Sprachlos - Rolf Redlin - E-Book

Sprachlos E-Book

Rolf Redlin

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Beschreibung

Hauke ist ein Familienmensch, er lebt zufrieden mit Ehefrau und zwei kleinen Söhnen. Dennoch tauchen regelmäßig Erinnerungsfetzen an seine Jugendfreunde Olaf und Steffen auf und verwirren ihn. Als er aus beruflichen Gründen ohne die Familie nach Mecklenburg zieht, melden sich seine unterdrückten Sehnsüchte immer lauter: vor allem, als er dem LKW-Fahrer Jens begegnet, der ihn stark an Olaf erinnert. Ohne viele Worte entsteht zwischen den beiden eine starke Beziehung. Doch die Euphorie über dieses unverhoffte Glück stellt Hauke vor eine unlösbare Aufgabe: Wie soll er die Liebe zu seiner Familie und die Gefühle für Jens unter einen Hut bringen? Auch in seinem vierten Roman erzählt Rolf Redlin von ganz "normalen" Männern, deren Leben durch ihre Gefühle für andere ganz normale Männer ungewollt auf den Kopf gestellt wird.

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Rolf Redlin

Sprachlos

Roman

Männerschwarm Verlag Hamburg 2014

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.ddb.de abrufbar.

Rolf Redlin

Sprachlos

Roman

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2014

Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen, Umschlagfoto: © shotbydave, iStockphoto.com Druck: Interpress, Ungarn 1. Auflage 2014

ISBN der Printausgabe 978-3-86300-164-4

ISBN des E-Books 978-3-86300-173-5

Männerschwarm Verlag GmbH

Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg

www.maennerschwarm.de

Inhalt

1

2

3

4

5

6

7

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9

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Website des Verlags

Ebooks bei Männerschwarm

Rolf Redlin bei Männerschwarm

1

Draußen, jenseits der Zeltbahn, tanzten die Mücken. Hauke wälzte sich auf der Isomatte hin und her und lauschte in die Nacht hinein. Ab und zu kläffte in der Ferne ein Hund, sonst war da nichts als das Sirren, das kein Ende nehmen wollte. Drei Flaschen Bier hatten ihn nicht müde gemacht, ganz im Gegenteil. Nun lag er hier, in einem fremden Zelt, das er sich mit einem ebenso fremden Mann teilte, der gut zehn Jahre älter war. Er selbst wäre auch gern schon zehn Jahre älter. Ein erwachsener Mann, der allein seine Dinge regeln konnte. So einer wie Olaf, der neben ihm lag und leise schnarchte, in den Schlafsack gemummelt.

Seine Nase begann zu jucken. Hauke scheuerte sich das Gesicht. Erst sanft, dann stärker, bis es wirklich brannte. Wie er es hasste. Nichts aus dem Fernsehen half, weder die Waschlotion noch das Gesichtswasser. Erst kamen die Pickel, dann die Narben. Du darfst nicht kratzen, hatte Oma gemahnt, Mädchen mögen keine Jungs mit Narben im Gesicht. Er zögerte und hielt einen Moment inne.

Ach was. Ausdrücken die Dinger, weg damit. Auf eine Narbe mehr oder weniger kam es ohnehin nicht mehr an. Sein Gesicht sah längst aus wie eine Tiefkühlpizza, die man statt in den Backofen in die Mikrowelle geschoben hatte.

In fremder Umgebung hatte er noch nie schlafen können, jedenfalls nicht in der ersten Nacht. Auch auf Klassenreisen war das stets so gewesen. Lag er erst im Bett, pflegten die Gedanken Fahrt aufzunehmen, selbst wenn er noch so erschöpft war. Sie schwirrten in seinem Kopf wie draußen die Mücken; drehten und drehten sich unaufhaltsam weiter.

Der kurze Schmerz hatte das Kreisen nicht aufhalten können. Die Fahrt auf Olafs Motorrad ging ihm nicht aus dem Kopf; manchmal dachte er, er säße noch immer auf dem Sozius. Stützte sich nach hinten am Gepäckträger ab. Die Arme um Olafs Hüften zu schlingen, traute er sich nicht. Ganz so, als fürchtete er, dann einen elektrischen Schlag zu bekommen. Einen anderen Mann berührte man nicht, es sei denn, man war Friseur, Arzt oder wollte sich prügeln. Was, wenn er dabei die falschen Stellen erwischte? Aber als Olaf dann zum Überholen ansetzte, die Maschine raketengleich voranschoss, langte er im Reflex zu und klammerte sich an ihm fest. Ab und zu packte Olaf ihn während der Fahrt am Oberschenkel, kurz und kräftig. Wie um sich zu vergewissern, ob er noch da war. Tatsächlich wäre er einmal beinahe eingenickt. Das monotone Vibrieren der Maschine hatte etwas Einschläferndes, und nach stundenlanger Fahrt fühlten sich die Beine ganz taub an.

Als Kind hatte Oma ihm geraten, das Karussell im Kopf einfach auszubremsen. Solltest du mal nicht einschlafen können, dann konzentrier dich. Denk an etwas anderes. Aber wie sollte das gehen; mal eben schnell an etwas anderes denken. Es gab schon tagsüber kein Entrinnen vor Olafs Präsenz, der locker einen halben Kopf größer war und selbst gedrehte Zigaretten rauchte, obwohl doch jeder wusste, dass das ungesund war. Der vom Motorrad stieg und einfach am Straßenrand pinkelte, auch wenn weit und breit kein Baum zu finden war. Und der nur ein T-Shirt unter der Lederjacke trug. Selbst hier, in ihrem winzigen Kuppelzelt, markierte er den Luftraum mit dem Aroma des zehn Jahre älteren Mannes.

Plötzlich drehte sich der Kerl neben ihm, wühlte und schnaufte. Hauke erstarrte. Etwas streifte ihn an der Schulter, ein Ellenbogen vielleicht. Er hielt die Luft an, sehnte einen weiteren Kontakt herbei und fürchtete ihn zugleich. Jeden Moment erwartete er die Berührung. Und was, wenn sie mehr wäre als ein zufälliges Streifen?

Doch stattdessen begann Olaf zu schnarchen. Laut zu schnarchen. Auch das noch. Hauke spähte zur Seite, sah die Umrisse der Nase. Olaf lag auf dem Rücken; das Sägen würde so rasch nicht aufhören. Hauke drehte sich um und zog den Schlafsack über die Ohren. Er schloss die Augen ganz fest und presste die Lider aufeinander.

Von nun an würde er wirklich an rein gar nichts mehr denken. Schluss, aus, basta.

2

Hauke band die Krawatte zu einem lockeren Knoten, klappte den Hemdkragen herunter und schaute prüfend in den großen Spiegel neben der Wohnungstür. Zufrieden und ein klein wenig nervös setzte er sich zu seiner Frau in die Küche.

Stumm bestrich Birgitt eine Scheibe Roggenknäcke mit Nutella und reichte sie ihm über den Tisch. Während das Brot in seinem Mund krachte, sah er sie an. Ihre Haare waren noch strubbelig von der Nacht. Sie trug das überlange altrosafarbene T-Shirt, in dem sie geschlafen hatte. Hatte sie es eben überhaupt ausgezogen? Sie hatten sich noch einmal geliebt, schnell und hastig. Immerhin musste es für mindestens fünf Tage langen. Nein, aufs Ausziehen hatten sie verzichtet.

«Hast du alles?», flüsterte sie.

Hauke nickte und schluckte den letzten Bissen hinunter.

Sie wischte ihm mit dem Zeigefinger einen Rest Nutella aus dem Mundwinkel und gab ihm einen Kuss. Noch verströmte sie ein wenig Parfum vom Vortag. «Das Fahrrad auch? Denk an den Helm …»

«Mmh …» Hauke nickte. Um das Mountainbike hatte er sich gestern schon gekümmert. Die Abende waren ihm in der ersten Woche verdammt lang geworden, so ganz allein vor dem Fernseher. Und ein wenig Bewegung konnte nie schaden.

