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In Hollow Heathens findest du alles, das dir die schlimmsten Albträume entlockt: Hexen, Hexenzirkel, Flüche, Geister, unheimliche Wälder und mysteriöse Atmosphäre. Zwischen alledem wartet eine unglaubliche und zeitlose Liebesgeschichte. Es war einmal ein Mädchen namens Fallon, das kurz nach ihrer Geburt von Zuhause weggebracht wurde. Ein Zuhause, das mehr als seltsame Traditionen und bizarre Aberglauben barg. Vierundzwanzig Jahre später kehrte sie zurück. Zurück nach Weeping Hollow – einer Stadt, über die sie nur Geschichten gehört hatte. Es war einmal ein mysteriöser Junge namens Julian mit einem Fluch so alt wie Jahrhunderte, der seine Seele umschlang. Er war einer der vier Hollow Heathens, die sehr dunklen Kreaturen, die die Stadtbewohner in Angst versetzten. Und der Name Blackwell war von Dunkelheit und Tod befleckt. Sie nannten ihn ein Monster. Kalt und hohl. Sie sagten, ich sollte mich nicht ihm nähern. Dennoch gab es diese schmerzhafte Anziehung zu Julian Blackwell, der ich nicht entkommen konnte. Eine nostalgische Anziehung, als hätten wir das schon einmal erlebt.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Nicole Fiorina
Hollow Heathens
Book of Blackwell
(Tales of Weeping Hollow, Band 1)
Übersetzt von Lara Gathmann
HOLLOW HEATHENS: Book of Blackwell
(Tales of Weeping Hollow, Band 1)
Deutsche Ausgabe © 2024 VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Lara Gathmann
Korrektorat: Alexandra Gentara und Annalena Ogrodnik
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
»Hollow Heathens: Book of Blackwell (Tales of Weeping Hollow 1)«.
Vermittelt durch die Agentur:
WEAVER LITERARY AGENCY, 8291 W. COUNTY ROAD 00 NS., KOKOMO, IN 46901, USA
Umschlaggestaltung: OKAY CREATIONS
Satz: VAJONA Verlag GmbH, Oelsnitz unter Verwendung von
Motiven von Canva
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für meine Tochter Grace.
Ich habe immer gesagt, dass du in einem anderen Leben meine Mutter warst.
Mein hartnäckiges Mädchen, ich schäme mich, zuzugeben, dass du mich vergessen lässt, wer hier eigentlich wen erzieht.
Danke, dass du so einzigartig bist, mit deiner unerschütterlichen Seele, deinem Wissensdurst und wie du ohne Angst lebst.
Du bist eine tödliche Kombination, Baby, und
ich glaube nicht, dass diese Welt darauf vorbereitet war.
Aber du bist viel zu schnell unterwegs.
Werde langsamer und nimm die Welt um dich herum wahr.
Selbst die kleinsten, unbedeutenden Momente,
die jetzt nicht wichtig erscheinen, aber eines Tages wichtig sein werden.
Danke, dass du mir bei der Planung und Ausarbeitung dieser Geschichte geholfen hast.
Danke, dass du Fallon zum Leben erweckt hast. Meinen Traum mit dir zu teilen, war mein Lieblingsteil an
Hollow Heathens.
Denk immer daran, dass du nicht nur ein Mädchen bist.
Bleib bescheiden und liebe dich selbst zuerst.
xo, mom
Dies ist ein Werk der Fiktion. Namen, Charaktere, Orte, Marken, Medien und Begebenheiten sind entweder Produkte der Fantasie der Autorin oder werden fiktiv verwendet. Jede Ähnlichkeit mit realen lebenden oder toten Personen oder tatsächlichen Ereignissen oder Orten ist rein zufällig oder wird als »inspiriert von« verwendet.
In der Dunkelheit lauern Dinge: Monster, Geister, grässliche übernatürliche Wesen, die von einer endlosen Energie gefesselt sind, die sie dort hält, an die Erde gebunden und orientierungslos umherwandelnd. Ohne Ziel. Ein wachsendes, klaffendes Loch nährt sich hastig von ihrer dunklen Seele, und die meisten können nicht verstehen, warum. Schmerz, Wut, Kummer, Trauer ... Emotionen fließen im Laufe der Jahre ineinander über und lassen die Geister vergessen, warum sie zurückgelassen wurden.
Und das Grausamste ist die Liebe. Lange nach dem Tod hat die Liebe die Macht, uns alle in die dunkelsten aller Monster zu verwandeln.
Ich wurde mit einem Fuß in dieser und einem in der nächsten Welt geboren. »Du bist eine Grimaldi«, sagte Marietta immer zu mir. Ich bin eine Grimaldi, doch egal, wie oft ich das Mantra wiederholte, der junge Mann in der Ecke meines Zimmers ließ sich nicht vertreiben. Er saß zusammengerollt in meinem Lesesessel, die Knie an die Brust gezogen. In den kalten Monaten ließ ich mein Fenster offen, damit die kühle Brise durch den Spalt drang, aber eigentlich konnte er wegen der Kälte nicht zittern. Geister spüren nur die hungrigen Emotionen, die an ihnen nagen. Und doch zitterte er. Irgendetwas war anders an ihm.
»Nicht weinen«, flüsterte ich unter dem papierweißen Mondlicht, das zwischen uns strömte. Ich hatte gelernt, mich nicht vor denen zu fürchten, die zu mir kamen, und behielt sie als mein Geheimnis. Aber dieser hier war anders, er verschwamm wie ein schlechtes Bild im Fernsehen. Seine Lippen waren gletscherblau und sein Haar so weiß wie das eines arktischen Wolfes. Und seine Augen ... seine Augen waren dämonisch. Kalt. Eine sternenlose Galaxie. Und verängstigt.
Ich schob die dicke Bettdecke von meinen Beinen und ließ meine Füße auf den kalten Holzboden gleiten. »Wie heißt du?«
Seine matten Augenbrauen zogen sich zusammen, als er unter dichten, feuchten Wimpern zitternd zu mir aufblickte. Die meisten waren überrascht, dass ich sie sehen konnte und keine Angst vor ihrer Anwesenheit hatte, aber er schien eher verwirrt über meine Frage. Er konnte sich nicht an seinen Namen erinnern, was nur bedeutete, dass er neu war.
Aber er schien so real zu sein, verschwommen zwischen den Dimensionen.
Er war nicht wie der Rest von ihnen.
Die Dielen knarrten, als meine Füße sich vorwärts bewegten, und ich hielt auf halbem Weg inne, als Mariettas Schritte auf der hohlen Treppe widerhallten.
»D-du musst mir helfen«, stotterte er mit einem verzweifelten Flehen. »F-f-finde mich.«
Meine Schlafzimmertür ging knarrend auf und ich eilte zurück ins Bett und unter die Bettdecke. Als das Geräusch ihrer Schritte näher kam, schloss ich die Augen, um so zu tun, als ob ich schliefe. Mein Haar verdeckte mein Gesicht. Ich zog meine Arme und Beine und Finger und Zehen an, jeder Teil von mir versteckte sich unter der dicken, handgefertigten Bettdecke.
»Ich weiß, dass du wach bist, Moonchild.« Mariettas Stimme war seidig. Mein Bett neigte sich, als sie sich an den Rand setzte. Sie zog die Bettdecke herunter und ich drehte mich zu ihr um. »Du kannst nicht die ganze Nacht wach sein, sonst schläfst du den ganzen Tag«, sagte sie mit einem leichten Tippen auf meine Nase.
Ich schob mir die Haare aus den Augen und spähte zu dem Stuhl, auf dem der Geist saß.
Aber der Geist war nicht mehr da.
Mein Blick glitt zurück zu meinem Kindermädchen. »Ich kann nicht schlafen. Erzählst du mir eine Geschichte?«
»Ah! Eine Geschichte ist das, was sie hören will.« Mariettas lilafarbene Lippen verzogen sich zu einem leichten Grinsen und die Armbänder an ihrem Arm klirrten, als sie die Decke um mich legte. »Ich erzähle dir eine Geschichte, und dann wirst du schlafen.« Ihre Brauen verzogen sich zu einer Mondsichel.
Ich nickte eifrig. »Ja, ich verspreche es.«
»Oh, ich weiß nicht«, antwortete sie niedergeschlagen. »Ich glaube nicht, dass du für diese Sache bereit bist.«
»Das bin ich, Marietta. Ich bin es.«
»Oh, Kind, schon gut. Aber du siehst, ich muss noch einmal von vorne anfangen.«
Marietta holte tief Luft und schob sich neben mich ...
»Es war einmal, weit, weit weg, da wurde ein geheimnisvolles Land entdeckt. Aus diesem Land wurde eine Stadt, aber die neue Stadt kann von den Menschen aus der Ferne nicht gesehen werden. Viele kennen ihren Namen und haben sich sogar auf den Weg gemacht, um sie zu finden, aber diese Stadt kann nur entdeckt werden, wenn sie gesehen werden will. Zwischen den Welten gibt es keine Barrieren. Seltsame Geschehnisse. Eine Stadt der Magie und des Unfugs, in der der Aberglaube und die Sterne am Himmel die einzigen Wegweiser sind, die aber genauso unberechenbar sind wie die Gezeiten des Atlantiks.
