlicher Wampe und ungepflegtem Vollbart. Der Bart hörte anscheinend gar nicht wieder auf, wucherte ohne Unterbrechung von der Oberlippe bis zum Hemdkragen hinab. Wie es darunter weiterging, wusste Manfred nicht aus eigener Anschauung. Ärgerlich strich er sich durch den eigenen, sorgfältig gestutzten Bart.
Was fand sie an diesem Menschen? Vor seinem geistigen Auge sah er Eberhard, wie er stöhnend auf ihr lag. Manfred warf den Brief angewidert auf den Tisch und schaffte erst einmal Ordnung in der Küche, um die unerwünschten Bilder zu verscheuchen.
Doch die Gedanken ließen ihn nicht los: Gab es so etwas wie die naturgegebene Eifersucht auf den Lebensgefährten der Mutter? Außerdem beruhte die Abneigung auf Gegenseitigkeit. Eberhard sah in ihm den Schwulen aus der Großstadt. Manfred strich sich erneut durch den Bart. Die Tatsache, dass er weder Tänzer noch Werbefritze war, schien daran nichts zu ändern. Bisher hatte er Eberhard erst einmal getroffen, als Mama noch in Hamburg wohnte. Eberhard hatte ihn ignoriert oder bestenfalls mit sarkastischen Bemerkungen bedacht.
Manfred klappte die Spülmaschine zu. Eberhards Abneigung war ihm egal. Er lächelte in sich hinein. Vielleicht sollten sie den Zwist bei passender Gelegenheit einmal wie unter richtigen Männern regeln. Macht man das auf dem Lande nicht so? Er ballte die Rechte zur Faust und rieb sie in der Linken.
Vor zehn Monaten war Mama endgültig zu ihrem Freund nach Mecklenburg gezogen, Kleinow hieß das Dorf. Sie fühlte sich auf dem Lande wohl. «Wie früher leben wir dort», sagte sie immer. Da konnte man nichts machen. Immerhin richtete Eberhard Mama zuliebe eine Familienfeier aus. Ob der Dorfklatsch auch schon von Mamas Sohn und dessen ausschweifendem Lebenswandel wusste?
Heute war Donnerstag, er müsste also morgen fahren. Er würde Mama die Bitte nicht abschlagen können, auch wenn er eigentlich gehofft hatte, mit einem schlichten Anruf davonzukommen. Den Brief hatte sie sicher bewusst als kleine liebe Erinnerung geschickt, damit ihm kein Grund für Ausflüchte blieb. Sie konnte ziemlich gerissen sein. Wenn es also sein musste …
Manfred befestigte gerade den Brief mit einem Magnetpinn an der Kühlschranktür, als das Telefon klingelte.
2
Es war Malte. Ob Manfred ihn im Auto mitnehmen würde zur Ringergruppe. Sie machten den gewohnten Treffpunkt aus.
Wie jeden Donnerstag traf sich die Ringergruppe in einer Turnhalle in Altona. Klar hätte Malte auch die S-Bahn nehmen können, schließlich war der nächste Bahnhof gleich um die Ecke. Klar war das ein Umweg für Manfred, doch er machte diesen Umweg immer wieder gern. Malte war höchstens Mitte zwanzig, fast zu jung für Manfreds Geschmack. Und außerdem war er Student, studierte auf Lehramt Oberstufe oder wie sie das so nannten. Manfred fand, dass dieser Malte irgendwie auf einem anderen Stern lebte, fernab der Realität. Wohnte in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung, jobbte hier und da, bekam Geld von Papa und wusste alles besser.
Eigentlich hätte er ihm gleichgültig sein müssen, wäre da nicht dieser blonde Wuschelkopf und der zottelige Vollbart gewesen. Sonst bevorzugte Manfred ja eher kurze Haare, aber dieser Malte, jung und dabei groß und schwer, wirkte wie ein tapsiges Bärenjunges.
Das Bärenjunge stand am Straßenrand und wartete geduldig. Manfred hielt an.
«Moin, Manfred.»
«Moin. Neues Kapu-Shirt?» Malte nickte. Auf der Brust prangte breit das gelbe Logo eines Herstellers von Berufsbekleidung.
Malte streckte genüsslich die Beine aus und strahlte Manfred an. «Habe ich eigentlich schon gesagt, dass ich deinen Wagen ziemlich krass finde?»
«Mehrfach …», brummte Manfred, «um genau zu sein, jedes Mal, wenn ich dich mitnehme.»
Malte schwärmte für den beinahe zwanzig Jahre alten VW-Transporter vom Typ T2 mit Pritsche und Doppelkabine. Manfred hatte den Wagen in Eigenarbeit restauriert.
«Wenn meine Kohle mal reicht, hol ich mir auch so ein Ding. Hilfst du mir dann beim Schrauben?»
«Fang doch erst mal mit Sparen an», brummte Manfred und ließ offen, ob Malte mit seiner Hilfe rechnen konnte.
«Übrigens kommen heute Abend vielleicht zwei Neue …», verkündete Malte voller Stolz. Kurz nachdem er bei der Ringergruppe aufgetaucht war, hatte er eine Website ins Netz gestellt und sich damit schnell unentbehrlich gemacht.
«Und?» Manfred war skeptisch. «Kann man die ernst nehmen?»
«Wart’s ab. Einer von beiden, so ein Kleinerer, ist auch Student …»
Manfred stöhnte auf: «Und der andere?»
«… der andere ist wohl so groß wie wir und Friseur.»
Manfred stöhnte noch einmal: «Kannste bestimmt vergessen, wahrscheinlich beide ohne Kampferfahrung.»
Sie parkten gleich um die Ecke und hatten nur wenige Schritte zu gehen. Manfred öffnete die schwere alte Eingangstür und ließ Malte den Vortritt. «Willkommen an deinem zukünftigen Arbeitsplatz.»
Malte lachte kopfschüttelnd: «Das ist ’ne Realschule.»
«Egal, ich finde es hier unheimlich!» Die Gründerzeitfassade der Schule glich mehr einer Trutzburg als einer Lehranstalt. Manfred fühlte sich in die wehrlose Kinderzeit zurückversetzt. Wenigstens war die Turnhalle neueren Ursprungs.
Drinnen warteten tatsächlich zwei Neulinge. Wenige Minuten später erschien auch Coach Paul, ein stämmiger vierzigjähriger Schotte. Neben dem Ringen hatte er in seiner Jugend mit Leidenschaft Rugby gespielt; beide Sportarten hatten seine Statur nachhaltig geprägt. Manchmal vertrat Manfred den Coach. Als Gründungsmitglied gehörte er zwar zum harten Kern der Ringergruppe, blieb aber lieber ein unauffälliges Teammitglied und ließ gern auch mal einen Trainingstermin sausen.
