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Veröffentlichungsjahr: 2025
Nicole Fiorina
Bone Island
Book of Danvers
(Tales of Weeping Hollow, Band 2)
BONE ISLAND: Book of Danvers
(Tales of Weeping Hollow, Band 2)
Deutsche Ausgabe © 2025 VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Lara Gathmann
Korrektorat: Désirée Kläschen und Annalena Ogrodnik
Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel
»Bone Island: Book of Danver (Tales of Weeping Hollow 2)«.
Vermittelt durch die Agentur:
WEAVER LITERARY AGENCY, 8291 W. COUNTY ROAD 00 NS., KOKOMO, IN 46901, USA
Umschlaggestaltung: OKAY CREATIONS
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz unter Verwendung von
Motiven von Canva
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Unser happily ever after
Diese Geschichte ist Liebenden gewidmet, deren Geschichte zu einem tragischen Ende gekommen ist. Hier ist das glückliche Ende, das ihr verdient.
»The boundaries which divide life from death are at best shadowy and vague. Who shall say where the one ends, and where the other begins?«
– Edgar Allan Poe
Hinweis
Bone Island: Book of Danvers ist das zweite Buch der Tales of Weeping Hollow Collection. Dieses Buch kann als Einzelband gelesen werden, aber für ein optimales Leseerlebnis empfiehlt es sich, die Bücher in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung zu lesen. Hollow Heathens: Book of Blackwell ist das erste Buch in dieser Reihe.
Bitte lest das Buch verantwortungsbewusst. Um alle inhaltlichen Warnungen zu sehen, besucht bitte nicolefiorina.com/contentwarnings
Diese Geschichte enthält häusliche Gewalt. Bitte denkt daran, dass jede Art von Missbrauch in Beziehungen, sei es emotional, verbal oder körperlich, niemals in Ordnung ist, egal welches Geschlecht die missbrauchende Person hat.
Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen«: 116 016
Hilfetelefon »Gewalt an Männern«: 0800 1239900
Den von Bone Island inspirierten Soundtrack findet ihr auf Spotify: https:/ /spoti.fi/3LncVKE
Vielen Dank und willkommen zurück in Weeping Hollow.
An meine loyalen, leidenschaftlichen Lesenden
März 2021 – Januar 2023
Es passiert, wenn ein Lied erklingt. Ihr wisst schon, die Songs, die wie Portale sind. Der erste Takt und plötzlich sind wir wieder Teenager, mit gebrochenem Herzen, verraten, mit dem Gefühl, dass nichts jemals besser werden wird. Oder wir sind wieder Teenager und wissen, dass wir komplette Idioten sind, die Fehler machen, während wir sie machen, weil wir uns einen Dreck um die Zukunft scheren, und diese Fehler werden zu den besten Geschichten. Das alles steckt in diesen Songs.
Ihr wisst, wovon ich spreche. Diese Lieder, die uns an eine bestimmte Person erinnern, die nicht mehr da ist, und plötzlich ist ihr Lächeln in unser Gedächtnis eingraviert und wir können nur noch den Schmerz sehen, der wieder auflebt, als wäre sie noch einmal gestorben. Der eine vergiftete Song, der uns absolut fertigmacht, aber wir spielen ihn trotzdem – in Dauerschleife –, weil er uns an sie erinnert. Denn wenn dieses Lied läuft, ist es, als wären sie da. Und wir sind zusammen, auch wenn wir es nicht sind.
Für mich ist das Under Pressure von Queen, es überfällt mich einfach.
Dann gibt es Songs, die uns eine ganze Jahreszeit schenken.
Wie jeden Sommer, den ich seit meinem sechzehnten Lebensjahr in Chicago verbracht habe. Und jedes Mal hat mich meine erste Liebe geküsst, als wäre kein weiteres Jahr vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Er küsste mich immer so, als gäbe es keine anderen, denn sie waren nur vorübergehend, um den Schmerz zu lindern, und wir waren für immer. Einmal nahm er mich nach Mitternacht in seinem roten Honda mit auf die I-290, wo wir beide auf die Lichter der Stadt zurasten. Pretty Ricky spielte, die Fenster waren heruntergelassen und ich war in seinen marineblauen Hoodie gehüllt. Alle paar Sekunden reflektierten braune Augen die Lichter des Armaturenbretts, wenn sie zu mir sahen, denn wir beide konnten unsere Augen nicht voneinander lassen. So wie wir auch unsere Hände nicht voneinander lassen konnten. Denn wir hatten nie genug Zeit. Wir werden es schaffen, das haben wir einander versprochen. Und wenn Your Body erklingt, erinnere ich mich an uns beide in seinem roten Honda vor dem Haus meiner Tante, in der Nacht, bevor ich wieder fahren musste. Wir weinten, klammerten uns aneinander und wollten nicht loslassen. Jedes Mal, wenn dieses Lied erklingt, erinnere ich mich daran, wie es sich anfühlt, von ganzem Herzen in einen Jungen verliebt zu sein, der mehr als tausend herzzerreißende Meilen entfernt lebt, und daran, dass wir es nie geschafft haben.
Oder an die Zeit im letzten Schuljahr mit meinem Highschool-Freund – der Junge, in den ich verknallt war, der Junge, der mich gebrochen hat, der Junge, der mich nie wirklich geliebt hat. Desperado war laut aufgedreht, damit seine Eltern uns nicht hörten, in seinem abgeschlossenen Schlafzimmer, als wir auf einer Matratze rummachten, die nie ein Laken hatte. Und Ushers Burn tönte aus den Lautsprechern meines Sunfires, wenn ich ihn morgens zur Schule fuhr, nachdem er mir wiederholt das Herz gebrochen hatte – ich war eine verdammte Idiotin. Dieser Song war voll aufgedreht, als ich nicht den Mut hatte, ihm zu sagen, wie er mich gebrochen hat. Und jedes Mal, wenn diese Lieder laufen, erinnere ich mich daran, wie es sich anfühlt, ausgenutzt zu werden, in einer Zeit, in der ich am verletzlichsten war.
Dann war da dieser eine Sommer mit neunzehn mit dem Typen, dem ich schwor, dass ich ihn eines Tages heiraten würde. I Wanna Love You von Akon dröhnte aus den Lautsprechern seines weißen Grand Ams, Sand klebte an unserer sonnengebräunten Haut, Haare klebten an meinen Wangen, der Juliwind war ein abgestandener, heißer Atem, als wir am Strand entlangfuhren. Die Hälfte der Zeit steckten wir im Sand fest, immer darauf wartend, dass Fremde uns herauszogen. Aber ich habe in meinem schwarzen Bikini getanzt, während wir gewartet haben. Und er hat mich geküsst, wenn niemand zusah. Jeder Kuss war salzig. Jeder Kuss schmeckte nach dem Alkohol, den wir an den Strand geschmuggelt hatten. Jeder Kuss zu gefährlich für ein Mädchen, das alles fühlte und zu leidenschaftlich für einen Jungen empfand, der nichts über Liebe wusste. Wir hatten Spaß, waren süchtig und konnten keinen Tag ohne den anderen verbringen. Damals hat keiner von uns beiden wirklich daran geglaubt, dass wir eines Tages heiraten würden. Und jetzt erinnere ich mich jedes Mal, wenn Akon auftritt, daran, wie es sich angefühlt hat, mich in meinen besten Freund zu verlieben. Vor den Kindern, bevor der Tod uns bestohlen hat, vor den Schwierigkeiten, die wir gemeinsam durchgestanden haben. Als wir noch sorglos, unverantwortlich und wild waren.
Ich glaube, dass Momente, wenn sie stark genug sind, einen emotionalen Abdruck auf allen Dingen im Universum hinterlassen können, der sich an ein Lied, einen Geruch, einen Windhauch heftet. Und wie ein Lied wird auch ein Buch zu einer Zeitkapsel dieser Kapitel im Leben eines Autors. Die Figuren, von denen einige ein direktes Spiegelbild von uns sind, andere, in die wir uns unbewusst hineinversetzen, Szenen aus Situationen, von denen wir uns wünschten, sie wären anders verlaufen, die rohen, gigantischen Emotionen, die aus uns herausfließen und zum Blut unserer Figuren werden, unsere Ängste, die in ihrem Mark stecken, unsere Verzweiflung, ihre Tränen. Ich fürchte mich vor dem Mädchen, das ich war, als dieses Buch geschrieben wurde, und vor dem, was sie mit mir gemacht hat. Im Gegenzug habe ich mein Herz in meine Figuren gesteckt und sie gezwungen, all die Dinge auf sich zu nehmen, die zu schwer waren, damit ich es nicht tun musste. In der Hoffnung, dass, wenn ich nur noch ein einziges Wort mehr schreiben könnte, dies alles wäre, was es bräuchte, um all den Herzschmerz, das Bedauern und die Unsicherheiten zu überwinden.