Vor Jahrhunderten gründeten zwei getrennte und sehr unterschiedliche Zirkel dieses Land, doch die Sterne standen günstig, als sich ihre Wege kreuzten. Ein Boot segelte über das Meer heran, auf der Flucht vor der Grausamkeit in ihrem Land. Zur gleichen Zeit kamen Ausgestoßene aus der Neuen Welt aus dem Süden, die vor denselben Qualen flohen und durch dichte Wälder stapften, während ihnen der harte Schneeregen auf die rissigen Gesichter prasselte.
Beide markierten ihren Anspruch auf das Land und sprachen genau diesen Zauber, einen unsichtbaren Schild, um ihre Leute zu verstecken und zu schützen und die Stadt für alle Außenstehenden unsichtbar zu machen. Die beiden Hexenzirkel wussten nicht, dass in diesen Wäldern bereits etwas anderes lebte. Birkenzweige flüsterten, Raben sangen ihre dunkelsten Geschichten, und mit jedem Knistern der gefallenen Blätter unter ihren schweren Stiefeln enträtselten sich die Geheimnisse des Waldes und spannen Worte zusammen wie das Netz einer schwarzen Witwe. Und das war nur der Wald, denn das Meer, Kind, oh! das Meer, es rauschte voller Prophezeiung. Wellen schlugen gegen die unvergänglichen Klippen, die transzendenten Phasen des Mondes schimmerten über den ewigen Wassern.
Und eines Tages wird die Stadt nach dir rufen, mein Moonchild. Aber hör mir zu, wenn ich sage, dass du immer die Freiheit haben wirst, zu wählen. Du wirst nie gezwungen sein, zurückzukehren. Aber wenn du es tust, gibt es kein Entrinnen. Nicht, bevor die Stadt dich gehen lässt ...«
»Zurückkehren? Wohin zurückkehren?«, fragte ich und umklammerte mit meinen Fingern die Steppdecke, mit gespitzten Ohren und Hunger auf mehr.
»Die Stadt Weeping Hollow.«
Kapitel 1
FALLON
Als ich von der Glastür des Kühlschranks voller koffeinhaltiger Getränke abprallte, ertappte ich mich dabei, mein geisterhaftes Spiegelbild anzustarren. Mein weißes Haar und meine blassblauen Augen schillerten, fast so, als wäre meine Doppelgängerin im Glas der gekühlten Tür eingeklemmt. Je länger ich mich anstarrte, desto mehr fragte ich mich, wer hier eigentlich wen ansah.
»Entschuldigung«, sagte ein Mann, öffnete die Glastür und fing meinen distanzierten Blick auf. In einem aufgeknöpften rotkarierten Hemd und schmutzigen Jeans griffen seine dreckigen Hände mit schwarzem Schlamm unter den Fingernägeln nach einem Dreihundertfünfzig-Milliliter-Kaltbrühkaffee. Er drehte sich zu mir um. »Haben Sie sich entschieden?«
Eine schwere Frage. Es war offensichtlich, dass ich mich entschieden hatte. Sonst hätte ich nicht um Mitternacht in einer heruntergekommenen Shell-Raststätte gestanden, an der das »S« kaputt war und herunterbaumelte. Es stand nur noch Hell dran, mein letzter Halt vor der kleinen Stadt, von der ich nur in Geschichten gehört hatte, die man sich in unruhigen Nächten unter dem Sternenhimmel erzählte. Eine Stadt, in die ich niemals hätte zurückkehren wollen.
Der dreckige Trucker verweilte und wartete auf eine Antwort. Mein Blick blieb auf der Stelle haften, an der sich vor wenigen Augenblicken mein Spiegelbild befunden hatte, und mein Daumen drehte meinen Stimmungsring immer wieder um den Ringfinger. Die Glastür löste sich aus seiner Umklammerung und fiel wieder an ihren Platz, bevor der Mann wegging und leise murmelte: »Na gut. Was für ein Freak.«
Freak.
Ich öffnete die Kühlschranktür, und die frostige Temperatur, die sich darin zusammenbraute, jagte mir eine Gänsehaut über den Unterarm und ließ jedes weiße Haar auf meiner Haut aufsteigen. Am liebsten wäre ich hineingeklettert und in dem eisigen Strom eingeschlafen. Doch ich schnappte mir den letzten Haselnusskaffee und machte mich auf den Weg zur Kasse, wobei ich den Kopf gesenkt hielt, meine Aufmerksamkeit aber auf meine Umgebung richtete.
Hell war nach Mitternacht ein Leuchtturm für Pädophile und Serienmörder, und ich war die perfekte Beute.
Eigenbrötlerin. Jung. Seltsam. Ein besonderer Geschmack. Ein Freak.
Ein Mädchen, nach dem niemand suchen oder das niemand vermissen würde.
Auf der anderen Seite der Kasse, hinter einem Regal mit Lottoscheinen, stützte sich ein Mann mit den Ellbogen auf den Tresen und machte sein Handy aus, bevor er es in seine Tasche steckte. Glatte schwarze Haare fielen über ein Auge, und er schüttelte sie zur Seite. »Sonst noch etwas?«, fragte er mit einem gezwungenen Seufzer, während er die gekühlte Dose über den Tresen zog.
»Ja ...« Aus meiner Stimme tropfte Widerwillen. Ich zückte mein iPhone und öffnete meine GPS-App. »Ich habe mich ein wenig verfahren. Kennen Sie den Weg nach Weeping Hollow?« Der Trucker von den Kühlschränken humpelte von hinten an mich heran, während der Kassierer mit leerem Blick von seiner Kasse aufschaute. Dann wanderte der Blick des Kassierers an mir vorbei zu dem Trucker. »Yah can get heyah from theya, but yah can’t get theya from heyah.« Sein Akzent aus Maine war stark, während er halb gluckste und den Kopf schüttelte.
Der Trucker murmelte nur, er solle weitermachen. Ich ließ meine Hand mit dem Telefon fallen und trat in meinen schwarz-weißen Oxford-Saddle-Shoes von einem Fuß auf den anderen. Es war schon nach Mitternacht. Ich war müde. Und hatte mich verfahren. Ich hatte keine Zeit für Rätsel. »Was soll das denn bedeuten?«
Der Kassierer klopfte mit einem gezwungenen Lächeln auf den Deckel der Dose. »Das macht drei Dollar fünfzehn.«
»Danke für nichts«, brummte ich, legte einen Fünf-Dollar-Schein auf den Tresen und nahm mein Getränk in die Hand.
Die kleine silberne Glocke über dem Ausgang läutete auf meinem Weg nach draußen und die milde Meeresluft brannte mir in den Augen, als ich zu meinem Auto zurückging.
Ich war etwa fünfunddreißig Stunden unterwegs gewesen und hatte nur zum Tanken angehalten oder um am nächsten Drive-Thru etwas zu essen. Mit jedem Kilometer wurden meine Augenlider schwerer und ich musste den Kopf schütteln, um mich wach zu halten. Ich war schon immer so stur gewesen. Ich hatte mir stets vorgenommen, alle Einkaufstüten auf einmal vom Auto zu unserem Haus in Texas zu tragen. Mit ausgestreckten Armen, mit den Zähnen, alles, um einen zweiten Gang zu vermeiden.
Nun war ich mit aufgefülltem Koffeinhaushalt zurück auf der US-1, ein paar Autos auf dem Highway verstreut, während ich der Küstenlinie des Staates Maine folgte und mir die Wegbeschreibung ins Gedächtnis rief, die mein Großvater in seinem Brief notiert hatte. Das GPS erkannte die kleine abgelegene Stadt Weeping Hollow nicht, und je weiter ich fuhr, desto spärlicher wurde der Empfang, bis die Ausfahrt der Archer Avenue auftauchte.
Das triste Schild war von der schmalen, leeren Straße aus kaum zu sehen. Die schwachen Scheinwerfer meines silbernen Mini Cooper wurden zu meinen einzigen Taschenlampen, als ich langsam an dem verblassten Schild vorbeifuhr. Der Regen hatte die scharfen Metallkanten verrosten lassen, auf denen der Name der Stadt und darunter ›POPULATION 665‹ stand.
Als ich vorbeifuhr, verwandelte sich die letzte Zahl und verschwamm zu 666. Ich rieb mir die Augen. Ich war müde und sah Dinge. Oder?
Ich fuhr weiter und schlich die unheimliche, dunkle Straße entlang, die unter den aufragenden Bäumen wie ein Tunnel wirkte. Ausgehungerte Geier, die sich um einen toten Kadaver stritten und die Straße mit Blut und schwarzen Flügeln bemalten, säumten den Weg wie Baustellenschilder. Unbarmherzig vor Hunger wichen die Vögel kaum aus und schienen sich auch nicht durch den Mini Cooper bedroht zu fühlen, der ihren Weg kreuzte. Ich kroch vorwärts, auf den nächsten fünf Kilometern wurden die Bäume auf beiden Seiten immer weniger und lösten sich in Grabsteine zu meiner Linken und einen heruntergekommenen Spielplatz zu meiner Rechten auf.
Der durchscheinende Mond stand hoch am Himmel und beleuchtete ein verrostetes Eisenschild, das sich über dem einzigen Eingang ... und dem einzigen Ausgang wölbte.
Weeping Hollow.