In der Umkleide taxierte Manfred die beiden Neuen. Der Große mit den langen kräftigen Armen musste der Friseur sein. Er trug einen ungewöhnlich akkuraten Kurzhaarschnitt, und seine Ohren standen ein klein wenig ab. Der Kleine dagegen war ein schmaler, feingliedriger Mensch. Typischer Student, fand Manfred.
Die fünf warteten noch ein paar Minuten, doch weitere Gruppenmitglieder tauchten nicht auf. Sie trabten erst eine Weile im Kreis, darauf folgten Dehnübungen. Manfred reckte mit Verbissenheit die angewinkelten Ellenbogen nach hinten. Wegen der Neulinge ließ der Coach sie Fallübungen machen. Wäre ich bloß zu Hause geblieben, dachte Manfred.
«So, nun wollen wir mal sehen, wozu das alles gut war», unterbrach Paul das Fallen. «Ihr stellt euch jetzt paarweise gegenüber, hüpft auf einem Bein, verschränkt die Arme und versucht den anderen umzustoßen. Wer zuerst fällt oder das Bein absetzt, hat verloren.» Eine wilde Rangelei setzte ein. Der Friseur hatte leichtes Spiel mit dem Studenten, der immer wieder Halt suchen musste. Malte setzte sein ganzes Körpergewicht ein und schaffte es tatsächlich, Manfred aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er johlte vor Vergnügen.
In der nächsten Übung hielten sie ein Bein des Gegenübers am Sprunggelenk fest. Mit der anderen Hand umfassten sie ihn am Nacken. Der Student fiel sofort, kam ungeschickt auf und rieb sich den linken Ellenbogen. Malte und Manfred rangen eine Weile miteinander, bis Manfred kurz entschlossen und fast mühelos Malte zu Boden legte.
Dann ließ Paul die vier in den Liegestütz gehen. «Jetzt spreizt ihr die Beine und versucht, dem Gegner die Arme wegzuziehen.» Weil der Student Mühe mit dem Liegestütz hatte, trat Paul gegen den Friseur an. Manfred stützte sich mit Leichtigkeit auf nur einen Arm und setzte Malte gehörig zu. Malte ging zu Boden, und Manfred triumphierte: «Ha, zwei zu eins für mich!»
«Zum Abschluss jetzt noch etwas mehr Körperkontakt», versprach Paul. Er wies auf den Boden. «Manfred, leg dich mal hierhin auf den Bauch. Du …», er wies auf den Studenten, «legst dich auf Manfreds Rücken. Manfred wird jetzt aufstehen, und du sollst versuchen, das zu verhindern.» Zögernd nahm der Student auf Manfreds Rücken Platz. Er kicherte schüchtern. «Los!», kommandierte Paul. Manfred erhob sich, völlig unbeeindruckt von dem Studenten, der sich hilflos an seinen Rücken klammerte. «Noch mal, diesmal mit Malte», befahl der Coach. Malte war kein Leichtgewicht wie der Student. Dennoch gelang es Manfred, sich aufzurappeln. Malte markierte glucksend Beckenbewegungen. «Das ist unfair!», schimpfte Manfred und keuchte dabei ganz ordentlich. Schließlich schüttelte er Malte ab. Alles lachte.
Wie immer klang das Training der Ringergruppe in einer benachbarten Kneipe aus. Alle bestellten Bier, nur Manfred entschied sich für Mineralwasser und ein Bauernfrühstück.
«Nur noch nächste Woche, dann ist die Schule aus für Summer Holidays», informierte Paul in seinem schottischen Akzent, «Training startet dann erst wieder nach die Summer Holidays.» Die Runde nickte lächelnd.
Malte wandte sich den Neuen zu. «Und … hat’s euch gefallen?»
Die beiden waren ebenso aufgekratzt wie körperlich erschöpft. Sie nickten heftig, ganz Feuer und Flamme. Der Größere meinte: «Als Schüler hab ich ja mal ’ne Weile Judo gemacht. War nicht schlecht.»
Manfred horchte auf. «Und warum hast du aufgehört?»
«Hab dann mit Handball angefangen, da war keine Zeit mehr für noch ’ne Sportart.»
Manfred nickte. Man sah dem Großen den Handballer an. «Und du?», wandte er sich an den Kleinen.
Der Kleine wurde rot. «Um ehrlich zu sein, ich bin eher der unsportliche Typ. Zufällig bin ich auf eure Website gestoßen und fand das mit dem Ringen irgendwie aufregend.» Mit glänzenden Augen sah er Manfred an.
«Aufregend? Inwiefern?», fragte Manfred.
Der Student wurde noch röter. «Hat das nicht was mit Machtausübung zu tun, mit Unterwerfung und Dominanz?»
Manfred zog die Stirn in Falten. «Das ist mir zu hoch. Hier geht’s doch ums Ringen.»
«Eben», erwiderte der kleine Student, «im Ringkampf unterwirft sich am Ende der Schwächere dem Stärkeren. Das hat doch auch eine ganz starke sexuelle Komponente. Sexualisierte Gewalt als Beweis von Männlichkeit …»
Die Falten auf Manfreds Stirn vertieften sich. Da mischte sich der große Friseur ein: «Also ich finde, dass Kerle einfach viel geiler aussehen, wenn sie sich stark anstrengen. Wenn du die angespannten Muskeln direkt vor deiner Nase siehst und die Kraft dann sofort spürst. Ist doch völlig egal, wer gewinnt oder verliert.»
«Ganz ehrlich», antwortete der Student mit gedämpfter Stimme, «das stelle ich mir schon sexuell erregend vor, so besiegt zu werden und unter einem kräftigen Kerl zu liegen.» Seine großen Augen hingen unverwandt an Manfred.
«Na ja …», brummte Manfred nur. Auf seiner Stirn erschienen wieder Falten. Malte lachte und gab dem Kleinen einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter, um die Situation zu entschärfen.
Der Kleine geriet ins Stottern. «Ist das irgendwie falsch?»
«Unser Manfred zieht es vor, wenn der Ausgang des Matchs offen ist», antwortete Malte, «er hat keine Lust auf körperlich unterlegene Gegner. Ich übrigens auch nicht.»
Die Diskussion verlief gar nicht nach Manfreds Geschmack. Er brummte nur: «Das ist doch grad der Reiz daran!»