In der Verzweiflung steckt ein grässlicher Schmerz. Ein Phantomschmerz. Für mich kam er in Form einer Kette von Wörtern auf einem Bildschirm und diese Geschichte saugte mich auf, bis ich zu Staub wurde, und hauchte mich dann in Stücken wieder aus. Wie jedes Buch, das ich bis jetzt geschrieben habe, ist auch dieses ein weiterer nostalgischer Stempel, den ich dem Universum aufdrücke. Das Lied, das mich an den tiefen Schmerz erinnern wird, etwas so sehr zu wollen, das niemals mein sein kann. Zumindest nicht dieses Mal.
Ich bin schon darauf vorbereitet, dass es jedes Mal schmerzen wird, wenn Bone Island zur Sprache kommt. Und in Wahrheit ist dies und die einfache Tatsache, dass ich Angst vor dieser Geschichte habe, der Grund, warum ich glaube, dass es so lange gedauert hat.
Ein Grund dafür, dass ich es geschafft habe, dieses Buch durchzustehen, war das Bedürfnis, es für diese eine bestimmte Person in die Welt zu setzen. Ein andere war die NF-Gang – meine beständigen, leidenschaftlichen, verzeihenden Lesenden – und der Gedanke, dass sie meine Hand halten, indem sie dieses Buch in den Händen halten, mit jedem Umblättern der Seite Zeit mit mir verbringen, mit mir auf ein Date gehen, wir gemeinsam fliehen, indem wir unsere Umgebung verlassen.
Wir haben das immer gemeinsam gemacht, wir alle. Auch wenn wir meilenweit voneinander entfernt waren.
Und jetzt können wir endlich sagen: Wir haben es geschafft.
Also, hol dir einen Kaffee, bevor du meine Hand nimmst, und mach dich auf das kleine Abenteuer gefasst, das ich für uns geschaffen habe. Es wird langsame Abschnitte geben: ein Nieselregen, ein leiser Schneefall. Diese sind beabsichtigt. Es wird aber auch tosende Wellen, Kehlen voller Dolche und Seiten voller Blut geben. Vielleicht kommt sogar ein Punkt, an dem ihr nicht mehr wisst, worum es geht, aber ich verspreche, dass am Ende alles einen Sinn ergibt … oder vielleicht beim zweiten Lesen. Und ich hoffe, dass ich dich irgendwo auf Bone Island oder in Weeping Hollow zum Lachen bringen kann, denn ohne Lachen gibt es keine Liebe.
Nun, da wir endlich hier sind, habe ich noch eine letzte Frage an dich:
Bist du bereit, mit mir auf ein Date zu gehen?
Voller Liebe,
Nicole
»Words have no power to impress the mind without the exquisite horror of their reality.«
– Edgar Allan Poe
Die Gründerfamilien
Norse Woods-Zirkel
Hohepriester Clarence Goody
Danvers
Element Erde – Ursprung: Jord
Aktuell: Stone Danvers
Sohn von Foster Danvers (verstorben) und Clarice Woolf Danvers (verstorben)
Blackwell
Element Geist – Ursprung: Vaettir
Aktuell: Julian Jai Blackwell
Bruder von Jolie Blackwell; Sohn von Javino Blackwell (verstorben) und Agatha Blackwell; Vorfahren: Horace Blackwell & Bellamy Blackwell.
Wildes
Element Feuer – Ursprung: Loki
Aktuell: Phoenix Loki Wildes
Bruder von Wren Wildes; Sohn von Hayden Wildes (verstorben) und Amelia Ander Wildes; Vorfahren: Kyden Wildes
Goody
Element Luft – Ursprung: Njord
Aktuell: Zephyr Blue Goody
Bruder von Winnifred Goody; Sohn von Clarence Goody und Beatrix Ricci Goody (verstorben)
Parish
Element Wasser – Ursprung: Aegir
Aktuell: Beckham Brooks Parish
Sohn von Earl Parish und einer unbekannten Flachländerin (verstorben)
Sacred Sea-Zirkel
Hohepriester Augustine Pruitt
Pruitt
Aktuell: Kane Kos Pruitt
Bruder von Koraline Pruitt; Sohn von Augustine Pruitt und Ginevra DeLuca Pruitt (verstorben)
Cantini
Aktuell: Cyrus Olen Cantini
Bruder von Camora, Kaser, & Cillian Cantini; Sohn von Darnell Cantini und Viola Conti Cantini; Vorfahren: Matteo Cantini
Sullivan
Aktuell: Ivy Amaya Sullivan
Adora Oria Sullivan: Nichtmitglied; Aufnahme steht noch aus
Fable Hazel Sullivan: Nichtmitglied; Aufnahme steht noch aus
Töchter von Ronan Sullivan und Marcelline O'Connor Sullivan
Der Orden von Weeping Hollow
Vom Sacred Sea
Augustine Pruitt
Viola Cantini
Vom Norse Woods
Clarence Goody
Agatha Blackwell
Von den Flachländern
Mina Mae Lavenza
The Heathen & The Siren
Sie wurde im Ozean geboren,
Ihr Herz ein aufregendes Meer,
Tränen gebrochener Liebender,
Darum bettelnd, befreit zu werden.
Mit Smaragden in ihren Augen,
Eine scharfe Klinge in ihrem Geist,
Sie von sündhafter Schönheit;
Der verlorene Junge blind.
Sie sang mit so süßem Kummer,
Rief nach dir
Und zog ihn in die Tiefe.
Ein kalter Kuss in sternenklaren Meeren.
Diese Liebe war verboten,
Entfesselung der Melancholie
Unter peitschenden Wassern,
Als wären sie befreit worden.
Sie sehnte sich nach Flucht,
Er sehnte sich nach Rettung;
Zwei stille, durstige Herzen,
Bis sie beide ertranken.
Ich habe dichbeobachtet.
Du warst eine Weile weg oder vielleicht bist du nie gegangen.
Ich erinnere mich, dass ich dich auf dem Marktplatz gesehen habe, wie du die Bürger beobachtet hast. Du hast meine Nachbarn beobachtet. Du hast uns alle beobachtet und du hast wahrscheinlich nicht erwartet, dass dich jemand beobachtet.
Aber ich bemerke dich. Ich bemerke dich immer.
Du kamst etwa zur gleichen Zeit, als Fallon nach Weeping Hollow zurückgekehrt ist.
Sie hat die Dinge wirklich auf den Kopf gestellt, nicht wahr?
Sei nicht schüchtern, komm aus dem Schatten.
Lass mich dich umarmen. Es ist schon eine Weile her.
Pass auf, wo du hintrittst. Gus Hobb sollte das Loch im Bürgersteig schon vor Wochen reparieren. Augustine Pruitt, Hohepriester von Sacred Sea und amtierender Bürgermeister, wenn man so will, hat diesen unausstehlichen Schwätzer zu seinem Laufburschen gemacht. Während eines Sturms vor ein paar Monaten ist ein Ast durch Gus’ Schaufenster geschlagen und hat ihn in Schulden gestürzt. Die Arbeit für Augustine ist die einzige Möglichkeit, seinen Supermarkt wiederzubekommen. Gelegenheitsjobs hier und da. Du hast Gus schon mal gesehen, das weiß ich. Er ist der mürrische, humpelnde Kerl, der flucht, dass sich die Welt gegen ihn verschworen hat.
Das passiert, wenn man sein Glas als halb leer ansieht. Jeder hat es auf dich abgesehen, wenn du von einer negativen Denkweise eingenommen bist. Und Gus Hobb spart immer an allen Ecken und Enden und sucht nach Almosen. Wenn man in seinem Leben immer Abkürzungen nimmt, wird es einen einholen, wie es bei Gus der Fall war, aber er lernt es nie. Hör auf meinen Rat. Wenn Geld leicht und schnell zu haben ist, ist es nicht von Dauer.
Bitte sehr, komm herein.
Es ist schön, drinnen zu sein, nicht wahr? Der Winter ist da, es ist fast Dezember, und weißt du, was das bedeutet? Der Gründertag steht vor der Tür, mit dem alljährlichen Anzünden des Feuers auf dem Marktplatz und dem alljährlichen Ball im Herrenhaus der Cantinis. Das ist richtig. Der Gründertag ist nur noch wenige Wochen entfernt und ich kann es kaum erwarten, dass du siehst, was wir auf Lager haben!
Es ist kalt da draußen. Ich schließe die Tür, bevor der Schnee zurückkommt.
Ich habe dich noch nie im Laden gesehen.
Willkommen im The Strange & Unusual Bookstore!
Und lass dich nicht vom Namen dieses Ortes abschrecken. Seltsames und Ungewöhnliches ist hier die Norm und wir möchten, dass du eine Weile bleibst. So lange, wie es diese Stadt zulässt.
Ich werde ein Feuer machen und eine Tasse Kaffee kochen. Mach es dir ruhig gemütlich. Setz dich auf die Couch vor dem Kamin. Das, was du anhast, hilft in dieser Jahreszeit nicht gegen die Kälte. Schnapp dir eine zusätzliche Decke. Da drüben ist eine.