Mein Mini Cooper stotterte nach der anstrengenden Fahrt über zahlreiche Staatsgrenzen hinweg und ich hielt an einem Stoppschild vor dem Kreisverkehr an, um mir die kleine Stadt anzusehen, die ich nur aus Erzählungen kannte. Sie sah nicht so aus, als gehörte sie in den schönen Bundesstaat Maine. Es war, als hätte der Teufel Salem‘s Lot mit einem schwarz gefiederten Federkiel und Ebenholztinte auf eine zerfledderte Leinwand gemalt und dann seine Schöpfung blindlings fallen lassen, um zu sehen, was dabei herauskommen würde – ob die Menschen sich anpassen würden. Und das taten sie.
Der Motor ging aus, aber ich war zu sehr auf das konzentriert, was vor mir lag, um mir Sorgen deswegen zu machen. Antike Laternen leuchteten an jeder Ecke der Bürgersteige. Und unter dem mitternächtlichen Himmel, an dem sich aquarellgraue Wolken wie ein durchsichtiger Schleier vor eine Galaxie von Sternen schoben, liefen die Menschen im Herzen von Weeping Hollow lässig die düsteren Straßen auf und ab, als wäre es um diese Zeit völlig normal. Um fast drei Uhr nachts. Anfang August.
Ein Schauer lief mir über den Rücken. Nach vierundzwanzig langen Jahren war ich endlich an den Ort zurückgekehrt, an dem ich geboren worden war und an dem meine Mutter ihren letzten Atemzug getan hatte.
Ich drehte den Autoschlüssel um und betete, dass ich das köstlichste Geräusch hören würde, das ein Auto von sich gibt, wenn der Motor wieder zum Leben erweckt wird. Er stotterte ein paar Sekunden, bevor er endlich ansprang, und ich klatschte auf das Lenkrad, bevor ich den Pavillon umrundete. »So ist es gut, Baby. Wir sind fast da. Nur noch ein paar Meilen.«
Gramps lebte an der Küste, die Klippen und das offene Wasser bildeten den Hintergrund für sein historisches, blaugrünes Küstenhaus. Ich hatte das Haus schon einmal in einer alten, staubigen Schachtel gesehen, die ich auf unserem Dachboden in Texas gefunden hatte. Marietta, mein Kindermädchen, hatte mich dabei erwischt, wie ich auf dem alten Parkettboden auf dem Dachboden saß und alte Fotos durchblätterte. Ich hatte sie einmal gefragt, ob wir jemals in die Stadt auf den Fotos zurückkehren würden – die Stadt aus den Geschichten.
»Du kannst nicht zurückgehen, bevor sie dich braucht, Moonshine«, hatte sie gesagt, sich vor mich hingehockt und mir die Fotos aus den Fingern genommen.
Marietta war eine verrückte alte Hexe mit samtiger Haut, schwarzen Augen und einem starken kenianischen Akzent. Sie verbrachte ihre Abende auf der Veranda, schaukelte in ihrem Stuhl und nippte mit einer dunklen Vorahnung in den Augen an ihrem Moscow Mule.
Marietta und ich waren für die meisten ziemlich furchteinflößend, denn es wurde gemunkelt, dass ich Jungs verhexte, die es wagten, sich mir zu nähern. In der Highschool war es besser, sich mit mir gut zu stellen, denn man fürchtete, dass meine Hexe von Kindermädchen ihre handgefertigten Stoffpuppen zerstechen würde, wenn mir jemand etwas antun würde. Ich hatte den Gerüchten nie widersprochen, nicht nach dem, was sie mir angetan hatten. Und außerdem hatte ein Teil von mir geglaubt, dass sie wahr waren.
Wie Gramps es in seinem Brief geschrieben hatte, war ein einsamer Schlüssel im Briefkasten für mich hinterlassen worden. Ich parkte den Wagen am Straßenrand und ließ mein Gepäck bis zum Morgen zurück. Das Rauschen der Wellen, die gegen die Klippen schlugen, erfüllte die unheimliche Stille, während ich die Stufen zur Veranda hinaufging. Meine Füße erstarrten, als ein haarsträubender Blick auf mir landete. Ich spürte ihn zuerst nur, dann drehte ich widerwillig den Kopf.
Eine große Frau, dünn und zerbrechlich, stand in einem zerlumpten weißen Nachthemd auf der Veranda nebenan. Ihr drahtiges graues Haar fiel ihr über die Schultern und ihre langen knochigen Finger umklammerten das Geländer. Dunkle Augen fixierten mich, meine Muskeln zuckten unter meiner Haut. Ich zwang mich, meine Hand zu heben und winkte ihr zu, aber die alte Frau senkte ihren einschüchternden Blick nicht. Ihr Griff um das Geländer wurde noch fester, blaue Adern zeichneten sich unter ihrer ätherischen Haut ab und verhinderten, dass ihr zerbrechlicher Körper von der kleinsten Brise weggeweht wurde.
Ich fummelte an meinem Schlüssel, um ins Haus zu kommen. Der Wind, der durch das Schlüsselloch kam, ließ meine Finger gefrieren, der Schlüssel steckte bereits perfekt im Schloss, als ein weiterer kalter Windstoß mein weißes Haar umherwirbelte. Als ich drinnen war, fiel die schwere Haustür hinter mir zu und ich lehnte mich dagegen, schloss die Augen und sog so viel Luft ein, bis meine Lunge voll war. Der alte, muffige Geruch stieg mir in die Nase und füllte mein Gehirn.
Aber ich hatte es geschafft. Ich hatte es endlich zu Gramps geschafft und es fühlte sich an, als hätte ich Duma Key betreten – einen fiktiven Ort, von dem man nur in einem Buch gelesen hatte.
Auch im Haus war es kälter. Meine knubbeligen Knie zitterten und ich hätte mehr gebraucht als eine dünne Schicht schwarzer Strümpfe unter meinen Bundfaltenshorts, um mich warm zu halten. Aber trotz der Reaktion meines Körpers fühlte sich die Kälte an wie zu Hause.
Ich griff hinter mich und schloss die Tür ab.
Gong! Gong! Gong! Ein plötzlicher Glockenschlag durchbrach die Stille und ließ mich zusammenzucken. Meine Augen sprangen auf und mein Blick fiel auf eine Standuhr aus Kirschholz, die einen monströsen Schatten auf das Foyer warf. Über das ohrenbetäubende Lied hinweg, das in meinen Ohren erklang, ließ ich meinen Kopf wieder gegen die Tür sinken, strich mir das verworrene Haar hinters Ohr und lachte leise über mich selbst.
Die Glocken verstummten, und das alte Haus erwachte zum Leben.
Bei ein paar unruhigen Schritten im Foyer quietschten die alten Dielen unter meinen Schuhen und die Innenseite der Wände hinauf, bis ein schweres, mühsames Atmen durch eine rissige Schlafzimmertür gleich hinter dem Foyer drang. Auf Zehenspitzen schlich ich über die Holzdielen, um einen Blick ins Innere des Schlafzimmers zu werfen, bevor ich die Tür aufstieß.
Dort schlief der Mann, den ich in den letzten zwölf Monaten nur aus Briefen kannte, die wir hin und her geschickt hatten, mit weit aufgerissenem Mund. Bis vor einem Jahr hatte ich keine Ahnung gehabt, dass ich einen lebendigen Großvater hatte. Als ich den ersten Umschlag mit dem Poststempel aus Weeping Hollow erhielt, hätte ich ihn fast weggeworfen. Aber Neugierde war mein Kryptonit, und als mein Blick auf dem ersten Wort, Moonshine, landete, änderte sich alles.
Das Mondlicht fiel durch das Fenster und warf ein wenig Licht auf den alten Mann und sein Schlafzimmer. Gramps lag auf dem Rücken, mit dem Oberkörper leicht ans Kopfteil gelehnt. Seine Haut hing wie ausgeleiertes Gummi von seinen Knochen herab. Gealtert und faltig leuchtete er in dem abgedunkelten Raum, der mit antiken Möbeln und tiefgrünen Damasttapeten dekoriert war. Fedoras und Newsboy-Kappen schmückten die Wand gegenüber von seinem Bett. Das Gebiss lag in einem Glas auf dem Nachttisch neben einer Gleitsichtbrille mit Schildpattrahmen. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, um ihn zu betrachten.
Seine kräftigen Augenbrauen waren eine Nuance dunkler als die grauen Strähnen, die wild aus seinem Kopf ragten. Gramps stieß ein lautes Schnarchen aus, das in der Kehle gurgelte. Nach einem kräftigen Husten kehrte er zum kratzigen Atmen zurück, den zahnlosen Mund weit geöffnet. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber bei jedem mühsamen Atemzug, den er tat – als wäre es das Schwerste, was er je hatte tun müssen – verkrampfte sich mein Kiefer und mein Herz zog sich zusammen.
Erst als sich seine Krankheit drastisch verschlimmert hatte, hatte er seinen Zustand gestanden. In seinem letzten Brief, der mich auch hierher geführt hatte. Er musste es nicht aussprechen, aber dieser letzte Brief wirkte wie ein Hilferuf.
Gramps war krank und er wollte das nicht allein durchstehen. Was Gramps nicht wusste, war, dass ich auch allein war.
»Ich bin hier, Gramps«, flüsterte ich in die Dunkelheit. »Ich bin endlich zu Hause.«
Kapitel 2
FALLON
Ein dröhnender, tiefer Ton schallte durch das alte Haus.
