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Dieser Band enthält die folgenden Novellen:
Der letzte Deutsche von Blatna
Die böhmische Handschrift
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Seitenzahl: 510
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Böhmische Novellen
Fritz Mauthner
Fritz Mauthner – Biografie und Bibliografie
Der letzte Deutsche von Blatna
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Schluß
Die böhmische Handschrift
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Nachwort zum vierten Bande
Böhmische Novellen, Fritz Mauthner
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
Loschberg 9
86450 Altenmünster
ISBN: 9783849618308
www.jazzybee-verlag.de
Frontcover: © Vladislav Gansovsky - Fotolia.com
Schriftsteller, geb. 22. Nov. 1849 zu Hořitz bei Königgrätz in Böhmen, studierte in Prag Rechtswissenschaft, trat mit einem Sonettenzyklus: »Die große Revolution« (1871), der ihm beinahe eine Anklage auf Hochverrat eingetragen hätte, zuerst literarisch auf und ließ einige kleinere Lustspiele folgen, die auch mit Beifall ausgeführt wurden. Seitdem widmete er sich ausschließlich dem literarischen Beruf, zunächst als Mitarbeiter der deutschen Blätter Prags, und ließ sich 1876 in Berlin dauernd nieder. Einen durchschlagenden Erfolg erzielte er mit einer Reihe satirischer Studien, die den Stil der hervorragendsten deutschen Dichter der Gegenwart parodierten: »Nach berühmten Mustern« (Stuttg. 1879, 28. Aufl. 1895; neue Folge 1880, ebenfalls in zahlreichen Auflagen; Gesamtausgabe 1897). Weitere Sammlungen von kritischen Feuilletons und Satiren sind: »Kleiner Krieg« (Leipz. 1878), »Einsame Fahrten. Plaudereien und Skizzen« (das. 1879, 3. Aufl. 1890), »Dilettanten-Spiegel. Travestie nach Horazens Ars poetica« (Dresd. 1883), »Aturenbriefe« (2. Aufl., das. 1885), »Credo« (Berl. 1886), »Von Keller zu Zola« (das. 1887), »Schmock, oder die literarische Karrière der Gegenwart« (das. 1888), »Tote Symbole« (Kiel 1891). M. veröffentlichte ferner die Erzählungen und Novellen: »Vom armen Franischko« (Bern 1880; 7. Aufl., Dresd. 1886), »Die Sonntage der Baronin« (1880; 3. Aufl., Dresd. 1884), »Zehn Geschichten« (Berl. 1891), »Bekenntnisse einer Spiritistin (Hildegard Nilson)« (das. 1891), »Der wilde Jockey und anderes« (Münch. 1897), »Der steinerne Riese« (Dresd. 1897); sodann die Romane: »Der neue Ahasver« (das. 1881), »Xantippe« (das. 1884. 6. Aufl. 1894), »Berlin W« (I.: »Quartett«, das. 1886; II.: »Die Fanfare«, 1888; III.: »Der Villenhof«, 1890, mehrfach aufgelegt), »Der letzte Deutsche von Blatna« (Dresd. 1886, 5. Aufl. 1890), »Der Pegasus, eine tragikomische Geschichte« (das. 1889, 3. Aufl. 1894), »Hypatia« (Stuttg. 1892), »Der Geisterseher« (Berl. 1894), »Kraft« (Dresd. 1894, 2 Bde.; 3. Aufl. 1899), »Die bunte Reihe« (Münch. 1896), »Die böhmische Handschrift« (das. 1897). Auch veröffentlichte er Fabeln und Gedichte in Prosa u. d. T.: »Lügenohr« (Stuttg. 1892; 2. Aufl.: »Aus dem Märchenbuch der Wahrheit«, das. 1896). Neuerdings erregte M. die Aufmerksamkeit weiterer Kreise durch ein umfangreiches wissenschaftliches Werk: »Beiträge zu einer Kritik der Sprache« (Stuttg. 1901–02, 3 Bde.), in dem er mit Scharfsinn die Unzulänglichkeit des Ausdrucksmittels der Sprache darlegt.
Nicht weit hinter dem letzten Hause des böhmischen Städtchens Blatna, dort wo die Straße durch einen steilen Hohlweg nach der Eisenbahnstation Oberndorf führt, lag am Wolfsberge ein verlassener Steinbruch, den zwei Knaben und ein kleines Mädchen als ihren angestammten Besitz, als ihren Spielplatz und ihr Museum betrachteten.
Die Höhe des Wolfsberges, eines flachen Hügels, hätte die Kinder mit manchen Reizen locken sollen. Da stand auf dem Plateau die Zuckerfabrik, die einzige Fabrik und der einzige hohe Schornstein der Gegend, da stand jenseits des Hohlwegs vor einer Wildnis von Granitblöcken und Fichtenbäumen die kleine stille weißgetünchte Marienkapelle, da erblickte man gegen Norden fern hinter stattlichen Klostertürmen die schwarzblauen Waldkuppen des Riesengebirges, da schaute man gegen Süden auf die langgezogene Stadt Blatna hinunter bis zum Flüßchen Bjelounka.
Von all den Herrlichkeiten gefiel dem jungen Volke nichts so sehr wie der Steinbruch, um dessen Besitz die feindlichen Väter gestritten und in dessen Höhlungen die befreundeten Kinder sich schon versteckt hatten, bevor der Prozeß noch entschieden war.
Anton Gegenbauer – nach Landessitte Gegenbauer-Anton genannt –, der etwa fünfzehnjährige Realschüler, war der Sohn des Mannes, dem jetzt der ganze Wolfsberg mitsamt der schönen Zuckerfabrik und dem wertlosen Steinbruch gehörte. Sein Altersgenosse Zaboj Prokop und dessen noch nicht zehnjähriges Schwesterchen Katschenka waren die Kinder des riesigen Svatopluk Prokop, der das ganze Anwesen, zuletzt auch den Steinbruch, an den Deutschen verloren hatte, dann unter die Soldaten gegangen und eben erst in diesem Sommer bei Gitschin, nicht allzuweit von der Heimat, durch eine streifende preußische Kanonenkugel an den Beinen gelähmt worden war.
Das Jahr 1866 zeichnete sich für die Kinder nur durch die Verwundung Svatopluks, durch ein flüchtiges Erscheinen von Truppen und durch viermonatige Ferien aus. Solange brauchten die Knaben nicht nach ihrer Kreis- und Schulstadt zurückzukehren und durften ihre unvordenkliche Freundschaft recht gründlich auffrischen. Das kleine Mädchen konnte nach Herzenslust singen und spielen, und die Knaben hatten Gelegenheit, kindliche Gelehrsamkeit und unfertiges Denken in altklugen Gesprächen zu erproben.
Das Leben im Steinbruch zwang sie zu allerlei Turnkünsten. Schon der Zugang war nicht leicht. Zaboj und Katschenka, welche von der Straße her, also von unten in den Steinbruch drangen, mußten mit großen Sätzen über die wilden Brombeerranken hinwegspringen, welche den einzigen ebenen Pfad versperrten. Und Anton Gegenbauer mußte gar durch die kleine Hintertür des »Trutzhauses«, das hart am Rande des Steinbruchs lag, zu den Freunden hinabsteigen und dabei einen ganz halsbrecherischen Steig benutzen, der sich nur wenige Zollbreit vom Rande der Schlucht in Zickzacklinien beinahe vier Klafter hinunterzog. Sie waren alle an diesen Weg so gewöhnt, daß sie seiner Gefahr nicht mehr achteten. Auch Zaboj und Katschenka kletterten wie Katzen hinauf und herunter, denn die Reize dieser Steinwand waren nicht gering. Gleich unten nach den ersten Schritten gab es eine richtige Terrasse, einen Fuß breit und einige Fuß lang, auf der die Kinder nebeneinander niederkauern und mit den Füßen schlenkern konnten; weiter oben gab es eine verwitterte Stelle, auf welcher ein armes verkrümmtes Fichtenbäumchen wurzelte, dann kam ein Erdbeerstrauch, der mit jedem Jahre mehr Früchte trug, weil die Kinder niemals ein Blatt oder eine Blüte abrissen. Dann ging es endlich an einer geräumigen Höhle vorüber, in welcher alle drei Kinder aufrecht Platz hatten, wo sie sich vor Sturm und Regen schützen konnten, und wo die kleine Katschenka wohl auch ihr Mittagsschläfchen hielt, während die Knaben ihre eben erworbenen Kenntnisse in den Gesprächen übten, die ihnen während der Ferien immer bedeutend vorkamen.
Diese Höhle war die letzte Tat der Steinbrecher gewesen. Noch waren die Bohrlöcher zu sehen, von denen aus die Felsplatte zwischen der Höhle und dem jetzigen Wohnhause hätte gesprengt werden sollen. Aber gerade da hatte der wertvollere härtere Sandstein ein Ende genommen. Und die Anlage war darum verödet.
