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Eine Borderline-Störung geht in der Regel mit ausgeprägter emotionaler Instabilität und daraus resultierender Selbstgefährdung einher. Für ihre Behandlung ist verlässlich nachgewiesen, dass jede Therapiemethode störungsspezifische Modifikationen vornehmen muss. Dieses Buch stellt nun eine störungsspezifische systemische Behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung vor. Das Vorgehen fußt auf einem synergetischen Verständnis psychischer Prozesse und berücksichtigt die aktuellen Leitlinien-Empfehlungen. Die Autor:innen geben zunächst einen Überblick über das in der klinischen Fachliteratur gesammelte Behandlungswissen und erläutern dann, theoretisch fundiert und anhand vieler Fallvignetten, ihren Behandlungsansatz. In dieser Kombination gelingt es, eine Grundlage für eine professionelle und verantwortungsvolle Behandlung von Menschen mit hoher emotionaler Instabilität zu schaffen, ohne die eigene "systemische Identität" aufzugeben. Mehr noch: Es zeigt sich, dass die kooperationsfördernden Prinzipien der Systemischen Therapie für die Behandlung von Menschen mit einer Borderline-Störung besonders hilfreich sind.
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Seitenzahl: 270
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Störungen
systemisch
behandeln
Ursprünglich ein querdenkendes Außenseiterkonzept, hat sich der systemische Ansatz heute in vielen Bereichen der Therapie und der Beratung theoretisch wie praktisch etabliert. Auch Vertreter anderer Schulen bereichert er mittlerweile in ihrer Arbeit. Die Etablierung eines Paradigmas birgt für dieses selbst aber auch Risiken, weil sie stets mit der Verfestigung von Denk- und Handlungsgewohnheiten einhergeht. Die Reihe Störungen systemisch behandeln stellt sich vor diesem Hintergrund zwei Herausforderungen: Nichtsystemischen Behandlern und Vertretern anderer Therapierichtungen soll sie komprimiert und praxisorientiert vorstellen, was die systemische Welt im Hinblick auf bestimmte Störungsbilder zu bieten hat. Innerhalb der Systemtherapie steht sie für eine neue Phase im Umgang mit dem Konzept von »Störung« und »Krankheit«.
Historisch gesehen war einer ersten Phase mit erfolgreichen Konzepten zu Krankheitsbildern wie Schizophrenie, Essstörungen, psychosomatischen Krankheiten und affektiven Störungen eine zweite Phase gefolgt, die geprägt war von einem gezielten Verzicht oder einer definitiven Ablehnung aller Formen störungsspezifischer Codierungen. In jüngerer Zeit wenden sich manche Vertreter der systemischen Welt wieder störungsspezifischen Konzepten und Fragen zu – und werden von anderen dafür deutlich attackiert. Diese neue Welle ist bedingt durch die Anerkennung der Systemtherapie als wissenschaftliches Heilverfahren, durch den Antrag auf deren sozialrechtliche Anerkennung und nicht zuletzt dadurch, dass viele im klinischen Sektor systemisch arbeitende Kollegen täglich gezwungen sind, sich zu störungsspezifischen Konzepten zu positionieren.
Die systemische Welt hat hierzu einiges anzubieten. Die Reihe Störungen systemisch behandeln will zeigen, dass und wie die Systemtheorie mit traditionellen diagnostischen Kategorien bezeichnete Phänomene ebenso gut und oft besser beschreiben, erklären und mit hoher praktischer Effizienz behandeln kann. Sie verfolgt dabei zwei Ziele: Zum einen soll systemisch arbeitenden Kollegen das große Spektrum theoretisch fundierter und praktikabler systemischer Lösungen für einzelne Störungen zugänglich gemacht werden – ohne das Risiko, die eigene systemische Identität zu verlieren, im besten Fall sogar mit dem Ergebnis einer gestärkten systemischen Identität. Gleichzeitig soll nicht-systemischen Behandlern und Vertretern anderer Schulen das umfangreiche systemische Material an Erklärungen, Behandlungskonzepten und praktischen Tools zu verschiedenen Störungsbildern auf kompakte und nachvollziehbare Weise vermittelt werden.
Verlag, Herausgeber und Autoren bemühen sich, einerseits eine für alle Bände gleiche Gliederung einzuhalten und andererseits kreativen systemischen Köpfen die Freiheit des Gestaltens zu lassen.
An die Stelle der Abgrenzung und der Konkurrenz zwischen den verschiedenen Therapieschulen ist heute der Austausch zwischen ihnen getreten. Die Reihe »Störungen systemisch behandeln« versteht sich als ein Beitrag zu diesem Dialog.
Dr. Hans Lieb, Dr. Wilhelm Rotthaus
Elisabeth WagnerChristoph EckertKatrin Hiesberger-Kamleitner
Störungen systemisch behandeln
Band 19
Herausgegeben vonHans Lieb und Wilhelm Rotthaus
2023
Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:
Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)
Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)
Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)
Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)
Dr. Barbara Heitger (Wien)
Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)
Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)
Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)
Dr. Roswita Königswieser (Wien)
Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)
Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)
Tom Levold (Köln)
Dr. Kurt Ludewig (Münster)
Dr. Burkhard Peter (München)
Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)
Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)
Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)
Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)
Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)
Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)
Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)
Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)
Jakob R. Schneider (München)
Prof. Dr. Jochen Schweitzer † (Heidelberg)
Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)
Dr. Therese Steiner (Embrach)
Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)
Karsten Trebesch (Berlin)
Bernhard Trenkle (Rottweil)
Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)
Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)
Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)
Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)
Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)
Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)
Reihe »Störungen systemisch behandeln«, Band 19
hrsg. von Hans Lieb und Wilhelm Rotthaus
Reihengestaltung: Uwe Göbel
Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich
Redaktion: Veronika Licher
Satz: Heinrich Eiermann
Printed in Germany
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Erste Auflage, 2023
ISBN 978-3-8497-0496-4 (Printausgabe)
ISBN 978-3-8497-8455-3 (ePUB)