«… das Kräftemessen …», ergänzte Malte zur Bestätigung.
Dem Kleinen stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.
Mit gespieltem Ernst fuhr Malte in seinen Ausführungen fort: «Natürlich ist es auch geil, jemand zu besiegen. Wenn Manfred zum Beispiel unter mir liegt, wenn ich ihn am Boden fixiert habe und er dann keine Chance mehr hat …»
«Du willst mich wohl foppen», fiel ihm Manfred ins Wort und wandte sich dem kleinen Studenten zu. «Glaub ihm kein Wort, das schafft der nie …» Dabei versuchte er Malte in den Schwitzkasten zu nehmen. Der Kleine saß mit offenem Mund da und staunte. Prustend wehrte sich Malte, die Gläser klirrten, und Stühle rückten laut über den Kneipenboden. Paul rief die beiden schließlich zur Ordnung. Die Runde beruhigte sich wieder. Zum Abschluss richtete der Coach noch einige lobende Worte an die beiden Neulinge. Die fünf leerten ihre Gläser und zahlten.
Kurz darauf saßen Manfred und Malte wieder im Auto.
«Der Kleine kommt bestimmt nicht wieder», vermutete Malte, «den hast du erfolgreich vergrault.»
«Vergrault? Der passte doch eh nicht dazu. Dafür kann aus dem Großen was werden.»
«Iieeh, der sah ja verboten aus mit seinen Segelohren.» Malte schüttelte sich.
«Na ja … das ist wohl Geschmackssache …», nuschelte Manfred.
Malte lachte laut los. «Sag bloß, du stehst auf Segelohren? Na, wenigstens hat dir einer gefallen.»
«Gefallen? Gefallen ist was anderes», brummte Manfred, «sportmäßig ist er in Ordnung. Aber er könnte noch ein bisschen mehr Masse gebrauchen. So wie du.» Manfred kniff dem Bärenjungen in die Seite.
Malte kicherte: «Wollen wir nicht mal wieder in deinem Keller ein paar Runden so richtig catchen?»
Manfred lachte zustimmend: «Warum nicht. Übernächstes Wochenende? Komm am besten am Sonnabend. Und dann … Wie hat dein Studentenkollege das noch genannt? Diesen Beweis von Männlichkeit?»
«… sexualisierte Gewalt …»
«Genau das machen wir. Und du wirst unweigerlich unten landen, auf der Matte und im Bett.»
Malte schüttelte lachend den Kopf: «Unten landen … Und wovon träumst du nachts? Da wird aber leider sowieso nichts draus. Ich hab nämlich ab Anfang nächster Woche einen Urlaubsjob und bin für acht Wochen nicht mehr im Lande. Wie wär’s denn mit diesem Wochenende?»
«Da geht gar nichts. Muss zu meiner Mutter nach Meck-Pomm. Die wird sechzig. Aber was jobbst du denn, wenn du dafür extra wegfährst?»
Malte strahlte: «Das glaubst du nicht. Bin auf ’nem Campingplatz in Südfrankreich und mach da den Bademeister am Pool. Hab ich im Internet gefunden, den Job.»
«Wie, im Internet?», fragte Manfred.
«Na ja», Malte wurde etwas verlegen, «der Platzwart ist halt schwul.»
«Alles klar», Manfred winkte ab. «Lass mich raten, du darfst bei dem auch wohnen …»
«Quatsch, so ist der nicht drauf», widersprach Malte.
«Na, wenn du meinst … Der freut sich sicher schon auf den blonden deutschen Studenten.» Im Geiste sah Manfred den braun gebrannten Malte in knapper Badehose am Pool stehen.
Sie hielten an einer Ampel, und Malte legte seine Hand auf Manfreds Knie.
«Komm doch noch auf ’ne Stunde mit hoch! Wenn wir uns schon so lange nicht mehr sehen … Außerdem bin ich so was von rallig …»
Manfred schaute auf die Uhr: schon nach elf. Um Viertel nach fünf musste er aufstehen. Und morgen Abend würde er nach Kleinow fahren. «Ich bin kein Student. Im Gegensatz zu dir stehe ich im Produktionsprozess. Ich brauch die paar Stunden Schlaf.»
Malte schaute enttäuscht drein.
«Na, dann komm doch einfach mit zu mir und bleib die Nacht da.» Manfred fuhr ihm mit der rechten Hand zärtlich durch den Blondschopf und schüttelte ihm den Nacken.
Malte strahlte: «Hey, warum nicht gleich so?»
Wenig später schloss Manfred die Tür zu seinem kleinen Häuschen auf. Zielstrebig steuerte Malte das Wohnzimmer an und lümmelte sich auf die Couch. «Cool, dein Haus. Da kommt Neid auf, du lebst allein und kannst machen, was du willst.»
Manfred feixte: «So ist das eben bei erwachsenen Männern.»
«Du nimmst mich mal wieder nicht ernst. Aber ehrlich: Bei Bedarf holst du dir jemanden fürs Bett, und ansonsten machst du den einsamen Wolf. Das finde ich wirklich krass.»
«Krass?»
«Ja, ziemlich cool.»
«Hm … einsamer Wolf …», Manfred schüttelte den Kopf.
«Doch, doch! Sag mal, darf ich was fragen?»
«Und zwar?», fragte Manfred belustigt.
«Wie müsste denn der Kerl drauf sein, der den einsamen Wolf zähmt?»
Manfred grinste. «Na, Abitur darf er jedenfalls nicht haben.»
«Ach komm! Wenn ich in deinen Augen nur ein dauergeiler Studi bin, was findest du dann an mir?»
Manfred lachte auf. «Stimmt, du kannst einen manchmal schon nerven. Jetzt zum Beispiel. Andererseits: Du siehst ganz knuffig aus, wie ein junger Bär, aus dem mal ein richtig attraktives Alttier wird …»
«Echt?», warf Malte ein.
«Ja, irgendwann mal. Aber vor allem bringt es Spaß, mit dir zu raufen, weil man deinen Eifer spürt», erklärte Manfred.
Für einen Moment war Malte sprachlos. Mit glänzenden Augen sah er Manfred an. «Darf ich dich dann um einen Gefallen bitten?»
«Klar doch, leg los!»
«Würdest du bei der Arbeit mein neues Kapu-Shirt tragen, solange ich in Urlaub bin? Dann bekommt es ein bisschen Patina. Du hast ja gleich gemerkt, dass es noch neu aussieht.»