Die Höhle war aber nicht alles. An der tiefsten Stelle des Steinbruchs gab es nach jedem Regen tagelang einen kleinen Wassertümpel, in welchem jedesmal auch, wie vom Himmel gefallen, niedliche Wasserkäfer erschienen. Katschenka pflegte in dieser natürlichen Wanne unter großem Geschrei ihre Fußbäder zu nehmen, während Anton und ihr Bruder die Käfer fingen und auf lange Nadeln spießten. Unerschöpflich aber war die Fülle von Schmetterlingen, welche dieser Schlupfwinkel für ihre Insektensammlungen lieferte. Der gemeine Kohlweißling schien sich seiner Armseligkeit zu schämen und ließ sich kaum blicken. Auch das Kuhauge und der kleine Fuchs flogen nur so am Rande hin. Doch der große Fuchs, der Distelfalter und der Trauermantel waren tägliche Gäste. Und wenn an einem windstillen Vormittage die Sonne prall auf die Wand niederschien, in deren Höhe die dunkle Höhle lag, so schaukelte sich auf jeder Blüte, auf jeder Brombeerranke, über jedem Grashalm ein bunter Falter. Und nicht selten ließ sich sogar am Rande des Tümpels ein großer Schwalbenschwanz mit weit ausgespreizten Flügeln nieder.
Der Verkehr der Kinder war unterbrochen worden, während Svatopluk Prokop krank zu Bette lag. Anton saß oft stundenlang allein auf der Steinbank, die sie ihre Terrasse nannten, und blickte erwartungsvoll nach der Landstraße, ob sein Freund Zaboj nicht käme und die kleine Katschenka, welche ja noch ein dummer Fratz war, ohne welche ihm aber der Steinbruch, trotz Wasserkäfern, Schmetterlingen und Mauerschwalben, merkwürdig tot erschien.
Endlich gegen Mitte September kamen die »Prokopischen« eines Nachmittags schnell herauf, nicht über die Straße, sondern stapfend über die Stoppelfelder. Sie waren seltsam angezogen. Zaboj hatte die Füße in hohen Schäftenstiefeln, den Leib in einem Schnürenrock stecken; auf dem Kopfe saß ihm ein rundes Hütchen mit einer Reiherfeder. Er sah aus wie ein mißglückter Pole auf den Brettern einer kleinen Dorfbühne.
Um so lieblicher guckten Katschenkas runde Wangen aus dem rotbedruckten Tuche, das einfach ums Haar gelegt und unter dem Kinn verknotet war, und allerliebst stand ihr auch das weiße Schürzchen auf dem knallroten Kleide. Sie hatte sich gleich zu Hause für ihr Bad fertiggemacht und kam bloßfüßig daher; Schuhe und Strümpfe trug sie in der Hand.
Die Knaben begrüßten sich mit raschen Fragen und Antworten; doch wollte lange keins ihrer bedeutenden Gespräche in Gang kommen. Sie hatten einander zu lange nicht gesehen.
Während Katschenka bald im Tümpel plätscherte, bald umhertobend die rundlichen Füße trocknen ließ, saßen die Knaben stumm nebeneinander auf der Steinbank.
Endlich begann Anton:
»Was habt ihr heute für Kleider an? Wollt ihr euch auf dem Jahrmarkt sehen lassen?«
»Wir sind Tschechen, das heißt, wir sind richtige Böhmen und tragen unser Nationalkostüm.« Zaboj antwortete das in geläufigem Deutsch, aber seine Aussprache war schwer und hart. Namentlich die Mitlaute schleppte er mühsam wie beim Buchstabieren und hatte Neigung, die erste Silbe eines jeden Wortes zu betonen.
»Warum seid ihr Tschechen?« fragte Anton nach einer kleinen Weile. »Ihr sprecht doch ebenso Deutsch wie ich und mein Vater.«
Zaboj fiel schnell ein:
»Niemand darf wissen, daß wir von dir so gut Deutsch gelernt haben. Bei uns zu Hause wird nur Böhmisch gesprochen. Mein Vater glaubt, daß ich es in der Schule gelernt habe, und schimpft daher auf den Lehrer. Daß Katschenka auch so gut Deutsch kann, weiß er nicht und darf es nicht erfahren. Unser Vater ist ein Tscheche, ein guter Böhme.«
Nun hielt es Anton für angebracht, zu einer ihrer beliebten tiefsinnigen Streitigkeiten überzugehen.
»Ich glaube doch, daß die Menschheit immer eine große Hauptsache bleibt,« sagte er, während er den Rücken gegen die Felswand lehnte und die Beine wagrecht vor sich hinstreckte. »Alle Menschen müssen einander achten, auch wenn sie verschiedenen Stammes sind, zum Beispiel du und ich.«
»Nein,« schrie Zaboj, seine grauen Augen verdunkelten sich, und er sprang mit einem Satze von der Terrasse in den Steinbruch hinunter.
»Nein,« schrie er noch einmal und stellte sich dem Genossen, aufblickend, mit tragisch erhobener Hand, gegenüber. »Erst muß uns unser Recht werden, bevor wir euch Deutsche als Menschen achten können!«
»Aber wir beiden bleiben doch Freunde fürs Leben,« sagte Anton, während er gemächlich hinunterstieg.
»Nein,« schrie Zaboj wieder. »Das heißt, ich bin dein Freund; aber du mußt dann Tscheche werden, sonst wirst du trotz meiner Freundschaft gehängt, an dem Tage, wo wir alle Deutschen in Böhmen hängen werden.«
Anton dachte nach, der Tod schien ihn nicht zu erschrecken, die Sache fesselte ihn offenbar nur philosophisch.
»Wenn aber ein Deutscher eine Tschechin liebt, so überwindet doch die Liebe den Haß.«
Auch dies sagte Anton, ohne an sich selbst oder an das Leben überhaupt zu denken; ihm schwebten Szenen aus einem gelesenen Trauerspiele vor.
Zaboj aber lachte auf.
»Du meinst Katschenka?«
Anton wurde rot und rief:
»Ich sprach nur so im allgemeinen. Ich will also sagen: wenn ein Tscheche ein deutsches Mädchen liebt, was dann?«
Zaboj verschränkte die Arme über der Brust und sagte entschieden:
»Ein Tscheche wird niemals eine Deutsche lieben, und wenn ein Deutscher sich's einfallen läßt, eine böhmische Jungfrau zur Heirat zu zwingen, so wird sie ihn in der Brautnacht erdrosseln.«
Zaboj hatte keine klare Vorstellung von dem, was er sprach; es freute ihn nur, nun auch die Erinnerung an ein Buch anzuwenden.
Da kam Katschenka herbeigelaufen und wies in der rechten Hand einen zerdrückten Zitronenfalter.
»Die dummen Rübenfelder,« rief sie mit derselben Aussprache wie ihr Bruder. »Der Klee früher war viel schöner, jetzt gibt es fast gar keine Pfauenaugen mehr!«
Zaboj faßte das Schwesterchen zärtlich um und schwang es zu sich empor. Anton aber wagte nicht das Kind anzusehen und sagte zu Zaboj:
»Komm in die Höhle, dort wollen wir weiter reden.«
Als sie in dem dämmrig kühlen Räume nebeneinander saßen und Katschenka unten singen und tollen hörten, begann Anton:
»Das ist eine große Ungerechtigkeit; ich bin einmal ein Deutscher und kann doch nicht anders werden.«
Zaboj hatte die Augen geschlossen und sprach dumpf wie ohne Bewußtsein:
»Ein jeder Böhme muß ein Tscheche sein, sonst wird er totgeschlagen. – Totgeschlagen –,« wiederholte er, »ohne Gnade und Barmherzigkeit; wir können nicht anders, es ist euer Schicksal.«
»Das ist nicht wahr!« rief Anton, dem es unheimlich zu werden begann. »Das wird euch der Kaiser nicht erlauben.«
»Wir kennen den Kaiser nicht, den Kaiser in Wien! Wir kennen nur einen König von Böhmen, der wird auf dem Hradschin wohnen und uns Tschechen tun lassen, was wir wollen. Ich bitte dich, Gegenbauer-Anton, werde ein Tscheche, sonst wirst du auch totgeschlagen.«
»Ich glaub' dir nicht. Du redest nur so, um dich patzig zu machen und um mich zu erschrecken.«
»Ich weiß, was ich weiß,« sprach Zaboj trotzig.
Anton lachte plötzlich auf.
»Erst hast du mich mit Aufhängen bedroht und jetzt mit Totschlagen; da siehst du, daß du nichts weißt.«
Da sprang Zaboj empor und sagte ganz leise:
»Willst du schwören, daß du mich nie verrätst, so will ich dir beweisen, was ich sage.«
Auch Anton hatte sich erhoben und zitterte vor Erregung.
»Wobei soll ich schwören?«
Der tschechische Knabe überlegte ein Weilchen. Dann sagte er feierlich:
»Schwöre mir bei Schiller und Goethe, daß du mich nie verraten wirst.«
»Ich schwöre bei Schiller und Goethe, daß ich dich nie verraten werde.«
Zaboj senkte seine Stimme zu einem dumpfen Flüsterton:
»Du weißt doch die Hussitenkriege! Damals hat sich das böhmische Volk wie ein Mann erhoben, hat gemordet und gesengt und hat viel mehr Fürsten besiegt, als wir in der Schule gelernt haben. Sie sind in ganz Europa umhergezogen, und ich glaube, sie haben auch Amerika erobert.«
»Du,« unterbrach ihn Anton schüchtern, »Amerika war, glaube ich, noch nicht entdeckt.«
»Das ist einerlei,« schrie Zaboj. »Die Hussiten unterjochten die ganze Welt. Dann aber wurden sie uneinig untereinander, und die deutschen Kaiser sind ins Land gebrochen und haben die Böhmen verfolgt und gemartert, auch viel mehr, als wir es in der Schule lernen. Du weißt, die Hussiten sind mit schweren eisernen Morgensternen in die Schlacht gezogen, nicht mit Säbeln und Flinten. Sei still! Ich weiß, daß das Schießpulver noch nicht erfunden war. Es waren vielleicht andere Flinten. Aber die Morgensterne haben wir erfunden.«
Anton faßte den Freund begütigend bei der Hand.