© 2023 Carl-Auer-Systeme Verlag
und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg
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Vorwort
1 Einleitung
1.1 Zum Konzept Borderline-Persönlichkeitsstörung aus systemischer Perspektive
1.2 Die Phänomenologie der Borderline-Störung
1.3 Notwendige Anpassungen des psychotherapeutischen Vorgehens
1.4 Von der Kybernetik zur Synergetik – Entwicklungen in der systemischen Metatheorie
1.5 Utilisation systemischer Kernkompetenzen
1.6 Störungswissen als Grundlage für (interdisziplinäre) Kooperation
2 Die Borderline-Persönlichkeitsstörung: klinisches Erscheinungsbild
2.1 Die emotional instabile Persönlichkeitsstörung in ICD-10 und DSM-5
2.2 Was wird sich im ICD-11 an der Diagnostik ändern?
2.3 Das Borderline-Konzept im historischen Wandel
2.4 Prävalenz und Verlauf
2.5 Differenzialdiagnosen und Komorbidität
2.6 Therapieempfehlungen inklusive Psychopharmakotherapie
3 Erklärungsmodelle: Wie entsteht die Borderline-Persönlichkeitsstörung?
3.1 Therapieschulenunabhängige klinische Erklärungsmodelle
3.2 Das Erklärungsmodell der Dialektisch-Behavioralen Therapie
3.3 Ist die Borderline-Störung eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung?
3.4 Der systemische Blick auf die Borderline-Störung
4 Störungsspezifische Therapieansätze
4.1 Otto Kernbergs übertragungsfokussierte Therapie
4.2 Peter Fonagy, J. G. Allen und das Konzept der Mentalisierung
4.3 Die Dialektisch-Behaviorale Therapie nach Marsha Linehan
4.4 Schematherapie bzw. Schemamodustherapie
4.5 Strukturbezogene Psychotherapie nach Gerd Rudolf
4.6 Good Psychiatric Management (GPM) nach John Gunderson
5 Diagnostische Verfahren
5.1 Diagnostische Verfahren in der Logik von ICD-10 und DSM-5
5.2 Psychodynamische Diagnosemodelle zur Beurteilung des Strukturniveaus
5.2.1 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD)
5.2.2 Selbsteinschätzung struktureller Kompetenzen (SSK)
5.2.3 Strukturiertes Interview zur Persönlichkeitsorganisation (STIPO)
6 Therapeutisches Vorgehen: die systemische Therapie der Borderline-Störung
6.1 Die störungsspezifische systemische Grundidee
6.2 Die Anfangsphase
6.2.1 Sammellinse statt Zerstreuungslinse: strukturelle Beeinträchtigungen wahrnehmbar machen und benennen
6.2.2 Expert:innenschaft in der Mustererkennung: das Erkennen struktureller Defizite
6.2.3 Konsensualisierung der »Störung« und Erarbeitung eines diesbezüglichen Therapieauftrages
6.2.4 Müssen Diagnosen explizit besprochen werden?
6.2.5 Organisatorische Rahmenbedingungen und Vereinbarungen für das Vorgehen im Krisenfall
6.3 Stabilisierung und Bearbeitungsphase
6.3.1 Förderung einer inneren Beobachterposition
6.3.2 Die Förderung von Selbstberuhigungsfähigkeiten durch Imagination und Achtsamkeitsübungen
6.3.3 Methoden zur Unterbrechung bei Dissoziation und Affektüberflutung
6.3.4 Lebensstilberatung und Unterstützung bei der Erreichung stabiler Lebensbedingungen sowie Psychoedukation
6.3.5 Teilearbeit bei Borderline-Störungen
6.3.6 Bearbeitung biografischer Erfahrung
6.3.7 Umgang mit »Rückfällen«
6.4 Wie beendet man systemische Therapien bei Borderline-Störungen?
6.5 Die spezifischen Anforderungen an die therapeutische Beziehung
6.5.1 Gestaltung der therapeutischen Beziehung
6.5.2 Die therapeutische Haltung betreffend Selbstverletzungen
7 Anforderungen und Grenzen eines ambulanten Krisenmanagements
7.1 Umgang mit Suizidalität
7.2 Anforderungen an ambulantes Krisenmanagement
7.2.1 Aufbau von Kooperationsnetzwerken
7.2.2 Schaffung einer Supervisionsstruktur
7.3 Grenzen der psychotherapeutischen Behandelbarkeit im niedergelassenen Bereich
8 Spezialisierte stationäre Borderline-Behandlung und Gruppentherapie
8.1 Spezialisierte stationäre Behandlungsangebote
8.2 Systemische Gruppentherapie bei der Borderline-Störung
8.2.1 Lösungsorientierte Gruppentherapie auf einer Station für Patient:innen mit strukturellen Störungen
9 Paar- und Familientherapie
9.1 Familientherapie und Angehörigenarbeit
9.2 Paartherapie bei Vorliegen einer Borderline-Störung
10 Der systemische Beitrag im schulenübergreifenden Diskurs
10.1 Lösungsorientierung
10.2 Ausnahmen fokussieren
10.3 Ressourcenaktivierung
10.4 Skalierung
10.5 Zirkularität
10.6 Hausaufgaben
10.7 Paradoxe Interventionen
10.8 Arbeit mit Metaphern
11 Ein exemplarischer Fallverlauf
Literatur
Über die Autor:innen
Als Hans Lieb als Herausgeber der Reihe »Störungen systemisch behandeln« 2019 bei Elisabeth Wagner anfragte, ob sie sich nach dem Band zu Persönlichkeitsstörungen (Wagner, Henz u. Kilian 2016) auch einen zur Borderline-Störung vorstellen könne, schien der Zeitpunkt aus mehreren Gründen nicht passend: Das Erscheinen des ersten Buches lag damals noch nicht lange zurück, Katharina Henz und Heiko Kilian standen als Co-Autor:innen nicht mehr zur Verfügung und das ICD-11, von dem eine grundlegende Neuordnung des Bereichs Persönlichkeitsstörungen erwartet werden konnte, war noch nicht erschienen. Drei Jahre später stellte sich die Situation anders dar: Von einer speziell auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung ausgerichteten Forschungsfachgesellschaft mit jährlichen Kongressen und einem störungsspezifischen Journal wurde immer mehr anregende Fachliteratur publiziert. Das ICD-11 mit der grundlegenden Neuordnung der Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen war mittlerweile erschienen, und aufgrund der Spezifität dieser »besonderen« Persönlichkeitsstörung ist die »Borderline-Störung« als einzige typologisch definierte Persönlichkeitsstörung darin erhalten geblieben. Auch die Systemische Therapie hatte sich inzwischen weiterentwickelt: Mit der Anerkennung als Richtlinienverfahren ist eine weitere Annäherung an das Gesundheitssystem einhergegangen. Störungsspezifisches Wissen und Können ist nun nicht mehr ein mit Argwohn beäugtes Randgebiet, sondern ein legitimer und notwendiger Bestandteil systemischer Ausbildungen.
