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Bissiger Humor, skurrile Figuren und ostfriesischer Charme. Im Dykhus auf Borkum wird eine Tote gefunden – genau unter dem Pottwalskelett. Schnell ist klar, dass die junge Frau ermordet wurde, und Kommissar Busboom kann sich auch denken, warum: In ihrem Besitz finden sich Landkarten, alte Dokumente und Koordinaten. War sie auf der Suche nach dem legendären Schatz von Störtebeker, der in den Woldedünen vergraben sein soll? Hatte sie ihn gar gefunden? Busboom muss den Fall lösen, bevor ganz Borkum ins Schatzsuchfieber verfällt.
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Seitenzahl: 310
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Ocke Aukes lebt seit ihrer Kindheit auf Borkum. Sie ist in der Touristikbranche tätig und hat bereits mehrere Kriminalromane veröffentlicht. Sie ist Mitglied im Syndikat.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2020 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Christian Bäck
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept
von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-602-9
Insel Krimi
Originalausgabe
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»Verfluchter Damm«, sagte Sebastian und meinte damit den Weg zum Ende des Südstrandes, das sogenannte »Deckwerk«. Jene betonierte Mauer, die als Wellenbrecher die Insel vor Schaden bewahren sollte, indem sie seeseitig im sanften Bogen nach unten führte. Hier begann eine beschauliche Landschaft. Links des Weges lagen Dünen und dahinter die »Greune Stee«, ein Wald, der zumeist aus Birken bestand, rechts Strand und Meer. Über den Sandstrand zu laufen bedurfte der Vorsicht, denn überall an der Wasserkante lagen Muschelschalen, Krebse, Meeresalgen und ab und an eine vertrocknete Qualle, die eine Welle zu hoch an den Strand gespült hatte, als dass sie das rettende Wasser noch hätte erreichen können.
Seemöwen flogen tief an der Kante entlang und suchten nach Futter. Einige landeten auf dem Sand und starrten die Vorbeigehenden mit ihren harten gelben Augen an, ehe sie sich wieder in die Lüfte erhoben und unter lautem Kreischen davonflogen.
An den schwarzen Basaltsteinen klammerten sich die Muscheln und Seesterne fest und trotzten den Gezeiten. Eifrige kleine Austernstecher eilten auf ihren flinken kurzen Beinen am Meeressaum entlang, auf der Suche nach Essbarem, ehe sie in Schwärmen davonflogen.
Hier roch es stärker als anderswo auf der Insel nach Seetang, Meersalz, Teek und Fisch, jenem typischen Geruch aller Buhnen und naturbelassenen Häfen.
»Ich hasse das Meer«, moserte Sebastian Friedland und stapfte schlecht gelaunt durch den Sand in Richtung Wasser. Seine Laune wäre ganz im Keller, wüsste er, dass er in Kürze über die erste Leiche seines Lebens stolpern würde. Doch vorerst plagte ihn nur eine Sorge: Hoffentlich sah ihn niemand.
Im Augenblick standen die Chancen dafür recht gut. Am Strand war um diese Uhrzeit weit und breit kein Mensch zu sehen. Tante Erikas funkelnagelneues Elektrofahrrad hatte er oben auf dem Deckwerk stehen gelassen. Nicht weil Zuckersand und Salzwasser ihm schadeten, das war Sebastian herzlich egal, sondern weil Tante Erika andernfalls erkennen würde, wo er gewesen war. Auch wenn er ihr sonst jede Menge Sand in die Augen streuen konnte, den zwischen den Speichen entdeckte sie garantiert. Er hatte keine Lust, Erklärungen abgeben zu müssen.
Immer am Wasser entlang in Richtung Hafen sollte er laufen, bis zu der Stelle, an der er erwartet wurde. Sebastian fielen auf Anhieb mehrere Orte ein, an denen man ungesehen und weitaus einfacher zu einer Geldübergabe zusammenkommen konnte, doch Hubert Engel hatte auf diesen Treffpunkt bestanden.
»Morgen um sechs am Südstrand«, hatte er gesagt. Seiner Stimme war anzuhören gewesen, dass er ein Nein nicht akzeptierte. »Bis ans Ende des Deckwerks gehen und weiter am Wasser entlang, immer geradeaus. Sie sehen mich dann schon.«
So ein Idiot.