Im Flur stand die Reisetasche mit den sauberen Klamotten, die Hemden gebügelt. Vielleicht würde er sich im Osten eine Reinigung suchen, auf Dauer konnte er Birgitt die Hausarbeit nicht zumuten.

Für den Job in Meck-Pomm nahmen sie eine Fernbeziehung in Kauf, bis er den nächsten Karriereschritt tun konnte, in einem Unternehmen in Hamburg. Das war ursprünglich die Idee seines älteren Bruders Sönke gewesen. Je mehr sie darüber nachgedacht hatten, desto plausibler war es ihnen erschienen. Es würde schon nicht so schlimm kommen. Eben der Preis für das ersehnte Stück Karriere.

«Papa!» In der offenen Küchentür tauchte der kleine Georg auf, im Arm ein Plüschkrokodil und die kleine Hand zur Faust geballt. «Papa, musst du wieder weg?»

Hauke nahm den Jüngsten auf den Arm. «Ich hab's euch doch erklärt. Papa hat einen ganz tollen Job bekommen, da muss er jetzt die Woche über hin.»

«Guck mal, ich hab was für dich. Damit du nicht so allein bist.» Georg öffnete die Faust, darin hielt er eine Plastikfigur aus einem Überraschungsei. «Das ist der Schreckliche Sven, der ist ganz stark und passt auf dich auf. Und außerdem kannst du mit ihm sprechen, er versteht alles, was du sagst.»

«Na, das ist ja wirklich 'n Ding.» Hauke lachte, gab dem Jungen einen Kuss und klaubte den Plastik-Sven aus der klebrigen kleinen Hand. «Papa wird euch sehr vermissen. Wart's ab, bald kommt ihr mich am Wochenende besuchen. Da gibt's Wiesen und Felder, wo ihr spielen könnt. Wie bei Oma.» Hauke strich ihm die Haare glatt und setzte ihn wieder auf dem Boden ab. Er schaute zur Uhr. «Ich muss, bestimmt bin ich anderthalb Stunden unterwegs. Mindestens. Schon in der zweiten Woche zu spät zu kommen wäre hochgradig peinlich.»

«Sie wissen doch, wie weit du fahren musst.» Birgitt ging in die Hocke und gab dem Kleinen einen Kuss. «Jedenfalls nach dem Wochenende.»

Hauke rückte die Krawatte zurecht. «Hast du 'ne Ahnung, wie weit da manche fahren, und das für richtig kleines Geld. Da wird ausgerechnet mit dem Personalchef niemand Mitleid haben.»

Noch am Horner Kreisel erschien der Himmel einheitlich dunkel. Eigentlich hatte er in Hamburg tanken wollen, aber dafür war nun keine Zeit mehr. Er würde das am Abend in Parchim erledigen, auch wenn es dort teurer war. Hauke bog auf die A24 ein und startete den CD-Spieler. Unwillkürlich rieb er sich die Nasenspitze. Die war ein wenig gereizt, als würde sich dort grad ein Pickel entwickeln.

Am Horizont verteilte die Sonne großzügig ihr Licht. Wie eine halbierte Orange stieg sie aus dem Morgendunst hervor. Hauke suchte nach der Sonnenbrille, fand sie aber weder hinter dem Rückspiegel, wo sie normalerweise hing, noch in der Mittelkonsole. Nun erinnerte er sich. Er hatte sie am Wochenende bei einem Spaziergang getragen und später nicht ins Auto zurückgelegt. Er fluchte und kniff die Augen ein wenig zusammen. Auf der Gegenfahrbahn verdichtete sich der Verkehr. Glücklicherweise war er gegen den Strom unterwegs.

It only takes a minute girl

to fall in love, to fall in love …

Hauke schmunzelte und drehte die Musik ein wenig lauter. Take That war Birgitts Lieblingsgruppe. Als sie sich 1999 kennenlernten, lag die Trennung der Boygroup schon eine Weile zurück, doch Birgitt hatte ihnen immer noch hinterhergetrauert; für eine 23-jährige Studentin ein ganz klein wenig peinlich. Er ließ keine Gelegenheit aus, sie damit aufzuziehen. Seine Welt waren die harten Töne gewesen, Hard Rock, Heavy Metal und dergleichen.

In Mecklenburg wurde die Landschaft gleichförmiger. Die Sonne stand nun über dem Horizont und blendete. Man konnte kaum erkennen, wohin man fuhr. Hauke musste sich konzentrieren, wenn er einen der vielen Lastzüge überholte, die von Hamburg aus unterwegs waren nach Polen, Weißrussland oder noch weiter.

Hinter Hagenow schob sich eine Wolkendecke von Südwesten heran und verdunkelte die Sonne. Nun musste er die Augen nicht länger zusammenkneifen.

Die Firma lag in einem Industriegebiet unweit der Anschlussstelle Neustadt-Glewe. Direkt an der Straße das Verwaltungsgebäude, ein Plattenbau aus den Siebzigern. Kernsaniert und äußerlich durch eine Wellblechfassade aufgewertet. Auch die Fertigungshallen waren im gleichen Stil gehalten, was der gesamten Anlage ein futuristisches Aussehen verlieh. Auf dem Dach prangte, schon von der Autobahn sichtbar, an einem Stahlgerüst der Schriftzug Lewitz-Haus. Daneben das Firmenlogo, ein Fischadler mit ausgebreiteten Schwingen und der charakteristischen weißen Brust. Ihm stand ein neuer Lebensabschnitt bevor. Als Mittdreißiger war er immerhin abgebrüht genug, dass ihm das alles nicht ganz so aufregend vorkam. Den Job würde er schon packen.

Hauke parkte seinen Audi direkt vor dem Hauptgebäude. Die Stellplätze hier waren den Führungskräften vorbehalten. Er schaute auf die Uhr: 6:51 Uhr. Die anderen drei Plätze waren noch leer. Zufrieden verschloss er das Auto. Er war noch vor dem Geschäftsführer da, so hatte er sich das vorgestellt. Bevor er das Gebäude durch die breite Glastür betrat, warf er einen Blick zurück auf seinen Wagen. Als zweifelte er daran, dass er tatsächlich dort parken durfte.

Im Foyer saß die Rezeptionistin bereits hinter ihrem Tresen. Sie war auch für die Telefonzentrale zuständig, und ihr Arbeitstag begann, wie der im Fertigungsbereich, um sechs Uhr morgens. Hauke erwiderte ihren Gruß und überlegte, ob der Chef die junge Mitarbeiterin wohl in erster Linie wegen ihrer blonden Haare und der langen Beine eingestellt hatte. Ihr Name fiel ihm im Moment nicht ein. Kein Wunder, in einer Woche konnte er sich unmöglich die Namen aller 156 Mitarbeiter merken. Also lächelte er und fragte nach. Mandy, was für ein Klischee, dachte er und erinnerte sich, dass in der Mittagspause eine mindestens zehn Jahre ältere Kollegin mit dem Namen Elke die zweite Schicht übernahm. Ihre Beine waren nicht annähernd so lang wie Mandys, dafür hatte sie eine sympathische Telefonstimme und eine unschlagbare Auffassungsgabe, was er schon während der ersten Woche zu schätzen gelernt hatte.

Hauke stieg die Treppe hinauf in das zweite Obergeschoss. Zur Rechten belegte der Geschäftsführer ein großzügiges Büro. Er selbst folgte dem Flur in die entgegengesetzte Richtung. Die Tür zum Besprechungsraum stand offen. Dahinter begann Haukes Zuständigkeitsbereich, mit den Büros einer Personalsachbearbeiterin, eines Personalreferenten und von drei Buchhalterinnen. Dazwischen saß noch ein Controller, der aber direkt dem Geschäftsführer berichtete.