Malte liebte Arbeitskleidung und hatte sogar schon gebrauchte Teile im Internet ersteigert. Hin und wieder zweifelte Manfred ernsthaft, ob Malte ihn eigentlich persönlich mochte oder nur seine Arbeitsklamotten anhimmelte.
«Alles klar. Dann mal nix wie raus aus den Plünnen.» Manfred legte ein bisschen mehr Bestimmtheit in die Stimme als nötig. Er wusste, das würde Malte antörnen.
Zögernd entledigte sich Malte des Kapuzenshirts und saß im T-Shirt abwartend da. Manfred riss ihm kurzerhand auch noch das T-Shirt vom Leib, stieß ihn rücklings in die Couch und beugte sich über ihn. Rede nicht immer so viel, dachte er und begann genüsslich an Maltes Brustwarzen zu knabbern.
3
Manfred kletterte aus dem Führerhaus und schlug die Fahrertür zu. Zwei Uhr, Wochenende! Da kam Horst, der Disponent aus der Versandabteilung, quer über den Parkplatz auf ihn zu. Was wollte der denn noch?
«Kannst du noch ’ne Auslieferung übernehmen?», fragte Horst.
«Ach komm, du weißt doch, dass meine Mutter dieses Wochenende Geburtstag hat.» Manfred gelang es kaum, den genervten Unterton zu unterdrücken.
Horst dagegen bemühte sich um Freundlichkeit: «Die anderen sind schon alle los. Tu uns den Gefallen, der Kunde will noch am Wochenende seinen Zaun aufstellen.»
Verdammt, dachte Manfred, immer bin ich der Dumme … und gab dann doch nach.
«Super, wir haben die Lieferung schon bereitgestellt.» Horst drückte ihm Lieferschein und Rechnung in die Hand. Dann zwinkerte er Manfred zu: «Außerdem bringst du wohl für diese Sorte Kunden das nötige Fingerspitzengefühl mit.»
«Was meinst du damit?»
«Wirst schon sehen …» Horst zwinkerte wieder.
«Ach Mensch», stöhnte Manfred gequält, «liefer mir doch endlich mal anständige Kerle. Du müsstest langsam meinen Geschmack kennen.»
Beide lachten.
Manfred atmete tief durch. Was soll’s, so kam er eben etwas später zu Mama aufs Land. Große Lust verspürte er ohnehin nicht. Der Feierabendverkehr war schon voll im Gange, daher war Manfred eine gute Dreiviertelstunde unterwegs. Er parkte den Laster vor einem großzügigen Einfamilienhaus aus den sechziger Jahren. Der Kunde kam Manfred tänzelnd entgegen.
«Hallo, das ging ja flott!», flötete er überschwänglich.
Mein Gott, ist der tuntig, schoss es Manfred durch den Kopf. Der Typ war klein und zierlich, regelrecht abgemagert, fand Manfred. Wie der wohl die Zäune aufstellen will, fragte er sich.
«Können Sie mir die Teile vielleicht nach hinten in den Garten schaffen?», bat der Kunde schüchtern.
Der Typ hatte ‹Sie› gesagt. Manfred fand es immer eigenartig, wenn er so förmlich gesiezt wurde. Aber im Grunde brachte man ihm auf diese Weise Respekt entgegen, das genoss er und zahlte es mit ebenso förmlicher Freundlichkeit zurück: «Eigentlich lauten die Lieferbedingungen immer frei Bordsteinkante, aber die paar Meter kriegen wir schon hin.»
Manfred gab sich großzügig. Und er beschloss, den Typ wie eine der Hausfrauen zu behandeln, die üblicherweise tagsüber Lieferungen entgegennehmen. Das schloss auch Small Talk und ein paar lobende Worte für Haus und Garten mit ein. Die männliche Hausherrin blühte sichtlich auf. Manfred erfuhr, dass sie das Haus erst kürzlich zusammen mit ihrem Mann gekauft hatte. Ihm gehörte eine eigene Firma; er war tagsüber nicht im Hause.
Während Manfred die Zaunelemente nach und nach in den hinteren Teil des Gartens schleppte, musste er innerlich schmunzeln. Wie Mann und Frau lebten die beiden hier zusammen. Was es nicht alles gab! Manfred schwitzte kräftig. Längst hatte er Maltes blaues Kapuzenshirt ausgezogen und ins Fahrerhaus geworfen. Nun zog sein knappes T-Shirt die verstohlenen Blicke der Hausherrin auf sich.
Er war gerade wieder am Lkw und packte zwei Zaunelemente, als ein anthrazitgrauer Audi in die Hauseinfahrt preschte und vor der Garage zum Stehen kam. Der Fahrer stieg aus, hemdsärmelig mit gelockerter Krawatte. Das schwarze Jackett warf er sich beim Aussteigen locker über die Schulter. Schon stand sein Freund in der geöffneten Haustür, tänzelte die wenigen Stufen hinab und umarmte ihn liebevoll. Sie küssten sich kurz, aber sehr vertraut.
Dann wandte der Audi-Fahrer sich Manfred zu: «Warte einen Moment, dann helf ich dir.» Ungeniert duzte er ihn. Kurz darauf verschwand er im Haus. Die versprochene Hilfe blieb aus.
Als sich alles am vorgesehenen Platz befand, legte Manfred den Lieferschein zur Unterschrift vor. Die Hausherrin bot noch etwas zu trinken an, und Manfred sagte nicht Nein. Eine eiskalte Cola würde ihm guttun.
«Ein Jammer …», klagte der Typ wehmütig, während er Manfred ansah.
«Was ist ein Jammer?»
«Dass so Kerle wie Sie niemals schwul sind.»
«Ist das so?»
«Ja, leider.»
Manfred lächelte. «Ach, man sollte die Hoffnung nicht aufgeben.»
Der Typ schmolz regelrecht dahin. In diesem Moment tauchte auch sein Mann wieder auf. Tuchhose und Oberhemd hatte er gegen einen sauberen, frisch gebügelten Overall getauscht. Besitzergreifend legte er den Arm um den Freund. Die Hausherrin wandte sich wieder Manfred zu: «Na, wo Sie schon nicht schwul sind, sind Sie wenigstens nett.»
«Oh, danke. Ich wünsch euch beiden noch gutes Gelingen am Wochenende.» Dabei deutete Manfred auf die Zaunelemente. Er kletterte wieder ins Führerhaus und winkte ihnen zum Abschied zu.