An deiner Stelle würde ich zur Oh My Stars Boutiquerübergehen und mir etwas Wärmeres kaufen, wenn der Schnee aufhört. Adora Sullivan hat ein Auge für Design. Sie wird dir etwas nach Maß anfertigen. Und du wirst ihre Kleidung nirgendwo anders finden. Ich würde ja sagen, sie ist Weeping Hollows bestgehütetes Geheimnis, aber, wie du siehst, ist alles ein bestgehütetes Geheimnis, wenn die ganze Stadt eines ist.
Wie hast du uns überhaupt gefunden? Wie bist du überhaupt reingekommen?
Hier ist es anders. Der Dezember ist fast da, was eigentlich keinen Unterschied machen sollte. Die Flachländer sollten herumlaufen, als ob der Herbst nie gegangen wäre, aber Weeping Hollow ist eine Geisterstadt, verloren in einem strengen Winter. Als wären wir in einer Schneekugel gefangen.
Oh, das erinnert mich an etwas. Magst du Zucker in deinem Kaffee?
Natürlich tust du das. Jeder, der so ein süßes Gesicht hat wie du, will Zucker.
Es bringt mich immer zum Lachen, wenn Mina Mae vom Diner fragt: »Willst du Kaffee zu deinem Zucker?« Ich sag dir was, das einzig Gute in dieser Stadt sind die Hotcakes von dieser Frau. Sie macht sie genau richtig, jedes Mal. Fluffig und mit Butter durchtränkt, mit knusprigen Rändern. Man könnte meinen, sie sei eine Hexe, weil sie so köstliche Pfannkuchen backen kann, aber Mina Mae ist nichts weiter als eine Flachländerin und eine verdammt gute Köchin.
Wenn ich ehrlich bin, hat sich der Sirup im Laufe der Jahre verändert. Zum Guten oder zum Schlechten? Niemand will es zugeben. Nicht einmal ich. Das Tratschtrio vor dem Fenster, das auf der Bank neben dem Pavillon sitzt, in seinen Marshmallow-Mänteln und bauschigen Ohrenschützern, würde dir erzählen, dass sie einen Deal mit einem Heathen gemacht hat. Die gute Fee von Weeping Hollow hat aufgehört, Pruitts Ahornsirup zu verwenden und jetzt gießen wir Goody Farms über unsere Hotcakes. Sie tuscheln immer darüber, zwischen abschätzigen Blicken und irgendwelchem Blödsinn, aber Mina wird es leugnen, leugnen, leugnen. Einige sind sogar so weit gegangen, das Diner zu boykottieren. Aber man sieht sie trotzdem bei Mina Maes, wo sie sich unter Kapuzen verstecken und ihre Pfannkuchen essen, weil niemand ihnen widerstehen kann.
Mina Mae ist eine von den Guten.
Oh, das gefällt dir, ja? Dann pass jetzt auf. Diese Spieldose ist älter als deine Seele. Es gibt viele Dinge, die ich im Laufe der Jahre gesammelt habe, aber die, die du in der Hand hältst, ist etwas ganz Besonderes. Sie gehörte einer Hexe namens Circe. Zieh sie auf und halte sie an dein Ohr. Hör genau zu.
Hast du das gehört?
Ein so unheimlicher und doch hypnotisierender Klang.
Aber Vorsicht. Wenn du zu lange zuhörst, verblasst alles um dich herum und du verlierst dich darin. Besser noch, ich lege es weg. Es ist sowieso nicht zu verkaufen.
Dieses Buch? Auch nicht zu verkaufen.
Nun, wenn du es wissen willst, komm her und ich erzähle es dir.
Noch ein bisschen näher.
Näher …
Dieses Buch enthält alle Antworten, um den Fluch des Verbotenen Mädchens zu brechen.
Verdreh nicht die Augen, ich sage dir, dass es so ist. Ich habe das Buch viele Male gelesen.
Zwischen den Seiten sind Hinweise versteckt, aber ich konnte sie nie herausfinden.
Schau! Dort drüben, durch das Fenster und über den Stadtplatz.
Officer Stoker steht jeden Morgen zwischen neun und zwölf Uhr auf den verdammten Stufen des Rathauses. Das Polizeirevier ist zu klein, um den täglichen Andrang zu bewältigen, und der Andrang wird mit jedem Tag größer und größer. Von hier aus sieht Officer Stoker wie ein angesehener Mann mit einem klugen Kopf auf den Schultern aus, aber andere würden dir etwas anderes sagen. Er ist so nutzlos wie das O in Tour oder ein Grabräuber in einem Krematorium.
Nein, Carrie Driscoll ist nicht mehr hier, aber ich habe das Gefühl, dass du bereits weißt, was mit der mysteriösen Blondine passiert ist, die dem Sacred Sea nahestand. Es ist eine Schande. Sie war eine junge, schöne Frau, die aus der Stadt verschwand, genau wie River Harrison.
Nun, komm her und ich verrate dir ein Geheimnis.
Ein Hollow Heathen hat sie beide getötet, bevor er ihre Leichen verbrannt und ihre Asche in der Stadt verstreut hat. Hey, du musst mir nicht glauben, wenn du nicht willst, aber du könntest es selbst herausfinden. Du müsstest in der Zeit zurückreisen, zu einer anderen Erzählung, einer anderen Geschichte. Aber ich muss dich warnen, die Zeit ist hier ein bisschen kompliziert.
Apropos Zeit: Niemandem fällt es auf, aber Kioni Ali – die junge Künstlerin, die bei Veranstaltungen im Glückszelt ihrer Großmutter Bilder verkauft – hat die Häuserwände mit Graffiti beschmiert. Einmal hat sie ein Mottenwandbild auf die Backsteinmauer des Eisenwarenladens gemalt und Jeremy Clayton hat es mit einer neuen Schicht weißer Farbe überdeckt. Jeremy ist der Besitzer des Eisenwarenladens, der im September seine Tochter Beth Clayton verloren hat. Und nicht lange danach ist die süße Beth gestorben. Jeder weiß, dass diese Motten den Tod bringen, und wenn ich es nicht besser wüsste, hat Kioni versucht, ihn zu warnen.
Bald darauf kam sie zurück und malte einen Strauß schwarzer Luftballons mit einem Zitat, an das ich mich nicht erinnern kann, an die Mauer. Er machte sich damals nicht die Mühe, sie neu zu bemalen, weil es ihn nicht interessiert hat.
Das Gemälde ist bis heute erhalten geblieben. Wenn du die Gelegenheit hast, geh beim Eisenwarenladen vorbei und sieh es dir selbst an. Und bevor du fragst: Ich weiß, dass es Kioni war. Ich sehe sie diese Dinge tun. Ich sehe hier alles.
Ah! Du fragst nach der letzten Ausgabe von The Daily Hollow.
Die Dinge haben sich geändert, findest du nicht auch?
Nachdem der Fluch der Heathen gebrochen war, wurden alle nächtlichen Zusammenkünfte abgesehen vom Gründertag abgesagt. Ohne laute Musik, gute Stimmung und Mina Maes Poisoned Apple Cider, der die Straßen überschwemmt, gibt es nicht viel anderes zu besprechen als den Tod von Stadtbewohnern. Sicher, in den letzten Monaten sind viele Menschen gestorben, mehr als sonst, aber das hier ist anders.
Unsere Tage sind kürzer, die Nächte länger.
Es ist auch nicht die übliche Winterdepression.
Es ist etwas anderes.
Wenn die Sonne gegen drei Uhr nachts untergeht, sind die Straßen verlassen und der Marktplatz ist menschenleer. Die Fensterläden sind geschlossen, die Türen verriegelt, was nicht viel zur Sicherheit der Stadtbewohner beiträgt. Trotzdem ist es besser, als ganz allein draußen zu zurückbleiben. Wer es nicht vor Einbruch der Dunkelheit ins Haus schafft, ist auf sich allein gestellt und niemand will zurückbleiben.
In Jahrzehnten wird diese Sache, die sich in unserer Heimatstadt abspielt, in den Geschichtsbüchern für künftige Generationen zu lesen sein.
Die Panik begann an dem Tag, an dem der Heathen, Julian Blackwell, den Fluch der Hollow Heathen brach. Der Fluch, der ihre Gesichter Generation über Generation verborgen hielt. Denn darunter sah man nur seine eigene größte Angst, die einem das Herz stehenbleiben ließ.
Er hätte Fallon und sich selbst fast umgebracht. Manche sagen, er hätte Fallon von der Klippe gestoßen und sie hätte ihn mit hinuntergerissen. Andere sagen, er sei ihr hinterhergesprungen, aber du und ich wissen, dass der Heathen für das Mondmädchen sterben würde. Wir waren beide an diesem Tag an den Klippen. Zumindest glaube ich, dich dort gesehen zu haben, aber du siehst jetzt etwas anders aus. Hast du dir die Haare geschnitten?