Zudem fanden sich mit Christoph Eckert und Katrin Hiesberger-Kamleitner zwei neue Co-Autor:innen, die sich sehr über die Gelegenheit freuten, ihre Erfahrungen und systemischen Ideen im Rahmen eines Fachbuches einbringen zu können.
Elisabeth Wagner, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin und Lehrtherapeutin für Systemische Familientherapie, beschäftigt sich seit vielen Jahren als Autorin und in der Ausbildung damit, wie sich Systemische Therapie in klinischen Kontexten realisieren lässt und welche Konzeptualisierung intrapsychischer Prozesse dafür hilfreich ist. Sie ist daher vor allem für die theoretischen Teile des vorliegenden Buches und die Darstellung des störungsspezifischen Vorgehens, aber auch für einige der Fallbeispiele verantwortlich.
Christoph Eckert, ebenfalls Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, hat eine systemische Ausbildung an der Akademie für Psychotherapeutische Medizin absolviert. Sowohl in seiner Tätigkeit in der psychiatrischen Rehabilitation wie auch bei seiner Lehrtätigkeit für unterschiedliche therapeutische Ausbildungsinstitutionen widmet er sich vor allem der Frage, wie die Perspektiven und Methoden der Systemischen Therapie mit jener der Psychiatrie gewinnbringend in Einklang gebracht werden können. In das vorliegende Buch brachte er insofern die psychiatrischen und methodenunabhängigen Aspekte der Borderline-Behandlung und deren Integration in die systemische Praxis ein.
Katrin Hiesberger-Kamleitner ist systemische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin. Sie arbeitet in freier Praxis und auf einer spezialisierten Psychotherapiestation für Menschen mit strukturellen Störungen. Sie bereicherte das vorliegende Buch durch zahlreiche Fallbeispiele aus ihrer psychotherapeutischen Tätigkeit und ihren Erfahrungen mit systemischer Therapie im stationären und gruppentherapeutischen Setting. Ihr Fokus liegt vor allem darin, die Nützlichkeit von Fall- und Wirkverständnis im praktischen systemischen Tun zu realisieren.
Das Ergebnis dieser Kooperation ist ein Buch, das nicht als Ergänzung zum Band Persönlichkeitsstörungen, sondern als eigenständiger Beitrag zur »Borderline-Störung« im Rahmen der Reihe »Störungen systemisch behandeln« zu verstehen ist. Gewisse Überlappungen ergaben sich aufgrund der Thematik natürlich zwangsläufig und wurden auch seitens des Verlages goutiert. Wer also erst kürzlich das Persönlichkeitsstörungsbuch gelesen hat, wird einzelne Passagen und vor allem die »störungsspezifische Grundidee« wiedererkennen. Dennoch kann er von allen borderlinespezifischen Ausführungen profitieren. Wer den Band Persönlichkeitsstörungennoch nicht gelesen hat, kann andererseits ganz beruhigt sein: Die Logik ist keine aufbauende, sodass interessierte Lesende alles für eine systemische Therapie der Borderline-Störung Relevante im vorliegenden Band finden werden.
Unser Anspruch war es jedenfalls, einen guten Überblick über das in der klinischen Fachliteratur gesammelte Behandlungswissen für systemische Therapeut:innen aufzuarbeiten und ein systemtheoretisch fundiertes Behandlungsverständnis der Borderline-Störung vorzustellen. Mögen die Leser:innen und ihre Klient:innen ihren Nutzen daraus ziehen.
Elisabeth Wagner, Christoph Eckert,Katrin Hiesberger-KamleitnerWien, im April 2023
Die Systemische Therapie positioniert sich traditionell kritisch gegenüber Konzepten von psychischer Krankheit oder Störung als vermeintlicher Ursache für (zwischen)menschliche Probleme. Sowohl aus interaktioneller wie auch aus konstruktivistischer und lösungsorientierter Perspektive liegt es nahe, die Idee der »intrapsychischen Störung« zu dekonstruieren, und den Fokus auf die gewünschte Veränderung zu richten. Die Diagnose einer psychischen Störung wird vor diesem Hintergrund eher als Teil des Problems und nicht als Teil einer Lösung betrachtet und es wird argumentiert, dass eine systemische Therapie gut oder sogar besser ohne die Verwendung von Diagnosen bzw. Krankheitsbegriffen auskommt.
Wie die Buchreihe »Störungen systemisch behandeln« zeigt, hat sich diese strikte Ablehnung psychiatrischer Diagnosen in den letzten Jahren relativiert. Systemiker:innen nutzen zunehmend störungsspezifisches Wissen, um ihre therapeutischen Hypothesen und Handlungsweisen anzureichern, und bedienen sich entsprechender Begrifflichkeiten, um in multiprofessionellen Teams und mit Klient:innen, die an diese Diagnosen gewöhnt sind, zu kooperieren. Der Anspruch dieser Buchreihe besteht nun darin, unter Wahrung einer angemessenen konstruktivistisch-erkenntniskritischen Haltung störungsspezifisches Wissen für systemische Therapeut:innen so aufzubereiten, dass die grundlegende systemische Haltung und die bewährten Prinzipien systemisch-therapeutischen Handelns nicht verleugnet werden müssen.