»Und hier kommen die Hollow Schlagzeilen am Sonntagmorgen. Einen schönen dritten August. Bleibt sicher da draußen und denkt daran, nach drei Uhr morgens ist niemand mehr sicher.« Dann folgte das Intro von Haunted Heart von Christina Aguilera und riss mich träge aus dem quietschenden Eisenbett.
Vor der Flügeltür meines neuen Schlafzimmers zogen die Wolken in staubigen Grautönen träge über den taufrischen Himmel. Ich rieb mir die Augen und ging im gleichen Tempo wie die Wolken die Treppe hinunter, wobei ich Christinas lustvoller Stimme folgte, als ob ihr Gesang mich rufen würde.
Heiseres Husten schallte durch die Wohnung und durch den Flur. Als ich um die Ecke bog, saß Gramps mit einer dampfenden Tasse Kaffee an dem kleinen Frühstückstisch in der Mitte der buttergelben Küche. Eine Zeitung lag vor ihm ausgebreitet. Er war bereits vollständig angezogen, trug ein zerknittertes elfenbeinfarbenes Button-down-Hemd unter Hosenträgern und eine khakifarbene Hose. Seine Füße steckten in grün-hellbraunen Socken im Argyle-Muster in einem Paar Hausschuhe.
Als Enkelin hätte ich ihn auf die Wange küssen, meine Arme um seine weichen Muskeln legen und ein paar Tränen vergießen sollen, weil ich meinen Großvater endlich zum ersten Mal traf. Aber ich hatte die Briefe gelesen. Benny Grimaldi war mürrisch und nicht gerade liebevoll. »Du solltest noch nicht auf den Beinen sein. Du solltest dich ausruhen«, sagte ich beiläufig und betrat die halb beleuchtete Küche mit Blick aufs Meer. Kratzige Melodien ersetzten Christinas Stimme aus dem alten Radio, das neben ihm auf dem Tisch stand.
Gramps zuckte zusammen, hob den Kopf und ließ die Hand mit dem Taschentuch von seinen rissigen Lippen sinken, als hätte ich ihn erschreckt. Er blickte einen langen Moment lang unter dem Rand seines braunen Filzhutes zu mir auf und erkannte sicher Teile meiner Mutter – seiner einzigen Tochter – in meinem Äußeren. Seine glasigen braunen Augen erstarrten, als wäre er in die Zeit vor vierundzwanzig Jahren zurückversetzt worden. Als hätte er einen Geist gesehen.
Dann fiel sein Blick auf die Zeitung. »Wort mit fünf Buchstaben für weder tot noch lebendig?«, brummte er, rückte seine riesige, runde Gleitsichtbrille zurecht und widmete sich wieder seinem Kreuzworträtsel.
Es war dumm gewesen, zu glauben, er würde sich nach meiner Reise erkundigen oder mir für mein Kommen danken. In seinen Briefen beschwerte er sich über den Zeitungsjungen, der die neueste Ausgabe von The Daily Hollow neben den Briefkasten statt vor die Haustür warf, über die rücksichtslosen Teenager, die zerbrochene Schnapsflaschen an den Felsen hinter seinem Haus hinterließen, oder über Jasper Abbott, der während des Bingo-Abends im Rathaus in Rage geriet. Gramps machte sich über den absurden Aberglauben und die Traditionen der Stadt und ihrer Bewohner lustig und jede Woche freute ich mich auf seine Briefe. Irgendwie erfüllten seine Vorurteile meine sonst so alltäglichen Tage.
Ich drehte mich auf dem Absatz um, wandte mich der gefliesten Arbeitsplatte zu, auf der verlorenes Geschirr, Kochutensilien und alte Geräte standen, und berührte die Seite der Kaffeekanne, die in der Ecke stand, um zu sehen, ob sie noch warm war.
Wort mit fünf Buchstaben für weder tot noch lebendig. »Untot.« Ich öffnete die gelben Schränke auf der Suche nach einem Becher.
»Der Kaffee ist scheiße«, warnte er nach ein paar weiteren Hustenanfällen. Schleimiger Husten, der tief aus der Brust kam. »Du wärst besser dran, würdest du in die Stadt gehen. Geh aber nicht ins Diner, die tun was in den Kaffee. Geh zu The Bean. Aber nimm deinen eigenen Becher mit. Die mögen keine Leute von außerhalb. Bestell was zu essen, wenn du schon dabei bist. Und kotz es nicht wieder aus. Du bist eh nur Haut und Knochen.«
Ich drehte meinen Kopf in seine Richtung. »Ich bin nicht –«
»Was machst du hier, Moonshine? Ich hab dich nicht gebeten zu kommen!«, schnauzte er und unterbrach mich bissig. Er hustete wieder und hielt sich das Taschentuch vor den Mund, bevor er fortfuhr: »Ich will dich hier nicht.«
Meine Augenbrauen hoben sich – ein Schlag in die Magengrube.
Der alte Mann hatte mir gesagt, dass es ihm nicht gut ging, die Route nach Weeping Hollow aufgeschrieben und einen Schlüssel für mich in den Briefkasten gesteckt. Wenn das keine Aufforderung war, herzukommen, wozu dann die ganze Mühe? Vielleicht hatte er den letzten Brief, den er geschickt hatte, vergessen. Vielleicht bedauerte er, ihn überhaupt abgeschickt zu haben. Vielleicht ging es ihm noch schlimmer, als ich dachte. Vielleicht so schlimm, dass er senil wurde.
»Nun, ich bin jetzt hier, und ich werde dich nicht verlassen. Es gibt nur noch uns beide. Wir sind die einzige Familie, die noch übrig ist, also lass uns das Beste daraus machen, in Ordnung?«
Gramps murmelte etwas während eines weiteren Hustenanfalls. »Wie lange? Ich rufe Jonah an und besorge dir einen Job im Beerdigungsinstitut, damit du mir nicht auf die Nerven gehst. Ich weiß nicht, warum du dich mit Leichen beschäftigst ... Krank, wenn du mich fragst ... Du musst dich selbst beschäftigen ... Jonah wird dir einen Job besorgen ...«, murmelte er weiter.
Mein Plan war immer gewesen, Kosmetikerin zu werden, aber als Marietta starb, änderte sich das. Marietta war in einem offenen Sarg beerdigt worden, und obwohl ich die Einzige gewesen war, die an der intimen Zeremonie teilnahm, war sie mit mir dort. Ihr Geist stand direkt neben mir, als wir auf ihren Leichnam hinunterstarrten, der wie jemand ganz anderes aussah. Das Make-up war total falsch. Es war das erste Mal, dass ich eine Leiche sah, und das Einzige, was ich tun wollte, war, die knallrote Lippenfarbe mit dem Daumen abzuwischen, den matten Lippenstift von Mac aus meiner Schlangenledertasche zu holen und den Farbton Del Rio auf ihre herzförmigen Lippen zu malen. In dem Moment wusste ich, was ich mit meinem Leben anfangen sollte.
Bestatterin zu sein, war meine Berufung.
Und es gab Schönheit nach dem Tod, wie eine verwelkte Rose, deren Blütenblätter steif und zerbrechlich sind. Zeitlos und zauberhaft. Ein Zauberspruch und eine uralte Erzählung. In der Zeit eingefrorene Geschichten in den Ruinen.
Genau wie die Geschichten, die Marietta über Weeping Hollow erzählt hatte.
»Sag ihm, dass ich nichts mit den Familien zu tun haben will.« Meine Unbeholfenheit im Umgang mit Trauer ließ mich unaufrichtig erscheinen. Es war schrecklich für das Geschäft und für beide Parteien am besten so.
»Jaja. Das musst du mit Jonah klären«, antwortete Gramps.
Im hinteren Teil des überfüllten Schranks fand ich schließlich einen Becher und zog ihn aus dem Regal. »Danke, Gramps.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf und grunzte: »Nenn mich Benny. Alle hier nennen mich Benny.«
Ich grinste. »Ich nenne dich Benny, wenn du aufhörst, mich Moonshine zu nennen.«
Gramps’ buschige Augenbrauen zogen sich zusammen. »Ich werde dich nennen, wie auch immer ich dich nennen will.«
In seinen Worten lag ein Hauch von Lächeln, ein zusätzliches Fältchen neben seinen Lippen. Obwohl ich immer noch versuchte, den Mann zu verstehen, war er vielleicht doch froh, mich zu sehen. »Ich werde mit dem Bestattungsunternehmer sprechen. Und jetzt erzähl mir, was der Arzt zu deinem Husten gesagt hat.« Ich goss mir Kaffee in eine Tasse, auf der stand: ECHTE FRAUEN HEIRATEN ARSCHLÖCHER. Sie musste meiner verstorbenen Großmutter gehört haben.
Gramps schnappte sich den Bleistift vom Tisch, beugte sich über die Zeitung und füllte die schwarz-weiß karierten Felder aus. Mein Steißbein stieß gegen den Tresen, ich legte die Knöchel übereinander und führte den dampfend heißen Kaffee an meine Lippen.