»Das will ich dir glauben,« rief er. »Aber woher weißt du alle diese wichtigen Sachen, die in der Schule niemals vorkommen?«
Zaboj brummte verlegen vor sich hin. Es schmeichelte ihm, daß der fleißigere Genosse einmal sein besseres Wissen anerkennen mußte; aber er durfte die Quelle seiner Weisheit nicht vollständig verraten. Endlich sagte er zögernd:
»Du weißt, seitdem Vater krank ist, kommt der Kaplan oft zu uns ins Haus, der Pfaff.«
»Natürlich! Er hat ja für euch gesorgt, solange euer Vater bei den Soldaten war. Das war doch sehr schön von ihm!«
Zaboj zitterte vor Ungeduld.
»Ja, ja!« rief er. »Das heißt, er ist ein leiblicher Neffe unserer seligen Mutter. Von dem also hab' ich die Bücher über die Hussiten und ihre unzerstörbaren Waffen.«
»Was ist das wieder Neues?«
Zaboj antwortete fast andächtig:
»Ihre Morgensterne, an denen das Blut der Deutschen klebt, sind aufbewahrt worden, und in jedem alten böhmischen Hause ist ein solcher Morgenstern versteckt. Auch in unserer Scheune hängt an der Wand ein schwerer, alter, blutiger Morgenstern.«
Nach einem Weilchen fuhr Zaboj mit unheimlicher Freude fort:
»Und wenn der Tag gekommen ist, dann wird in jedem guten böhmischen Hause, um Mitternacht, ein Mann erscheinen, niemand wird ihn kennen, aber er wird einen silbernen Morgenstern in der Hand halten, und wird im Auftrage des geheimen Prager Ausschusses die Stunde bestimmen, wann wir losbrechen sollen. Dann wird kein Deutscher in Böhmen leben bleiben.«
Katschenka rief hinauf:
»Ich bin müde und Vater wird böse sein! Wir müssen nach Hause gehen.«
Sofort schickten die Knaben sich an, zu ihr niederzusteigen. Es fing an zu dunkeln und sie mußten auf jeden Schritt achten. Sie sprachen kein Wort. Unten angekommen, sagte Anton:
»Ich glaube dir nicht, wenn du mir nicht den Morgenstern zeigst.«
»So komm!« –
Als wollten sie Äpfel von fremden Bäumen holen, so scheu eilten die Knaben zuerst um Hecken und Gärten herum, bis sie den oberen Teil des Städtchens, das eigentlich nur eine einzige lange Gasse bildete, umgangen hatten. Wollten sie keinen zu großen Umweg beschreiben, so mußten sie jetzt um die Brauerei auf den Markt einbiegen, den sogenannten »Ring«, einen großen, regelmäßigen Platz, den auf allen Seiten stattliche steinerne, auf Säulen oder Pfeilern vorspringende Gebäude umgaben. Hinter den Säulen und Pfeilern zogen sich rund um den »Ring« breite Arkaden, die »Lauben«. Zaboj zog den Freund unter lebhaften Gesprächen im Dunkel dieser Lauben fort, während Katschenka fröhlich über die breiten Steine des Platzes lief.
An der Kirche und dem Rathause vorbei eilten die Kinder die untere Gasse hinab, die zwischen kleinen einstöckigen, aber sauberen Häuschen in leiser Krümmung zur Bjelounka führte. Beide Knaben kannten die historische Bedeutung des Flusses für die Geographie dieses Landesteils. Die Bjelounka bildete von alter Zeit her die scharfe Grenze zwischen der tschechischen und der deutschen Bevölkerung, zwischen der slawischen Niederung und dem Berglande. Das Dreieck, welches sie mit der Elbe und mit der Grenze formt, war so vollkommen deutsch, daß der Fährmann nicht wußte, wie Wasser auf slawisch hieß. Und sogar Bier vermochte er auf dem anderen Ufer nur auf deutsch zu verlangen.
Im Norden setzte sich das deutsche Gebiet bis an die Landesgrenze weiter fort, im Süden aber war das Mauthäuschen von Blatna das letzte Stück deutschen Bodens, und schon der heilige Nepomuk auf der Brücke hätte Tschechisch gesprochen, wenn Schweigen nicht seines Amtes gewesen wäre.
Das war jetzt freilich schon ganz anders geworden. Seit den zwanziger Jahren waren tschechische Familien über die Bjelounka herübergekommen. Armes Tagelöhnervolk suchte hier bei den strebsamen Gewerbetreibenden Arbeit, und wohlhabendere Männer wieder kauften sich an, wenn Haus und Feld eines Bürgers unter den Hammer kam. Schon im Jahre 1848 war es so weit gekommen, daß die eigentliche Gasse südlich und nördlich vom Ring fast vollständig von Tschechen bewohnt war, und in den Stürmen des Revolutionsjahres, wo alle alten Verhältnisse durcheinandergeworfen wurden, kam manches Ringhaus, manche Stube im Rathaus und sogar die Sakristei der Kirche in tschechische Hände.
Das hatte sich so gemacht, ohne daß eigentlich der Stammesunterschied wesentlich beachtet wurde. Der alte Besitzer zog eben aus, wenn es ihn nach einer größeren Stadt oder nach einer fruchtbareren Gegend verlangte, oder wenn Unglück ihn zum Verkauf zwang; und der neue Besitzer zog ein, wenn er den Preis bezahlen konnte. So war gerade an dieser Stelle die Sprachgrenze schon durchbrochen; aber immer noch hatte die Bjelounka ihre Bedeutung nicht verloren. Es gab in Blatna sehr viele Leute, denen es schwer fiel, Deutsch zu sprechen; aber gemeinsam fühlten sie sich doch als eine deutsche Ortschaft. Vom Wolfsberge, wo, der Marienkapelle gegenüber, neben der Zuckerfabrik das »Trutzhaus« des Gegenbauer mit seinem Spruche:
Ein deutsches Herz, ein deutsches Haus Sie bleiben fest im Sturmgebraus –
nach Süden hinunter trotzte, vom Wolfsberge bis zum heiligen Nepomuk auf der Brücke gab es ein deutsches Städtchen Blatna, dessen viertausend Seelen mit Stolz auf Tschechisch-Blatna, das schmutzige Dorf jenseits der Bjelounka, herabsahen. Sie fühlten sich wie auf einem Vorposten. Sie zitierten bei allen Gaufesten die Inschrift des »Trutzhauses«. Der alte Direktor, ein Magdeburger, hatte sie verfaßt und aufmalen lassen, als das Haus für ihn stattlich genug errichtet worden war. Jetzt lebte dort außer zwei Unterbeamten der alte Gegenbauer selbst im »Trutzhaus«. Nur über den Sonntag, vom Samstag abend bis Montag früh, war er in dem Familienhause auf dem Ring. Seit dem Tode seiner Frau.
Die Knaben verstummten, während sie über die Holzbrücke diesem Dorfe zuschritten. Nur Katschenka dachte daran, vor dem Heiligen ein Kreuz zu schlagen.
Langsam schlichen die Kinder dann dem Gehöfte des Svatopluk Prokop zu. Zwischen armseligen, mit faulendem Stroh gedeckten Hütten, vorbei an dem übelriechenden Teiche, auf welchem unappetitliche Enten jedesmal wie zornig aufquakten, bevor sie die dicken Köpfe unter die grünliche Decke ins trübe Wasser tauchten.
Vor einer schlecht gehaltenen Scheune blieben sie stehen und Zaboj schickte sein Schwesterchen in die verfallene Hütte zum Vater hinein.
»Paß auf!« sagte er leise. »Er schlägt mich, wenn er erfährt, daß ich dem Gegenbauer-Anton das große Geheimnis verrate. Er kann sich auf seinen Krücken viel rascher bewegen, als man glaubt. Sing ihm ein Lied vor, damit er uns nicht überrascht!«
Dann führte er Anton an der Hand in die Scheune hinein. Dieser konnte in der Dunkelheit nichts erkennen als einen umgestürzten Pflug und einen Leiterwagen. Zaboj aber verschwand im Hintergrunde und kam dann mit der schweren Waffe in der Hand zurück. Er hielt sie vor das halbgeöffnete Scheunentor, damit Anton sie beim Dämmerlichte betrachten konnte. Es war ein derber Dreschflegel; sein kurzes Ende lief in eine Eisenkugel aus, so groß wie ein Kinderkopf, und aus der Eisenkugel hervor starrten gegen zwanzig starke rauhe Eisenspitzen.
Zaboj faßte das Holz mit beiden Händen, hob den Morgenstern der Hussiten hoch empor und rief mit gedämpfter Stimme:
»Und wenn wir wieder zu unseren Morgensternen greifen, so werden wir die Deutschen zertrümmern und Böhmen wird frei werden vom Riesengebirge bis zum Böhmerwald!«
Die unerbittliche Feindschaft ihrer beiden Volksstämme hinderte die Knaben nicht, sich von jetzt ab noch enger aneinander zu schließen. Und als die langen Ferien des Kriegsjahres vorüber waren, wurde ihr heißer Wunsch erfüllt, sie wurden beide nach Prag geschickt, um dort noch einige Jahre den Unterricht zu genießen, den die Kreisstadt nicht gewähren konnte.