Wie auch immer, du weißt ja, was man über Verschwörungstheorien sagt. Sie sind nur wahr, wenn man sie glaubt. Und Julian hat den Fluch gebrochen, indem er Fallon wieder zum Leben erweckt und diese Stadt mit dem Herzschlag des Mondes wiederbelebt hat.
Ah, darauf hast du die ganze Zeit gewartet? Du wolltest wissen, ob der Fluch gebrochen ist. Du hättest nur fragen müssen.
Der Fluch ist gebrochen, aber du wirst die Heathens nicht ohne Maske herumlaufen sehen. Du wirst sie überhaupt nicht herumlaufen sehen. Niemand hat sie gesehen, außer dem Orden. Sie hielten an diesem Tag eine geschlossene Sitzung ab und nur der Orden, vier Hollow Heathen – Zephyr fehlte – und Fallon waren dabei.
Nun, ich war auch bei dem Treffen, aber niemand hat mich gesehen. Und ich sollte dir das nicht sagen, aber Julian Blackwell verhielt sich, als ob er etwas verbergen würde. Als ob er jemanden beschützen würde.
Du weißt mehr, als man sich wünschen würde, schleichst immer zwischen den Gebäuden herum und spionierst die Stadtbewohner aus, als wären wir Seiten eines Buches. Wenn ich alle Antworten wüsste, würde ich es dir nicht sagen. Und du solltest auch schweigen. Geheimnisse sind hier wie eine Währung. Je mehr man weiß, desto reicher ist man. Wenn du verrätst, was du in der Tasche hast, wirst du nutzlos und giltst als unzuverlässig. Wenn du deinen Mund hältst, bist du sicher. Wenn du redest, wirst du vielleicht sogar als Spinner bezeichnet und niemand wird dir glauben. Sieh dir an, was mit dem verrückten Jasper passiert ist.
Obwohl ich es zugeben muss. Du bist jetzt seit ein paar Monaten hier.
Ob es dir gefällt oder nicht, du bist einer von uns.
Ich werde dir anvertrauen, dass Augustine Julian Blackwell sagte, dass er für seine Verbrechen begnadigt werden würde, wenn er den Fluch bräche. Augustine konnte den Mangel an Zuversicht in seinem Gesicht nicht verbergen. Niemand hatte geglaubt, dass er es schaffen würde. Aber trotz alledem brach Julian den Fluch.
Daraufhin hatte Augustine keine andere Wahl, als Julian die Freiheit zu gewähren. Der Orden kann sein Wort nicht brechen.
Und indem er den Fluch brach, ist Julian dem Wicker Man entgangen. Er hat das geschafft, was niemandem sonst gelungen ist. Allerdings wird er sich damit nicht rühmen, vor allem nicht nach allem, was seitdem passiert ist.
Die Heathens sind untergetaucht.
Und Fallon Morgan heißt jetzt Fallon Grimaldi, sie hat Bennys Nachnamen angenommen. Sie arbeitet immer noch im St. Christopher’s Funeral Home.
Geneva, eine junge, wild entschlossene Journalistin, die frisch von der Hochschule kam, drängte Fallon an der Kreuzung von Bram Boulevard und Main in die Enge und fragte sie nach dem Vorfall an der Klippe vor ein paar Wochen. Fallon hielt sich bedeckt. Dem Artikel in The Daily Hollow zufolge unterstützt Fallon den Norse-Woods-Zirkel voll und ganz, auch wenn sie noch nicht offiziell aufgenommen wurde.
Wenn Fallon so ist wie ihre Mutter, wird auch sie eine Einzelgängerin.
Seit der Fluch gebrochen ist, sind die tapferen Frühaufsteher, die es durch die Nacht und zu The Bean geschafft haben, um halb zehn schon high vom Wicked Death Wish. Sie erwischen Fallon dabei, wie sie den Leichenwagen die Main Street auf und ab fährt, um das Ergebnis der schrecklichen Stunden der Nacht einzusammeln – Menschen, die ihr Leben verloren haben.
Wenn du dachtest, der Fluch könnte ohne Konsequenzen gebrochen werden, hast du dich getäuscht. Es gibt immer eine Konsequenz – ein Gleichgewicht.
Die Schatten, die in den Gesichtern dieser Heathens gelebt haben, mussten irgendwohin und das Mondmädchen ist schon seit Wochen damit beschäftigt, ihre tödliche Spur zu verfolgen.
Was sind die Schatten, fragst du?
Erinnerst du dich, dass ich davon gesprochen habe, dass die Tage kürzer und die Nächte länger werden, dass die Bürger ihre Türen nachts verschließen und dass die Stadt vom Tod umgeben ist? Bei nur sechs Stunden Tageslicht verbringen wir achtzehn grausame Stunden damit, die Schatten zu bekämpfen – fünf geisterhafte Silhouetten, die in unserer versteckten Küstenstadt freigelassen wurden, nachdem sie die Gesichter der Heathens verlassen hatten. Manche sagen, dass sie für die nächtlichen Stromausfälle und die Zeitverschiebungen verantwortlich seien, die wir in letzter Zeit erlebt haben.
Wir haben uns alle geirrt, als wir dachten, das Brechen des Fluchs würde die Hexenzirkel zusammenführen. Die Stadt ist gespaltener denn je. Den Fluch der Hollow Heathens zu brechen, war nur der Anfang.
Du kannst von Glück reden, dass du den Schatten noch nicht begegnet bist. Niemand überlebt die erste Begegnung und die Verzweiflung der Schatten macht sich breit und befleckt diese Stadt.
Man kann sie auch nicht töten.
Sie schleichen sich im Dunkeln an, auf der Lauer, bis der Moment kommt, in dem man sich in Sicherheit wähnt. Sie jagen dich wie ein wirbelndes schwarzes Raubtier und verfolgen dich, bis du deine Augen nicht mehr offen halten kannst. Und sobald du deine Augen schließt, ist die Welt vergessen. Nur noch Dunkelheit. Wenn du deine Augen schließt, bist du ganz allein, auch wenn du es nicht bist. Das, mein Freund, ist der Moment, in dem sie zuschlagen, egal ob es sich um einen Traum oder einen Albtraum handelt.
Das ist alles, was wir bisher wissen.
Lass dir gesagt sein: Sei nicht dumm. Schlafe mit beiden Augen offen.
Wenn du bisher dachtest, dass die Stadt in Angst lebt, hast du noch gar nichts gesehen.
Ach, sieh dir das an! Der Schnee hat gerade noch rechtzeitig aufgehört.
Du solltest dich beeilen, bevor er zurückkommt, aber nimm nicht die Vordertür. Geh durch die schwarze Tür hinten, zwischen den beiden Bücherregalen. Ich verspreche, dass wir uns wiedersehen werden. In der Zwischenzeit sollte dieses Gespräch zwischen dir und mir ein kleines Geheimnis bleiben.
Mein Name?
Oh, du kennst meinen Namen, mein Schatz. Du hast ihn schon mal gehört. Ich bin Freddy in the Mournin’.
Weeping Hollow Nacht vom 4. November 2020 Norse Woods
Die Nacht kam schneller, als sie sollte, und hohe, dünne Baumstämme knarrten im Wind unter einem gähnend grauen Himmel. Julian Blackwell näherte sich der Mitte des Waldes, zwei silberne Augen blickten nach oben und beobachteten, wie die Sonne mit einer unglaublichen Raschheit unterging. Der Sturm von vorhin hatte sich verzogen und einen mondhellen Nieselregen zurückgelassen.
Julian stand unter dem sich verdunkelnden Himmel und begrüßte den Regen.
Die bitterkalten Tropfen glitten über seine Wangen. Jeder einzelne ließ ihn frösteln, eine Erinnerung an seine Vergangenheit und eine Vergebung für seine Sünden. Eine Erinnerung daran, was er getan hatte und nicht ungeschehen machen konnte, aber dennoch Vergebung.
An diesem Tag hatte er das Unvorstellbare vollbracht. Er hatte den Fluch der Hollow Heathens gebrochen.
Und an seiner Seite nahm Fallon seine Hand.
Zum ersten Mal hatte sie ihren Tag damit verbracht, das Gesicht des Heathen zu bewundern, in den sie sich verliebt hatte. Die Farbe von Mitternacht in seinem Haar, die silbernen Augen, die starken Wangenknochen, die gerade Nase, die Falte zwischen den Brauen. Aber das Lächeln war kurz, denn die Nacht stand bevor.
»Irgendetwas passiert«, flüsterte sie und starrte in denselben ahnungsvollen Himmel. Julian brauchte nicht zu antworten, aber seine Falte vertiefte sich, wodurch Fallons Sorge noch größer wurde.
Erst an diesem Morgen hatten sie den Fluch gebrochen, der sie seit Jahrhunderten verfolgte. Es schien, als hätten sie keine Gelegenheit, sich an der guten Nachricht zu erfreuen, bevor etwas anderes, etwas Unheimliches, um sie herum geschah.
Dann ertönte ein Schrei aus den Ästen der Bäume und erregte ihre Aufmerksamkeit.