Aus der Küche zog Kaffeeduft herüber. Frau Sprung war also schon da, ein gutes Gefühl. Sie hatte sich in der ersten Woche gleich als unentbehrlich erwiesen. Eigentlich als Personalsachbearbeiterin eingestellt, erledigte sie so nebenbei all die hilfreichen Tätigkeiten, für die andere Führungskräfte eigens eine Assistentin hatten. Natürlich kannte Frau Sprung jeden im Unternehmen, und jeder kannte Frau Sprung.

Schließlich öffnete er die Tür zu seinem eigenen Büro. Immerhin ein Einzelbüro, wenn auch nur mit drei Fensterflügeln. Bevor er in die Küche hinüberging, um einen guten Morgen zu wünschen, suchte er nach einem angemessenen Platz für den Schrecklichen Sven. Am Ende entschied er sich für den Fuß der Schreibtischlampe; hier war die Gefahr am geringsten, dass der wackere Wikinger in den Stapeln der Personalakten verloren ging. Er dachte an den kleinen Georg, schmunzelte und sprach in Gedanken mit Sven.

Hey Kumpel, dass du mir ja den Überblick behältst!

In diesem Moment erschien Frau Sprung in der Tür, in der Rechten einen dampfenden Becher. «Guten Morgen, Herr Boie. Einen Kaffee?»

«Gern, nach der langen Autofahrt kann ich den brauchen.»

Frau Sprung war mindestens zehn Jahre älter, genauer wusste Hauke das noch nicht. Früher oder später würde er mal in ihre Akte schauen. Sie war eine kleine stämmige Person mit kurzen Haaren, die sie in einem kupfernen Ton gefärbt hatte. Eine ihrer hervorragendsten Eigenschaften war, dass sie im Umgang mit Mitarbeitern immer die richtigen Worte fand. Egal, ob es sich um den Trockenbauer aus einem der Montagetrupps handelte, die Bauingenieurin aus der Projektierung oder den Vertriebsmann im Außendienst. Wie viele Menschen, die nicht mit ihrem Aussehen punkten konnten, machte Frau Sprung diesen Nachteil mit überdurchschnittlicher Kompetenz wett.

Kurz nach neun Uhr stand Volker Astheimer in Haukes Bürotür, der Vertriebs- und Marketingleiter. Ein kleiner untersetzter Mann, so alt wie Hauke, im hellgrauen Anzug, den obersten Hemdknopf geöffnet und die grellgelb gemusterte Krawatte ein wenig gelockert. Astheimer strahlte und schritt mit ausgestrecktem Arm auf Hauke zu.

«Ich bin Volker, duzen wir uns?»

Hauke war Volker in seiner ersten Woche noch nicht begegnet, denn der war im Süden Deutschlands unterwegs gewesen, um mit den lokalen Vertriebspartnern zu sprechen. Seinem gewinnenden Lachen war nur schwer zu widerstehen. Er stammte aus dem Weserbergland, war also ebenfalls kein Mecklenburger, und hatte in Hamburg Holzwirtschaft studiert. Mit Erstaunen hörte Hauke, dass man sich dabei auch auf betriebswirtschaftliche Fragestellungen spezialisieren konnte.

«Wir Holzwürmer stecken überall, du würdest staunen! Komm mit, ich stell dich meinen Leuten vor.»

Der Vertrieb war im ersten Stock angesiedelt, und Hauke schüttelte unzählige Hände. Im Showroom gab Volker einen kurzen Abriss über den Wert der Premiummarke Lewitz- Haus, deren Produkte unter Berücksichtigung baubiologischer Erkenntnisse konzipiert waren. Am Ende setzten die beiden sich in die für Kundengespräche aufgestellten Designersessel. In der Ecke stand eine Espressomaschine bereit; Volker füllte zwei Tassen.

«Haben sie dich auch in Parchim im Hotelapartment untergebracht?»

Hauke nickte und schlürfte seinen Espresso.

«Da können die Abende schon lang werden, ich kenn das. Hast du Familie?»

«Meine Frau und die beiden Jungs sollen irgendwann nachkommen.» Hauke lächelte unverbindlich. Birgitt würde niemals hierherziehen.

Volker nippte am Kaffee. «Wir haben drei. Die Älteste ist neun, die Zwillinge sieben. Letztes Jahr haben wir gebaut. Ein Lewitz-Haus, bleibt einem ja nichts anderes übrig.» Er zwinkerte, als sei von etwas Rätselhaftem die Rede. «Ist nicht immer einfach auf dem Land als Zugezogener. Komm doch nach Feierabend mal zu uns zum Essen. Karen, also meine Frau, würd' sich freuen. Außerdem: Wir Wessis müssen ja zusammenhalten.» Volker lachte ein bisschen übertrieben und stellte seine leere Tasse auf einem Beistelltischchen ab.

Auch Hauke hatte seinen Kaffee ausgetrunken und ließ den Kaffeesatz in dem winzigen Tässchen kreisen. «Warum nicht. Schaun wir einfach mal.»

3

Nach Südwesten schirmte ein Gürtel aus Gewerbegebieten und mehrstöckigen Plattenbauten das eher beschauliche Zentrum der Kreisstadt Parchim ab. Wenn Hauke nach Feierabend zu seiner Unterkunft fuhr, kam es ihm vor, als sei das alles einst eine Nummer zu groß geplant gewesen und nun zwischen der Erinnerung an vermeintliche Größe und der unerfüllten Hoffnung auf bessere Zeiten eingeschlafen.

Auf der Bahnlinie parallel zur Bundesstraße sah er die gleichen kurzen Triebwagen, wie sie von Heide kommend in Richtung Büsum rumpelten; die Dithmarscher nannten sie scherzhaft Playmo-Bahn. Im Vergleich zum heimischen Wesselburen war Parchim allerdings fast eine Großstadt.

Am Ortseingang lockte eine Tankstelle mit niedrigem Preis. Kurz entschlossen bog Hauke ab und hielt vor einer freien Zapfsäule. Wirklich günstig konnte man das Angebot zwar nicht nennen, aber er hatte sich schon nach einer Woche daran gewöhnt, dass die Kraftstoffpreise im Schnitt zehn Cent über Hamburger Niveau lagen.

Er öffnete den Kofferraum, fischte nach dem fleckigen Arbeitshandschuh und griff zur Zapfpistole. Während das Dieselöl in den Tank lief, schaute er den Ziffern auf der Anzeige zu, die in rasantem Tempo das getankte Volumen und den Eurobetrag zählten. Jenseits der Zapfsäule hielt ein Pritschenwagen. Auf den Türen las er den Namen einer Dachdeckerei. Vier junge Männer in einheitlich graublauer Arbeitskleidung stiegen aus.

Haukes Armbanduhr zeigte kurz nach acht. In seiner Hand knackte die Zapfpistole, der Tank war gefüllt. Drei der Dachdecker gingen vor ihm zum Verkaufsraum. An ihrer Spitze ein kleiner Dicker, der unablässig Faxen machte. Auf den Klamotten der Männer lag der Staub eines langen Arbeitstages, und die Müdigkeit war ihnen anzusehen. Am Tresen angekommen, bestellten sie jeder einen Hotdog. Hauke beschloss, lieber eine Runde durch den Verkaufsraum zu drehen, statt in der Kassenschlange zu warten. Am Zeitschriftenständer nahm er sich den neuen Spiegel und suchte nach einer Fernsehzeitschrift. Damit würde er die Abende schon rumkriegen. Na ja, jetzt hatte er ja auch noch das Mountainbike dabei. Eigentlich wäre es keine schlechte Idee, mal bei den Fahrradzeitschriften zu gucken. Drüben am Tresen war mittlerweile der Vierte aus der Dachdeckertruppe angekommen, seine drei Kollegen standen schon um einen Bistrotisch herum. Hauke wandte sich wieder den Zeitschriften zu und sah kurz über das obere Regal hinweg durch die Scheibe nach draußen.