An der nächsten Kreuzung zeigte die Ampel Rot. Nachdenklich kratzte sich Manfred am Hinterkopf. Ihn begrüßte niemand, wenn er nach Hause zurückkehrte. Sein Haus war leer, wenn er es betrat. Und dann dieser Kuss, beinah kam es ihm wie eine Provokation vor. Manfred war nicht neidisch auf das Anwesen, nicht neidisch auf den Audi. Doch am Abend von jemandem erwartet zu werden, das hatte schon was …
Die Ampel sprang auf Grün. Manfred gab Gas und schaltete hoch. Andererseits: Er war bald fünfunddreißig Jahre alt, ein gestandener Mann und froh, allein zu leben. ‹Einsamer Wolf› hatte Malte ihn genannt. Die Vorstellung, ein Wolf zu sein, gefiel ihm. War Einsamkeit der Preis dafür?
4
Aus dem CD-Spieler erklangen Country-Melodien. Irgendwie passte das zur Landschaft. ‹Stand By Your Man›. Der einsame Wolf auf dem Weg nach Osten. Manfred ließ den Wagen langsam dahinrollen.
Heute würde er allein in einem abgenutzten Fremdenzimmer einschlafen. Keiner war da, mit dem er über verhärmte, schlecht gekleidete Ossis herziehen konnte, die ihre Klamotten bei Kik kauften. Dann diese öde ostdeutsche Provinz, all die heruntergekommene Schäbigkeit …
Was die schmächtige Hausherrin und ihr Mann wohl gerade taten? Vielleicht sprachen die beiden über den Lkw-Fahrer, der so freundlich gewesen war. Ihr Mann war sicher ein wenig eifersüchtig, doch letztlich verbrachten sie einen netten Abend zusammen. Währenddessen fuhr der freundliche Lkw-Fahrer zu seiner Mutter. Allein.
Manfred musste aufpassen, sonst glitt er voll in eine melancholische Phase hinein. Beinahe hätte er die richtige Abfahrt verpasst. Er öffnete das Seitenfenster und atmete die frische Luft. Nach Verlassen der Autobahn fuhr er noch fast eine Stunde über kleine Landstraßen, bis er endlich das ersehnte Ortsschild von Kleinow passierte. Die Strahlen der tief stehenden Sonne tauchten den Ort in gelbes Licht. Zur Begrüßung haben sie auf Kitsch-Beleuchtung geschaltet, dachte Manfred und lächelte. Er fand den Gasthof in der Ortsmitte. Zu DDR-Zeiten hatte man das Hauptgebäude um einen unproportionierten Anbau mit Festsaal ergänzt. Der schmucklose rau verputzte Kasten mit seinem flachen Pultdach mochte aus den Siebzigern stammen, sah aber wesentlich älter aus. Über dem Eingang waren noch die Schatten des einstigen Schriftzugs ‹HO-Gaststätte› auszumachen, teilweise von schmucken Werbetafeln für Lübzer Pils überdeckt, aber das war auch das einzige Zugeständnis an die neue Zeit.
Hier ist ja der Hund verfroren, dachte Manfred. Genauso hatte er es sich vorgestellt.
Er parkte den Bulli neben einigen tiefergelegten Volkswagen und betrat die dunkle Gaststätte. Zunächst konnte er kaum etwas erkennen. Rechter Hand saß eine Gruppe junger Männer mit kahl geschorenen Köpfen. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung und sahen zu ihm herüber. In Momenten wie diesem war Manfred froh über seine körperliche Statur. Er würdigte die Glatzen keines Blicks und ging schnurstracks auf den Tresen zu, wo eine Frau seines Alters Gläser wusch. Sie mochte einmal sehr hübsch gewesen sein, sah aber verbraucht aus. Manfred begrüßte sie freundlich und fragte nach der Reservierung.
Die Frau stellte sich als Verena vor und führte Manfred zur Treppe, um ihm sein Zimmer zu zeigen.
«Willkommen im Nirgendwo», sagte sie mit kaum verhohlenem Sarkasmus, während sie die Treppe hinaufstiegen.
Manfred lachte zustimmend.
«Aber schau es dir am besten selbst an, unser Kleinow.»
«Das werde ich tun.»
Verena öffnete das Zimmer und übergab Manfred den Schlüssel: «Hier, der ist für das Zimmer und für die Seitentür nach draußen. Damit kommst du auch nach Kneipenschluss rein und raus. Ich muss dann wieder runter. Frag, wenn du was brauchst.»
Das Zimmer war geschmacklos eingerichtet und abgenutzt, aber wenigstens sauber. Toilette und Dusche auf dem Gang waren vor ein paar Jahren renoviert worden, augenscheinlich aber unfachmännisch von Heimwerkern, wie Manfred auf den ersten Blick feststellte. Er warf die Tasche auf das Bett und legte sich einen Moment hin. Nun war er also in Kleinow. Draußen dunkelte es. Wenn er bei Mama noch vorbeischauen wollte, wurde es Zeit. Dörfler gingen früh ins Bett. Manfred schloss das Zimmer hinter sich ab. In der Gaststube waren keine Glatzköpfe mehr anwesend. Verena erklärte ihm den Weg zur Geschwister-Scholl-Straße. Irgendwie grotesk, ging es ihm durch den Kopf: ein Dorf im Nirgendwo, Kurzhaartypen mit nationaler Gesinnung in der Gaststube und die Straßen nach antifaschistischen Widerstandskämpfern benannt.
Die Straße war leicht zu finden. Er schaute sich um. Gleichförmige Häuser reihten sich aneinander, ihre Krüppelwalmdächer zeigten mit der Traufseite zur Straße. Sicher waren die mehr als hundert Jahre alt. Manche von ihnen waren im Laufe der Zeit mit Rauputz aufgehübscht worden, andere ließen noch das ursprüngliche Fachwerk sehen. Mittendrin fiel ein Haus mit schlichtem Satteldach auf. Es war in den Fünfzigern errichtet worden, sollte wohl ausbrechen aus dem überlieferten Einerlei und reckte seine Giebelseite trotzig zur Straße. Die Hausnummer stimmte.
Er drückte den Klingelknopf. Hoffentlich kam nicht Eberhard an die Tür, dachte er. In einem Fenster neben der Haustür bewegte sich die Gardine.
Mama öffnete die Haustür. «Manfred!» Sie fiel ihm um den Hals, ihre Augen strahlten vor Freude, und gleichzeitig schimmerten die Tränen. «Ich wusste sofort, dass du es bist. Hier aus dem Dorf klingelt nämlich keiner, alle klopfen sie an die Küchentür. Schön, dass du gekommen bist.»