»Bitte sag mir, dass du einen Arzt aufgesucht hast ...«, sagte ich, mein autoritärer Tonfall schwappte in die Tasse. Er klopfte ein paar Mal mit dem Radiergummi auf den Holztisch und wich der Frage aus, wie ein Kind es tun würde. Als er mich aus den Augenwinkeln anschaute, zuckte ich mit den Schultern. »Gut. Dann rufe ich ihn eben selbst an.«
Gramps lehnte sich in seinem Holzstuhl zurück und richtete die Spitze des Bleistifts auf mich. »Du musst etwas über uns wissen, Moonshine. Wir machen die Dinge anders hier. Wir gehen die Dinge auf unsere eigene Art an. Dieser Virus entzieht sich der Kontrolle der Ärzte. Sie können nichts tun. Soll ich dir einen Rat geben? Kümmere dich um dich selbst. Mach einfach dein«, er wedelte mit seiner faltigen Hand, »Bestatter-Ding. Dann hast du was zu tun, mit all dem Tod, der um dich herumschwirrt.«
»Mich um mich selbst kümmern?« Ich lachte. »Du glaubst, du kannst mir einfach diesen Job besorgen, um mich dir vom Hals zu halten? Dass ich nur daneben stehe und nicht helfe?«
Gramps ließ seinen Ellbogen auf den Tisch fallen und widmete sich wieder seinem Rätsel.
»Gut. Ich nehme den Kaffee mit nach draußen und genieße die Aussicht.« Ich trat von der Theke weg und ging an ihm vorbei. »Oh, und ich fahre später in die Stadt. Versuch, nicht zu sterben, während ich weg bin.«
Er grummelte leise. »Wenn du in die Stadt willst, nimm nicht das Auto. Hier fahren nur steife Snobs und Hooligans mit dem Auto. In der Garage steht ein Motorroller.«
Ich nickte, unterdrückte ein Lächeln und bevor ich durch die Seitentür nach draußen ging, nahm ich eine Wolldecke vom Sofa und wickelte sie um mich. Es gab keinen richtigen Garten. Ich kam an einer freistehenden Garage vorbei und ging die Steinstufen zum Rand der Klippen hinunter. Das tiefblaue Wasser des Atlantiks erstreckte sich weit und verschwand im Himmel. Der salzige Dunst des Wassers strich über meine Wangen und meine Augen schlossen sich unter dem düsteren Gesang des Meeres, die Luft spielte in meinem Haar, während ich einen weiteren Schluck Kaffee nahm.
Gramps hatte recht. Der Kaffee war scheiße.
Als ich die Augen wieder aufschlug, sah ich da unten, wo die Wellen auf die Felsen trafen, einen Mann. Er war allein, trug einen schwarzen Mantel, hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen und starrte auf den schwarzblauen Ozean unter dem grauen Wolkenhimmel. Zufrieden und friedlich ließ er einen Arm über sein angewinkeltes Knie hängen, das andere Bein hatte er vor sich ausgestreckt. Er starrte auf den Horizont, als sähe er etwas, das so viel größer war als das Meer. Als wollte er ein Teil davon sein.
Die Wellen schlugen gegen die Felsen und elfenbeinfarbener Schaum zischte um seine Füße, wenn das Wasser darüberschwappte, aber es berührte ihn nicht. Nichts konnte ihn berühren. Ich schaute erst nach links, dann nach rechts und fragte mich, ob um diese Zeit noch jemand anderes draußen war. Die Sonne war gerade aufgegangen. Aber es waren nur wir zwei, die auf denselben weiten Ozean hinausblickten, unter demselben verhangenen Himmel, nur eine kurze Distanz zwischen uns.
Er hob einen kleinen Stein auf, der neben ihm lag, prüfte ihn zwischen seinen Fingern und warf ihn dann weit über die Wellen hinaus. Ich ging einen Schritt näher an die Spitze der Klippe heran, woraufhin lose Steine den steilen Abhang hinter ihm hinabrollten.
Der Mann schaute über seine Schulter zu mir hoch.
Eine schwarze Maske bedeckte sein Gesicht, nur seine Augen – dieselbe Farbe wie der silberne Himmel – fielen auf mich wie Schnee in einer kalten Winternacht. Leicht und sanft. Ein Schauer lief mir über die Haut. Keiner von uns beiden bewegte einen Muskel oder sprach ein Wort. Er sah mich an, als hätte ich ihn in einem intimen Moment erwischt, als hätte er mit dem Morgen Liebe gemacht. Es wäre das Richtige gewesen, den Blick abzuwenden, aber es fühlte sich unmöglich an. Ich hätte wegschauen und ihm den Freiraum geben sollen, für den er hierhergekommen war. Ein normales Mädchen hätte das vielleicht getan.
Aber stattdessen rief ich ihm zu: »Was machst du da unten?«
Er hob die Hand, die auf seinem angewinkelten Knie lag. Wenn er geantwortet hatte, waren seine Worte von den Wellen weggespült worden. Die Maske, die sich über sein Gesicht spannte, verhinderte, dass ich die Bewegung seiner Lippen sehen konnte. Aber er wandte den Blick nicht ab. Er blieb an mir haften.
Mein Mund wurde trocken und ich versuchte zu schlucken.
»Ich bin Fallon. Fallon Morgan!«, rief ich und hoffte, dass er mich hörte und nicht die Nervosität, die in meine Stimme sickerte.
Er ließ den Kopf kurz hängen, bevor er wieder zu mir aufblickte. Sekunden vergingen, während wir uns schamlos in die Augen sahen und meine Finger über meine lächelnden Lippen fuhren. Ich fragte mich, ob er hinter seiner Maske auch lächelte. Ich musste näher heran.
Meine Augen folgten dem Rand der felsigen Klippe und suchten nach einem Weg hinunter, bis ich einen entdeckte.
Die Decke fiel von meinen Schultern. Mit einer Hand hielt ich die heiße Tasse in der Hand, aus der der Kaffee über den Rand tropfte, mit der anderen balancierte ich auf den scharfen Kanten und ging barfuß nach unten.
Als ich die gleiche Ebene wie er erreichte, beobachtete er mich mit hochgezogenen Augenbrauen, während ich auf den Felsen wippte. Mir lief die Nervosität über den Rücken bis in den Nacken, während er sich hinstellte und einen Stein zwischen zwei Fingern rieb. Sein Körper zuckte, als ob er jeden Moment aus der Situation fliehen wollte, aber irgendetwas hielt ihn wie angewurzelt an der Stelle.
Ich ging um ihn herum und stellte mich auf die höhere Seite des Felsens. »Ich konnte dich nicht hören.«
»Und das hast du als Einladung verstanden?« Er drehte sich um und richtete seine Aufmerksamkeit auf mich, beobachtete jede meiner Bewegungen.
Als meine nackten Füße das Gleichgewicht gefunden hatten, blickte ich zu ihm auf. Und seine kalten Augen ließen alles, was noch an Wärme in mir war, erstarren. Die Kälte strömte von meinem Kopf bis in meine Fingerspitzen und kühlte wahrscheinlich auch meinen Kaffee. Sein Blick fixierte mich, wahrscheinlich versuchte er zu ergründen, was es mit diesem seltsamen Mädchen auf sich hatte, das seinen friedlichen Morgen störte.
»Wie heißt du?«, fragte ich. Seine Augen blickten erst nach oben und dann nach unten, als er sich wieder dem Wasser zuwandte und den Kopf schüttelte. »Okay ...« Ich nippte an meinem Kaffee, eine Welle kam und spritzte über den Felsen auf meine nackten Zehen. Die eisigen Temperaturen stachen in meine Haut wie tausend Nadeln, aber ich sprang nicht zurück. Mein Blick richtete sich auf ihn und ich bemerkte, wie er distanziert und desinteressiert auf den Horizont des schwarzen Wassers fixiert war. »Kommst du immer morgens hierher?«
»Nicht immer.« Er bückte sich und hob eine Handvoll Steine auf. Sie hüpften auf seiner Handfläche, einer glitt zwischen Zeigefinger und Daumen.
»Gefällt dir das Wasser?«
Eine Ader in seinem Hals pulsierte. Er schleuderte einen Stein weit über die Wellen hinweg und er hüpfte über die glatte Oberfläche, vorbei an den bewegten Schaumkronen. »Ich verabscheue es.«
»Warum bist du dann gekommen?«
Seine Schultern hoben sich und mein Blick glitt über sein Profil. Er war groß, vielleicht einen Meter achtzig. Er ließ einen weiteren Stein über die Wasseroberfläche springen.
»Wenn ich es dir sage, gehst du dann wieder?«
»Kommt drauf an. Wirst du ehrlich zu mir sein?«
Sein Kinn senkte sich und sein Brustkorb weitete sich, bevor er durch dichte Wimpern wieder zum Wasser hochsah. »Du würdest den Unterschied nicht bemerken.«
»Stimmt. Aber ich bin eine Fremde. Du hast keinen Grund, etwas anderes als ehrlich zu sein.«
Endlich sah er mich an – sah mich wirklich an. Wir waren nur ein paar Meter voneinander entfernt, aber er schaffte es trotzdem, mir mit einem einzigen Blick den Atem zu rauben. Seine Augen, leidenschaftslos wie Gewehrkugeln, wanderten mit einer Gründlichkeit über meine Gesichtszüge, die mich aus der Fassung brachte, erforschten mich, studierten mich, begutachteten mich.