Verblüfft hielt er inne. Kam da etwa Olaf? Nein, das war er nicht, das konnte nicht sein.

Ein langer, hagerer Kerl in neongelber Warnschutzjacke stieg aus einem Lkw und spazierte auf den Eingang zu. Das war definitiv nicht Olaf, der hatte nicht so akkurat geschnittene Haare. Aber die Ähnlichkeit war schon verblüffend, selbst von Weitem. Nicht nur der Vollbart, auch der Körperbau, die Art, wie er sich bewegte, dieser ausholende Schritt und das Wippen in den Knien.

Hauke zog eines der Magazine aus der Auslage, blätterte und schielte neugierig zur Tür. Im gleichen Moment betrat der neongelbe Kerl den Verkaufsraum. Er schaute einmal in die Runde und kam dann ebenfalls zum Zeitschriftenstand. Hauke erschrak. Hatte er zu auffällig hingeschaut? Aus der Nähe blendete das Neongelb weit weniger. Scheuerspuren zogen sich als graue Patina über Brust und Ärmelfalten. Aus den Augenwinkeln beobachtete Hauke, wie der Typ nach einer Tattoo-Zeitschrift griff. Doch statt darin zu lesen, sah er Hauke an, einfach so. Nicht aggressiv, aber irgendwie fordernd. Hauke kribbelte es den Rücken hinunter. Er wagte nicht, den Blick zu erwidern, blätterte stattdessen in seinem Fahrradheft, las hier und dort ein wenig. Aber der Inhalt erreichte ihn nicht wirklich, denn er meinte immer noch den Blick des Mannes zu spüren. Der Pickel vom Morgen meldete sich wieder, die Nasenspitze brannte, als sei er jetzt wirklich reif. Am besten wäre es wohl, einfach zur Kasse zu gehen, bevor er hier noch Ärger bekam. Jetzt trat der Kerl auch noch einen Schritt auf ihn zu und griff, ohne ein Wort zu sagen, unmittelbar an Hauke vorbei nach einer Zeitschrift für Läufer. Eine Wolke intensiven Tabakgeruchs hüllte ihn ein. Wie automatisch wich Hauke einen Schritt zurück, atmete durch und inhalierte unwillkürlich das würzige Aroma. Das war kein Zigarettengestank, das musste irgendwas anderes sein.

Statt das Fahrradheft an dem Kerl vorbei wieder ins Regal zu schieben, klemmte Hauke es zusammen mit dem Spiegel und der Programmzeitschrift unter den Arm. Dann holte er noch ein paar Tüten Kartoffelchips und ein Sixpack Bier. Voll bepackt schritt er auf die Kasse zu.

Aber der Neongelbe war schneller. Ohne Hauke eines Blicks zu würdigen, stellte er sich im letzten Moment vor ihm an den Tresen. Auf seinem Rücken stand der Name einer ortsansässigen Spedition.

Die Verkäuferin mit dem Augenbrauen-Piercing zwinkerte. «Tachschön, Jens! Sprachlos, wie immer?»

Der Mann nickte und warf einen zerknüllten Zehn-Euro-Schein in die Kunststoffschale neben der Kasse. Sie schob ihm zwei Schachteln Zigarillos über den Tresen, die er rasch in den Weiten der Warnschutzjacke verschwinden ließ.

Dann war die Reihe an Hauke. Er trat einen Schritt vor, atmete ein letztes Mal das Tabakaroma ein und sagte: «Die Sechs bitte.»

Hauke zirkelte den Wagen durch die schmale Toreinfahrt auf den Innenhof des Hotels. Er trug seine Einkäufe in das kleine Ferienapartment hinauf, das die Firma für ihn angemietet hatte. Das war eine prima Übergangslösung. Für regelmäßige Reinigung, Bettwäsche und Handtücher war so gesorgt.

Er schloss die Tür hinter sich, drückte eine Programmtaste der Fernbedienung und öffnete den Krawattenknoten. Fünf Bierflaschen wanderten in den kleinen Kühlschrank der Pantry, aus der sechsten nahm er einen tiefen Schluck. Auf RTL lief Wer wird Millionär?, der Kandidat beantwortete grad die 16.000-Euro-Frage, und Hauke stellte den Ton lauter. Anschließend erledigte er wie zu Hause sein gewohntes Feierabendritual. Schnürsenkel öffnen, Schuhe ausziehen und in die Badelatschen schlüpfen. Die Schuhe ordentlich neben der Eingangstür abstellen. Dann das Sakko auf einen Bügel hängen, die Krawatte abnehmen und das Hemd ausziehen. Im Kleiderschrank warteten Jogginghose und Kapuzenshirt auf ihn. In den bequemen Klamotten ließ er sich aufs Sofa fallen. Die junge Kandidatin hatte die gleiche kastanienbraune Haarfarbe wie Birgitt und war in diesem Moment bei der 64.000-Euro-Frage angelangt.

Welche dieser Tabakwaren ist keine Zigarre?

A: Torpedo, B: Zigarillo, C: Reval, D: Churchill.

Hauke atmete tief durch die Nase ein und versuchte, sich das Aroma des Neongelben von der Tankstelle zu vergegenwärtigen.

Fotografien von drei Männern wurden eingeblendet, aus denen die Kandidatin einen Grauhaarigen als ihren Telefonjoker auswählte. Dem Bild nach mochte er der Vater der Kandidatin sein. Sie verbrachte viel Zeit mit dem Vorlesen und Wiederholen der Frage, und am Ende wusste der Angerufene auch keinen Rat.

Hauke hörte nur halb hin. Versuchte, sich stattdessen an das Aussehen des Neongelben zu erinnern. Doch das gelang ihm nicht. Immer wieder stand ihm das Bild von Olaf vor Augen. Olaf hatte Zigaretten geraucht, selbst gedrehte, und das nicht zu knapp. In seiner Jugendzeit hatte Hauke das nicht im Geringsten gestört. Wie hatte er das nur aushalten können? Er sah ihn in Lederjacke vor sich, die Fluppe lässig im Mundwinkel, wie er das kleine Kuppelzelt mit dem Werner-Aufdruck zusammenlegte, am Morgen nach dem Festival in Wacken. Damals, als es noch ein Geheimtipp war. Den fordernden Blick des Neongelben hatte Olaf allerdings nie gehabt. Er war verdammt gutmütig gewesen und hatte den jungen Hauke regelmäßig mitgenommen, wenn seine Motorradclique auf Rockfestivals fuhr.

Im Fernsehen entschied sich die Kandidatin mit den rotbraunen Haaren, auf Risiko zu spielen, und wählte Antwort B. Statt die Frage aufzulösen, kündigte Günther Jauch erst einmal eine Werbepause an.

Hauke versuchte, sich Olafs Augen vorzustellen, aber er konnte sich kaum an ihre Farbe erinnern, er tippte auf graublau. Es war beinahe 20 Jahre her, dass er mit Olaf losgezogen war. Der Kontakt war irgendwann abgebrochen, wie das so ist. Vor drei Jahren allerdings hatte er ihn noch mal wiedergesehen. Rein zufällig, denn er war mit Frau und Kindern zu einer Familienfeier in Wesselburen gewesen.