«Du siehst prima aus, Mama», lobte Manfred. Ihre unverändert kurzen Haare hatte sie leicht in der ursprünglichen dunkelblonden Farbe getönt. Sie trug eine Art Hausanzug.
Hinter ihr im Flur stand Eberhard und begrüßte Manfred mit männlich hartem Händedruck. Manfred erwiderte den Gruß mit beherztem Griff.
Es knackte hörbar in Eberhards Hand. «Aber hallo!», entfuhr es ihm.
«Wie du weißt, verdiene ich den Lebensunterhalt mit meiner Hände Arbeit», erwiderte Manfred spitz.
Mama zog den Sohn in die Küche. «Du hast doch bestimmt noch nichts gegessen?! Ich habe dir was warm gestellt. Falscher Hase. Das isst du doch so gern.»
Manfreds Gesicht hellte sich auf. «Super, Mama. Mir hängt der Magen sonst wo. Am besten eine Megaportion!» Er nahm am Küchentisch Platz. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Bei Mama gab es immer falschen Hasen.
Im Wohnzimmer hatte Eberhard den Fernseher angestellt. Die Titelmelodie der Tagesthemen tönte herüber. Sie schnitt eine dicke Scheibe ab, legte sie dem Sohn auf den Teller und übergoss alles üppig mit Soße. «Ich hab ihn mit Speckstreifen gespickt. Nur Kartoffeln hab ich leider nicht mehr, die sind vorhin alle geworden.»
«Mhh, das riecht gut. Und Kartoffeln müssen nicht sein!» Manfred aß schweigend und mit großem Appetit. Wortlos öffnete seine Mutter eine Bierflasche und stellte sie auf den Tisch. Als sie ein Glas aus dem Schrank holte, winkte Manfred ab. «Lass mal, geht so …» Er nahm einen kräftigen Schluck aus der Flasche.
Während Manfred seinen falschen Hasen verzehrte, berichtete Mama von Hertha. Beim Anbau ihres Hauses war das Dach neu einzudecken. Herthas Sohn war Dachdecker, und daraufhin hatte Mama mit der einstigen Dachdeckerlehre ihres Sohnes geprahlt. Hier auf dem Dorf war nachbarschaftliche Hilfe unvermeidlich, daher hatte sie Unterstützung durch Manfred angeboten. Manfred schluckte den letzten Bissen herunter und lächelte. «Kein Problem, Mama, für dich tu ich doch alles.» Große Lust verspürte er zwar nicht, aber etwas Abwechslung war allemal besser, als sich in diesem Kaff zu Tode zu langweilen.
«Und Herthas Sohn ist ein Netter, mit dem kommst du bestimmt gut klar. Macht viel Sport, der Junge, genau wie du», schwärmte Mama.
Nebenan wurde der Fernseher ausgeschaltet. Eberhard erschien in der Küchentür und schaute demonstrativ auf die Uhr. «Ich geh jetzt ins Bett, Schatz. Manfred, bleibst du noch lang?»
Das war deutlich. Manfred verabschiedete sich und ging zur Gaststätte zurück. Auch die Kurzhaartypen waren wieder da. Die Jungs hatten sich schon einige Bier und Doppelkorn schmecken lassen. Manfred bestellte bei Verena ein Pils und setzte sich an einen freien Tisch in der Ecke. Von dort konnte man in Ruhe die übrigen Gäste betrachten. Außer der Dorfjugend waren noch ein paar alte Männer da, die gerade bei Verena ihre Getränke zahlten. Verbraucht und abgearbeitet sahen sie aus. Mit schweren Gliedern bewegten sie sich bedächtig, so wie man es von Männern kennt, die ihr Leben lang körperlich hart gearbeitet haben. Nachdem die Alten gegangen waren, taxierte Manfred die fünf jungen Männer nach ihrem Kampfwert. Drei von ihnen stufte er als ungefährlich ein, jung und schmächtig, wie sie waren. Zwei andere waren wohl schon über zwanzig und recht kräftig, Bauernjungs eben.
Nach einigen Minuten brachte Verena das Pils. «Du bist also der Sohn von Eberhards neuer Partnerin? So jemand wie du passt hier eigentlich nicht her.» Sie lächelte vielsagend.
«Setz dich doch ein bisschen zu mir und leiste einem einsamen Großstädter Gesellschaft.»
«Gern!» Verena sah ihn an, grinste und nahm Platz.
«Wieso grinst du?»
«Willst du wissen, was der Dorfklatsch so von dir erzählt?»
«Lass hören!»
«Hier wurde eine kleine Schwuchtel angekündigt.»
«Ich bin eins neunzig!», empörte sich Manfred lachend.
«Na, die Körpergröße meine ich nun weniger. Wie eine Schwuchtel siehst du nicht gerade aus.»
«Woher weiß man denn in Kleinow, wie so jemand aussieht?»
«Der Kleinower weiß das nur vom Hörensagen, nehme ich an.»
«Du bist nicht von hier?»
«Ach, das ist eine lange Geschichte.»
«Erzähl …»
«Um es kurz zu machen: Nach der Wende bin ich in den Westen gegangen und habe dort eine Weile in der Gastronomie gearbeitet, wie man so sagt.»
«Verstehe …»
«Tja, und nun bin ich wieder hier.»
«Und wie läuft das Geschäft?»
«Siehste doch, ich serviere dem örtlichen Golfklub das Bier.»
«Ihr habt hier draußen einen Golfklub?»
«Klar, die Jungs da drüben.» Verena deutete in Richtung Dorfjugend. «Kurze Haare und ein tiefergelegter Golf, wenn du das hast, darfste mitmachen.»
Manfred lachte: «Immerhin haben sie eine Beschäftigung.»
«Das stimmt allerdings», bestätigte Verena, «sonst kannste hier höchstens noch Fußball spielen.»
In diesem Moment betrat ein weiterer Glatzkopf das Lokal, im Arm eine gut aussehende Blondine. Die beiden setzten sich zu den andern. Diese Glatze hatte es im Gegensatz zu den anderen Dorfjungs in sich: Ende zwanzig und offensichtlich ein Kraftsportler mit Hang zu gelegentlichem Anabolika-Missbrauch, wie Manfred mit Kennerblick feststellte. Im Gegenlicht konnte er zwei Ohrmuscheln ausmachen, die durchaus ein wenig vom glatt rasierten Schädel abstanden. Mit Haaren wäre das vermutlich gar nicht aufgefallen. In Manfreds Augen ergab das einen Gesamteindruck irgendwo zwischen Meister Propper und seinem Teddy aus Kindertagen.