Julian betrachtete Fallon mit panischem Blick, dann zerrte er an ihrer Hand und sie rannten durch den Wald davon.
Die Kälte des Novembers schlug ihnen ins Gesicht, während der Nachtwind an ihnen vorbeirauschte. Am Rande des Waldes blieben Julian und Fallon abrupt stehen.
Beide standen vor einer verängstigten Mrs. Edwin, die auf dem Boden lag. Beck Parish war nur wenige Meter entfernt, eine angsterfüllte Gestalt im Hintergrund. Mrs. Edwins Augen waren rund und weit aufgerissen, als hätte ein Stromschlag sie getroffen, die Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Die Panik umklammerte sie an Armen und Beinen. Sie konnte nicht aufstehen, sie konnte nicht rennen. Sie konnte sich überhaupt nicht bewegen. Fünf schattenhafte Gestalten umgaben sie und hielten sie in ihrem Kreis. Ihre Gliedmaßen waren wie düsterer, flüssiger Rauch. Sie waren groß, dünn und wiegten sich in der scharfen, eisigen Brise.
Mrs. Edwins Schreie hallten wider und rissen Julian aus seiner Erstarrung.
Er zog Fallon hinter sich und mit angsterfülltem Blick beobachteten sie, wie die seltsamen Gestalten sich der älteren Frau näherten.
»Julian, tu etwas!«, rief Beck von der anderen Seite, in seiner Stimme schwangen zitternde Emotionen mit. Seine wässrigen Augen huschten zwischen Julian und der Bedrohung, die seine Wächterin umgab, hin und her.
Julian bemerkte die Verzweiflung, die sich in Beck ausbreitete, und konnte nicht verhindern, dass sie auch ihn verzehrte. Wenn er nicht schnell etwas unternahm, könnten Fallon oder Beck die Nächsten sein, und dieser Gedanke ließ einen Blitz derselben Verzweiflung durch ihn hindurchschießen.
Mit einer kraftvollen Faust stieß Julian einen markerschütternden Schrei aus, sank auf ein Knie und schlug in den Waldboden. Die Erde bebte unter ihnen, während der ohrenbetäubende Schrei nicht aufhörte.
Beck krümmte sich, hielt sich die Ohren mit den Händen zu und schloss die Augen.
Julians Schrei fühlte sich an, als würde er sich in sein Gehirn krallen. Wie gezackte Zähne, die an seinen Knochen sägten.
Dann, als alles wieder still wurde, verschwanden die fünf Schatten wie Nebel in der Nacht und hinterließen nichts als tintenverschmierte Erinnerungen.
In einem zerstörten Kreis – das Laub war weggeweht und alles, was übrig blieb, war Schmutz – lag Mrs. Edwin mit bleichem, weißem Gesicht, tot.
Beck sprintete zu ihr, schlitterte über den Boden zu der Stelle, an der sie lag, und nahm ihren Körper in seine Arme.
Julian stolperte rückwärts. Alle Kraft war aus ihm gewichen.
Einer nach dem anderen erschienen andere aus dem Norse-Woods-Zirkel, darunter auch Mr. Edwin und Josephine, ihre Tochter.
Heulend schrie Mr. Edwin auf und schüttelte den Kopf. »Nein!«
Fallon stand wie erstarrt da und hielt sich mit beiden Händen den Mund zu. Die Tränen stauten sich in ihren Augen, zu schockiert, um herauszurinnen.
Phoenix Wildes kam an und sank vor dem desorientierten Julian zu Boden, der geschwächt auf den Knien blieb. Er griff nach Julians Kiefer, um den Ausdruck in seinen Augen einzuschätzen, aber ein düsteres Gesicht starrte ihm entgegen.
Julians Ausdruck lähmte Phoenix. Er war es nicht gewohnt, Julians wahres Gesicht zu sehen. Das war noch neu für ihn – für sie alle vier.
»Was ist passiert?«, fragte Phoenix, wobei sich Verzweiflung in seine Worte schlich. Julian schwieg, er verarbeitete noch immer, was er gesehen hatte.
»Julian!«, rief er, diesmal lauter und mit Schrecken in den Augen.
»Ich weiß es nicht«, krächzte Julian und ließ seinen Blick auf der Suche nach Antworten durch den Wald schweifen. Er ließ sich auf seine Handfläche zurückfallen, die schattenhaften Gestalten brannten ein Loch in sein Gedächtnis. »Ich habe es versucht. Ich habe es versucht, aber ich war zu spät«, sagte er unter seiner Angst hervor, dann richtete er seinen entsetzten Blick auf Phoenix. »Es scheint, als hätte ich damit, dass ich den Fluch gebrochen habe, der in uns gefangen war, all unsere Monster befreit.«
Mitglieder des Norse Woods versammelten sich, darunter Agatha Blackwell, ein dicker Zopf fiel ihr bis zur Taille. Sie legte eine Hand auf Julians Schulter. »Was auch immer es war, es wird zurückkommen«, sagte sie zu ihrem Sohn und versuchte, alle Emotionen auf ihrem Gesicht zu verbergen. »Ich habe das starke Gefühl, dass dies erst der Anfang ist.«
Agatha drehte sich zu dem anderen Heathens um und erkannte Phoenix ohne seine Maske zunächst nicht. Doch als Phoenix’ goldene Augen in vertrauter Qual aufloderten, schmolz ihr Herz.
Ihr Blick wanderte über sein Gesicht, sein schmales Kinn, die zwei Sommersprossen unter seinen Augen und die Falte zwischen seinen Augenbrauen. Sie sah in ihm den Jungen, den sie seit dem Tod von Phoenix’ Mutter immer wie einen Sohn behandelt hatte.
Phoenix wandte sich von ihr ab. »Wir müssen Zephyr finden. Keiner hat ihn gesehen, seit der Fluch gebrochen wurde.« Sein feuriger Blick glitt über das Gelände des Norse Woods. Die Menschen versammelten sich und die Panik breitete sich wie ein Lauffeuer aus.
Die Heathens wussten es. Mein Gott, sie wussten es.
Sie spürten es mit jeder Faser ihres Wesens.
Eine grässliche Bosheit schlich sich in ihre Mitte und die Heathens hatten sich bis zu diesem Moment nie so vollkommen menschlich gefühlt. Es hatte nicht lange gedauert, bis sie erkannt hatten, dass diese bösen Schatten genau die Wesen waren, die in ihnen gelebt hatten. Das düsterste aller Monster war auf ihre Heimat Weeping Hollow losgelassen worden und die Nacht war sein Erwachen.
Agatha sah zu, wie ihr Hexenzirkel unter den hohen Bäumen im Herzen des Norse Woods auseinanderfiel, Äste verwelkten, als würden auch ihre Glieder weinen.
»Reiß dich zusammen, Julian«, forderte Agatha in einem schneidenden, aber leisen Flüsterton. Auch in ihrer Stimme war ein Zittern zu hören. Eines, das sie nicht verbergen konnte. »Ihr beide. Ihr seid Norse Woods-Heathens. Steht auf und stellt euch auf eure Füße.«
Julians Augen hoben sich zu Phoenix.
Gemeinsam stellten sie ihre Stiefel auf den Boden und sich aufrecht hin.
Julian streckte den Rücken durch und er richtete seine silbrigen Augen auf seine Mutter, während er beide Fäuste ballte und die Adern in seinen Unterarmen hervortraten.
Agatha räusperte sich. »Julian konnte es nicht verhindern.« Sie blickte zu Beck in der Ferne, der von der Familie Edwin umringt war und seine tote Wächterin an seine Brust drückte. »Wenn diese Dinger zurückkommen, brauchen wir alle vier Heathens, um diese Stadt zu retten.«
»Fünf«, korrigierte Julian mit zusammengebissenem Kiefer und sah seine Mutter mit Schuld in den Augen an. Das Geheimnis des verlorenen Heathens, das er ihnen vorenthalten hatte, war tief vergraben und sollte erst an die Oberfläche kommen, wenn der Fluch gebrochen war. Er nahm an, dass jetzt der beste Zeitpunkt war. »Du meinst, es braucht uns alle fünf.«
Adora
sechs Jahre alt
In der Nacht des Wolfmonds
Sullivan Cottage
7. Januar 2004
Ein leises Flüstern zog sich wie ein Band durch das Cottage und glitt über den Holzboden.
»Um Himmels willen, rede mit mir«, flehte Dad. Ich hatte den Schmerz in seiner Stimme noch nie so deutlich gehört, aber ich erkannte, dass er versuchte, leise zu sprechen, damit wir ihn nicht hören konnten. »Bitte rede einfach mit mir, Marcy. Ich will das nicht tun.«
Momma sagte nie ein Wort.
Die Haustür quietschte, als sie geöffnet wurde, und die Dielen knarrten unter den Füßen der Sacred Sea. Es mussten mindestens drei von ihnen in der Hütte sein. Vielleicht vier oder fünf, ich konnte es nicht sagen.