Allerdings gelingt diese Annäherung für manche Störungen leichter als für andere und es ist keineswegs verwunderlich, dass die diagnostische Kategorie der Persönlichkeitsstörungen nicht nur wegen der damit verbundenen Stigmatisierung in der systemischen Fachliteratur besonders kritisch hinterfragt wird. Was genau meint die psychiatrische Diagnose einer Persönlichkeitsstörung? Laut ICD und DSM werden »tief verwurzelte und anhaltende Fühl-, Denk- und Verhaltensschemata« beschrieben, die »in vielen Situationen eindeutig unpassend sind und zu Problemen in der Interaktion mit anderen Menschen führen«. Konstitutiv für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung ist damit die »Dekontextualisierung«, also die Zuschreibung interaktioneller Schwierigkeiten auf eine Person. Für die systemische Therapie ist genau die entgegengesetzte Denkrichtung typisch: Wir kontextualisieren Probleme, Symptome und Störungen und gehen davon aus, dass jedes Erleben und Verhalten sinnvoll ist, wenn man seinen sozialen Kontext kennt. Matthias Varga von Kibéd (2005, S. 229) hat den Verzicht auf Eigenschaftszuschreibungen sogar zum wichtigsten Bestimmungsstück systemischen Denkens gemacht, wenn er in seinem »systemischen Komparativ« feststellt:
»Eine Erklärung (Theorie, Vorgehensweise, Hypothese, Denkweise, Intervention …) A ist systemischer als eine Erklärung (Theorie, …) B per definitionem genau dann, wenn A in höherem Maße erlaubt, von der Zuschreibung von Eigenschaften an Systemelemente abzusehen (zugunsten der Betrachtung von Relationen, Strukturen, Kontexten, Dynamiken und Choreographien).«
Damit wird ein zentraler Fokus auf die interaktionelle Perspektive von Problemen gelegt: Statt den individuellen Beitrag zu einem zwischenmenschlichen Problem einer Person als Persönlichkeitsstörung zuzuschreiben (Individualisierung), werden in der systemischen Therapie zirkuläre Zusammenhänge fokussiert und Symptome als »Gemeinschaftsleistung« verstanden (Kontextualisierung).
Ein weiteres wichtiges Merkmal systemischen Denkens ist die Überzeugung, dass Veränderung konstitutiv für lebende Systeme ist. Persönlichkeiten werden somit nicht als etwas Konstantes konzipiert, weshalb Kurt Ludewig1 feststellt, dass »jede noch so überzeugende ›Selbsterkenntnis‹ nicht viel mehr als eine aktuelle Momentaufnahme beinhaltet, also eine Variable und keine Feststellung zwingender Konstanzen bzw. Muster«. Nicht nur Persönlichkeit und deren vermeintliche Defizite, sondern intrapsychische Störungsmuster im Allgemeinen werden dekonstruiert, wenn darauf verwiesen wird, dass Symptome, Probleme, Krankheiten keine Dinge sind, sondern »Prozesse, gebildet durch Handlungen und Kommunikationen verschiedener Personen« (vgl. v. Schlippe u. Schweitzer 2012).
Gängige Erklärungsmodelle von Persönlichkeitsstörungen hingegen verorten deren »Ursache« in weitgehend konstanten intrapsychischen Defiziten; im Falle der Borderline-Störung z. B. als Störung der Emotionsregulation, einer erhöhten interpersonellen Verletzlichkeit oder »strukturellen Defiziten«, also insuffizienten Ich-Funktionen. Hinzu kommt die Annahme, dass diese Defizite den betroffenen Personen selbst zunächst nicht bewusst sind oder sie zumindest nicht spontan in einen Zusammenhang mit den vordergründig berichteten Problemen und Änderungswünschen gestellt werden, sodass das systemische Gebot der Auftragsorientierung infrage gestellt würde.
In der Zusammenschau überrascht es daher wenig, dass das Konzept »Persönlichkeitsstörung« von systemischer Seite als »epistemologischer Kategorienfehler« (vgl. Lieb 2009, 2014a) bezeichnet wurde, womit auch nahegelegt wird, auf diese Diagnose ganz zu verzichten.
Bereits im Buch Persönlichkeitsstörungen aus dieser Buchreihe wurde gezeigt, dass trotz der in vielen Punkten sehr berechtigten konzeptionellen Kritik ein systemisches Verständnis dieser Diagnose gelingen kann und dabei unsere Handlungsmöglichkeiten als Therapeut:innen sowie unsere Nützlichkeit für bestimmte Klient:innen bedeutsam erweitert werden. In diesem Buch soll nun konkret auf die spezifisch mit der Borderline-Störung assoziierten Anforderungen auf handlungspraktischer, therapeutischer Ebene eingegangen und dargelegt werden, welche Grundprinzipien systemischen Handelns in welcher Therapiephase modifiziert werden müssen, in anderen aber gut genützt werden können. In Anlehnung an das Konzept der strukturellen Defizite wird ein Verstehenszusammenhang für die spezifischen psychischen Auffälligkeiten geboten, der nicht nur die Kooperation mit diesen Klient:innen erleichtert, sondern über die synergetische Perspektive auch theoretisch gut integrierbar ist.
Auch wenn wir dem Störungs- und Krankheitsbegriff der Borderline-Störung (engl. Borderline Personality Disorder, BPS) kritisch gegenüberstehen, muss davon ausgegangen werden, dass diese Diagnose eine Beschreibung von spezifischen, häufig gemeinsam vorkommenden und klinisch relevanten Phänomenen darstellt. Aufgrund der damit verbundenen Anforderungen an die psychotherapeutische Behandlung kam es nicht nur zu einem erheblichen Forschungsinteresse, sondern auch zu ausdifferenzierten Behandlungskonzepten aus mehreren therapeutischen Schulen. Des Weiteren wurde eine speziell auf die BPS ausgerichtete Forschungsfachgesellschaft mit jährlichen Kongressen und einem störungsspezifischen Journal (erfreulicherweise als Open-Access-Journal Borderline Personality Disorder and Emotion Dysregulation, kurz: BPDED, allgemein und kostenfrei verfügbar) gegründet. Die Spezifität dieser »besonderen« Persönlichkeitsstörung führte auch dazu, dass die Borderline-Störung als einzige typologisch definierte Persönlichkeitsstörung im ICD-11 erhalten blieb (siehe auch Abschnitt 2.2).