Verena wedelte mit gespreizten Fingern vor Manfreds Augen. «Träum nicht! Mund zu! Der wäre wohl ganz nach deinem Geschmack, was?»
«Stimmt. Wer würde da Nein sagen», bestätigte Manfred und hakte gleich nach: «Kennst du die beiden?»
«Logisch kenn ich die. Aber da haste wohl keine Chance. Die sind schon ein paar Jahre zusammen. Kleinows Traumpaar sozusagen.»
«Oh ja, erzähl mir ein bisschen Dorfklatsch …»
«Kleinen Moment, ich muss die beiden nur mal fragen, was sie trinken wollen.» Verena nahm die Bestellung auf und servierte kurze Zeit später ein Mineralwasser für den Glatzkopf und einen Weißwein für seine Begleiterin.
Verena setzte sich wieder zu Manfred und fuhr fort: «Der ist gar nicht so gefährlich, wie er aussieht. Ist ein ganz gutmütiger Junge. Sein Vater war Offizier bei der Armee. Ist tödlich verunglückt, als der Junge elf Jahre alt war. Hubschrauberabsturz, tragisch. Da sind Mutter und Kind zurück nach Kleinow gekommen, die Mutter stammt von hier.»
Der Neue und seine Freundin unterhielten sich angeregt mit den Kumpels. Das Gespräch drehte sich wohl auch um Manfred, denn der Neue schaute ein paarmal herüber. Ihre Blicke kreuzten sich, und für den Bruchteil einer Sekunde schauten sie sich direkt in die Augen. Dann wandte der Neue den Blick schnell wieder von Manfred ab.
«Dorfklatsch scheint eine unterhaltsame Sache zu sein. Lass mich mehr davon hören, Verena.»
«Mehr davon …», Verena überlegte einen Augenblick. «Tja, da ist die Blondine. Birthe. Die Tochter von Uwe, dem ehemaligen LPG-Vorsitzenden ein Dorf weiter. Heute ist das eine GmbH, und er nennt sich Geschäftsführer. Für unsere Verhältnisse ist Birthe eine gute Partie. Bestimmt können sie irgendwann den Betrieb übernehmen, wenn der nicht vorher pleitegeht.»
«Und der Junge?», hakte Manfred nach.
«Der ist eigentlich viel schlauer als seine Kumpels. Wenn diese Birthe nicht wäre, wer weiß, ob er nicht schon lange weg wär von hier. Aber er hat seine Truppe im Griff. Guck sie dir an, wie sie an seinen Lippen hängen.»
Die Glatze erzählte laut, und die Runde hörte mit glänzenden Augen zu, nur die Blondine schaute gelangweilt. Manfred versuchte, ein wenig vom Gespräch aufzuschnappen, es ging wohl um Reifengrößen.
Verena stieß Manfred an. «Dich hat er ja auch voll in seinen Bann geschlagen.»
«Quatsch», widersprach Manfred und wollte grad zu einer Rechtfertigung ansetzen, als sich Glatzkopf und Blondine erhoben und das Lokal verließen.
«Nun guck nicht so enttäuscht, er ist halt wieder weg. Überhaupt: Erzähl doch mal was von dir. Bist du allein?», erkundigte sich Verena.
«Ja, bin ich. Ich bin Single. Und das ist auch gut so.»
Verena runzelte die Stirn. «Ich bin ja nun auch Single. Aber nicht aus Überzeugung. Und ob das so gut ist … Immer wenn ich den Sonntag allein verbringe, kommen mir Zweifel.»
Über ihr Gespräch hatte Verena die Bierversorgung vernachlässigt. Prompt gab im Hintergrund der Golfklub Laut: «Ey Verena, komm mal rüber.»
Verena stand seufzend auf und ging hinüber.
«Wird man hier bedient?»
«Bring uns mal ’n Bier!»
Verena blieb völlig ungerührt. «Nur die Ruhe, Jungs. Nachschub kommt gleich.»
«Mach ’n Kopf zu und schwing die Stelzen!»
Einer der schmächtigen Jungs wurde kiebig und klatschte Verena auf den Hintern: «Hepp, hepp!» Verena revanchierte sich mit einer Ohrfeige, er schrie auf. Manfred hatte das Geschehen aus der Ferne verfolgt und freute sich über Verenas handfeste Reaktion. Doch dann sprang einer der beiden stämmigen Jungs auf, ein fleischiger, übergewichtiger Typ. «Lass meine Männer in Frieden!», brüllte er und stieß Verena gegen den Tresen; sie hielt sich das Gesicht.
Im selben Augenblick war Manfred bei ihr, und bevor der Schläger wusste, wie ihm geschah, hatte er Manfreds Faust auf der Nase. Es gab ein knackendes Geräusch, und der Dicke flog in die Ecke.
Die Jungs waren völlig überrumpelt. Ihr Kumpel lag auf dem Fußboden, Blut rann aus seiner Nase. Sie starrten Manfred ängstlich an.
Ein Schmächtiger mit schwarzem Polohemd bekam als Erster den Mund wieder auf. «Was ist das denn für einer?», fragte er Verena.
«Der Sohn von Eberhards Freundin.»
«Ich glaub’s nicht. Das ist die kleine Tunte?!»
«Vielleicht zahlt ihr jetzt besser und zwitschert hier ab», schlug Verena vor.
Manfred rieb sich die Hände: «Oder braucht noch jemand Nachschlag?»
Hastig zückten die Jungs ihr Geld, und wenige Minuten später war der Gasthof leer. Verena schloss die Kneipentür ab. Es war Freitagabend kurz nach Mitternacht, in Kleinow endete das Nachtleben.
«Jetzt hab ich deine Gäste vergrault.»
«Ach, die kommen schon wieder, im Umkreis von zehn Kilometern gibt’s nichts zu trinken außer bei mir.» Verena war trotz allem gut drauf. «Ich muss noch abrechnen und ein wenig aufräumen. Leistest du mir Gesellschaft?»
«Sicher. Soll ich schon mal die Stühle hochstellen?»
«Warum nicht. Ich wollte, alle Gäste wären wie du.»
Kurz darauf waren sie fertig. Manfred hatte die Gaststube gefegt, Verena die Kasse gemacht.
«So, jetzt muss ich gehen.»
«Du wohnst nicht hier im Haus?»
«Nein, mein Häuschen ist etwas außerhalb des Dorfs, fünfzehn Minuten zu Fuß. Hast du Angst hier allein im Gasthof?»