Der runde Geburtstag der Mutter hatte an diesem Tag die gesamte Verwandtschaft in das Elternhaus nach Dithmarschen geführt. Hauke half seinem älteren Bruder Sönke, Sitzgelegenheiten ins Wohnzimmer zu tragen. Grad holte er einen kleinen Cocktailsessel im Sechziger-Jahre-Stil aus dem Schlafzimmer der Mutter, da läutete das Telefon. Im Treppenhaus hing immer noch eine altmodische Zusatzklingel mit dem Horn der Deutschen Bundespost darauf. Ihr Schrillen war zweifellos bis hinüber zum Eidersperrwerk zu hören. Seine Mutter winkte ihn mit der freien Hand herbei, in der anderen hielt sie den Telefonhörer. Tante Mimi aus Itzehoe war dran. Sie würde gleich in den Zug steigen. Jemand möge sie doch in Heide vom Bahnhof abholen.

Im Vergleich zum Küchendienst war Hauke der Shuttle-Service allemal lieber. Er zögerte nicht lange und fuhr sogleich los. So kam es, dass er viel zu früh in Heide ankam. Als er den Wagen parkte, waren es noch gut 30 Minuten bis zu Tante Mimis Ankunft. Er blieb einen Moment im Auto sitzen, beschloss dann aber auszusteigen, um sich ein wenig die Beine zu vertreten.

Plötzlich rief jemand seinen Namen. Hauke schaute sich um. An der Längsseite des Parkplatzes, wo ein Gebüsch die Grenze zum Bahngelände markierte, stand ein einfaches Gartenhaus aus Blockbohlen, das zum Imbiss umfunktioniert worden war. Ein langer Kerl mit einer Bierflasche in der Hand stützte sich auf einen Stehtisch und winkte. Das war Olaf!

«Moin, Hauke, lang nich sehn!» Olaf strahlte ihn an. «Peter, lang mal noch 'n Bier rüber.» Olaf trug eine abgewetzte Lederjacke mit Jeansweste, deren unzählige verblichene Aufnäher kaum noch zu erkennen waren.

«Aber nur 'n Spaßbier!» Hauke griff nach der ausgestreckten Hand. Olaf arbeitete als Betriebsschlosser, sein Händedruck war unverändert kräftig. «Mensch, das ist ja gefühlte 100 Jahre her. Bist du noch in der Raffinerie?»

Olaf nickte. «Klar, auch wenn der Schichtdienst mir langsam in die Knochen geht. Und du?» Er sah ihn von oben bis unten an. «Siehst geleckt aus. Karriere gemacht unten in Hamburg?!»

Hauke winkte ab. «Bürojob, jeden Tag das Gleiche.»

«Und? Familie?»

«Wir haben zwei Jungs, zwei und fünf Jahre.»

Hauke bekam sein alkoholfreies Bier und hob die Flasche an den Hals. Dabei sah er Olaf genauer an. Die Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen, die schütteren blonden Haare waren ganz weiß geworden, der üppige Vollbart ebenso.

Auf dem Sozius von Olafs Honda hatte er gesessen, fest an ihn geklammert, mit dieser Mischung aus Angst im Kopf und Faszination im Bauch. Die Klassenkameraden hatten gestaunt, weil die erwachsenen Männer ihn, den pickligen 16-Jährigen, mit auf ihre Touren nahmen. Wenn sie sich auf dem Heider Marktplatz zur Ausfahrt sammelten, machten brave Bürger einen großen Bogen um den bunt gemischten Haufen.

«Unser kleiner Hauke …» Olaf schüttelte den Kopf und lachte. «Du warst immer ganz heiß auf Moshpits, 'n paarmal hab ich dich mitten aus dem Gewühl gezogen. Ich wette, jetzt gehst du jeden Tag mit Anzug und Krawatte ins Büro. Echt, wir mochten damals kaum glauben, wie schnell du dich nach der Schule von deinem alten Leben getrennt hast. Haare ab, Bundeswehr, Studium. Unser Kleiner macht einen auf Stino, lässt sich nicht mehr blicken bei seinen alten Kumpels.»

Hauke schaute auf das Pflaster, in das noch uralte Bahngleise eingelassen waren.

Olaf haute ihm auf die Schulter. «Hey, war nicht so gemeint. War doch klar, dass du dein Leben leben musstest.»

«Bist du wenigstens der Alte geblieben? Fährst du noch auf Festivals?»

Olaf rückte die Lederjacke zurecht. «Ich bin auf meine alten Tage doch noch schwach geworden. Fast zehn Jahre jünger ist sie, fährt Harley und ist immer mit dabei. Dann heißt sie auch noch Telse, man glaubt es kaum.» Er leerte sein Bier. «Aber wir werden weniger. Erinnerst du dich an Gunnar? Da musst du auch dabei gewesen sein, als wir damals das erste Mal in den Osten rüber sind, wo's am Ende noch ordentlich was auf die Augen gegeben hat. Den haben sie totgefahren, vorletztes Jahr. Und der dicke Hannes, der hat Weichteilrheumatismus, kann kaum noch seine Mühle aufrecht halten.»

«Hauke?!», rief eine spitze Stimme.

Sie drehten sich beide um. Tante Mimi kam strammen Schritts über den Parkplatz gelaufen und zog einen Rollkoffer hinter sich her, der polternd über das Kopfsteinpflaster sprang.

«Die Pflicht ruft», sagte Olaf. Es klimperte, als er die Bügelverschlussflasche auf dem Tisch abstellte.

«Hauke, was machst du hier? Trinkst du etwa?»

«Tach, Tante Mimi. Is’ bloß ’n Spaßbier. Ich hab zufällig den Olaf getroffen und dann hier auf dich gewartet.» Hauke zückte das Portemonnaie, um zu zahlen.

«Lass mal stecken.» Olaf schüttelte Tante Mimis Hand. «Kümmer dich um deinen Besuch, kriegst sonst noch Ärger.» Er zwinkerte der alten Dame zu.

Hauke griff nach Tante Mimis Koffer.

«Hau rein!», rief Olaf ihm hinterher.

«Der ist ja nett», sagte Tante Mimi, während sie zum Auto gingen.

Das Telefon riss Hauke aus seinen Gedanken. Auf dem Display erschien Birgitts Lächeln.

«Stör ich dich bei irgendwas?», fragte sie.

«Ach was, bin grad im Hotel angekommen und sitze vor der Glotze.»

«Unsere beiden Spezialisten sind jetzt langsam mehr als fällig fürs Zubettgehen. Seitdem du nicht mehr hier bist, krieg ich sie abends kaum zur Ruhe.»

Hauke sprach nacheinander mit beiden Söhnen. In Georgs Kindergarten war ein Gitarrenspieler gewesen, der mit den Kleinen den Klassiker Die Affen rasen durch den Wald gesungen hatte. Haukes erster Gedanke war, dass die Textzeile «der eine macht den andern kalt» zweifellos ein Thema beim nächsten Elternabend sein würde. Aber vermutlich bliebe ihm der erspart, diese Pflichten würde Birgitt von nun an allein übernehmen müssen.

Fritz hatte die aktuelle Ausgabe der Lustigen Taschenbücher bekommen und seinem kleinen Bruder daraus ein neues Abenteuer von Donald Duck vorgelesen. Dem war ein kleines Handgemenge vorausgegangen, in dessen Verlauf zwei Seiten eingerissen waren. Fritz war deswegen immer noch untröstlich. Hauke appellierte an die Vernunft des Älteren, ließ sich Georg noch einmal geben und richtete an den Jüngsten ein paar mahnende Worte. Damit war er für heute seinen väterlichen Pflichten nachgekommen. Mehr konnte er aus der Ferne kaum tun. Beide versprachen, sich unmittelbar nach dem Telefonat widerspruchslos von Mama ins Bett bringen zu lassen. Dann reichten sie den Hörer wieder zurück an die Mutter. Der Kinderlärm verschwand im Hintergrund.

«Schatz, ich wollte, du wärst jetzt hier», sagte Birgitt.