»Was machen die denn da unten?« Fable hatte Angst und drückte sich ihr ausgestopftes Einhorn an die Brust. Der schwache Schein der Petroleumlampe, die zwischen uns dreien auf dem Boden stand, strich über ihre rosigen, sommersprossigen Wangen. »Werden sie Momma mitnehmen? Ich will nicht, dass sie Momma mitnehmen.«
»Schhh … Niemand nimmt Momma mit. Wir können Weeping Hollow nicht verlassen, weißt du nicht mehr? Wir sind hier alle zusammen sicher«, flüsterte ich mit einem strahlenden Lächeln. »Sie sind nur hier, damit sie sich besser fühlt. Erinnerst du dich an das Spiel, das wir immer gespielt haben? ›Hast du Angst vor der Dunkelheit?‹ Das, bei dem wir uns verstecken und suchen mussten.«
Fable nickte, jetzt mit Hoffnung in den Augen. »Mit Taschenlampen!«
»Das ist alles. Momma wird Spaß haben, du wirst schon sehen. Und jetzt versuch, leise zu sein. Ich kann nicht hören, was sie da unten sagen.«
Ivy beugte sich vor. »Du und deine Geschichten.«
Die Luft war dick, als wir da alle drei auf der anderen Seite meiner Zimmertür kauerten, aber es war kalt. So kalt. Ich hatte Mommas hübsches rotes Kleid an – das mit den dünnen Trägern und dem seidigen Stoff. Ich saß mit dem Rücken an der Wand und bedeckte meine nackten Füße mit dem Rock des Kleides. Ich musste näher heran, um die leisen Stimmen zu hören, die von der anderen Seite unter der Tür hindurchschlichen. Aber ich konnte immer noch nichts verstehen.
Ich setzte mich auf meine Knie und griff nach dem Türgriff. Der Messingknauf war wie Eis unter meinen Fingern und die Scharniere knarrten, als ich die Tür öffnete.
Ivy keuchte. »Tu es nicht, Adora. Sie werden dich hören«, flüsterte sie verzweifelt. »Hier ist es sicherer.«
»Ich muss wissen, was los ist.« Ich öffnete meine Schlafzimmertür ein wenig weiter, gerade so weit, dass ich hindurchschlüpfen konnte. Dann stand ich auf und ging vorsichtig zur Treppe.
Ivy schlich hinter mir her. Sie konnte mich nie allein ins Unbekannte gehen lassen.
Die hölzernen Spindeln am oberen Ende der Treppe waren kalt in meinen Fäusten und ich steckte meinen Kopf zwischen ihnen hindurch.
Einen Moment lang glaubte ich, Mommas Stimme zu hören, die mir sagte, dass man, wenn man den Kopf zwischen die Spindeln steckt, für immer stecken bleibt. Aber Mommas Stimme war nichts weiter als eine Erinnerung.
Unten bildeten Mr. Pruitt, Mrs. Cantini und Dad einen Kreis an der Eingangstür und sprachen leise miteinander. Unser Hohepriester war hier und der Ernst dessen, was an diesem Abend kommen sollte, ließ mir einen Schauer über den Rücken gleiten. Ich erschauderte, als Dad zur Seite trat und die Sicht auf einen kleinen Jungen freigab, der in der Mitte der Gruppe stand. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen.
Dads Augen waren rot, die Augenhöhlen geschwollen, als hätten seine Tränen ihn wiederholt geschlagen. »Sie hat nie gesagt, warum«, weinte er. »So etwas Verrücktes hat sie noch nie getan.«
»Das sieht Marcy gar nicht ähnlich«, murmelte Mrs. Cantini. »Bei all den Geheimnissen von Weeping Hollow ist dies eines, das ich nicht erklären kann. Ich werde mehr Zeit brauchen.« Sie legte Dad eine Hand auf die Schulter. »Wir werden es herausfinden, Ronan. Ich schwöre dir, wir werden es herausfinden und dafür sorgen, dass deine Mädchen in der Zwischenzeit in Sicherheit sind.«
Sie unterhielten sich noch einen Moment lang, während der Junge still und versteckt blieb.
Dann schüttelte Dad den Kopf und sie gingen alle aus meinem Blickfeld.
Fable rief im Flüsterton nach uns.
Ivy kniff mich in den Arm. »Fable hat Angst. Lass uns zurückgehen.«
»Wer ist dieser Junge?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht richtig sehen. Lass uns einfach zurückgehen.«
»Nein.« Ich musste wissen, wer er war und was sie hier taten.
»Adora …« Ivy drückte ihren ganzen Körper gegen meinen Rücken und flüsterte mir ins Ohr: »Es gibt einen Grund, warum sie nicht wollen, dass wir sehen, was sie vorhaben.«
»Wenn du zu viel Angst hast, dann geh einfach zurück in mein Zimmer. Ich bleibe hier.«
Ich hörte, wie sich Ivys Schritte entfernten. Sie ließ mich zurück, um Fable zu trösten.
Ich wartete, bis sich die Stille ausdehnte und die Stimmen wiederkamen. Die langsamen Sekunden, die ich am oberen Ende der Treppe wartete, während Mommas hübsches rotes Kleid sich zu meinen Füßen bauschte, vergingen schleppend.
Nachdem sie sich im Wohnzimmer niedergelassen hatten, schlich ich die Treppe hinunter.
Langsam, vorsichtig. Ungehört und ungesehen.
Die kühlen Schatten am Fuß der Treppe verdeckten mich, ich blieb auf der letzten Stufe stehen und reckte den Hals, um ins Wohnzimmer zu sehen.
Die Frauen vom Sacred Sea hatten sich um Momma herumgestellt, jede hielt eine schwarze Kerze und flüsterte eine Beschwörungsformel, die ich noch nie gehört hatte.
Momma saß in ihrem Schaukelstuhl am Fenster, ihr langes schwarzes Haar umhüllte ihr Gesicht. Sie wirkte so klein in ihrem Stuhl, und obwohl ihre Füße kaum den Boden berührten, wippte der Stuhl, während sie auf den mitternächtlichen Ozean hinausstarrte. Hart und schnell und mit gespenstischer Grausamkeit. Ein Hämmern wie ein Herzschlag. Der Stuhl schwankte so stark, dass sich die Dielen unter ihm hoben.
Dad hielt sich den Mund zu, dann legte er sich die Hand über die Augen.
Er will es nicht sehen, dachte ich. Dad wollte es nicht sehen und ich auch nicht. Doch trotz des schrecklichen Anblicks vor uns konnte ich meinem Platz nicht entkommen. Ähnlich wie Dad war ich hier gefangen. Im Gegensatz zu Dad konnte ich nicht den Arm heben, um mir die Augen zuzuhalten.
Mr. Pruitt stand neben Dad und drückte ihm tröstend die Schulter.
Ivy war weg. Ich hatte niemanden, der mir die Schulter drückte.
Ich umklammerte eine Holzspindel mit der Faust, bis ich kein Gefühl mehr in den Fingern hatte, und sah zu, wie Mamas Stuhl immer wieder auf den Boden schlug, während die leisen Beschwörungsformeln den Raum erfüllten. Das Fenster flog auf, ein Windstoß kam herein, aber sie hörten nicht auf. Mama schaukelte stärker, die Hexen sangen lauter und der kalte Wind heulte mir um die Ohren.
Die Sekunden verstrichen langsam, einlullend und in die Nacht wehend.
Dann unterbrachen die Frauen vom Sacred Sea ihren Zauber, traten gleichzeitig einen Schritt zurück und wurden von einer Kraft erfasst, die sie wie an unsichtbaren Marionettenfäden in die Luft hob.
Der Junge, der in der Mitte des Kreises vor Mama stand, drehte seinen Kopf und sah mich direkt an. Seine haselnussbraunen Augen leuchteten, als hätte ein Blitz in sie eingeschlagen, und ein trockenes Schlucken blieb mir in der Kehle stecken.
Kane Pruitt, hallte es in meinem Kopf.
Der Junge, über den geflüstert worden war. Der Junge, der im Haus der Pruitts gefangen gewesen und bis zu dieser Nacht nicht herausgekommen war.
Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um sowohl mein Atmen als auch mein Schreien zu dämpfen. Was hast du mit ihr gemacht?, wollte ich ihn anschreien. Was hast du mit meiner Momma gemacht? Aber alle Worte gefroren in meinem Kopf und bildeten scharfe Eisskulpturen aus Angst.
Er schenkte mir ein zynisches Lächeln.
Eines, das noch viel verrückter war als das von Momma. Bei weitem.
Kane drehte mir den Rücken zu und sie verließen unser Haus durch die Hintertür. Kein einziges Wort. Überhaupt kein Wort.
Nachdem sich Mr. Pruitt und Mrs. Cantini verabschiedet hatten, schenkte Dad sich einen Drink ein und ließ sich in die geflochtene Liege neben dem Schaukelstuhl sinken.