Daß Anton die Oberrealschule nur in Prag besuchen konnte, war längst ausgemacht. Sein Vater brachte ihn hin und fand für ihn ein gutes Unterkommen bei einer stillen ältlichen Finanzoberaufseherswitwe. Anton hatte dort ein sauberes, abgelegenes Stübchen für sich, und wenn das Fenster auch nur auf einen engen, dunkeln Hof hinausging, so konnte er sich damit trösten, daß die Straße, in der er wohnte, noch enger und unfreundlicher war, als der Hof.
Zaboj war in einer schlimmeren Lage. Trotzdem sein Zeugnis ein sehr gutes war, sollte er ein Handwerk lernen, weil sein Vater die Kosten einer gelehrten Laufbahn nicht aufzutreiben vermochte. Doch kurz vor dem Ende der Ferien ließ sich sein Pate, der Pfarrer an einer reichen Kirche in der Prager Vorstadt Smichow war, durch den Blatnaer Kaplan bewegen, für den Knaben zu sorgen.
Zaboj konnte das Obergymnasium auf der Prager Altstadt besuchen, ohne daß Svatopluk Prokop auch nur einen Kreuzer auszugeben brauchte. Und auch die Universitätsstudien sollten vom Paten und von frommen Stiftungen gesichert werden, wenn Zaboj nur einverstanden war, Theologie zu studieren, und später entweder die Weihen zu, empfangen oder auch in einen Orden einzutreten.
Zaboj sprach niemals über die oft heftigen Beratungen, welche dem Entschlusse vorausgingen. Erst als er knapp vor Beginn des neuen Schuljahres im Herbst nach Prag kam und dem Freunde von Katschenka einen Gruß und vom alten Gegenbauer einen Sack vorzüglicher Äpfel mitbrachte, sagte er ganz obenhin:
»Ich werde Theologie studieren und ein Pfaffe werden.«
Dann aber sprach er schnell von etwas anderem, so daß der erstaunte Anton gar nicht wagte, von dieser entsetzlich wichtigen Sache zu reden. Zaboj schämte sich offenbar vor dem Genossen.
Sie hatten natürlich hundertmal die Religion in den Kreis ihrer Dispute gezogen, und da hatte es sich immer von selbst verstanden, daß sie beide Freigeister wären. Die veränderte Lage wirkte auch auf ihren Verkehr ein. Zaboj war in dem klösterlich eingerichteten Konvikt untergebracht, wo er unter der Aufsicht von Ordensleuten mit etwa hundert Knaben verschiedenen Alters zusammenwohnte, die alle für den geistlichen Stand bestimmt waren. Er wurde strenge beaufsichtigt und ein Verkehr mit weltlichen Schülern ungern gesehen. Die Feiertage mußte er vollends bei seinem Paten in Smichow zubringen, und so blieb den Freunden nicht viel Gelegenheit, sich ordentlich auszusprechen.
Anton, der sich freier fühlte, sorgte aber nach Möglichkeit dafür, daß sie einander nicht entfremdeten. Wenn seine Schule früher aus war als die des Freundes, dessen Stundeneinteilung er genau kannte, so wartete er in dem Hofe des alten Jesuitenklosters, wo das Gymnasium sich befand. Dann schloß er sich den heimkehrenden »Konviktisten« an und begleitete den dankbaren Zaboj über die Jahrhunderte alte Steinbrücke und durch die steile Spornergasse bis zu dem finsteren Hause des Konvikts.
Jeder der geistlichen Schüler war verpflichtet, nicht nur seine eigenen Sünden zu beichten, sondern auch, aus Liebe zur Kirche und zum Seelenheile seiner Gefährten, den Lebenswandel der andern anzugeben. Die bravsten Bauernjungen, welche zu Hause sich lieber hätten totschlagen lassen, als Verräter zu werden, wurden unter dieser Zucht bald des Aufpassens und des Anzeigens gewohnt. So dauerte es nicht lange, bis Zabojs Freundschaft für den deutschen Landsmann zu den Ohren der Oberen kam und er darüber mit väterlicher Strenge zur Rede gestellt wurde. Zaboj sagte die Wahrheit; er leugnete nicht, daß Anton sein ältester Jugendfreund war; deutete auf dringendes Verlangen auch an, daß sein Schwesterchen Katschenka ihn lieb habe, aber er fügte hinzu, daß er niemals unterlasse, Anton zum Tschechentum zu bekehren. Darauf wurde er belobt und ihm ausdrücklich die Erlaubnis erteilt, den Verkehr mit dem Gegenbauer-Anton zu pflegen, wenn er sich nur von dessen weltlichem Sinne nicht anstecken ließe.
Zaboj sah darin eine Aufmunterung, in seinem Streben fortzufahren. Aber es bedurfte dessen nicht. Je weiter die Studien der beiden jungen Leute sich voneinander entfernten und je peinlicher sie ihre ehemaligen Religionsgespräche vermieden, desto einseitiger haftete ihre Unterhaltung an der Nationalitätenfrage. Man hätte aus manchen Anzeichen schließen können, daß der Fanatismus des künftigen Geistlichen immer noch wuchs. Seine Aussprache des Deutschen wurde langsam noch härter und schwerfälliger, und sein Haß gegen alles Deutsche verstieg sich bis zu einer förmlichen Wut gegen die deutschen Firmentafeln in den Straßen, gegen die deutschen Schulbücher in Antons Hand, gegen die deutschen Gespräche der vorüberwandelnden Menschen.
Anton kam nicht häufig zu Worte; unaufhörlich redete Zaboj in den Freund ein, und was er sprach, war immer wieder eine wildbegeisterte Darstellung der böhmischen Geschichte, deren Monumente ringsumher standen, wenn sie über die steinerne Brücke einherschritten. Dann streckte wohl Zaboj seine rechte Hand aus und wies auf die Königsburg, die einst der Sitz der mächtigsten Herrscher war, oder er zeigte den Berg, von welchem die Hussiten ausgezogen waren, um Europa in Schrecken zu setzen. Dann wieder funkelten seine Augen düster auf, wenn er vom Dreißigjährigen Kriege erzählte, der dort oben hinter den altersgrauen Mauern mit dem nachahmenswerten Fenstersturz begonnen und dessen letzter Schuß die letzte Kanonenkugel in diesen Brückenturm gekeilt hatte, wo sie noch heute steckte.
Anton hatte zu wenig Geschichte gelernt, um begründen zu können, was er dem Freunde bescheiden einwarf: daß auch nach seiner Darstellung doch nur die deutschen Kaiser es waren, die Prag zu einer so schönen Stadt gemacht hatten. Zaboj durfte nur in den großen Herbstferien nach Hause gehen. Aber auch dort war der Verkehr der Knaben kein harmloser. Der tschechische Kaplan kam seinem zukünftigen Amtsbruder schon jetzt freundlich entgegen, und Zaboj mußte mit seinem mühsam erlernten, dem Volke kaum verständlichen, vornehmen tschechischen Stil, wie er neuerdings in den Kreisen der slawischen Führer Mode geworden war, die Predigten ausfeilen, welche der Kaplan allsonntäglich in Blatna und ab und zu in nahen Ortschaften mit gemischter Bevölkerung hielt. Der Gymnasiast schloß sich dem Kaplan gern an, weil er in ihm den wichtigsten Vertreter der Propaganda in seiner Heimat verehrte. Aber die Qualen, die sein aufgezwungener Beruf ihm bereitete, konnte er ihm nicht anvertrauen. Anton, dem Deutschen, wollte er erst recht sein Herz nicht ausschütten, und so trieb er sich während der schönen Ferienzeit jedesmal einsam umher, von Jahr zu Jahr verschlossener, wenn er nicht mit dem eigenen Vater in der dumpfen Stube beisammen saß und ihm allen Jammer ins Gesicht schleuderte, welchen er über die Schmach seiner Heuchelei empfand.
Anton war dem Steinbruch treu geblieben; aber er konnte dort nicht viel anderes tun, als daß er in der schattigen Höhle seine Bücher las und sich im Zeichnen übte. Das Sammeln von Schmetterlingen hatte er aufgegeben, und mit Katschenka, die sich fast täglich wie ein Kätzchen heranschlich und ihn zu gemeinsamen Streifereien verlocken wollte, mochte er nicht mehr spielen. In den ersten Jahren machte es ihn verlegen, mit dem sich rasch entwickelnden Kinde allein umherzutollen; und nach den letzten Realschulferien, da er fast achtzehn Jahre alt war, schaute er auf die noch nicht zwölfjährige Katschenka etwas von oben hinab, wenn er auch zugeben mußte, daß sie bis auf das Stumpfnäschen ein ganz prächtiges hübsches Kind war.
Beim Beginn des neuen Schuljahres trat Anton nun bereits in das Polytechnikum ein, während Zaboj noch die oberste Klasse des Gymnasiums besuchen mußte.