Jetzt hatte er die Wasserkante erreicht. Auf hartem Sand war es weniger anstrengend zu laufen. Einige Möwen protestierten kreischend, als er auf sie zusteuerte, und flogen davon. Er hatte sie von einem Seehundskadaver aufgescheucht. Die Vögel drehten eine kleine Runde, landeten ganz in der Nähe und beäugten Sebastian. Einige trauten sich näher an ihn heran. Er blieb stehen und schaute auf seine Armbanduhr. Wann wohl die Mitarbeiter von der Kurverwaltung auftauchen würden, um das tote Vieh wegzuräumen? Bestimmt erledigten sie das, bevor die ersten Badegäste an den Strand kamen. Sebastian hatte sich mal nach diesem Job erkundigt, aber die Uhrzeit, zu der die mit dem Zusammenharken der Drift und dem Abfahren des angetriebenen Mülls anfingen, war nichts für ihn. Sollten doch andere dafür sorgen, dass die Touristen einen sauberen Strand vorfanden.
Wie er sie im Augenblick beneidete, die Badegäste. Lagen alle noch hübsch in ihren Betten, die Glücklichen.
Übellaunig kickte er mit dem Fuß eine Muschelschale weg und betrachtete angeekelt die Fressschäden am Seehundskadaver. Die Möwen leisteten ganze Arbeit. Die Augen und Nasenlöcher waren verschwunden, an ihrer Stelle klafften große ausgefranste Löcher. Am Bauch hatten die Vögel das Fell aufgehackt und die Innereien herausgerissen. Sie lagen ringsherum verteilt im Sand. Er ging um den Kadaver herum, darauf bedacht, in keinen der Fleischfetzen zu treten.
»Mistviecher.« Er bückte sich, hob eine Miesmuschelschale auf und warf sie nach den Vögeln. »Nicht mal das Fell kann man mehr gebrauchen.«
Eine Bewegung am Kopf des Kadavers ließ ihn aufmerken. Ein Krebs kam aus einem der Augenlöcher gekrochen, krabbelte über das haarige Gesicht und ließ sich in den Sand fallen.
»Pfui Teufel.« Sebastian wandte sich ab, ging einige Schritte und trat eine angeschwemmte Flasche ins Meer zurück. Er meinte, einen Seehund zwischen den Wellen auftauchen zu sehen, konnte sich aber täuschen. Zum Schutz gegen die aufgehende Sonne hob er die Hand über die Augen, doch das brachte auch keine Erkenntnis. Was es war, er musste weiter.
Er war keine zehn Meter gegangen, da fielen die Aasgeier der Nordsee wieder über den Kadaver her. Sollten die Mitarbeiter der Kurverwaltung ihn nicht bergen, würden in wenigen Tagen nur noch die Knochen von ihm übrig sein, die sich das Meer mit der Flut dann nach und nach zurückholte.
»Blöder Mist.« Während er sich nach dem Möwenschwarm umsah, war er ein paar Schritte rückwärtsgelaufen und zu dicht an die Wasserkante gekommen. Eine Welle hatte seine Lederschuhe durchnässt. Das gab scheußliche Salzränder. Die Flut lief schneller auf, als er gedacht hatte.
Wo war bloß der verdammte Kerl? Richtung Hafen war niemand zu sehen. Alle zwanzig, dreißig Meter blieb Sebastian stehen und schaute sich um. Er war immer noch allein unterwegs.
Weil er im feuchten Sand zu lange an einer Stelle gestanden hatte, saugten sich die Schuhsohlen fest. Doch um verräterische Fußabdrücke musste er sich keine Sorgen machen. Eine Welle, und nichts war mehr zu sehen. Ein paarmal versuchte er noch, dem auflaufenden Wasser auszuweichen, dann gab er auf. Die Schuhe waren eh versaut, egal, ob er jetzt auf trockenem Sand weiterlief oder nicht.
»Blöder Treffpunkt.« Er stand da wie auf dem Präsentierteller. Hier konnte man »Lawrence von Arabien« neu verfilmen oder samstags sehen, wer sonntags zu Besuch kam. Erneut schaute er auf die Uhr. Fünf nach sechs. Weit und breit war niemand zu sehen.
Der alte Engel ist eine Flachpfeife, dachte er. Ein wenig versöhnte ihn dieser Gedanke mit der frühen Tageszeit. Vermutlich litt Engel unter seniler Bettflucht und hatte darum diesen Zeitpunkt gewählt. Gut für ihn. So ein alter Knacker ließ sich leicht über den Tisch ziehen.
Dahinten lag noch ein Seehund. Doch der bewegte sich im auflaufenden Wasser. Mal sehen, wie dicht er mich herankommen lässt, dachte Sebastian und ging auf das Tier zu. Es blieb liegen. Ein Heuler? War das die richtige Jahreszeit für Jungtiere? Er wusste es nicht.
Welle um Welle umspülte das untere Ende des Körpers und einen Arm. Ein Seehund mit Arm? Es dauerte zwei Sekunden, bis Sebastian klar wurde, was das bedeutete: Seine Verabredung war rechtzeitig am Treffpunkt angekommen.