Eine Zeit lang starrte er Momma an. Ihr Wippen war dieses Mal rhythmisch. Ein sanftes Schlagen auf den Hartholzboden. Dad sah sie mit blutunterlaufenen Augen an. Er sprach kein einziges Wort. Er starrte nur vor sich hin, bis ihn die Erschöpfung übermannte und er schnarchend in einen Schlummer fiel.
Ich wartete eine Weile, und als alles ruhig war, trat ich aus dem Schatten.
In diesem Moment kam der Schaukelstuhl zum Stillstand.
Mamas Kopf drehte sich um neunzig Grad, bis ihre leeren blauen Augen mich durchbohrten, mich zwischen den glücklichen Familienfotos an die Wand hefteten.
Die gefangenen Lächeln vergangener Zeiten schwangen über meinem Kopf. Vergoldete Blattsilberrahmen wurden zu einem geflüsterten wusch, wusch in meinen Ohren, als würde einer von ihnen jeden Moment zu Boden fallen.
Mommas schwarzes Haar, das sie normalerweise hinter die Ohren gesteckt hatte, fiel platt auf ihre blassen Wangen. Sie sieht nicht wie Momma aus. Ich schüttelte den Kopf. Sie sieht ganz und gar nicht wie Momma aus.
»Du trägst schon wieder mein Kleid«, sagte sie mit einer seltsamen Stimme zu mir, die ich bisher nur ein einziges Mal gehört hatte. Anklagend. Es war das erste Mal an diesem ganzen Abend, dass sie mit mir sprach.
Ihre Finger krümmten sich um die Armlehnen des Schaukelstuhls. »Komm zu mir.«
Ich antwortete nicht. Ich bewegte mich nicht, ich konnte nicht. Der Rock des Kleides war lang und ragte über meine gekrümmten Zehen, die mich hier festhielten und nicht wollten, dass ich ging.
Ich wrang meine Finger vor mir.
Aber sie war meine Mutter und ich hatte keinen Grund, Angst zu haben.
»Komm, Adora«, sagte sie wieder, diesmal vertrauter. »Komm her und lass mich dir eine Geschichte erzählen.«
Ich machte einen unruhigen Schritt auf sie zu. Und noch einen.
Ich ging an Dad vorbei, dessen Schnarchen in seiner Kehle stecken blieb, bis ich vor Mama stand.
Sie sah mich direkt an. Ein unerschütterlicher Blick.
Wie wenn man ein Porträt anstarrt. Und das Bild zurückstarrt.
Mit einer zögerlichen Hand beugte ich mich vor und strich ihr Haar hinter ihr Ohr. Sie bewegte sich nicht, als ich es tat. Nicht ein Zucken. Ich ließ mich auf die Fersen zurücksinken und sah sie an – dieses Mal sah ich sie wirklich an. Sie sah jetzt hübsch aus, wie die Momma, die ich immer gekannt hatte. Die Momma, die ich von den Fotos im Flur kannte. Die Momma, die morgens gesungen hatte und mit mir im Meer geschwommen war. Die Momma, die mich abends ins Bett gebracht und mir Geschichten von Meerjungfrauen und hübschen Piraten erzählt hatte.
Aber irgendetwas war anders an ihr.
Es fehlte das Licht in ihren Augen.
Ich kroch auf ihren Schoß.
»Mein Sonnenstrahl, sieh mich an«, flüsterte Mama und strich mir über das Haar, während der verbrannte Duft von Weihrauch – Noten von Blütenblättern und ein Hauch von aufgewühlter Erde – noch immer in dem Cottage hing. Ich drehte mich herum, und Mama nahm die Kette um ihren Hals ab und legte sie mir um. Daran befestigt war eine leere antike Fassung.
Momma trug diese Halskette immer.
Sie war etwas Besonderes für sie und sie gab sie mir.
Dann nahm sie mich in den Arm und wir schauten gemeinsam aus dem Fenster, während sie mit ihrer Geschichte begann. »Diese Geschichte beginnt, anders als alle anderen Geschichten, die ich dir bisher erzählt habe, mit einem Jungen – einem verlorenen Jungen, dessen Name noch ein Geheimnis ist. Und gerade jetzt, wo diese Geschichte beginnt, ist er ein Außenseiter unter den Bäumen …«
Teil I
Die Küste
Kapitel 1
Stone
Dreizehn Jahre alt
Chesapeake Forest, Marylaynd
April des Jahres 1853
Der Weißwedelhirsch stand nur einen Steinwurf von uns entfernt, während wir uns außerhalb des kleinen Dorfes versteckten. Wir verfolgten ihn schon einige Zeit lang und Paco hatte sich noch immer nicht von seiner Position entfernt. Im Gegensatz zu mir hatte er das, was er brauchte, um einem Lebewesen das Leben zu nehmen, noch nicht gefunden, auch wenn er es brauchte, um seine Familie ernähren und versorgen zu können.
Es war weder Mut noch Tapferkeit. Kein Maß an Können würde ausreichen, obwohl Können durchaus hilfreich war. Ich konnte nie genau sagen, welche Eigenschaft jemand haben musste, um etwas zu töten. Vielleicht war es einfacher, wenn man den Hunger kannte, so wie Mutter und ich – bevor wir darauf trainiert worden waren, tagelang ohne Essen auszukommen, um zu wissen, wie es ist, ohne Essen zu sein –, das machte es tatsächlich leichter.
Es war Frühling. Die Sonne stand tief und der Morgen war kalt. Es tat weh, im April zu atmen, der Biss in der Luft ließ meine Lungen nach dem langen, kräftezehrenden Sprint gefrieren. Paco blieb ruhig an meiner Seite, während wir hinter den Blutwurzbüschen kauerten, in Bärenfell und Pelz gehüllt. Wir beobachteten, warteten, umgeben von Gift.
Der Wald war still.
Der Morgen gab keinen Laut von sich. Der Hirsch gab keinen Laut von sich.
Er war müde vom Laufen und die Erschöpfung war das, was wir beabsichtigt hatten.
Drei Seelen nahmen diesen Raum ein, doch im Wald gab es keine Regung.
Pacos Chancen wurden immer geringer. Wenn wir nicht mit etwas zurückkehrten, würde sein Vater wie so oft enttäuscht sein.
Ich konnte Pacos Problem nicht verstehen.
Erst vor ein paar Jahren hatte ich den Trost in der Jagd gefunden. Am Morgen vor einer Jagd betete ich, dass die Götter für mich sorgen mögen. Ich brachte Mutter Erde und Vater Himmel Opfergaben dar und bat den Geist, mich mit dem Tier zu vereinen. Jedes Erlegen spürte ich in mir.
Im Laufe der Jahre hatte ich mein Ritual vereinfacht. Es war nicht nötig, meine Spiritualität nach außen hin zu zeigen; ich wusste, was ich tat. Ob Fische, Schneeschuhhasen, Fasane oder Böcke mit samtenen Geweihen – sie waren ein Teil von mir, genauso wie ich ein Teil von ihnen war.
Pacos Gesicht war verkniffen, als hätte er Schmerzen oder kämpfte mit einer Magenverstimmung. Diesen Gesichtsausdruck hatte er jedes Mal, wenn seine Augen auf seine Beute gerichtet waren. Die Nerven packten ihn, als er seinen Griff um die Klinge in seiner verschwitzten Hand verfestigte und beobachtete, wie der Hirsch seine nasse schwarze Nase über die glänzenden Blätter schob.
Die oberste Schneeschicht schmolz und rutschte unter meinen gefrorenen Schneeschuhen, während ich wartete. »Mach schon, Paco«, flüsterte ich ihm in seiner Muttersprache zu. »Tu es.«
Die meisten Jungen, auch ich, wussten, wie man jagt. Doch während andere Dreizehnjährige Kaninchen und Eichhörnchen jagten, hatte ich Tiere im Visier, die uns länger als einen Tag ernähren konnten.
Für mich war keine Herausforderung zu groß. Ein präzises Töten würde einen schmerzlosen Tod garantieren. Aber was, wenn Paco dem Tier nicht den verdienten Frieden geben konnte? Wie viel Leid würde die unschuldige Kreatur ertragen müssen, bevor sie sich dem Tod hingab, wenn Paco es nicht richtig machte?
Ich hatte es ihm schon oft beigebracht und ihm gezeigt, wie es geht. Ein einziger Stich an der falschen Stelle konnte dem sanften Tier unerträgliche Schmerzen bereiten.
Mit Schweißperlen auf der Stirn trat Paco vor und der Schnee knirschte unter seinem Schuh. Der Hirsch riss bei diesem Geräusch den Kopf hoch und Paco erstarrte. Dann erstarrte das Tier.
Stille Sekunden vergingen und dann – »Ich kann nicht«, flüsterte er, als ob allein der Gedanke ihm Schmerzen bereiten würde.
Mein Blick schweifte zurück zum Hirsch, der sich anschickte, wieder durch die Bäume zu sprinten. Ohne eine weitere Sekunde zu verschwenden, riss ich Paco die Klinge aus der Faust.