Hauke schmatzte einen Kuss in das Telefon. Eine ganze Weile hielt er das Telefon in der Hand, ohne dass sie einander etwas sagten. Er schaute auf das Foto auf dem Display, dachte an das kastanienbraune Haar und wie zerzaust es am Morgen ausgesehen hatte. Und an das altrosa T-Shirt, das er bis über ihre Brüste hochgeschoben hatte.

Es war, als würden sie ihre Gedanken über die stumme Leitung austauschen. Ganz ohne gesprochene Worte flossen Energien über Funkzellen, Sendemasten und Basisstationen. Aufmoduliert auf Geräusche, die Außenstehende als Atmo abgetan hätten, in Wahrheit aber eine Form von Vertrautheit widerspiegelten, wie es sie nur in einer langjährigen Beziehung gibt. Das leise Rascheln, wenn sie ihre Haare zurückstrich. Das Glucksen, wenn sie einen Schluck Wasser aus einem der hohen Gläser nahm, die sie so liebte, und der vertraute satte Grundton des massiven Buchenholzes, wenn sie das Glas wieder auf dem Tisch abstellte, gedämpft durch einen der runden Untersetzer aus Kork. Das von der Isoverglasung abgeschwächte Signalhorn eines Rettungswagens, der die Osterstraße entlangfuhr. Vertraute Geräusche, fern und nah zugleich. Jetzt knarzte das Leder des Sofas, weil sie sich zurücklehnte. Sie stopfte sich eines der sandfarbenen Kissen in den Nacken, nahm die Beine hoch und breitete die helle Fleecedecke von Ikea darüber aus. Knisternd entluden sich winzige statische Aufladungen. Er stellte sich vor, wie sich die Härchen an ihren Beinen aufrichteten.

Plötzlich schwoll im Hintergrund der Kinderlärm wieder an, und das Gespräch fand ein hastiges Ende. Im Fernsehen war die Werbepause längst vorbei, die Frau mit den kastani enbraunen Haaren war ausgeschieden. An ihrer Stelle stieg ein langer Typ im Kapuzenshirt auf den Kandidatenstuhl. Hauke streckte die Beine aus, leerte die Bierflasche und nickte ein.

Draußen vor dem Hotel zersplitterte eine Flasche auf dem Pflaster, quittiert vom besonders auffälligen Lachen eines Angetrunkenen. Hauke schreckte hoch und spähte durch einen Gardinenspalt hinaus. Eine Gruppe junger Männer zog vorbei. Ihre Stimmen klangen in der schmalen Straße zwischen den alten zweistöckigen Häusern doppelt laut. Einer von ihnen hatte wohl die Bewegung der Gardine bemerkt, jedenfalls drehte er sich um, schaute hoch und zeigte ihm den aufgerichteten Mittelfinger.

Es war nicht einmal zehn Uhr abends, und er lehnte an der Fensterbank eines schmucklosen Hotelapartments in Mecklenburg, 135 Kilometer von zu Hause entfernt. Versonnen knetete er die Beule in der Jogginghose. In seiner Jugend hatte er sich manchmal vorgestellt, so wie Olaf zu sein, genauso wild und groß. Mit der Zeit hatte er gelernt, die Gedanken zu verscheuchen, die in seinem Kopf wie lästige Insekten umhergeschwirrt waren. Sie wie kurze Videoclips zu beschränken auf den Moment vor dem Orgasmus. Wenn Birgitt und er sich liebten, genoss er die Vertrautheit und die Wärme, die sie miteinander verband. Anschließend hielten sie einander in den Armen, und ihre Zärtlichkeit beschützte ihn vor den Dämonen aus den Zeiten der Pubertät. Die Zeit der Zärtlichkeit hatte stets ihr allein gegolten, da plagte ihn kein schlechtes Gewissen.

Die Nasenspitze schmerzte. Schließlich drückte er den Pickel so lange fest zusammen, bis ihm ein dünnes Rinnsal von Eiter entsprang.

Fluchend riss er in der Pantry ein Blatt von der Küchenrolle und tupfte damit die Nase ab. Dann warf er sich wieder auf das Sofa und langte unter den Hosenbund.

4

«Herr Herrmanns ist noch drüben in der Endprüfung. Da gibt es irgendeine Verzögerung durch die Qualitätssicherung. Soll ich Sie anrufen, wenn er hier ist?» Die Assistentin lächelte Hauke an.

Er kehrte in sein Büro zurück und warf erst einmal einen Blick in die aktuelle Krankenstatistik. 20 Minuten später kam ihr Anruf.

Fertigungsleiter Uwe Herrmanns saß am Schreibtisch und tippte auf seiner Tastatur. Als Hauke den Raum betrat, sprang er sofort auf, kam ihm entgegen und schüttelte ihm die Hand. Er war etwa zehn Jahre älter. Sein rundes Gesicht war von täglicher Nassrasur stark gerötet. Zur Jeans trug er ein Arbeitshemd aus beigefarbenem Canvas mit eingesticktem Firmenlogo, genau wie die Leute draußen an den Werkbänken. Der uniformähnliche Schnitt unterstrich die breiten Schultern, vermochte den altersbedingten Bauchansatz allerdings nicht zu verbergen. Was für ein imposanter Mann, dachte Hauke, der zu ihm aufschauen musste.

Beide setzten sich an einen kleinen runden Besprechungstisch, der den knappen Raum zwischen Schreibtisch und Tür beinahe vollständig füllte. Herrmanns sprach mit leiser Stimme, deren hoher Klang in seltsamem Gegensatz zu seinem Erscheinungsbild stand. Routiniert beschrieb er die Organisationsstruktur der Fertigung.

«Herr Boie, ich bin froh, dass wir Sie jetzt haben, wir benötigen längst ein professionelles Personalmanagement.»

Hauke räusperte sich, löste sich von der Stuhllehne und richtete den Oberkörper auf. «Davon bin ich überzeugt», antwortete er. Tatsächlich war der Krankenstand im Fertigungsbereich zu hoch, bei den Montagetrupps allerdings erfreulich niedrig. Das deutete möglicherweise auf ein Stimmungsproblem bei den Mitarbeitern im Werk hin. Und es gab nicht mal einen Betriebsrat, der bekanntlich, fernab von Fragen der Mitbestimmung, auch sehr gut zur Lösung zwischenmenschlicher Probleme innerhalb der Belegschaft einsetzbar war. Als er Herrmanns darauf ansprach, sah der ihn verdutzt an und massierte sich kurz die Schläfen.

«Einen Betriebsrat?» Er lächelte, als müsste er erst tief im Gedächtnis kramen, um die Bedeutung des Wortes zu ergründen. Dann wurde seine Stimme noch eine Spur sanfter. «Wir sind nach der Wende als Familienunternehmen gegründet worden. Auch wenn wir heute eine GmbH sind, ist jeder, der hier arbeitet, Teil einer Familie. Auch mit zwischenmenschlichen Problemen kann man jederzeit zu mir kommen, dafür bin ich als Vorgesetzter schließlich da.»

Hauke fragte sich, ob Herrmanns’ Gesicht ein klein wenig röter geworden war. Er lächelte, als sei er beruhigt, eine so positive Auskunft bekommen zu haben.

Eine der Lenkrollen drehte sich nicht, wie sie sollte. Gegen leichten Widerstand schob Hauke den Einkaufswagen, etwas nach links gedreht, über den Parkplatz. Seinem Audi gegenüber stand ein VW-Pritschenwagen mit großformatigem Aufkleber auf der Heckscheibe. Der Schädel eines gehörnten Rindviechs zwischen den Buchstaben W, O und A. Unvermittelt blieb er stehen. Das Festival in Wacken. 1993 hatte ihn Olaf das erste Mal dorthin mitgenommen. Wann war er eigentlich zuletzt dort gewesen? Er konnte sich nicht erinnern.