Zwei kurze Fallbeschreibungen sollen uns an dieser Stelle auf typische Konstellationen, die im ICD-10 als emotional instabile Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F 60.3) unterschieden werden, einstimmen:
Bei CHRISTIAN, 21 Jahre, kommt es seit der Adoleszenz zu häufigen Aggressionsdurchbrüchen. Seine Stimmung ist stark schwankend, die Grundstimmung häufig gereizt, bei kleinsten sozialen Auslösern zertrümmert er Dinge, wird auch gegenüber Menschen gewalttätig. Christian wurde von seinen Pflegeeltern in eine betreute Wohngemeinschaft gegeben, nachdem er einmal seinen jüngeren Bruder im Streit verletzt hatte. Zwar zeigte sich Christian nach dieser Eskalation glaubhaft schuldbewusst, doch die Impulsdurchbrüche bekam er weiterhin nicht in den Griff. Aus diesem Grund kam es auch zu mehreren Schulverweisen und dem Verlust von Lehrstellen. Eine Berufsausbildung ist ihm allerdings wichtig, da er nicht wie sein Vater im Gefängnis enden wolle. Es wird eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, impulsiver Typ, diagnostiziert.
MARIE, 36 Jahre, tut sich mit nahen Beziehungen sehr schwer. Sie hatte noch nie eine längere Partnerschaft, auch die Freundschaften sind sehr instabil. Marie hat große Angst davor, verlassen zu werden. Die meisten erotischen Beziehungen – egal ob homo- oder heterosexuell – endeten nach Selbstverletzungen oder parasuizidalen Handlungen auf der Akutpsychiatrie. Darüber hinaus bestehen starke Stimmungsschwankungen und ein sehr auffälliges Essverhalten: Anorektische Phasen folgen auf Episoden ungezügelten Essens mit oder ohne Erbrechen. Aufgrund ihrer Intelligenz und ihrer Mehrsprachigkeit findet sie immer leicht Arbeit, ist dort aber schnell gelangweilt oder muss wegen wachsender Konflikte kündigen. Seit der Matura hatte sie 14 verschiedene Anstellungsverhältnisse – keines länger als sechs Monate. Es wird eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typus, diagnostiziert.
Vermutlich werden die meisten Kolleg:innen, die in klinisch-psychiatrischen Kontexten arbeiten, solchen und ähnlichen Problemkonstellationen bereits begegnet sein und dabei schwierige und herausfordernde, vielleicht auch enttäuschende oder belastende Erfahrungen gemacht haben. Dies würde zumindest nicht verwundern, da bei einer geschätzten Prävalenz der Störung von 1 bis 3 % in der Gesamtbevölkerung in Deutschland der Anteil von Menschen, die die klinischen Kriterien für eine Borderline-Störung erfüllen, in der Population der psychiatrisch-psychotherapeutisch Behandelten auf bis zu 20 % ansteigt.
Die Beschwerden verursachen, wie in den Fallbeispielen beschrieben, einen hohen Leidensdruck nicht nur bei den Betroffenen, sondern aufgrund der häufigen und teils dramatischen Symptome auf Verhaltens- und Interaktionsebene auch bei Familienangehörigen und anderen Menschen im nahen Umfeld. Die Störung ist mit deutlichen Einschränkungen der beruflichen und sozialen Teilhabe verbunden und führt zu häufigen und langen stationären Aufenthalten. Hinzu kommt eine beträchtlich erhöhte Mortalität, die nicht nur durch hohe Suizidraten bedingt ist, sondern auf häufig parallel bestehende oder im Verlauf hinzukommende weitere Problembereiche (u. a. Süchte oder Essstörungen) zurückzuführen ist.
Die symptomorientierte Beschreibung von Personen mit einer Borderline-Störung scheint also jedenfalls auf eine Gruppe von Menschen zu verweisen, die häufig psychosoziale Hilfsangebote in Anspruch nehmen und die unter einer bedeutsamen Beeinträchtigung in ihrer psychosozialen Leistungsfähigkeit, insbesondere auf der Beziehungsebene, leiden. Während dies natürlich auch für andere psychiatrische Störungsbilder gilt, haben im Falle der BPS Studien und klinische Erfahrungen eindeutig gezeigt, dass die Betroffenen von klassischen psychiatrischen und/oder psychotherapeutischen Behandlungsangeboten deutlich weniger profitieren als Menschen, bei denen keine Persönlichkeitsstörung vorliegt. Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass sich die interaktionellen Probleme der Betroffenen auch in der therapeutischen Beziehung realisieren und es daher zu vermehrten Therapieabbrüchen oder stagnierenden Therapieverläufen kommt. Hinzu kommt, dass akute Suizidalität, Aggressionsdurchbrüche, dissoziative Symptome oder schlicht das krisengeprägt-chaotische Alltagsleben der Klient:innen den formalen Rahmen von (ambulanten) therapeutischen Behandlungen sprengen können.
Um dieser besonderen Personengruppe, die unter einer ausgeprägten Emotionsregulationsstörung sowie problematischen Beziehungsmustern leidet und schlecht auf konventionelle Therapieangebote anspricht, besser helfen zu können, wurden seit den 1980er-Jahren von verschiedenen Therapiemethoden spezifische Behandlungsansätze entwickelt, z. B. die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) und die Schematherapie vonseiten der Verhaltenstherapie sowie die übertragungsfokussierte Psychotherapie (engl. transference-focused psychotherapy, TFP) nach Kernberg oder die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) nach Fonagy unter den psychodynamischen Therapieansätzen. Die Adaptionen umfassen neben der Formulierung spezifischer ätiologisch-pathogenetischer Konzepte vor allem Anpassungen der therapeutischen Praxis: Neben störungsspezifischen Interventionen geht es dabei um die Hierarchisierung von Therapiezielen, die Schaffung und Erhaltung von geeigneten therapeutischen Rahmenbedingungen trotz der erwartbaren Krisenhaftigkeit mit den damit verbundenen Herausforderungen in der therapeutischen Beziehungsgestaltung und die Verknüpfung von verschiedenen Behandlungsmodalitäten (Einzel- und Gruppentherapie). Da diese spezialisierten Behandlungskonzepte durchweg bessere Erfolge erzielen als die Routinebehandlung, werden sie in der aktuellen S3-Leitlinie der DGPPN (2022) als Methoden der ersten Wahl für die Behandlung von Borderline-Störungen empfohlen.