Als ich das geschnitzte Holzende in meiner nackten Handfläche hielt, blitzte in meinem Kopf ein Echo des Ortes auf, an dem es einst gestanden hatte. Meine Kehle schwoll an. Ein dicker schwarzer Fleck breitete sich hinter meinen Augenlidern aus, bis eine einzige Erinnerung übrig blieb. Wölfische Blicke, die sich in fremde Gesichter einprägten, als ein mutiger Stamm vorbeizog; Hunger und Angst standen in ihren Augen. Die Kälte um mich herum bebte, der Winter rauschte in meinen Ohren und die Erinnerung flackerte, bevor sie auseinanderbrach und in Stücke zerfiel.
Jetzt. Das einzelne Wort brach in meinem Gehirn zusammen, meine Gedanken zerstreuten sich.
Ich stürmte auf den Hirsch zu, die Äste der Hemlocktanne knarrten, als sie sich bogen, um mir den Weg zu ihr freizumachen.
Als die Vergangenheit zum ersten Mal durch die Berührung eines Gegenstandes zu mir kam, wusste ich, dass etwas anders an mir war – abgesehen von der Maske, die ich trug. Mutter hatte mir gesagt, ich solle nicht daran denken, nicht darüber sprechen. Es war weder normal noch ein Geschenk, genauso wie dass die Erde mich leitete. Genauso wie die Dunkelheit, die in mein Gesicht gemeißelt war.
Mein Atem und mein Herzschlag pulsierten bei meinem Sprint in meinen Ohren.
Ich stürzte nach vorne und schlang meine Arme um den Körper des Hirschs. Ich nutzte meine Kraft und Geschwindigkeit, um ihn zu Boden zu bringen. Wie so oft packte ich seine Nase, zog seinen Kopf zurück und versenkte die scharfe Klinge in den Bereich unter seinem Ohr, wobei ich die lebenswichtigen Blutgefäße durchtrennte und ihm die Kehle aufschlitzte.
»Möge dein Körper die unseren und dein Andenken unsere Seelen nähren«, flüsterte ich in ihrer indigenen Muttersprache und beendete das Leben des Hirsches mit einem tiefen Stoß. Seine leblosen braunen Augen starrten in den grauen Morgenhimmel. »Nos omnes connexae«, Wir sind alle verbunden, flüsterte ich, während ich mit ihm in meinen Armen dalag, mit stolzgeschwellter Brust, und in denselben grauen Morgenhimmel starrte, während sein Blut über meine Haut rann.
Ich konnte kein Tier töten, ohne dass es mich berührte.
Ich konnte nicht töten, ohne dass es einen Teil von mir einnahm.
Erst später, nachdem ich sein Fleisch gegessen hatte, würde ich mich wieder ganz fühlen.
Paco ging neben mir, als ich den Hirsch zurück ins Dorf trug, wusste, dass die Überreste des Tieres respektiert werden würden. Wir kamen an einem Baum vorbei, in dessen Gabelung der Kopf eines Bocks vom Vortag saß, damit sein Geist die Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge beobachten. Es war eine Botschaft an die anderen Tiere und eine Mahnung, ihre Körper dem zu überlassen, was die Götter für sie vorgesehen hatten.
Pacos Vater kam mit einem stolzen Lächeln auf ihn zu. »Oh, sehr gut, Paco.«
»Es war –«, begann Paco, aber ich unterbrach ihn. »Es war ohne Probleme.«
Pacos erschrockener Blick traf auf meinen, überrascht, dass ich mit seinem Vater gesprochen hatte. Ich nickte. »Paco hat gute Arbeit geleistet. Sie können stolz sein.«
Es war falsch, Pacos Vater anzulügen, aber ich konnte die Enttäuschung in seinem Gesicht nicht ertragen.
Der Körper des Hirschs glitt von meinen Schultern und fiel zu Boden. Ich wischte mir die blutigen Hände ab und bemerkte, dass sie zitterten. Sie wollten nichts weiter, als vom Blut gereinigt zu werden und meine Handschuhe wieder zu spüren.
Mutter erschien an meiner Seite und wir beide gingen in Richtung Bachufer, um das Blut von meiner Haut zu waschen, bevor es fest wurde.
»Du hast einen Kampfgeist in dir, aber ein Herz aus Papier. Das wird dein Untergang sein«, sagte Mutter wissend auf Englisch, als wir nur zu zweit waren.
»Papier?«
Das lange blonde Haar rutschte ihr hinter dem Ohr hervor, als sie die Kapuze ihres Umhangs abnahm. Sie stürzte auf mich zu und stieß mit aller Kraft gegen meine Brust.
Ich trat einen Schritt zurück und Mutter schaute finster drein.
»Zerfalle nicht, Stone. Weiche nicht zurück. Du bist größer als ich, stärker als ich und hättest mich leicht überwältigen können. Der einzige Grund, warum du einen Schritt zurückgegangen bist, ist, weil ich eine Frau bin.« Sie verkrampfte ihren Kiefer, Schelte in ihren Augen. »Dein Herz ist schwach. Papier.«
Der Getreidesack fühlte sich schwerer an. »Eine Frau und meine Mutter.«
»Das sollte keine Rolle spielen. Die einzige Person, die du schützen musst, bist du selbst. Du darfst vor niemandem zurückweichen. Nicht einmal vor einer Frau, nicht einmal vor mir.« Sie drehte sich um und begann wieder zu gehen. »Wenn du Paco beschützt, tust du ihm keinen Gefallen. Er muss lernen und du musst dich daran erinnern, still zu sein«, sagte sie und hob die Nase in die Luft. »Unsichtbar und unbesiegbar, schon vergessen? Sei Stein, nicht Papier. Nur so kannst du in einer Welt voller Menschen überleben, die dich nur enttäuschen werden.«
Ich wandte mich von ihr ab.
»Du hast recht«, gab ich zu und wich ihrem missbilligenden Blick aus, stellte ihn mir aber dennoch vor. »Ich werde es nicht wieder tun. Ich werde nicht mehr mit ihnen sprechen.«
Als wir uns dem Bach näherten, ging ich in die Hocke, schöpfte Wasser in meine Handflächen, spritzte es auf meine Arme und meinen Hals und schrubbte mir die Hände wund. Vom Spiegelbild des Wassers starrte mir ein großer Getreidesack entgegen, der meinen Kopf dreimal so groß erscheinen ließ. Daneben zeichnete sich ein intensiver Ausdruck auf Mutters Gesicht ab. Ich senkte den Kopf, das Gewicht meiner Realität lastete plötzlich auf mir. Das konnte nur eines bedeuten.
»Wie lange dauert es noch, bis wir dieses Mal abreisen?«
Auf all unseren Reisen hatten wir noch nie so viel Zeit an einem Ort verbracht. Schon bald würden wir in das nächste Dorf, zu dem nächsten Stamm weiterziehen. Wir suchten nach mutigen Menschen in einer kleinen Gemeinschaft und nicht nach einer blühenden Stadt, die voll von Menschen ist, die mir zum Opfer fallen könnten.
Mutter tauschte ihre Kochkünste gegen ein Dach über dem Kopf ein und ich bot meine Jagdkünste an. Nach einiger Zeit fragten die Leute immer nach dem Getreidesack über meinem Kopf. Sie wollten immer wissen, warum ich mein Gesicht nicht zeigen konnte und warum ich im Sommer Handschuhe an den Händen trug. Trotzdem wusste ich, dass ich meine Schilde nie abnehmen durfte.
Ihre Fragen zeigten immer an, dass es an der Zeit war, zu fliehen, bevor sie Mutter in Zugzwang brachten und von ihr verlangten, ihnen den schrecklichen schwarzen Abgrund zu zeigen, der sich unter dem Sack befand.
Mein Gesicht, so hatte Mutter erklärt, war verflucht, und jeder, der es ansah, würde seinen tiefsten Ängsten erliegen, bevor er in den Tod stürzte. Trotzdem hatte ich mich nie in einem Spiegelbild gesehen, weil die Möglichkeit bestand, dass der Fluch auch für mich galt.
Der Tod sollte ein natürlicher Teil des Lebenszyklus sein. Doch der Tod, den ich verursachte, war ein grausames und unrechtmäßiges Schicksal und der einzige Hunger meines Gesichts.
»Es ist die Schuld deines Großvaters«, hatte sie einmal gesagt, aber das war immer alles, was sie dazu sagte. Sie hatte nie von seinem oder dem Namen meines Vaters gesprochen, sollte ich einen haben. Natürlich gab es Zeiten, in denen ich mir einen Vater vorstellte und wie er aussah. Ich hatte sein Gesicht gezeichnet, war mir sicher, dass ich, wenn ich seins finden könnte, auch mein eigenes finden würde.
Mir starrte immer nur ein ausdrucksloses Antlitz entgegen.
Mein Herz hingegen war nicht erstarrt oder hohl. Da war etwas.
Ich bin zu mehr fähig. Ich habe mehr zu bieten.
Aber ich war mir nicht sicher, was mehr bedeutete.