Sie kamen in diesem Jahre nur äußerst selten zusammen, am häufigsten noch in der Frühe von klaren Sommertagen, wenn sie beide mit ihren Schulbüchern in den schattigen Gängen des großen Baumgartens lernend auf- und niedergingen.
Anton, der doch einst die Fabrik des Vaters übernehmen und darum den Maschinenbau gründlich verstehen lernen sollte, hatte vollauf mit den neuen Wissenschaften zu tun. Zaboj mußte sich für die Maturitätsprüfung vorbereiten und fühlte überdies, daß er noch mehr als sonst überwacht wurde.
Er mochte auch ein schlechtes Gewissen gegen seine geistlichen Oberen haben; denn jedesmal, wenn er frühmorgens in einer Allee des stillen Baumgartens mit dem Landsmann zusammentraf, überraschte er ihn durch dumpfe Klagerufe über seine Lage. Er sprach sich auch jetzt noch nicht offen aus, hielt niemals den Fragen des Freundes stand, aber Anton konnte nicht daran zweifeln, daß der junge Tscheche das ihm aufgedrängte theologische Studium haßte.
Die jungen Leute konnten dabei nicht viel von der schönen Natur genießen. Wohl waren sie täglich mit Sonnenaufgang aus den Federn und eilten ins Freie, aber jeder hatte ein Buch in der Hand; der Techniker lernte die Ziffern aus einem Lehrbuch der anorganischen Chemie, der Gymnasiast die gewundenen Sätze seiner Religionslehre auswendig. Sie begegneten einander häufig in der Uferallee des herrlich grünen Gartens, aber sie hatten beide keine Zeit zum Plaudern. Sie nickten einander stumm zu und schritten eilig aneinander vorüber, ein jeder sein Pensum mechanisch vor sich hinmurmelnd.
Doch eines Morgens, als nach einem warmen Nachtregen alte Vögel des Gartens einander überzwitscherten und die Sonne schon in aller Frühe lustig brennend die feuchte Erde zu trocknen begann, fand Anton seinen Freund auf dem einsamen Wege hinter dem Eisenbahnwall in heller Verzweiflung. Zaboj hatte sich auf eine entlegene Bank geworfen; und das Gesicht in seine Hände gepreßt, schrie und schluchzte er wie ein Kind. Als er den Freund erblickte, der erschrocken hinzulief, versuchte er anfangs seine Tränen und seine Aufregung zu verbergen, dann aber faßte er Anton plötzlich bei den Schultern und laut aufschluchzend beugte er seinen Kopf zu ihm hinab.
»Was hast du? So sprich endlich, ich bin doch dein Freund! Vertraust du mir nicht?« so bat Anton, dem selbst das Weinen vor Angst und Mitleid nahe war.
Da hob Zaboj die geballten Fäuste und schrie:
»Mordsakrament, ich kann kein Pfaff werden! Ich glaube ja nicht, was ich mein ganzes Leben lang predigen soll.«
Sie gingen in heftiger Bewegung auf und nieder vor der Bank, auf welcher das Schulbuch der Religionslehre liegen geblieben war.
Als ob die Schleusen eines Bergsees aufgezogen würden, so stürzte nun alles mit wilder Beredsamkeit vor, was der geistliche Schüler bis heute vor dem Genossen zurückgedrängt hatte. Ein Richter, der sich bestechen ließ, ein Arzt, der mordete, ein Journalist, der seine Feder verkaufte, niemand schien ihm so erbärmlich, so schamlos, so niederträchtig wie ein heuchlerischer Geistlicher, wie ein Mann vor dem Altar, der selber ungläubig war und dem Volke Hokuspokus vormachte. Und wieder und wieder hob Zaboj die Fäuste empor und blickte starr nach dem nahen Flusse und rief heftig:
»Ich kann nicht, ich kann nicht.«
Anton fühlte sich der Schwere dieser Stunde kaum gewachsen. Doch als er endlich zu Worte kam, sagte er ohne Zögern:
»Du mußt natürlich vorher deinen Vater um seine Erlaubnis fragen. Aber mit oder ohne Erlaubnis, das steht unerschütterlich fest: wenn du nicht glaubst, so darfst du kein Geistlicher werden, so wahr ich lebe!«
Mit unendlicher Dankbarkeit blickte Zaboj dem Freunde in die schönen, zornig funkelnden Augen. Dann schrie er heiser auf, faßte sein Lehrbuch und rief, während er es mit heftiger Gebärde mitten auseinanderriß:
»So zerreiße ich auch das Band, das mich an die Kirche fesseln sollte. Da sei Gott vor, daß ich ein Heuchler und Lügner würde. Und dir, Anton, werde ich es nie vergessen, daß du mich durch deinen ehrlichen Zuspruch vor dem sittlichen Untergange bewahrt hast.«
Heute konnte vom Lernen keine Rede mehr sein. Die Genossen durchsprachen wie in früheren Tagen eifrig die tiefsten Fragen der Menschheit, und bald ließen sie sich in ihrem stolzen Freiheitsgefühl beikommen, wie Studenten im Biergarten der stillen »Kaisermühle« ein Glas Bier zu trinken. Und sie beeilten sich, auf die Freiheit, die Wahrheit und auf ewige Freundschaft anzustoßen.
Und als sie aufbrechen mußten, um die Schule nicht zu versäumen, da faßte Zaboj den Freund fast zärtlich um den Nacken und fügte wie grollend:
»Ich will dir's nie vergessen, und wie dankbar ich dir bin, das sollst du gleich sehen. Ich will dir etwas sagen: So wie du mich plötzlich hast klar sehen lassen, weil du mir einfach die Wahrheit gesagt hast, so haben die deutschen Bücher erst Licht und Wahrheit zu uns nach Böhmen gebracht. Jetzt weiß ich's auf einmal. Ich will es dir nie vergessen.«
Wenige Tage später stürmte Zaboj vor Tische in Antons Stübchen, nahm sich kaum Zeit, die Tür hinter sich zu schließen, und rief:
»Mein Vater ist hier, man darf im Konvikt nichts merken. Heute abend kommen wir bei dir zusammen.«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, jagte er wieder fort.
Anton blieb den Rest des Tages in aufgeregter, aber gehobener Stimmung. Ihm schien es eine Heldentat, seinen Freund vor lebenslanger Heuchelei zu retten, und doch wurde ihm ängstlich zumute bei dem Gedanken an die Verantwortung, die er auf sich nahm. Seine Einbildungskraft ließ ihn hundert Gefahren für das kühne Unternehmen sehen. Er glaubte sich schon vor Gericht geschleppt und den Freund mit dem unterirdischen Kerker eines Mönchsklosters bedroht. Doch nichts auf der Welt sollte ihn zurückhalten, seine Pflicht zu tun und dem mutig entschlossenen Freunde die Treue zu halten.
Er war fast enttäuscht, als das Abenteuer ohne jegliche schreckliche Überraschung verlief.
Gegen sechs Uhr stampfte es zwar die Treppen herauf, als sollte das Haus zertrümmert werden; doch es war nur der alte Svatopluk Prokop, der auf seinen massiven Krücken emporklomm. Ohne anzuklopfen trat er herein, begrüßte den jungen Studenten mit einem tschechischen Gruße und warf sich dann schwer in den einzigen Stuhl der Stube.
Anton hatte den Vater seines Freundes noch nie so in der Nähe gesehen. Wenn die schwere Gestalt auf Krücken durch die Straße schlich, so war der Anblick über die Maßen traurig. Doch wie er jetzt gleich einem müden Riesen ausruhte, die Beine in den übermäßig hohen Stiefeln weit von sich gestreckt, den breiten Körper in den abgetragenen Schnürenrock, die nationale »Tschamara«, gezwängt, das Federhütchen in der Linken, die beiden schweren Krücken in der anderen breiten Holzhackerhand, da konnte man es kaum glauben, daß diese Fülle von Kraft untätig dahinlebte. Und aus dem knochigen Gesichte sprach mehr Verstand und Klugheit, als Antons Vater dem alten Svatopluk zuzutrauen schien, wenn er ihn einmal einer Erwähnung würdigte. Ja, Anton konnte sich beinahe einer gewissen Furcht nicht erwehren, als dieser Mann ihm stumm gegenübersaß und ihn halb neugierig, halb feindselig anstierte. Deutlich sah man die Spuren wilder Leidenschaftlichkeit in den dunkeln, tiefliegenden Augen; so blickte Zaboj nur dann, wenn Haß aus ihm sprach.
Der nahezu kahle Schädel erschreckte den Jüngling wie ein Totenkopf, und der breite, höhnische Mund, das unrasierte mächtige Kinn und der gewaltig dicke, lange, dunkelrote Schnauzbart erinnerten ihn unklar an einen Mörder Wallensteins, den er irgendwo in einer Schloßgalerie gemalt gesehen hatte.
Das Schweigen dauerte sehr lange. Plötzlich warf der Alte Hut und Krücken auf den Tisch, daß es krachte, räusperte sich lachend und sprach einige tschechische Worte.
Anton mußte erwidern, daß er fast kein Wort von der Sprache verstand. Aber er vermochte den Satz kaum zu Ende zu bringen, so feindselig bohrten sich die Augen Svatopluk Prokops in die seinen.