Dann ließ er mich los, als hätte er mich aus seinen Armen fallen lassen, und richtete seinen Blick wieder auf den Ozean. »Okay. Wenn ich sage, dass Steine, wenn ich sie werfe, Wellen erzeugen und dass diese Wellen wie Schallwellen sind«, er warf einen weiteren Stein, »und dass diese Schallwellen auf die andere Seite gelangen und eine Nachricht senden können, wäre das dann echt?«
»Ja.« Eine weitere Welle schwappte über unseren Felsen, die Gischt zischte an seinen Stiefelspitzen. »Kann ich helfen?«
Die Steine tauchten wieder in seiner Handfläche auf. »Das ist ein Ein-Mann-Job.«
»Nun«, begann ich und schaute an dem Felsen, auf dem wir standen, herunter und umher. Ich beugte mich vor und stellte meinen Becher hinter uns ab. »Vielleicht erreichen wir beide zusammen denjenigen, dem du eine Nachricht zukommen lassen willst. Außerdem«, fuhr ich fort und stellte mich wieder aufrecht hin, »bin ich eine badass Steinflitscherin.« Ich schenkte ihm ein Lächeln und streckte ihm meine Handfläche hin. Ich konnte nicht erkennen, ob er lächelte oder nicht. Seine Augen blieben distanziert und so leblos wie die Leichen, die damals in Texas über meinen Tisch im Leichenschauhaus gegangen waren.
»Also gut.« Er drückte mir einen einzelnen Stein in die Hand. »Zeig es mir.« »Du gibst mir einen?«
»Es muss sich lohnen.«
»Whoa, nur keinen Druck machen. Okay.« Ich warf den Stein in die Luft, mein Fuß verlor das Gleichgewicht, als ich ihn auffangen wollte. Der Typ packte mich am Arm, damit ich nicht ins Meer fiel.
»Die Steine sind kein Spielzeug«, schimpfte er. Sein Blick wanderte zu seiner Hand auf meinem Arm, er räusperte sich und löste seinen Griff rasch wieder, als hätte er sich gerade verbrannt.
»Mein Fehler«, flüsterte ich.
Er straffte seine Schultern. »Anfängerfehler.«
Möwen krächzten über mir. Ich rieb den Stein zwischen meinen Fingern, ertastete die glatte Oberfläche, spürte seine Augen, die mich beobachteten, seinen kalten Blick, der über meinen Körper glitt wie eine Decke aus etwas Kaltem und Unerschütterlichem und Vertrautem, wie ein Zuhause. Es verursachte eine Gänsehaut auf meiner Haut. Ich versuchte, sie abzuschütteln, und mit einer schnellen Bewegung meines Handgelenk warf ich den Stein.
Er flog nur ein paar Meter, plumpste dann ins Wasser und sank.
»Du hast recht. Das war ... badass«, stellte er trocken fest.
»Hey!«, rief jemand in der Ferne. Ich drehte mich um und sah eine Frau in Bademantel und Regenstiefeln, mit Lockenwicklern im Haar, die ein paar Häuser weiter mit einer Zeitung wedelte. »Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst dich von unserem Land fernhalten!«
Am Rande der Klippe entlang marschierte sie auf uns zu, blickte auf die Felsen hinunter und schrie Drohungen, seinen Hausfriedensbruch bei der nächsten Gemeinderatssitzung zur Sprache zu bringen.
Mein Blick flog zu dem Kerl. Er legte den Kopf schief, seine Augenwinkel kräuselten sich, bevor er sich umdrehte und schnell über die Felsen lief. Die Frau rief wieder. Mein Blick hüpfte zu ihr hinauf, und als ich wieder zu dem Typen zurückblickte, war er schon weg.
Ich nahm eine kalte Dusche und verbrachte den Rest des Morgens mit Auspacken, dann machte ich das große Himmelbett, in dem ich die Nacht zuvor geschlafen hatte.
Mein großes Schlafzimmer befand sich im zweiten Stock mit eigenem Bad und Blick auf die Küste. Die schräge Decke war mit Eichenholz vertäfelt, darüber verliefen niedrige Balken. Durch die Flügeltüren und von dem Balkon mit Blick auf das Meer führte eine geschwungene Treppe auf den Boden darunter.
Ich nahm die Treppe und ging durch das überwucherte Gestrüpp zur Garage, wo Gramps gesagt hatte, dass der Motorroller stehen würde.
Nach einigen Versuchen öffnete sich das Garagentor und Staubwolken stiegen auf, als es sich nach oben faltete. Kisten stapelten sich übereinander und säumten die Wände im Inneren. Ich ging an einem abgedeckten Fahrzeug vorbei, hinter dem ein weißer Motorroller stand.
Es sah aus, als wäre es schon lange nicht mehr benutzt worden, der Schlüssel steckte noch im Zündschloss. Ich fuhr mit meinem weißen Fingernagel über den Rahmen. Unter der dünnen Staubschicht prangten die Reste eines verblichenen silbernen Emblems an der Seite. Es war dasselbe Emblem, das auf dem rissigen Leder der Fotoalben prangte, die ich auf dem Dachboden in Texas gefunden hatte.
Ein fünfzackiger Stern mit fünf Symbolen innerhalb eines Kreises.
Ich drehte den Schlüssel und das kleine Ding hatte eine Fehlzündung, bevor es zum Leben erwachte. Die Haare in den Helm gesteckt, fuhr ich mit dem weißen Roller die Straßen der Nachbarschaft auf und ab, bevor ich in die Stadt fuhr.
Nachts waren mehr Menschen auf den Straßen von Weeping Hollow unterwegs als tagsüber. Rund um den Pavillon befanden sich winzige Geschäfte: eine Buchhandlung namens The Strange & Unusual, ein Postamt, Hobb’s Grocery, eine Arztpraxis, The Corner Store und The Bean Coffee Shop, den Gramps erwähnt hatte, um nur einige zu nennen. Die düstere Stadt war in matte Orange-, Gelb- und Brauntöne gehüllt, als ob es nicht gerade Sommer wäre. Als ob die Stadt im Herbst gefangen wäre, selbst Anfang August. Künstliches Herbstlaub wickelte sich um die Spindeln des Pavillons, und Heuballen und Kürbisse schmückten die Schaufenster. Der bedrückende Duft von sterbenden Blättern lag in jeder heftigen Brise, ein kompletter Gegensatz zu den warmen und verspielten Winden in Texas.
Ich parkte parallel vor Mina Mae’s Diner und steckte den Schlüssel ein. Drinnen herrschte eine ganz andere Atmosphäre als vor der Tür. Gepolsterte Barhocker säumten den langen Tresen, der sich von einem Ende zum anderen erstreckte, vor den hungrig wartenden Gästen lag die Küche. Das Personal und die Kellner – sie trugen schwarz-weiße Nadelstreifenhemden und Schürzen mit Essensresten – bewegten sich zügig, um dem morgendlichen Ansturm gerecht zu werden, ohne aufzublicken, um zu sehen, wohin sie gingen. Irgendwie stieß niemand in dem Gewühl mit dem anderen zusammen.
Als ich ankam, blieben alle stehen und starrten in meine Richtung. Aber genauso schnell schauten sie auch wieder weg und widmeten sich ihrer Arbeit, ihrem Essen oder ihrer Begleitung, als ob sie bemerkt hätten, dass ich nichts Besonderes war.
Ich zog eine Speisekarte aus der Tasche eines Schilds, auf dem Nimm Platz stand, und entdeckte einen leeren Tisch neben einem Fenster. Mein Blick schweifte über das Lokal, während ich auf die Bank rutschte.
Mina Mae’s schien ein Schmelztiegel für Stepford-Frauen, urteilende Blicke und Stammgäste zu sein, die wahrscheinlich seit über fünfzig Jahren jeden Tag hierherkamen. Drei ältere Damen mit schicken Hüten starrten mich an und senkten ihre Stimmen zu einem Flüstern. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder der Speisekarte zu und spürte, wie sich ihre Blicke in meinen Nacken bohrten.
»Lass mich raten«, sagte eine Stimme, die meinen Kopf hochschnellen ließ. »Fallon Morgan.«
Vor meinem Tisch stand ein Mann Mitte zwanzig, der eine beigefarbene Hose und eine Newsboy-Kappe trug.
»Ja«, bestätigte ich und sah mich um, um sicherzugehen, dass er mit mir sprach, obwohl er meinen Namen gesagt hatte. »Ich bin Fallon Morgan und du siehst genauso aus wie mein Großvater.«
»Der schrullige alte Benny?« Er setzte sich mir gegenüber, ließ einen Stapel Bücher und Papiere zwischen uns fallen und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Ich nickte und lehnte mich zurück, überzeugt, dass er mich mit einer anderen Fallon Morgan verwechselte. Noch nie hatte sich jemand freiwillig zu mir gesetzt. »Ich fasse das als Kompliment auf.« Er hob einen Finger. »Dieser Mann ist eine Legende.«
Ich runzelte die Stirn. »Tatsächlich?«, fragte ich und der Mann nickte. »Woher kennst du meinen Namen?«
»Es hat sich herumgesprochen. Übrigens, ich bin Milo. Woher kommst du? New York?« Er nahm seine Kappe ab und entblößte weiches, braunes, zur Seite gekämmtes Haar, das sich an den Enden natürlich kräuselte. Der Mann war schlank, hatte honigbraune, gefühlvolle Augen und sein Lächeln erzählte eine Million Geschichten.
Ich hob meinen Kopf ein wenig. »Warum New York?«
»Du fällst auf wie ein bunter Hund.« Sein Finger bewegte sich kreisförmig in Richtung meiner Kleidung. »Mit all den schicken Klamotten, die du hier trägst.«
Ich biss mir auf die Lippe, schaute auf meine karierte Seidenbluse hinunter, die das Billigste war, das ich besaß, und fühlte mich plötzlich unsicher. »Nein, San Antonio«, korrigierte ich und sah ihn an.