Dem Transporter entstieg ein großer, hagerer Kerl mit vollflächig tätowierten Unterarmen. Der vom Kinn herabhängende Bartschopf gab ihm das Aussehen eines Ziegenbocks.

«Na Chef, alles gut?», fragte der Kerl und kratzte sich am Ellenbogen.

Die Tattoos zogen Haukes Blick magisch an. Er lächelte den Mann an. «Ich hab grad überlegt, wie lange ich nicht mehr in Wacken war.»

Der Tätowierte kniff die Augen zusammen. «Das muss gewesen sein, als du noch ’ne andere Frisur hattest.» Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und entschwand in Richtung Supermarkt.

Hauke schluckte. So hatte lange niemand mehr mit ihm geredet. Darauf etwas zu erwidern, das gleichermaßen höflich wie passend war, so schlagfertig war kein Mensch. Und der Mann hatte ja recht. Während er seine Einkäufe im Auto verstaute, beobachtete er aus den Augenwinkeln, wie der Tätowierte eine Münze in den Schlitz am Einkaufswagen steckte und schließlich, ohne sich umzudrehen, durch die Eingangstüren verschwand. Hauke ließ den Kofferraumdeckel ins Schloss fallen und betrachtete sein Spiegelbild in der Seitenscheibe. Ein Büromensch im Anzug und mit bravem Haarschnitt. Selbst die hellblaue Krawatte mit den schmalen roséfarbenen Streifen kam nicht so gewagt rüber, wie er es beim Kauf erhofft hatte. Okay, das vernarbte Gesicht trübte das Erscheinungsbild ein wenig.

Man konnte eben nicht alles haben im Leben.

Mit dem Helm in der Hand stieg Hauke das schmale Treppenhaus hinab. Zum ersten Mal seit langer Zeit trug er den engen Einteiler, den er vor einigen Jahren zusammen mit dem verdammt teuren Mountainbike gekauft hatte. Immerhin passte das Teil noch, er war nicht wirklich dicker geworden, wenn auch eine leichte Wölbung am Bauch unübersehbar war. Allerdings war die Optik dann doch irgendwie eine Spur zu sportlich. Zum Glück hatte er zwischen seinen Sachen noch eine Softshelljacke gefunden und kurz entschlossen übergezogen. So schaute er schon viel ziviler aus.

Vor dem ehemaligen Stallgebäude, in dem sich der Abstellraum für Fahrräder befand, schaute er auf sein Telefon und wartete einen Moment. Langsam baute sich in Google Maps der Stadtplan von Parchim auf. Zunächst ging es die Lange Straße entlang. Er musste an der Marienkirche vorbeifahren und dann am Kreisverkehr in Richtung Bahnhof und Flughafen abbiegen. Das würde er schon finden. Er zurrte den Helm fest, schwang sich auf das Bike und radelte los. Ein ungewohntes Gefühl. Ein paarmal verschaltete er sich, dass die Kette nur so krachte. Hoffentlich fiel das niemandem auf. Am Straßenrand sah er ein Fahrradgeschäft und nahm sich vor, das Rad in den nächsten Tagen mal durchsehen zu lassen. Nach ein paar Jahren im Keller konnte das nicht schaden. Vielleicht musste die Schaltung mal justiert werden. Außer Atem geriet er einstweilen nicht, und das war ja schon mal ganz gut.

Am Bahnübergang schloss sich vor ihm die Schranke, und das gab ihm Gelegenheit, sich einen Moment umzuschauen. Er war mit der rechten Wade an die Kette geraten und hatte sich eingeschmiert, das war nicht weiter schlimm. Ein Triebwagen rumpelte vorbei, und die Schranke hob sich wieder. Hauke trat in die Pedale und erreichte das Ortsende, wo die Landstraße die Befeuerung der Start- und Landebahn kreuzte. Ein Stück weiter, mitten im Wald, dann der Abzweig. Airport stand auf dem Straßenschild, und in Anbetracht der unebenen schmalen Landstraße klang das irgendwie aufgesetzt. Nach dem Abzweig besserte sich die Straße, und er passierte zwei noch funktionslose und auf Zuwachs gebaute Kreisverkehre. Parallel war auch ein Fußweg aus roten Pflastersteinen angelegt worden. In den Ritzen wucherte Gras, und Löwenzahnblüten verschwendeten ihr üppiges Gelb. Das einzige Auto, das ihm begegnete, war der Wagen einer Fahrschule. Den Flugplatz erkannte er nur an der betonierten Freifläche hinter einem Maschendrahtzaun; Flugzeuge sah er keine. Entlang des Zauns gab es großzügig angelegte Parkplätze, allerdings ohne parkende Autos, für den Großstädter ein ungewohntes Bild. Alles reichlich mit Laternen und Bänken ausgestattet. Die Natur bemühte sich nach Kräften, die erst vor wenigen Jahren angelegte Infrastruktur möglichst rasch wieder zurückzuerobern. Hauke fuhr bis zu einer Art Empfangsgebäude, das sich im äußersten Winkel der Anlage befand. Menschenleer. Er machte kehrt, kam an verwaisten Stellplätzen für Omnibusse vorbei und beschloss, sich für einen Moment auf eine der Bänke zu setzen. Die Szenerie erinnerte ihn an einen Film, den es vor Ewigkeiten mal im Fernsehen gegeben hatte. Ein Passagierjet fliegt durch ein Zeitloch und landet auf einem menschenleeren Flugplatz. Er konnte sich nicht an den Titel erinnern. Es war ein Sci- Fi-Thriller gewesen, ziemlich spannend. Die Passagiere irren auf dem verlassenen Airport umher und kommen erst nach und nach dahinter, welche Gefahr ihnen droht.

Am Westende des Flugfelds färbte sich der Himmel, bald würde die Sonne untergehen. Das Mountainbike hatte kein Licht, er musste also rechtzeitig die Rückfahrt antreten. Vorher wollte er noch zu Hause anrufen und den beiden Sprösslingen eine gute Nacht wünschen. Erst war er ganz verdutzt, weil sich eine unbekannte weibliche Stimme meldete, doch dann fiel es ihm ein. Klar, dienstags ging Birgitt zur Jazzgymnastik. Sonst hatte er dann auf die Jungs aufgepasst, nun hatte sie aus einer Abiturklasse eine Schülerin zum Babysitting angeheuert. In diesem Moment parkte in seinem Rücken ein Lkw. Wegen des Motorenlärms verstand das Mädel anfangs nicht, wer er war und was er wollte. Die beiden Jungs waren ganz aufgekratzt. Der Name der Babysitterin war Annika, und sie hatte versprochen, ihnen vor dem Zubettgehen einige lustige Videos auf YouTube zu zeigen. Mama hätte so was nie erlaubt! Ihm blieb kaum Zeit, den beiden eine gute Nacht zu wünschen, da legten sie schon wieder auf. Hauke lächelte. Üblicherweise ging Birgitt nach dem Sport noch mit den anderen zum Italiener, er würde sie heute nicht mehr sprechen. Ersatzweise schrieb er eine kurze SMS.

Währenddessen klappte hinter ihm die Tür des Lkw. Er schob das Telefon wieder in die Jackentasche und schaute in den Himmel, der sich immer stärker verfärbte.

«Ruhig hier, nich?», sagte eine Stimme.

Hauke drehte sich um – und erkannte den Neongelben von gestern. «Ja, herrlich.»

Der Neongelbe zog eine kleine Schachtel hervor und entnahm ihr einen Zigarillo, den er sich zwischen die Lippen klemmte. Er hielt auch Hauke die Schachtel hin, doch der wehrte mit einer raschen Handbewegung ab. Immerhin konnte er lesen, welche Marke es war. Sprachlos stand auf der blauen Schachtel. Der Gelbe riss ein Streichholz an und paffte.