»Und hast Zaboj verführt? Hast Zaboj deutsch gemacht, daß aus Kloster weglaufen will, dann soll in dich und alle deutsche Schufte heiliger Donner dreinfahren.«
Der alte Svatopluk sprach die deutschen Worte ganz geläufig, aber ein Fremder hätte es sicherlich für irgendeine slawische Mundart gehalten, so entsetzlich holprig rasselten die Töne aus seinem Munde. Dabei schrie der Tscheche so laut, daß Anton die unbestimmte Furcht fühlte, die Polizei oder der gestrenge Hausherr müßte augenblicklich heraufkommen.
Er beeilte sich, den Alten zu beruhigen. Er erzählte, wie er erst vor kurzem von Zabojs Kämpfen Kenntnis erhalten hätte, und versicherte trotzig, daß er niemals daran denke, einen braven Tschechen seiner Nationalität abspenstig zu machen. Und stolz fügte er hinzu, trotzdem die Krücken dem Alten nahe zur Hand waren:
»Wir Deutschen wollen niemand überreden, zu uns zu gehören. Entweder man ist ein Deutscher, oder man ist keiner. Über Nacht kann man es nicht werden. Das will ich nächstens auch Zaboj sagen, damit er endlich aufhört, mich zu einem Tschechen haben zu wollen.«
Der Alte lachte und seine Augen strahlten vor Vergnügen.
»Ist gut, ist sehr gut,« sagte er nach einer Weile. »Ich habe mich fürchterlich erschrocken und bin gleich hergekommen, weil habe geglaubt, Zaboj ist deutsch geworden. Hätte ihm alle Knochen zerschlagen und dir auch, du deutsches Früchtel; aber nun ist gut, ganz gut. Zaboj hat Gymnasium ausstudiert, Pfaffen haben bezahlt. Nur Prüfung muß er noch machen, dann kann er Pfaffen auslachen und meinswegen studieren auf Advokat. Kruzitürken!«
Jetzt hörte man Schritte auf dem Gange, und gleich darauf erschien Zaboj auf der Schwelle. Er blieb in scheuer Entfernung vor seinem Vater stehen. Er war blaß und abgehärmt.
Der Alte rief ihm ein Dutzend Fluchworte entgegen, winkte ihn aber dabei heftig zu sich heran und strich ihm dann, immer noch weiter wetternd, mit der groben Hand über Stirn und Haar. Endlich verstummte das Fluchen, der Alte schwieg, und man sah ihm an, daß er mit einer weichen Stimmung kämpfte. Langsam faßte er sich, und zwischen Vater und Sohn begann ein lebhaftes Gespräch in tschechischer Sprache.
Da Anton die Unterhaltung nicht verstand, aus einigen bekannten Worten auch einen Faden nicht knüpfen wollte, hatte er vollauf Muße, auf den bloßen Klang der Worte zu achten. Wenn diese Tschechen untereinander sprachen, so klangen dieselben Laute, mit denen sie die deutschen Worte zu ermorden schienen, gar nicht häßlich. Es war viel natürliche Kraft in dem bäurischen, ungehobelten Ton des Vaters, und der Sohn verband die Silben so zierlich, daß Anton seinen Reden wie der Vorstellung eines Schauspielers folgen konnte, der eine bekannte Rolle in einer fremden Sprache spielte. Wie oft hatte er im Elternhause über die Härte der tschechischen Sprache klagen oder spotten gehört. War ja gar nicht wahr! Richtig, italienische Schauspieler hatte Anton vor kurzem angehört. Beinahe wie eine seltsame Mundart der schönen italienischen Sprache vernahm er jetzt die halbverstandenen Laute, immer wohllautender erschienen sie ihm, je länger er zuhörte.
Es schlug auf einem halben Dutzend naher Kirchtürme durcheinander und nacheinander acht Uhr, als Zaboj plötzlich vom Tische, auf dem er gesessen, heruntersprang und nach seiner Mütze griff. Er rief noch einige Worte, dann küßte er seinem Vater die Hand, rief dem Freunde zerstreut einen tschechischen Gruß zu und eilte fort.
Hinter ihm her lachte Svatopluk behaglich und rief:
»Ein Sakermentskerl, hat bei den Pfaffen schön gelernt, schöne Sprache und schöne Lügen. Wenn er groß ist und mit euch deutschen Tyrannen anfängt, wird er euch mehr zusetzen als ich dummer alter Krüppel.«
Er forderte Anton auf, mit ihm ins Wirtshaus zu gehen und sich ein kleines Nachtmahl zahlen zu lassen. Anton wagte nicht Nein zu sagen, und so schritten sie bald miteinander der Neustadt zu, wo Svatopluk wohnte. Es war wunderbar, wie schnell der Alte jetzt in der Dunkelheit laufen konnte. Er warf die Beine ganz gelenkig vorwärts und stützte sich dabei nur leicht auf seine Krücken. Sein junger Begleiter konnte kaum folgen.
Im Wirtszimmer bestellte der Tscheche für jeden von ihnen zwei Paar Würstel mit Kren und ein Krügel Bier. Sie rückten zusammen, und Svatopluk bat den Jüngling recht herzlich, doch die Verstellung aufzugeben und mit ihm Tschechisch zu sprechen. Es sei doch ganz unmöglich und eine Sünde und Schande, daß ein Landeskind die Landessprache nicht verstehe.
Anton konnte ihm kaum begreiflich machen, daß seine Unkenntnis keine Verstellung sei. Sie aßen ihr Nachtmahl und tranken dazu reichlich von dem leichten Bier. Der Alte wurde aufgeregt und fing mit den Nachbarn, dem Wirt und der Kellnerin Unterhaltungen in seiner Sprache an. Er schien sich überall zu entschuldigen, daß er einen Deutschen mitgebracht habe; denn er wies oft achselzuckend auf seinen Begleiter.
Trotz der häufigen Berührung mit einzelnen Tschechen hatte Anton noch niemals in seinem Leben die Empfindung gehabt, daß er in einem fremden, nicht deutschen Lande lebte. Daheim in Blatna bestand der nähere Umgang seines Vaters ausschließlich aus Deutschen, die so wie er selbst keine andere Sprache redeten. Die Dienstleute und viele Fabrikarbeiter waren wohl Tschechen und gaben sich vergebliche Mühe, ein anhörbares Deutsch zu reden; aber das schien sich zu Hause von selbst zu verstehen, daß nur die niederen Arbeiten von Slawen verrichtet wurden, die Leitung jedoch immer in deutschen Händen lag. Und wer von den Tschechen es erst zu einiger Wohlhabenheit gebracht hatte, der bemühte sich immer bald, seinen Stamm in der Unterhaltung mit den eingesessenen Bürgern zu verleugnen. So hatte er es als Knabe fast immer beobachtet. Gebildete Leute oder Grundbesitzer, welche sich laut zum Tschechentume bekannten, waren seltene Ausnahmen auf dem Lande und wurden auch von den deutschen Behörden mißtrauisch angesehen.
In den vier Jahren, die er nun zu Prag in die Schule ging, hatte er es ähnlich gefunden. Prag erschien ihm wie eine alte deutsche Stadt, in welcher nur die große Masse der niederen Stände von tschechischer Geburt war, und wo die gebildeten nationalen Fanatiker eine kleine lärmende Partei bildeten. So hatte ihm wieder sein Vater die Sachlage oft dargestellt. Tausende von Leuten redeten beide Sprachen gleich schlecht, hielten sich aber, ohne viel hierüber nachzudenken, für Deutsche, weil das für ehrenvoller angesehen wurde. Antons Mitschüler plauderten untereinander meist deutsch, in derselben Sprache wurden die Vorträge gehalten und die Fragen gestellt. Daß man andere Bücher lesen konnte als deutsche, ein anderes Theater besuchen als ein deutsches, das wäre ihm niemals eingefallen.
Nun sah er sich plötzlich wie in eine fremde Welt versetzt. Solche Wirtshäuser wie dieses, gab es Hunderte in der Stadt. Die alten Schilder und Namen waren deutsch geschrieben; aber Anton wußte, daß nur Tschechen dort verkehrten. Er hatte sich die Besucher als den Pöbel vorgestellt, der in seinen Augen allein und ausschließlich die slawische Mundart sprach. Seine Überraschung war daher nicht gering, als er hier in einer der schlichtesten Kneipen einen tschechischen Mittelstand erblickte, von dessen Dasein er keine Ahnung gehabt hatte. Er war hier in seiner Provinz wie in der Fremde.
Gewiß war es vor allem die unverständliche Sprache, die ihn bedrückte; wie verraten und verkauft mußte er sich vorkommen, da mehr als hundert Menschen polternd und selbstgefällig durcheinander schrien und die rote Kellnerin jeden Eintretenden nur auf tschechisch nach seinem Begehr fragte. Anton hatte das zweite Krügel selbst bestellt, aber er erhielt nichts, bevor sein Begleiter den Auftrag nicht auf tschechisch wiederholt hatte. Anton wußte, daß von den Anwesenden jeder Mann mehr oder weniger Deutsch verstand; aber hier befand er sich zum ersten Male in einem Kreise, wo diese Kenntnis abgeleugnet wurde.