Manfred lachte. «Nein, aber du solltest nicht allein im Dunkeln herumlaufen. Als Frau.»
«Das mach ich aber jeden Abend.»
«Heute nicht, ich bring dich noch.»
«Wenn ich nicht wüsste, dass du schwul bist …»
«Keine falschen Hoffnungen, ich bin nur Begleitschutz.»
Zu zweit schlenderten sie die Landstraße entlang zum Ort hinaus. Zweihundert Meter weiter begann der Wald, und die Straße verschwand in tiefem Dunkel. Am Waldrand stand eine Bank.
«Setzen wir uns einen Moment hin?»
«Gern.»
«Warum sind Männer wie du immer schwul?»
Manfred lachte: «Das hab ich heute schon mal gehört, nur umgekehrt. Dass Männer wie ich immer hetero sind.»
Verena kicherte leise.
«War ein Spruch von einem tuntigen Kunden, den ich heute beliefert habe. Der hat mich vielleicht angeschmachtet!»
«Na, für einen Mann bist du ziemlich attraktiv. Und ich habe viele Männer gesehen. Das kannst du mir glauben.»
«Wann bist du in den Westen gegangen?»
«Neunzig im Januar. Ich hatte den Kopf voller Flausen. Der versprochene Hoteljob in Frankfurt platzte. Stattdessen bin ich anschaffen gegangen.»
«Hat man dich gezwungen?»
«Nein, es war so ein gut aussehender Kerl wie du. Ich hab ihn geliebt. Und er hat mich ausgenutzt. Diese Typen finden immer wieder ein dummes Schaf, das darauf reinfällt.»
Verena lehnte sich an Manfreds Schulter. Wie anlehnungsbedürftig diese äußerlich so resolute Frau war! Leise sprach sie weiter: «Ein Glück, dass du schwul bist.»
Verena kuschelte sich noch enger in Manfreds Arm, und er strich ihr übers Haar. Dann redeten beide nichts mehr. Nach einer Weile stand sie auf. Manfred nahm sie in den Arm und begleitete sie das letzte Stück zu ihrem Haus. Zum Abschied gaben sie sich die Hand. Beide sprachen kein Wort.
Auf dem Rückweg durch den stockdunklen Wald näherte sich von hinten ein Auto. Manfred hörte den wummernden Bass der Audioanlage eher als den Motor. Das Auto wurde langsamer und blieb dann stehen. Die Musik verstummte, und das Seitenfenster fuhr herunter. Was mochte das werden? Zu Manfreds Erleichterung saß nur eine Person im Auto. Es war die bodygebuildete Glatze.
«Hast ’n Moment Zeit?», fragte die Glatze.
«Kommt drauf an, wofür.» Manfred bemühte sich um einen Spagat zwischen schroffer Ablehnung und freundlicher Unverbindlichkeit.
«Du hast einen meiner Kumpels plattgemacht», stellte die Glatze trocken und sachlich fest.
«War keiner da, der auf ihn aufgepasst hat.» Nachts allein auf der Landstraße war das eine ganz schön gewagte Antwort.
«Schon gut, wollte dich nur mal anschauen. Mein Kompliment, hätte nicht gedacht, dass jemand den Marko so schnell schafft.»
«Einmal ist immer das erste Mal.» Manfred bemühte sich, weiter cool zu bleiben.
«Für einen Schwulen hast du ’ne ganz ordentliche Handschrift.»
Die unverblümte Feststellung verblüffte ihn, der Spagat schien zu misslingen. Manfred forschte im Gesicht der Glatze nach Anzeichen aufkeimender Aggressivität und konterte: «Was dagegen?»
Die Glatze wertete das anscheinend als rein rhetorische Antwort und ging nicht weiter darauf ein. Der Typ blieb sachlich und lächelte sogar. «Soll ich dich mitnehmen ins Dorf?»
In den tiefergelegten Wagen einzusteigen schien Manfred ein echtes Risiko zu sein. Der Glatzkopf konnte überall mit ihm hinfahren, wenn er erst einmal im Auto saß. Außerdem wäre der sicher kein so leichter Gegner wie dieser Marko. Manfred suchte im freundlichen Gesicht des Fahrers nach einer Entscheidungshilfe. Die Kopfhaut schimmerte im fahlen blauen Licht der Audioanlage, die Ohren warfen ihre Schatten auf den Hinterkopf. Kräftige Oberarme wölbten sich unter knappem Feinripp. Manfred zuckte mit den Schultern. Warum nicht? Er ging um den Wagen herum und stieg ein.
«Ich heiße Toralf», stellte die Glatze sich vor.
«Manfred.»
Manfred gab sich wortkarg. Was zum Teufel wollte der von ihm? Ärger? Schon möglich. Ihn anbaggern? Sehr unwahrscheinlich. Die Audioanlage wummerte in dumpfem Rhythmus. Nach ein paar schweigsamen Minuten kamen sie am Gasthof an. Manfred stieg aus.
«Danke fürs Mitnehmen.»
«Nichts zu danken, Kumpel.»
Verena hatte recht behalten. Der Glatzkopf sah zwar gefährlich aus, war aber gutmütig wie ein großer Hund. ‹Der tut nix›, dachte Manfred beim Einschlafen.
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnd.ddb.de abrufbar.
Rolf Redlin Bodycheck Roman
Unveränderte Taschenbuchausgabe 2013 © Männerschwarm Verlag, Hamburg 2009
Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen unter Verwendung zweier Fotos von cleste-clochard – fotolia.com (Ortschaft) und Sandro Bodio – fotolia.com (Handwerker)
Druck: Interpress, Budapest 1. Auflage 2013
ISBN der Buchausgabe: 978-3-86300-149-0 ISBN der Ebook-Ausgabe: 978-3-86300-156-8
Männerschwarm Verlag
Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg
www.maennerschwarm.de
Über den Autor
Rolf Redlin wurde 1958 als Sohn eines Hafenarbeiters geboren. Er absolvierte ein naturwissenschaftliches Studium und veröffentlichte mehrere Sachbücher. «Bodycheck» (Originalausgabe 2009) ist sein erster Roman. Bei Männerschwarm erschienen ebenfalls «Bullenbeißer» (2010) und «Bärensommer» (2011).
«Bullenbeißer» ist ebenfalls als Ebook lieferbar.
Ebooks bei Männerschwarm
Nahezu alle Neuerscheinungen bei Männerschwarm sind auch als Ebooks erhältlich. Eine Übersicht findet sich auch der Website des Verlags:
www.maennerschwarm.de/ebooks
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