Wenn die Entwicklung störungsspezifischer Behandlungsansätze über sehr unterschiedliche Therapieverfahren hinweg zu einer höheren Wirksamkeit der Behandlung führt, stellt sich natürlich die Frage, ob dies nicht auch für die systemische Therapie zutreffen müsste. Oder sollte tatsächlich nur für diese »One size fits all« gelten? In der Praxis zeigt sich, dass auch systemisch arbeitende Kolleg:innen bei der Behandlung von Klient:innen mit einer Borderline-Störung mit ungewohnten Herausforderungen konfrontiert sind, was dann häufig zu einer Ausweitung des Methodenrepertoires und zu »Anleihen« aus spezialisierten Behandlungsansätzen führt. Wenn wir von der Notwendigkeit einer störungsspezifischen Modifikation systemischer Behandlungsprinzipien sprechen, meinen wir damit allerdings nicht die eklektische Entlehnung einzelner Therapieelemente oder Interventionen, sondern eine theoriegeleitete Reflexion und Erweiterung oder Modifikation klassischer systemischer Paradigmen, um dabei nicht die Kohärenz des systemischen Ansatzes und damit die inhärenten und spezifischen Stärken eines systemischen Vorgehens zu gefährden.
Welche systemischen Grundprinzipien sind es nun, die im Umgang mit Persönlichkeitsstörungen im Allgemeinen und der Borderline-Störung im Besonderen überdacht bzw. zumindest in der Anfangsphase der Behandlung modifiziert werden müssen? Folgende Grundprinzipien sollten aus unserer Sicht kritisch reflektiert werden:
Kontextualisierung und interaktioneller Fokus statt »Individualisierung«
Lösungs- und Ressourcenorientierung statt Defizitorientierung
Unterschiedserzeugung und Fokussierung von Ausnahmen
Unterstellung einer Funktion oder »guten Absicht« des Symptomverhaltens
strikte Auftragsorientierung.
Wenn wir als systemische Therapeut:innen diese genannten Grundprinzipien realisieren, wenn wir kontextualisieren, Unterschiede einführen, nach Ausnahmen suchen und systemische Hypothesen über die Funktionalität des Problems anbieten, wenn wir Ressourcen fokussieren und uns strikt am Auftrag der Klient:innen orientieren, tragen wir dazu bei, dass die Zuschreibung negativer Eigenschaften auf Personen dekonstruiert wird. Diese Dekonstruktion ist üblicherweise sinnvoll und gewünscht: Es ist nicht nützlich und entwicklungsfördernd, wenn ein Kind von seinen Eltern als »aggressiv« beschrieben wird. Mit gutem Grund fragen wir dann nach Ausnahmen und Unterschieden, richten die Aufmerksamkeit auf die Beiträge anderer Interaktionspartner und überlegen uns, wofür die Wut gut sein könnte. Systemische Fragetechniken wirken wie eine Zerstreuungslinse – wir setzen sie absichtsvoll ein, um negative Eigenschaftszuschreibungen zu dekonstruieren. Sie machen allerdings auch wesentliche, mit Persönlichkeitsstörungen assoziierte Phänomene unsichtbar.
Dies ist im Kontext von Persönlichkeitsstörungen insofern problematisch, als aufgrund der sogenannten »Ich-Syntonie« von Erlebnisweisen sowie Interaktions- und Verhaltensmustern (diese werden als zur eigenen Person gehörig und damit als »normal« und nicht hinterfragbar wahrgenommen) bei den Betroffenen diesbezüglich in vielen Fällen kein Problembewusstsein besteht, sodass auch kein entsprechender Auftrag formuliert werden kann. Die Klientin mit einer Borderline-Störung mag ihre unglücklichen Beziehungserfahrungen beklagen oder unter ihren Spannungszuständen und anderen negativen Emotionen leiden, aber es fehlt eine Wahrnehmung für die dysfunktionalen psychischen Prozesse, die am wiederholten Zustandekommen dieser leidvollen Erfahrungen beteiligt sind. Diese sich in verschiedenen Lebenskontexten und Beziehungen realisierenden problematischen Erlebnisweisen und Verhaltensmuster werden häufig zugunsten von verzerrten und für konstruktive Veränderungen wenig hilfreichen Attribuierungen an andere Personen und/oder die Welt im Allgemeinen ausgeblendet.
Wollen wir diese ich-syntonen, aber dysfunktionalen Muster oder die Einschränkungen der strukturellen Fähigkeiten für eine therapeutische Bearbeitung »sichtbar« machen, erfordert dies ein spezielles therapeutisches Vorgehen. Um in der Metapher zu bleiben, brauchen wir dafür eine »Sammellinse«, um die sich wiederholenden Schwierigkeiten sichtbar zu machen, statt sie durch Fragen nach Ausnahmen und Unterschieden sowie durch Lösungs- und Ressourcenorientierung zu defokussieren. Auch die für viele systemische Therapeut:innen selbstverständliche Annahme einer Funktionalität des Symptoms ist gerade zu Beginn der Therapie und bei schwererer Symptomatik meist nicht hilfreich, weil sie die gemeinsame Entwicklung eines detaillierteren Verständnisses für die Prozesse, die an der Aufrechterhaltung der Beschwerden und Probleme beteiligt sind, eher behindert. Wir schlagen daher vor, die Emotionsregulationsstörung als ein basales Defizit zu verstehen, das zu weitreichenden psychischen und interaktionellen Problemen führt und daher im Fokus des therapeutischen Veränderungsprozesses stehen sollte (»dosierte Selbstbeauftragung«). Im Unterschied dazu kann den damit verbundenen symptomatischen Verhaltensweisen wie Selbstverletzungen, Aggressionsdurchbrüchen oder Suiziddrohungen ein gewisser adaptiver Wert zugesprochen werden – sie sind die zurzeit beste Lösung, solange eine andere Art der Spannungsbewältigung nicht zur Verfügung steht. Das gemeinsame therapeutische Ziel muss aber sein, »gesündere«, das heißt weniger selbst- und beziehungsschädigende Muster zu entwickeln. Dass die Symptome und deren Dynamik im Krankheitsverlauf auch eine gewisse Funktionalität im Kontext von Beziehungen entwickeln, ist selbstverständlich eine wertvolle Hypothese und Perspektive – sie sollte aus unserer Sicht aber nicht die erste und einzige sein.