Doch es war nicht die fremde Sprache allein: die kleinen klugen Augen der Gäste blickten anders, die Züge der breitknochigen Gesichter bewegten sich anders, die Hände gestikulierten anders als unter den deutschen Bürgern seiner Gegend. Und der Gegensatz ging noch weiter. Die Farben des Wandmusters und der Fenstervorhänge waren bunter und schreiender, als er es gewohnt war; und die Bilder, die zahlreich umherhingen, hatten keine Beziehungen zu den Erinnerungen seiner Kindheit. Es waren die Porträts alter sagenhafter böhmischer Könige und neuer Patrioten; dazwischen hingen überall rohe Darstellungen aus den Hussitenkriegen. Ihm gerade gegenüber zeigte ein großer Stahlstich eine Hussitenschlacht, in welcher die Männer bereits sämtlich erschlagen waren und nur noch die hussitischen Frauen mit Mordlust in den Blicken gegen ein rätselhaftes Heer von Rittern und Geistlichen kämpften. Gerade in der Mitte des Bildes stand hochaufgerichtet auf einem Haufen Leichen ein üppiges halbnacktes Weib, das mit der linken Hand einen erstochenen Säugling mit falscher Bewegung von sich warf, mit der rechten einen unmöglich großen Morgenstern schwang und ihn auf den Eisenhelm eines Ritters niedersausen ließ.
Der alte Svatopluk wandte sich wieder dem Freunde seines Sohnes zu. Der Wirt hatte in der anderen Stube zu tun, die Kellnerin war auf einem Stuhle eingeschlafen und die Nachbarn Svatopluks waren nach Hause gegangen. Er war rot vom Trinken und schien guter Laune.
»Nun, deutsches Früchtel, wie gefällt es dir bei uns?« Anton gab eine unbestimmte Antwort, und der Alte hielt ihm eine lange Rede, worin er die Vorzüge seiner Nation entwickelte und die Deutschen nicht anders behandelte als Räuber, die ins Land gefallen wären und hier das Beste an sich gerissen hätten.
Als Anton darauf keine Antwort gab, begann der Alte von seinem Sohne zu sprechen. Es sei ihm ganz recht, daß er nicht geistlich werde. Die Pfaffen werden sich ärgern. Ihnen geschehe ganz recht, der edle Hus sei von ihnen auch gefoppt worden. Zaboj habe eine große Rednergabe, er werde ein berühmter Advokat werden und Abgeordneter und Hofrat und Minister.
Nach einer Weile fuhr er fort:
»Soll auch reich werden, der Zaboj. Der Henker hol' das Geld, aber Zaboj muß reich werden. Wird Gesetz machen, daß kein deutscher Räuber in Böhmen Land besitzen darf, nicht so viel, um sich dort begraben zu lassen, nicht so viel, um einen Stein aufheben zu dürfen, der ihm gehört. Und dann wollen wir den ganzen Wolfsberg von deinem Vater wieder an uns bringen, und viel Geld wird dein Vater nicht dafür bekommen. Die paar Steine in Steinbruch werden ganzen Wolfsberg bezahlen.«
Svatopluk lachte und schlug mit der Hand auf Antons Knie, daß es schmerzte.
»Meinen Vater werdet ihr nicht vertreiben, und mich auch nicht,« sagte der Jüngling ernsthaft. Unsere Familie ist seit vielen Geschlechtern in Blatna ansässig, viel länger als ihr. Und den Wolfsberg haben wir redlich erworben. Mein Vater hat sein ganzes Vermögen gewagt, um die erste Zuckerfabrik in Blatna zu bauen. Jetzt wird sie noch vergrößert, und wenn ich erst ausgelernt habe und ihm helfen kann, dann sollt ihr sehen, was deutsche Arbeit leisten kann. Und die ganze Stadt wird froh sein, daß wir dort aushalten, denn wir geben den Arbeitern zu leben.«
Svatopluk lachte höhnisch vor sich hin.
»Ich weiß, hat ganzes Vermögen gewagt und Fabrik jetzt noch vergrößert. Hat vergrößern müssen. Und es wird Tag kommen, wo ich mit dieser meiner Hand diesen frechen Spruch über eurer Tür werde herunterhauen.«
Svatopluk richtete sich dann plötzlich auf seinen Krücken zu seiner vollen Höhe empor und sagte:
»Ist ja alles nur Spaß! Gute Nacht, du deutsches Früchtel!«
Zaboj hielt nach dem Wunsche seines Vaters so lange im Konvikt aus, bis er die Maturitätsprüfung abgelegt hatte. Doch mit dem guten Zeugnisse in der Hand ließ er sofort die Maske noch in der Schulstube vor seinen ängstlichen und neidischen Genossen fallen. Er bekannte sich zu jeder freien Weltanschauung und verhöhnte die Theologie.
Ins Konvikt kehrte er nicht mehr zurück. Er fuhr nach Hause und wurde von dem Alten mit polternder Freude begrüßt.
Nur Katschenka weinte, daß ihr Bruder kein geistlicher Herr werden sollte. Sie hatte sich das so schön ausgedacht. Und der Kaplan drohte ihr und dem Vater mit Höllenstrafen, die den alten Hussiten wenig bekümmerten, das heranwachsende Mädchen aber in tiefster Seele erschreckten, so daß sie lange nichts Besseres zu tun wußte, als vor dem Gitter der Marienkapelle für das Seelenheil ihres Bruders zu beten.
Zaboj aber hatte seinen Hang zur Einsamkeit abgelegt. Stolz und übermütig streifte er umher, besuchte seine Altersgenossen, verkehrte in allen Wirtshäusern und ließ sich überall wie ein Held feiern, dafür, daß er auf Kosten der Pfaffen studiert und ihnen dann einen solchen Streich gespielt hatte. Das alles hinderte nicht, daß er nach einigen Wochen des Schmollens bei seinem Beschützer, dem Kaplan, freundliche Aufnahme fand und ihm wieder seine tschechischen Predigten verbesserte. Die Sprache wurde so schön und neumodisch, daß die tschechischen Bauern ihren Kaplan während der großen Ferien niemals recht verstanden. Die Deutschen verstanden ihn sowieso nicht.
Anton fand die Verhältnisse zu Hause nicht nach Wunsch, und er mußte oft an die Drohungen des alten Svatopluk denken. Sein Vater hielt ihn jetzt für verständig genug, um mit ihm über geschäftliche Dinge zu reden, und was der Jüngling da erfuhr, war ernst genug – zu ernst, um seine jugendliche Sorglosigkeit nicht zu trüben.
Er hatte sich die Fabrik seines Vaters fast als eine Liebhaberei desselben vorgestellt, als einen willkommenen Zeitvertreib, mit welchem man sich beschäftigt, weil es einem gerade Spaß macht. Nun erfuhr er von allen Sorgen, welche mit der Leitung verbunden waren. Er hatte sich den Wohlstand seines Vaters als eine Tatsache gedacht, die mit, all den hübschen Maschinen nicht das mindeste zu tun hätte. Nun erst wurde es ihm klar, daß jeder Gulden, den er ausgab, erst durch das Donnern des Räderwerks und das Prasseln des Kesselfeuers verdient wurde. Er blickte mit Bewunderung und Mitleid auf seinen Vater und nahm dessen Mitteilungen mit plötzlich gereifter Auffassung entgegen.
Der alte Svatopluk hatte recht gehabt: Gegenbauer wurde zur Vergrößerung seiner Anlagen gegen seinen Willen gezwungen.
Die Zeiten waren vorüber, in denen die ersten Zuckerfabriken des Landes bei verständiger Leitung einen sicheren Gewinn abwarfen. Die Rübenbauern waren schwieriger geworden und verkauften den Rohstoff nur zu höheren Preisen, während der Fabrikant durch den Kampf mit neuen Unternehmungen gezwungen war, seine Ware wohlfeiler abzugeben. In dieser Notlage halfen nur die größten und kostspieligsten Maschinen, welche imstande waren, der Rübe ihren ganzen Zuckergehalt bis auf den letzten Tropfen abzupressen und so die Ausbeute der Fabrikation zu erhöhen.
Wollte Gegenbauer in seinem Gewerbe nicht zurückgehen, so mußte er sich der neuen Erfindungen bemächtigen. Die Schwierigkeit war nur, daß diese vortrefflich ersonnenen Einrichtungen bloß im größten Maßstabe vorteilhaft waren und den Fabrikanten zwangen, sein Geschäft weit über die bisherigen Grenzen auszudehnen.
Eben jetzt war Gegenbauer mit der Aufstellung der Maschinen fertig geworden und ging tapfer der neuen Kampagne entgegen. Doch verschwieg er dem Sohne nicht, daß ihm mitunter in den stolzen Räumen bange wurde. Die Verträge mit den Bauern, welche zu bestimmten Preisen eine bestimmte Menge Rüben liefern sollten, konnten nicht auf eine so lange Reihe von Jahren geschlossen werden, wie der regelmäßige Betrieb eigentlich erfordert hätte. Auch war es ihm unbehaglich, daß auf den stattlichen Gebäuden nun schon wie anderswo Hypotheken standen. In seinen früheren einfachen Verhältnissen hatte er ohne fremdes Geld gewirtschaftet.
Durch die genauen Mitteilungen Gegenbauers klang oft der Wunsch hindurch, sich in seinem Sohne bald einen wackeren Arbeitsgehilfen heranzuziehen.
Anton war rasch entschlossen. Die Grundlage für eine technische Bildung hatte er gelegt, und so bat er den Vater, ihn sofort in die Lehre zu nehmen. Gegenbauer war herzlich froh, aber er riet doch dazu, daß Anton zuerst einige Jahre in einer fremden Fabrik arbeitete. Der Vater dachte dabei sowohl an seinen Sohn, der in so jugendlichem Alter noch nicht die volle Verantwortung eines Geschäftsmannes tragen sollte, als auch an die Fabrik, welche durch anderswo gesammelte Erfahrungen nur gewinnen konnte.