»Mhm ... Das hätte ich nicht gedacht.«
Eine ältere Dame näherte sich unserem Tisch, ein langer Zopf mit grauem Haar hing über eine Schulter. Sie schlug sich kreischend die Hand vor den Mund und starrte mich mit einem Funkeln in den Augen an.
»O mein Gott. Ja, Bennys Enkelin.« Die Kellnerin mit dem süßen Gesicht lachte ungläubig. »Ich würde dich ja umarmen, aber ich will dich nicht verschrecken.« Ihr Blick richtete sich auf Milo. »Milo Andrews, lass dem Mädchen etwas Platz, ja? Kann sie nicht wenigstens länger als fünf Sekunden hier sein, ohne dass die Paparazzi anrücken?«
Grinsend winkte ich ab. »Er ist in Ordnung. Es ist eine nette Abwechslung, einmal mit jemandem zu reden, der keinen Stock im Arsch hat.«
»Ach, Benny?« Sie schnalzte mit der Zunge. »Lass dich von dem Mann nicht täuschen, er hat auch irgendwo ein Herz ... tief, tief, da drin.«
Milo warf mir einen Seitenblick und ein schiefes Lächeln zu. »Mina Mae und Benny kennen sich schon lange, wenn du weißt, was ich meine.« Er wackelte mit den Brauen.
Mina gab Milo einen Klaps auf den Kopf. »Verbreite keine Gerüchte, Junge.« »Hey, also ... ein guter Reporter nennt nur die Fakten«, verteidigte sich Milo, die Hände abwehrend gehoben.
Mina schüttelte den Kopf und richtete ihren Blick wieder auf mich, den Stift auf ihren Notizblock gedrückt. »Was kann ich dir bringen, Liebes?«
Milo meldete sich schnell zu Wort. »Zwei Portionen Hotcakes. Lass mich unsere Außenseiterin einladen.«.
Mina klappte den Block zu und ließ ihn zusammen mit dem Bleistift in ihre Schürze fallen. »Fallon Morgan ist keine Flachländerin.« Mit Gewissheit und einem einzigen Nicken machte sie sich auf den Weg in die entgegengesetzte Richtung.
»Diese Frau macht mir manchmal Angst«, gab Milo zu und sah ihr beim Weggehen zu. »Aber sie macht mega Hotcakes.«
Nach dem Frühstück überredete Milo mich, mit ihm einen Spaziergang durch den Ortskern zu machen. Seite an Seite liefen wir über die Pflastersteine mit Fischgrätenmuster, wobei Milo mit seinen ein Meter achtzig den Bücherstapel zwischen Arm und Hüfte geklemmt trug. Ich hielt mit seinen langen Schritten mit, während er von Weeping Hollow und seinen Bewohnern erzählte.
»Wir haben nicht viele Flachländer. Du weißt schon, Leute von außerhalb. Und den Versuch, Informationen über die Außenwelt zu bekommen, kannst du vergessen. Diese Stadt ist in der Zeit gefangen. Die Gründer haben es so entschieden, uns abgeschnitten, uns vor gesellschaftlicher Manipulation geschützt. Wir wissen nur das, was wir von den Flachländern direkt wissen, oder wenn man wie durch ein Wunder eine Internetverbindung findet.« Als wir eine Kreuzung erreichten, blieb er stehen und sah mich an. »Es hat keinen Sinn, dein Handy zu benutzen. Deine einzige Hoffnung, eine Verbindung zu finden, ist bei The Bean, aber sei vorsichtig, was du dir ansiehst, denn irgendjemand schaut immer zu.«
Milo wandte seinen Blick ab und setzte seinen Weg fort. »Weeping Hollow ist ein abgelegener Ort, der von den beiden Hexenzirkeln geleitet wird. Und du bist eine Morgan und eine Grimaldi, das macht dich hier extrem wichtig. Es ist nur eine Frage der Zeit ...«
Ohne aufzusehen, machte Milo einen Schritt vom Bordstein und ging über die Straße auf die andere Seite. Ich sah in beide Richtungen, bevor ich ihn so schnell wie in meinen schwarzen Stiefeln möglich einholte. »Eine Frage der Zeit für was?«
Er hielt an und drehte sich um, als ich gerade mitten auf der Straße stand. »Für deine Einweihung natürlich«, sagte er sachlich, als hätte ich eine dumme Frage gestellt. Ein Paar brauner Augen betrachtete meinen verwirrten Gesichtsausdruck. »Deshalb bist du doch hier, oder?« Seine Brauen zogen sich zusammen. »Du weißt es noch gar nicht?«
Ich warf meine Hände in die Luft. »Was weiß ich nicht?«
Milo ging weiter, sein Lächeln wirkte verblüfft, während er den Zeigefinger schüttelte. »Jetzt ergibt alles Sinn, auch der Grund, warum Tobias Morgan dich mitgenommen hat.« Er sprach eindeutig mit sich selbst, aber die Erwähnung meines Vaters erregte meine Aufmerksamkeit. »Zwei Hexenzirkel, in einem verworrenen Netz gefangen, aber die Familien Grimaldi und Morgan –«
»Hexen?« Meine Fußballen brannten in meinen Stiefeln und ich griff nach seinem Bizeps, um ihn aufzuhalten. »Sprich Klartext.«
Er hielt inne und drehte sich zu mir um, wobei seine Tweedmütze einen Schatten auf sein halbes Gesicht warf. »Ja, deine Mutter, Freya Grimaldi, ist vom Norse-Woods-Zirkel.« Er deutete auf den Wald. »Die nordischen Wälder sind so etwas wie das Ödland, aus dem die Unterschicht kommt. Aber dein Vater?« Milos Finger wies auf das Meer. »Er war vom Sacred-Sea-Zirkel. Das ist die Oberschicht, die den Osten kontrolliert, bis hinauf nach Crescent Beach. Du bist gerade in eine Stadtfehde hineingefahren, die dein Vater begonnen hat, bevor er wegging.« Milo tätschelte mir den Kopf. »Früher oder später wirst du dich den Sacred Sea anschließen müssen, wo du auch hingehörst.«
Hexen?
Milo ging weiter den Bürgersteig hinauf und ließ mich mit einem leeren Blick zurück.
Seine Erwähnung von Hexen erinnerte mich an Mariettas eigenartiges Verhalten. Wie sie sich zu den seltsamsten Zeiten auf dem Dachboden einschloss, wie sie flüsternd die steilen Holztreppen hinunterlief und wie sie bildhafte Geschichten über die Götter und Göttinnen von Weeping Hollow erzählte. Ich dachte, das wären alles nur Gute-Nacht-Geschichten gewesen.
Norse Woods und Sacred Sea, diese Namen hatte ich schon so lange nicht mehr gehört.
Aber es war unmöglich, dass Dad einem Hexenzirkel angehört hatte. Tobias Morgan war in der Air Force gewesen, ein Mann, der dem Vaterland gedient hatte, tapfer und loyal, bis er im Krieg gestorben war, kurz nach meinem fünfzehnten Geburtstag.
Und doch war Weeping Hollow real. Könnten all die Geschichten auch wahr sein? Hatte Dad Marietta, mein Kindermädchen, aus einem bestimmten Grund aus dieser Stadt nach Texas geholt, um auf mich aufzupassen?
»Hey!«, rief ich und holte Milo ein, der drei Meter vor mir ging. »Aber ich bin keine Hexe. Ich bin nur hier, um mich um Benny zu kümmern und dafür zu sorgen, dass es ihm besser geht. Was ist, wenn ich an all dem nicht beteiligt sein will?« Milos Tempo verlangsamte sich, aber er sah mir nicht in die Augen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, aber es kann nichts Gutes dabei herauskommen. Du gehörst zum Sacred Sea.« Milos Blick senkte sich auf meine misstrauischen Augen, dann wurden seine Züge weicher. »Das ist eine Menge zu verdauen. Vergessen wir einfach für den Moment, dass ich etwas gesagt habe. Ich kenne einen Ort, der dir wegen Bennys Husten helfen kann.«
Die dichten Wolken, düster und trübe, schoben sich über den Himmel über dem Marktplatz, als wir vor einer herbstlich geschmückten Ladenfront hielten. BLACKWELL APOTHECARY stand auf einem schwankenden schwarzen Schild, das aus dem Backstein über uns ragte. Die rissigen Stufen zur Tür hinauf säumten antike Laternen, Kürbisse und Tannenzapfen und verteilten sich vor den gitterartigen Fenstern auf jeder Seite.
Milo öffnete die Tür und hielt sie mit dem Absatz seines braunen Lederschuhs auf, um mich hereinzuwinken. Die Tür schloss sich hinter uns und ich suchte den kleinen Laden mit neugierigen und gespannten Augen ab.
Von der Decke hängende lebende Pflanzen krochen an alten Regalen hinunter, auf denen Gläser mit handgeschriebenen Etiketten standen. Kräuter, Blumen, Gewürze und ätherische Öle füllten die Apothekergläser an den Wänden. Milo läutete an der Rezeption, während ich zu den Ölen ging und an jedem einzelnen roch, von Sandelholz über Kamille bis Weihrauch.