Wie können wir uns aber als systemische Therapeut:innen stabile dysfunktionale Prozesse oder »strukturelle Defizite« vorstellen – immerhin sind intrapsychische Prozesse ja keine Objekte, die direkt der Beobachtung zugänglich sind? Es bedarf einer entsprechenden Theorie, einer Gegenstandsmodellierung des Psychischen, um diese wahrnehmbar und beschreibbar zu machen (»Man sieht nur, was man kennt«). Erstaunlich lange wurden in der systemischen Therapie allerdings keine Konzepte für intrapsychische Prozesse oder Störungen ausformuliert. Das psychische System wurde für eine Blackbox gehalten, über das keine sinnvollen Aussagen möglich sind. Sowohl der Konstruktivismus als auch die soziologische Systemtheorie sensu Luhmann trugen zu dieser Marginalisierung psychischer Prozesse in der systemischen Fachliteratur bei.
Obwohl Luc Ciompi (1997) schon in den 90er-Jahren mit seinem Entwurf einer fraktalen Affektlogik das Konzept der Fühl-Denk-Verhaltensprogramme (kurz: FDV-Programme) publiziert hat und dies punktuell auch aufgegriffen wurde (vgl. Levold 1997; Welter-Enderlin u. Hildenbrand 2015) fand eine differenzierte Auseinandersetzung mit intrapsychischen Prozessen auf einer breiteren Basis erst in den letzten zehn Jahren statt (z. B. Ludewig 2013, S. 38 ff.; Lieb 2014b, S. 43–96; Grossman 2014; Wagner u. Russinger 2016; Kriz 2017). In einer synergetischen Perspektive (vgl. Schiepek, Eckert u. Kravanja 2013; Grossmann 2014) werden nun intrapsychische Prozesse als affektiv-kognitive Prozesse, eine Abfolge von sich wiederholenden bzw. sich selbst organisierenden Operationen beschrieben. Dies entspricht auch dem heute verbreiteten Verständnis der Funktion neuronaler Netze. Die von Ciompi beschriebenen FDV-Programme weisen zudem eine weitgehende konzeptionelle Übereinstimmung mit dem Schemabegriff auf, was den schulenübergreifenden Austausch erleichtert.
Der Vorteil einer synergetischen Perspektive besteht darin, in Übereinstimmung mit einer wichtigen Grundlagentheorie der systemischen Therapie, nämlich der Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme, nicht nur intrapsychische Prozesse zu konzeptualisieren, sondern auch ihre relative Konstanz erklären zu können. Das Gehirn ist ein komplexes, dynamisches System, das durch nichtlineare Wechselwirkungen selbstorganisiert Muster (FDV-Programme) hervorbringt. Grossmann (2009) erklärt die Auswirkungen dieser Perspektive wie folgt:
»Heute gehe ich davon aus, dass Problemzustände von Klient:innen in Erschütterungen menschlicher Biografie durch vergangene und gegenwärtige kritische Lebensereignisse und Lebenserfahrungen gründen. (…) Aus dieser Erschütterung (…) leiten sich problemassoziierte Denkweisen des Erlebens, Denkens und Handelns ab (…) Es entstehen Muster psychischen und sozialen Prozessierens, die durch dysfunktionale (sekundäre) Bewältigungsstrategien stabilisiert werden« (Grossmann 2009, S. 10).
Folgerichtig kann Psychotherapie als Vorgang der Reorganisation neuronaler Netze verstanden werden (Spitzer 2000) und nicht mehr nur als Neuorganisation problemerzeugender Kommunikationen.
In Wagner u. Russinger (2016) wird ausführlich dargelegt, wie dysfunktionale intrapsychische Prozesse (z. B. bestimmte Störungen der Emotionsverarbeitung) auch in ihrer relativen Konstanz konzeptualisiert werden können und welche therapiepragmatischen Konsequenzen dies hat. Es wird eine Arbeitsweise vorgestellt, mit der selbst tiefgreifende emotionale Störungen, die sich gegenüber kurztherapeutischen Methoden als resistent erwiesen haben, behandelbar werden. Damit soll der Wert von Kurztherapien keineswegs geschmälert werden: Wo ein kurztherapeutisches Vorgehen ausreicht, um Klient:innen zu nachhaltigen Veränderungen anzuregen, sollte es natürlich angewandt werden. Bei Vorliegen einer »Persönlichkeitsstörung« ist dies jedoch häufig nicht der Fall. Hier brauchen wir ein Verständnis intrapsychischer Prozesse als relativ konstante bzw. sich immer wieder neu erzeugende Phänomene. Synergetisch orientierte systemische Therapie ist bei diesen Klient:innen daher langsam und kleinschrittig und soll unterstützen, dysfunktionale selbstreferenzielle Fühl-Denk-Verhaltens- und damit auch Interaktionsmuster zu erkennen, zu benennen und zu verändern.
Leidvolles emotionales Erleben, problemaufrechterhaltende Überzeugungen und Verhaltensweisen bilden ein sich selbst stabilisierendes Muster. Zu Beginn der Therapie muss die Dysfunktionalität dieser Muster auch für die Betroffenen erkennbar werden, damit ein diesbezüglicher Veränderungswunsch entstehen kann. Wenn dies – unter Anwendung der bereits skizzierten Adaptionen des systemischen Gesprächsverhaltens – gelingt, können in einem nächsten Schritt die bewährten Strategien systemischer Therapie wie Unterschiedserzeugung, Ziel- und Lösungsorientierung sowie Ressourcen- und Auftragsorientierung genützt werden, um entsprechende Veränderungsprozesse zu befördern.
Systemische Therapeut:innen zeichnen sich durch eine zugewandte und unterstützende Beziehungsgestaltung aus, die von einem großen Interesse an der Person und ihren individuellen Stärken getragen wird. Davon können Borderline-Klient:innen, die in einem hohen Maß auf wohlwollende interpersonelle Zugewandtheit angewiesen sind, sehr profitieren. Das systemische Gebot, Fähigkeiten und Ressourcen zu fokussieren, sowie die Fähigkeit, negative Selbstbeschreibungen zu dekonstruieren, sind für Personen mit traumatisierenden Lebenserfahrungen und einem häufig vernichtend geringen Selbstwert essenziell. Das therapeutische Selbstverständnis, in dem unsere Rolle und unser Auftrag, aber auch die therapeutische Beziehung und etwaige Verstörungen derselben fortlaufend partnerschaftlich evaluiert werden, trägt dazu bei, erwartbare interaktionelle Probleme in der Therapie frühzeitig zu erkennen und teilweise sogar konstruktiv zu nützen. Unsere gelassene und oft auch durch wohlmeinenden Humor gestützte Haltung gegenüber Symptomen verhindert, dass wir von der Dramatik des Geschehens vollständig vereinnahmt werden. Als Expert:innen für Ambivalenzen nehmen wir eine neutrale Haltung gegenüber unterschiedlichen Lösungen in den von Widersprüchen geprägten inneren und äußeren Welten der Klient:innen ein und bleiben so flexibel. Da bei Personen mit einer Borderline-Störung auch immer die nahen Beziehungen belastet sind, profitieren sie von der Kompetenz systemischer Therapeut:innen, die im Umfeld stattfindenden Dynamiken zu reflektieren und Bezugspersonen aktiv miteinzubeziehen.