Sie schritten sogleich zur Ausführung des Planes. Eine passende Stellung für Anton war vom Vater schon früher in einer großen Fabrik Nieder-Österreichs in Aussicht genommen worden und wurde jetzt rasch gesichert.
Anton hatte wenige Abschiedsbesuche zu machen. Bei seinem Lehrer, einem noch jungen Manne, bei dem Arzte seines Vaters, bei dem alten deutschen Pfarrer und bei Zaboj. Dann konnte er abreisen.
Der Freund empfing ihn würdevoll und ließ ihn die Überlegenheit des künftigen Studenten fühlen.
»Du und dein Vater,« sagte er, »ihr habt wie alle Deutschen in Böhmen nur den Gelderwerb im Auge. Mag es euch wohlbekommen. Ich werde jetzt die Universität besuchen, und wenn wir uns wiedersehen, bin ich vielleicht schon Doktor. Ich werde euch Deutschen keine Ruhe geben, aber unsere Freundschaft kann dabei bestehen bleiben. Wie unser Dichter singt: Wenn die Gesinnung nur edel ist, die Wege können verschieden sein!«
Und sie drückten einander fest die Hand.
Am folgenden Abend reiste Anton ab. Die Britschka, ein gedeckter Einspänner, der den Jüngling zur Bahnstation nach Oberndorf bringen sollte, fuhr vom alten Familienhause auf dem Ring die Bergstraße hinauf, Vater und Sohn folgten langsam unter herzlichen Gesprächen. Als sie das »Trutzhaus« neben der Fabrik erreicht hatten, machte Gegenbauer dem Abschied ein Ende. »Du wirst auch noch lernen, daß die Arbeit den Schmerz überwindet,« sagte er weich. »Mich hat meine Tätigkeit schon größeren Kummer tragen lassen als dieses Lebewohl. Du bist ja brav und gesund und, so Gott will, sehen wir uns hier in zwei Jahren froh wieder. Bleibe brav.«
Der Vater ging rasch am Rande des Steinbruchs hin den neuen Gebäuden zu, und Anton stand allein. In feierlicher Stimmung ging er langsam weiter. Er fühlte, daß er mit dem heutigen Tage die Knabenzeit hinter sich ließ, daß er dem Vater das stille Versprechen gegeben hatte, von jetzt ab ein Mann zu sein.
Nach wenigen Schritten hörte er plötzlich hinter der Kapelle von einer frischen Stimme ein tschechisches Lied singen:
»In dem Wald auf wildem Klee Grast so ruhig das arme Reh! Und nur ich, ich soll entfliehen, Wenn ich meinen Jäger seh!«
Bei den letzten Worten brach die Sängerin mit einem plötzlichen Zittern des Tones ab. Anton erkannte den Vers und Katschenkas Stimme. Und jetzt erschien auch ihr rotes Kopftuch in der Dämmerung neben dem kleinen Gotteshäuschen. Anton wartete, daß sie zu ihm kam; als das rote Zeug aber wieder verschwand, stieg er rasch die wenigen Schritte der Böschung empor und stand bald vor dem Mädchen, das zusammengekauert auf den Stufen der Kapelle saß, die Schulter an die verrostete Gittertür gelehnt, und heftig weinte.
Anton redete sie an. Da sprang sie unter Tränen lachend auf, wischte sich mit der linken Hand die Augen und reichte ihm mit der Rechten ein Sträußchen von Reseda und Thymian.
»Hier!« rief sie dabei. »Du sollst etwas von mir auf die Reise mitnehmen.«
Anton war ihr herzlich dankbar, nahm aber doch nicht ohne Verlegenheit die Blumen in die Hand.
»Wie gut das riecht,« sagte er, und dann nach einer Pause, während sie ihn anlachte: »Ich danke dir viele Mal!« und wieder nach einer Pause, mit einem Versuche zu scherzen und dem Kinde gegenüber den Mann zu spielen:
»Du bist sehr groß für dein Alter, Katschenka, aber wenn wir uns wiedersehen, wirst du so groß sein wie ich, wirst ein Fräulein sein, und ich werde dich nicht wiedererkennen.«
»Er wird mich nicht wiedererkennen!« schrie Katschenka auf und schlug beide Hände vor die Augen.
»Sei doch nicht so dumm. Ich meine ja nur im ersten Augenblick, weil du ein so großes, schönes Fräulein sein wirst.«
Sie hatte jetzt gar nicht geweint. Mit glühenden Augen schaute sie ihn an und sagte leise wie mit einem Ausdruck halb kindlicher Freude:
»Ich werde ein großes, schönes Fräulein sein? Und du wirst mich wiedererkennen?«
Anton nickte mit dem Kopfe und strich ihr mit beiden Händen über das Haar. Sie hauchte: »Ach!« und hielt still. Als auch er innehielt und seine Hände linkisch auf dem aufgesteckten Zopfe ruhen ließ, stellte sie sich plötzlich auf die Fußspitzen, warf ihre Arme um seinen Nacken und rief aufgeregt:
»Versprich mir! Versprich mir, daß du im Österreichischen mit keinen anderen Kindern spielen wirst, und wenn du dort in einem Steinbruch ein so schönes Wasserbecken findest wie hier, so sollst du es keinem andern Mädchen sagen. Ich will es nicht! Du sollst es mir versprechen; und wenn du dort einen Freund hast, und er hat eine Schwester, so sollst du doch niemals mit ihr spielen, nicht Blindekuh und nichts, ich will es nicht, ich verbiete es dir! Und die Reseda und den Thymian mußt du aufbewahren. Ich habe ein Geheimnis! Ich werde es den Blumen ansehen, ob du mir gut geblieben bist oder nicht.«
Anton war ganz hilflos dem Ansturm des leidenschaftlichen Kindes gegenüber. Er versuchte sich leise von Katschenka loszumachen.
Sie hielt ihn immer fester. Da sagte er so hart als er konnte:
»Laß mich jetzt, die Britschka wartet.«
»Ich lasse dich nicht, bevor du mir nicht einen Kuß gegeben hast. Zum Abschied!« fügte sie hinzu. »Wir werden uns so lange nicht sehen.«
Und wieder schwammen ihre Augen in Tränen.
Anton gab ihr den Kuß ganz gern und hoffte auch frei zu kommen, wenn er ihr den Willen tat. So beugte er sich denn schüchtern nieder. Kaum aber hatte er ihre warmen Lippen berührt, als sie heftiger seinen Hals umschlang und ihm wilde Küsse auf den Mund drückte.
Dann faßte sie ihn wieder am Schopf und zerrte ihn, daß es schmerzte. Er fühlte ihren heißen Atem, und wieder umschlang sie ihn und küßte ihn.
Ganz bestürzt richtete sich Anton gerade in die Höhe. Sie aber ließ sich mit emporziehen, gab ihm noch, an seinem Halse hängend, einen langen Kuß, ließ sich endlich los und stand schnell atmend und mit lachenden Augen vor ihm.
»Das war ein schöner Abschied,« rief sie keuchend. Sie zupfte an ihrer Schürze und lief davon.
Anton sah ihr noch lange nach, wie ihr rotes Kopftuch durch die Dämmerung schimmerte und endlich verschwand. Dann sprang er auf die Landstraße zurück und schritt eilig bergauf, dem Wagen nach. Er war mit seinem Benehmen in der ersten Stunde seines Mannesalters nicht zufrieden.
Zwei Jahre sollte Anton in der Fremde bleiben. Als die Zeit jedoch vorüber war, wußte sein Vater immer neue Gründe zu finden, um den Sohn von der Heimat fern zu halten. Bald mußte Anton die Erfahrungen mit einem neuen Kessel erproben, bald die Wirkung, welche ein neuer Dungstoff auf die Rüben hatte, studieren. Und solche Untersuchung brauchte viel Zeit.
Seine wahren Absichten teilte Gegenbauer dem Sohne in seinen langen und sonst so offenen Briefen nicht mit. Denn mit dem Aussprechen seiner Befürchtungen hätte er das Übel leicht verschlimmert, wie er glaubte.
Die eine Sorge galt dem deutschen Sinne seines Anton. Man hatte den Vater in Blatna viel damit geneckt, daß sein Sohn von den Prokopischen zum Tschechentume bekehrt würde; den Freunden war weder der Umgang mit dem jugendlichen Fanatiker Zaboj noch mit der hübschen Katschenka erwünscht. Die Fälle waren nicht mehr selten, daß Kinder deutscher Eltern plötzlich ins slawische Lager übergingen, die fremde Sprache mühsam erlernten und sodann in unklarer Überspanntheit die Ziele der nationalen Gegner unterstützten. Schon hatte Anton einige slawische Verse singen und die tschechischen Bezeichnungen für einzelne alltägliche Dinge radebrechen gelernt, und schon beschäftigte er sich in Mußestunden mit schöngefärbten Darstellungen böhmischer Geschichte. Diesen Neigungen und dem Einfluß des Prokopischen Hauses hatte Gegenbauer nebenher ein Ende machen wollen, als er den Jüngling ins deutsche Österreich sandte.