»Die sind unglaublich«, murmelte ich und schloss die Augen, als der warme und holzige Duft meine Sinne einnahm.
»Das ist meine Erdungsmischung«, antwortete eine Frauenstimme. »Fichtenblätter, Hobaumblätter, Weihrauch, blaue Kamillenblüten und ...« Ein deutliches Schnapp! durchdrang die Luft. Schnell schraubte ich die Kappe wieder auf. »Ach ja, blaue Rainfarnblüte. Bringt Harmonie in Geist und Körper.«
Sie hatte rabenschwarzes Haar und widerspenstige graue Strähnen, die ihre zarten Gesichtszüge umrahmten. Sie war eine zierliche Frau, sicher in den Vierzigern oder Fünfzigern, aber das konnte man nur an den Falten und Altersflecken an ihren Händen erkennen.
Ihr überraschter Blick wanderte über mich. »Das kann nicht sein«, flüsterte sie keuchend, dann stellte sie die Gegenstände aus ihren Armen in Windeseile neben der Kasse ab und huschte näher. Ihre sanften Finger fuhren durch mein langes weißes Haar. »Freya?«
Ich erstarrte unter ihren hoffnungsvollen Augen, als sie mein Gesicht abtasteten. »Freya war meine Mutter.«
»Natürlich.« Sie ließ ihre Hand fallen und über ihre Gesichtszüge legte sich Verlegenheit. »Es tut mir so leid, meine Liebe. Es ist wie ... ein Blick in die Vergangenheit.« Sie schenkte mir ein schwaches Lächeln, das von verlorenen Erinnerungen durchzogen war.
»Sie kannten meine Mutter?« Es war seltsam, hier zu sein. Die Frau, die mich geboren hatte, hatte höchstwahrscheinlich in Mina Mae’s Diner gegessen, diese Apotheke besucht und war durch diese Straßen gegangen. Die Menschen in Weeping Hollow hätten sie gekannt, was für mich, ihr Fleisch und Blut, nicht galt. Sie hatten etwas, das ich nie haben würde – Erinnerungen. Und ich war plötzlich eifersüchtig auf eine Stadt, die von der Gesellschaft abgeschnitten war, weil sie zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht von meiner Mutter abgeschnitten gewesen war.
Die Frau nickte. »Sie war wie eine Schwester für mich. Durch dick und dünn bis –« Sie unterbrach sich, schüttelte den Kopf und sagte: »Na ja, du weißt schon ... Aber man konnte uns nicht auseinanderbringen, deine Mutter und mich«, sagte sie mit einem fröhlichen Lachen. Ihr Lachen verging schnell, als ihre Augen zu glänzen anfingen. »Ich denke jeden Tag an sie. Und dich, Fallon, sie hat dich sehr geliebt.«
Sie wischte sich über die Augen und holte tief Luft, um sich wieder zu fassen. »Wie auch immer, seid ihr wegen Benny hier? Ich kann etwas zusammenstellen, das gegen seinen Husten hilft.«
»Ja, Ma’am«, unterbrach Milo. »Jedes Mal, wenn der alte Mann hustet, zittert die ganze Stadt. Uns allen wird schwindelig.«
In meinem Kopf schwirrten so viele Fragen umher, während meine Füße auf dem Boden klebten und ich nur beobachten konnte, wie sie im Laden hin und her lief, um Gläser aus den Regalen zu holen. Die Frau kehrte an den Ladentisch zurück und begann, jeden Deckel aufzudrehen und verschiedene Dinge in eine Marmorschüssel zu streuen, bevor sie die Blätter zerkleinerte und zu einer Mischung mahlte.
»Dieser Tee wird seine Kehle beruhigen. Er schmeckt süß wie Honig, aber der Nachgeschmack wird sich auf der Zunge wie bittere Melasse anfühlen. Benny ist ein dickköpfiger Mann, also musst du dafür sorgen, dass er ihn trinkt.«
Milo stützte sich mit einem Ellbogen auf dem Tresen ab und drehte sich zu mir. »Hast du das gehört, Fallon? Ms. Agatha weiß, was sie tut. Besser als dieser langweilige und dumme Dr. Morley.« Ich löste meine Füße vom Boden und ging neben Milo her, während Agatha Blackwell ihre Belustigung hinter einem knappen Lächeln verbarg. »Du weißt, dass ich recht habe.« Milo hob seine Handfläche in Agathas Richtung. »Kein Grund, bescheiden zu sein, wenn es um die Wahrheit geht.«
»Du bist einzigartig, Milo«, flötete Agatha und schüttelte den Kopf, während sie die neue Mischung in ein separates Einmachglas füllte und das Glas in eine Geschenktüte schob.
»Wie viel schulde ich Ihnen?«, fragte ich, als ich endlich meine Stimme wiederfand.
Agatha schaute mich mit liebevollen Augen an. »Die erste geht aufs Haus. Ich bin einfach so glücklich, dass ich dich nach all der Zeit endlich wiedersehen konnte. Das letzte Mal, als ich dich gesehen habe, warst du noch ein Baby ... Ich hätte nie gedacht, dass dieser Tag kommen würde, ehrlich gesagt. Bleibst du lange hier?«
»Danke, und nein. Nur, bis Benny wieder auf den Beinen ist.« Ich wusste nicht, was ich sonst hätte sagen sollen.
Ihr Lächeln wirkte diesmal gezwungener, als sie die Arme auf dem Tisch verschränkte. »Auf jeden Fall sind wir froh, dass du wieder da bist. Lass mich wissen, wie es Benny danach geht.«
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, verließen Milo und ich die Apotheke und traten auf den gepflasterten Bürgersteig hinaus. Der Nebel wurde nur noch dichter und schwebte über den rutschigen Straßen, als wir in die entgegengesetzte Richtung zurückgingen, zu meinem Roller. Obwohl es erst Nachmittag war, war die Sonne bereits weg, als hätte sie den ganzen Tag versucht, durch die Wolken zu brechen, sei aber gescheitert.
Als wir den Zebrastreifen erreichten, blieb Milo stehen, weil irgendetwas seine Aufmerksamkeit erregte. Ich folgte seinem Blick die Straße hinunter. Sie versank im Nebel, die schwarzen Umrisse des Waldes waren in der Ferne zu erkennen.
Durch den feuchten Nebel schritten vier Silhouetten durch die Dunkelheit. Einer nach dem anderen kamen sie zum Vorschein. Vier Männer, die alle dunkle Mäntel, abgetragene Hosen oder Jeans und Stiefel trugen. Ihre Gesichter, geradeaus gerichtet, waren vor der Welt durch Masken verborgen. Einer trug ein Bandana, einer eine Halloween-Hasenmaske und ein anderer eine einfache schwarze Maske. Der vorderste trug den Schädel eines Impalas, dessen lange, aschbraune Hörner in den wolkenverhangenen Himmel ragten.
»Wer sind die?« Es kam fast flüsternd heraus, während ich die Männergruppe beim Näherkommen beobachtete.
Milo legte mir eine Hand auf die Schulter und zog mich näher zu sich. »Beck, Zephyr und Phoenix. Das sind die letzten vier der fünf ursprünglichen Nachkommen des Norse Woods-Zirkels.«
»Wer ist der vierte?« Keine fünfzehn Meter entfernt stockte der Mann mit dem Tierschädel in seinem Schritt. Vertraute silberne Augen trafen meine, fest und bindend, hielten meinen Atem in ihren Klauen, meinen Blick in ihrem Griff. Nur einen Moment lang, dann wandte er den Kopf ab und ließ mich los.
»Der in der Mitte? Das ist Julian Blackwell. Der Sohn von Agatha.«
Julian. Der Typ von den Felsen.
Sie gingen an uns vorbei, wobei keiner der anderen drei uns beachtete oder Aufmerksamkeit schenkte. Sie liefen zielstrebig und selbstsicher. Sie trugen einen Schutzschild, wirkten dahinter gleichgültig und unbarmherzig.
Milos Griff um meine Schulter wurde fester. »Das sind die Hollow Heathens.«
Kapitel 3
FALLON
An der Vorderseite, nahe des Eingangs von Weeping Hollow, wo gewundene Bäume, Gräber und Mausoleen das hügelige Gräberfeld bedeckten, lag das St. Christopher’s Funeral Home versteckt. Die verlassenen Bahngleise kreuzten die Hauptstraße und verschwanden hinter dem Gebäude im Wald.
Es war Mittwoch und ich folgte Jonah St. Christopher dem Vierten durch den schmaler werdenden Flur, bis wir eine Wendeltreppe erreichten. Jonah war viel jünger, als ich erwartet hatte, Mitte dreißig, trug taillierte Jeans und ein weißes Hemd mit einer schmalen schwarzen Krawatte. Sein Haar war kurzgeschnitten, professionell und stilvoll.
»Dein Büro ist hier unten im Keller«, erklärte er, als wir die Wendeltreppe hinuntergingen. Jonah hielt auf halbem Weg inne, griff nach dem geschwungenen Geländer und rüttelte daran. »Vorsichtig, das muss noch repariert werden.«
Mein Fuß verließ gerade die letzte Stufe, als ein Mädchen von ihrem Schreibtisch aufsprang. Der Bürostuhl rollte zurück, bis er an die Betonwand hinter ihr stieß, und sie begrüßte mich mit einem breiten, einladenden Lächeln.