Unsere zunächst theoretisch begründete erkenntniskritische Haltung – sofern der Schritt der »Störungsdiagnose« einmal vollzogen ist und damit verbundenes konzeptionelles Wissen integriert wurde – befähigt uns unserer Meinung nach sogar in besonderem Ausmaß, einen für unsere Klient:innen gewinnbringenden Umgang mit Störungskonzepten anzubieten. Unsere grundlegende Skepsis gegenüber individuellen defizitorientierten Zuschreibungen und den zugrunde liegenden Kausalitätslogiken verpflichtet uns nicht dazu, auf die Konzeptualisierung von intrapsychischen Störungen oder möglichen biologischen Beschränkungen von Handlungspotenzialen gänzlich zu verzichten. Sie gibt uns vielmehr die Freiheit, diese im therapeutischen Prozess nahezu »stufenlos« nach Maßgabe der aktuellen Erfordernisse zu nützen und sie bei Bedarf in den gemeinsamen Erkundungsprozess von Perspektiven und Möglichkeiten zu integrieren. So können wir bestimmte Störungskonzepte (z. B. »Emotionsregulationsstörung«) nützen, um im Sinne einer ersten Komplexitätsreduktion Hypothesen und therapeutische Handlungsideen zu generieren. Die Erfahrung zeigt, dass das individualisierte Einbringen solcher »Störungsbegrifflichkeiten« den Betroffenen häufig das Gefühl gibt, verstanden zu werden und gut aufgehoben zu sein, und sie keineswegs von der Verantwortung zur Einflussnahme entbindet: »Angenommen, Sie hätten eine gewisse angeborene Neigung, auf alltägliche Konflikte mit sehr heftigen unangenehmen Gefühlen zu reagieren – wie könnte Ihnen diese Sichtweise helfen, mit Problemsituationen umzugehen? Könnte es nützlich sein, die Eskalationen und daraus resultierenden Krisen schon im Vorfeld zu antizipieren? Wäre es vielleicht sinnvoll, nach konkreten Ausstiegsmöglichkeiten vor der Eskalation zu suchen, eine Art ›Sicherung‹ einzubauen?« Fragen wie diese integrieren »Störungsaspekt« und Gestaltungsperspektive, wodurch neue Sichtweisen und Möglichkeiten entstehen, ohne Klient:innen dadurch zu stigmatisieren.
Wenn Klient:innen ihrerseits Ideen über Krankheitskonzepte einbringen, können wir je nach situativen Erfordernissen wählen, ob wir diese (vielleicht nur vorläufig) übernehmen oder ob wir sie durch bestimmte systemische Fragetechniken gezielt dekonstruieren. Dieser flexible Umgang mit Diagnosen und dem Störungsbegriff, die Haltung des Sowohl-als-auch (sowohl Störungsorientierung als auch Nicht-Störungsorientierung), wie es Hans Lieb (2014b, S. 14) formuliert, kann durchaus als Stärke im Umgang mit dieser herausfordernden Patientengruppe gesehen werden.
Wenn wir daher im weiteren Verlauf des Buches häufig von »Borderline-Patient:innen« sprechen, dient dies vor allem der sprachlichen Vereinfachung. Der mit diesem Labeling verbundenen Risiken und Probleme sind wir uns bewusst. Es sei jedenfalls festgehalten, dass wir Kolleg:innen keineswegs dazu verpflichten wollen, betroffene Personen – sei es nun gedanklich oder kommunikativ – zukünftig mit solchen Störungsbegriffen zu etikettieren. Anstelle von »Menschen mit Borderline-Störung« könnte stets auch von Menschen gesprochen werden, die (unter anderem) unter den in Abschnitt 2.1 detailliert beschriebenen leidvollen Erlebnis- und Verhaltensmustern leiden.
Dass eine angemessene Integration störungsspezifischer Vorgehensweisen die therapeutischen Handlungsmöglichkeiten und deren Nützlichkeit für die Klient:innen unmittelbar steigern könnte, müsste ein hinreichender Grund sein, sich einer solche Perspektive zuzuwenden. Aus unserer Sicht gibt es aber auch weitere Argumente, die dafürsprechen, dass sich systemische Therapeut:innen einen fundierten Überblick über gängige psychotherapeutisch-psychiatrische Behandlungskonzepte zur Borderline-Störung aneignen. Zum einen befördert dies den interdisziplinären Austausch im Dialog mit anderen Therapierichtungen und unterstützt die Kooperation in multiprofessionellen Arbeitskontexten. Zum anderen trägt diese Offenheit für methodenübergreifende Reflexionen dazu bei, dass auch die spezifisch systemischen Konzepte Eingang in breitere psychotherapeutische Diskurse finden. Wir sind überzeugt, dass systemisches Denken wertvolle Inspirationen für andere Therapiemethoden und die in ihnen sozialisierten Kolleg:innen bietet.
Im Zuge der Anerkennung als Richtlinienverfahren in Deutschland ist davon auszugehen, dass systemische Therapeut:innen künftig noch mehr als bisher Teil von interdisziplinären und multiprofessionellen Teams bzw. Behandlungsnetzwerken werden und sich dadurch mit Kommunikationsbedarf entlang von Störungs- und Krankheitskonzepten konfrontiert sehen. Das vorliegende Buch soll daher auch einen Beitrag leisten, dass diese Auseinandersetzung nicht nur notgedrungen, sondern vielmehr gegenseitig bereichernd erfolgen kann.