Mit dem Zigarillo deutete der Besucher auf das Mountainbike. «Sport?»

Hauke lächelte. «Man braucht ja die Bewegung, wenn man den ganzen Tag hinterm Schreibtisch hockt.» Wie automatisch berührte er die Nasenspitze. Die Überreste des gestrigen Pickels krönte eine kleine Haube von Schorf.

«Wohl wahr.» Der Neongelbe stellte das rechte Bein auf die Rückenlehne der Bank und stützte sich darauf.

Hauke drehte sich ein wenig herum, sodass er den abendlichen Besucher besser anschauen konnte. Der sah ihn mit dem gleichen Blick an wie gestern. Hauke fühlte sich unwohl in dieser Position. Sicherheitshalber erhob er sich. Vielleicht war es ohnehin besser, den Rückzug anzutreten. Der Flughafen Parchim schien ihm weltweit der einzige Airport zu sein, an dem keine Menschenseele zu finden war.

«Ich muss dann mal … Nicht, dass ich noch in die Dunkelheit komme.» Hauke ging auf das Fahrrad zu, das er an einen Papierkorb gelehnt hatte.

«Mach man.» Der Gelbe nickte und musterte ihn, machte aber keine Anstalten beiseitezutreten. Sein Blick traf auf Haukes nackte Beine und verweilte für einen Moment auf der Radlerhose. Schließlich schaute er ihm ins Gesicht.

Hauke war es gewohnt, dass andere Menschen manchmal verstohlen, manchmal unverhohlen auf die alten Aknenarben in seinem Gesicht starrten. Der Gelbe allerdings machte sich nicht die Mühe, seinen Blick zu verbergen. Hauke hatte lange gebraucht, bis er in einer Situation wie dieser nicht mehr verlegen wurde. Wenn er den Menschen auf Augenhöhe begegnen wollte, musste er solche Blicke erwidern. In seinem Beruf wäre er sonst verloren gewesen. Er schaute dem Mann für einen Moment fest in die tiefbraunen Augen. Grad so lang, dass sein Gegenüber ihn nicht als unterwürfig einstufte, aber den Blick dennoch nicht als aggressiv wertete. Dann zog er den Reißverschluss der Jacke bis zum Kragen hoch und schwang sich auf sein Rad.

«Hau rein!», rief ihm der Mann hinterher.

Der Wald lag längst im Dunklen. Wieder dachte er an den Film. Klar, es war eine Stephen-King-Verfilmung gewesen, aber der Titel fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Tatsächlich war es auch hier ein wenig gruselig. Er beschleunigte, geriet außer Atem und inhalierte, um sich zu beruhigen, den typischen Harzduft, der den zahllosen Nadelbäumen entströmte. Dort, wo die Landstraße die Einflugschneise kreuzte, wehte vom Flugfeld kühle Abendluft herüber. Als er endlich Parchim erreichte, hatte sich schon die Straßenbeleuchtung eingeschaltet.

Am Bahnübergang kam ihm plötzlich die Tankstelle in den Sinn. Anstatt in die Lange Straße einzubiegen, drehte er aus einer Anwandlung heraus ein weiteres Mal die Runde im Kreisverkehr und nahm kurz entschlossen die Ludwigsluster Chaussee. An der Kasse stand dieselbe Verkäuferin. Sie schaute genauso freundlich wie gestern und schien ihn nicht wiederzuerkennen.

«Sprachlos, bitte», verlangte Hauke, «eine Schachtel.»

Zurück im Apartment fühlte er sich merkwürdig aufgekratzt. Das mochte an der ungewohnten körperlichen Betätigung liegen. Er warf die Zigarillos auf den Couchtisch und sprang erst einmal unter die Dusche. Die dunkle Spur der Fahrradkette auf der rechten Wade war gar nicht so einfach abzuwischen. Das gelang ihm erst, als er eine Portion Duschgel unverdünnt einen Moment einwirken ließ.

Anschließend meldete sich sein Magen, und er füllte eine Portion Schokomüsli in eine kleine Schüssel. Zum Glück war noch genug Milch im Kühlschrank. Mit der Schale in der Hand setzte er sich aufs Sofa. Nachdem er ein paar Löffel gegessen hatte, fiel sein Blick auf die blaue Schachtel, die mitten auf dem Couchtisch lag. Er legte Schüssel und Löffel beiseite und griff danach. Direkt unter dem Markennamen Sprachlos warnte ein weißes Feld mit schwarzer Schrift:

Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu.

Hauke lächelte und leerte die Müslischüssel. Auf einen Nichtraucher wirkte diese Art von Verbraucherschutz irgendwie aufgesetzt. Olaf hatte Zigaretten geraucht, und das nicht zu knapp. Dennoch hatte das nicht dazu geführt, dass Hauke ihm das Rauchen nachgemacht hätte.

Ungewöhnlich, dass der Neongelbe ihn spontan so sehr an Olaf erinnerte. Klar, da waren Größe, Statur und die Art zu gehen. Trotzdem gab es etliche Dinge, die die beiden voneinander unterschieden. Der Haarschnitt. Oder die Augenfarbe. Der ehemals blonde Olaf hatte fast farblose graublaue Augen, die Augen des Gelben dagegen waren dunkelbraun. Heute hatte er ganz bewusst hineingeschaut. Doch das waren alles Äußerlichkeiten. Irgendwie musste da noch mehr sein. Eine Art Ausstrahlung oder so. Gab es das überhaupt?

Hauke dachte an diesen Blick, der eine Spur zu ungeniert war. Das konnte natürlich eine Art von Aggressivität sein, aber alles in allem war der Typ doch ganz friedlich gewesen.

Was es auch war, nun wollte Hauke einfach nur diesen Geruch genießen. Er schnüffelte von außen an der Schachtel, nichts. Er durchtrennte die Steuerbanderole und schob den Deckel zurück. Endlich lagen die kleinen dunkelbraunen Zigarren vor ihm, 20 Stück. Der offenen Schachtel entströmte ein sanfter Duft. Hauke zog einen einzelnen Zigarillo heraus, führte ihn an die Nase und sog das Aroma ein. Ja, das war schon mal nicht schlecht. Er klemmte sich den braunen Stängel zwischen die Lippen, imitierte die Handbewegung, mit der der Gelbe es getan hatte. Die Zunge ertastete den ungewohnten Geschmack, und er musste sich zügeln, nicht daran zu lutschen. Er stand auf und ging die paar Schritte zum schmalen Spiegel neben der Apartmenttür. Ungewohnt sah das aus, vor allem fehlte ihm die selbstverständliche Lässigkeit. Außerdem – verflucht, er hatte wohl vorhin den Schorf an der Nase abgekratzt und dabei ein Blutgefäß aufgerissen. Jedenfalls thronte auf der Spitze des ausgedrückten Pickels ein kleiner, aber nicht zu übersehender Pfropfen geronnenen Bluts.

Hauke wischte die rote Kugel mit einem Tempotuch fort und öffnete ein Fenster, um einen der Zigarillos anzuzünden. Vergeblich suchte er in den Schubladen der Pantry nach Streichhölzern. Natürlich waren keine da, er hätte welche an der Tankstelle kaufen sollen. Zu dumm.

Dann würde er es eben morgen auf der Heimfahrt probieren, irgendwo am Waldrand. Hauke kam sich wie ein Halbwüchsiger vor, der heimlich rauchen wollte. Und wer weiß, vielleicht war genau das der Grund, weshalb es den anderen zum Flughafen gezogen hatte. Heimlich rauchen, ohne dass die Frau es mitbekam.

Andererseits, das Aroma war ja nun kaum zu verbergen. Hauke lächelte bei der Vorstellung, seinerseits zum Rauchen dorthin zu fahren. Der Typ würde am Ende noch glauben, er …

Nein, das ging ja nun überhaupt nicht.