Mist. Vermutlich hatte den alten Knacker vor lauter Aufregung der Schlag getroffen, und nun war er tot. Um sich davon zu überzeugen, trat Sebastian näher und schaute sich verstohlen um. In der Ferne waren jetzt vereinzelt Menschen zu sehen. Doch niemand war nahe genug, um zu erkennen, was er machte.
Der Mann am Boden lag leicht zur Seite gedreht auf dem Bauch. Er trug eine schwarze Jogginghose und ein dunkles Oberteil. Sebastian wappnete sich gegen den Anblick angefressener Augen. Er schob vorsichtig einen Fuß unter den Körper und hob ihn etwas an, wodurch sich der Kopf bewegte. Brrr. Tote Augen starrten ihn an, aber wenigstens hatte er noch welche. So sah er also aus, sein ehemals zukünftiger Geschäftspartner.
»Verfluchte Scheiße.« Er nahm den Fuß weg und verpasste dem Leichnam einen Tritt. Dann ging er in die Hocke und tastete die Hosen- und Jackentaschen des Mannes ab.
Nichts.
Als er aufschaute, wäre er beinahe vor Schreck auf dem Hintern gelandet. Zwei gelbe Augen bohrten sich in seine.
»Du kannst ihn haben«, sagte er großzügig und überließ der wartenden Möwe den Kadaver. Der Vogel krächzte, als wollte er ihn veräppeln, und hüpfte dem Toten entgegen, der jetzt fast bis zur Brust vom Meerwasser umspült wurde. Das Tier beäugte den Leichnam, kreischte laut und flog davon. Sebastian schloss daraus, dass der Mann wohl noch nicht lange genug tot war, um für die Möwe als Mahlzeit in Frage zu kommen. Ihm persönlich war Rindfleisch auch lieber, wenn es gut abgehangen war.
Er wandte sich ab und ging in direkter Linie quer über den Strand auf das Ende des Deckwerks zu. Oben angekommen, suchte er die Stelle, an der er gestanden hatte. Die Leiche war von hier aus nicht zu erkennen. Der Möwenschwarm, der um den Seehundskadaver herumschwirrte und sich verdreifacht hatte, verdeckte die Sicht.
Das hatte er nun davon. Was machte er auch Geschäfte mit Greisen? Da musste man jederzeit damit rechnen, dass dem anderen vor Aufregung das Herz stehen blieb. Aber warum zum Teufel hatte der Alte kein Geld dabeigehabt? Wollte er nicht bezahlen? Hatte er beabsichtigt, Sebastian umzustimmen, wenn er ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand? Aber wo war dann die Kohle? Vermutlich noch im Hotel, und wenn ja, lag sie im Zimmer oder im Hotelsafe? Das musste er herausfinden, wenn all der Aufwand, den er betrieben hatte, nicht umsonst gewesen sein sollte.
Wütend gab er Tante Erikas Fahrrad einen Tritt. Es fiel um. Nun konnte er auch noch das schwere Ding aufheben.
Ein paar Möwen flogen über ihn hinweg in Richtung Süden. Ihr Meckern nervte.
Niemals wäre Sebastian der Gedanke gekommen, dass die Viecher schlauer waren als er.
***
Von einem anständigen Erpresser konnte man eigentlich erwarten, dass er zur Geldübergabe pünktlich war.
Hubert Engel lag jetzt schon seit zwanzig Minuten auf dem Bauch, die Füße in Richtung Wasser gestreckt, und der Mann, der sein Geld wollte, war immer noch nicht da.
Die Möwen rund um ihn herum wussten, wann etwas tot war und sie es fressen konnten. Sie interessierten sich nur für den Seehundskadaver. Von Engel nahmen sie keine Notiz.
Hoffentlich musste er nicht mehr lange so herumliegen. Das war denkbar schlecht für seine vom Rheuma geplagten Knochen. Die ersten Wellen hatten seine Füße längst erreicht. Welch ein Glück, dass sie heute schwach an den Strand rollten. Eine typische Borkumer Brandung konnte er jetzt gar nicht gebrauchen.
Langsam wurden die Waden kalt, dann die Oberschenkel.
Als die Möwen laute Warnschreie ausstießen, wusste er, jemand hatte sie aufgescheucht. Endlich kam er, der Mann, der versuchte, ihn zu erpressen.
Mit solchen Kriminellen war nicht zu spaßen, das wusste er. Engel hatte gehört, vom Erpresser zum Mörder sei es nur ein kleiner Schritt. Ängstlich zwang er sich, still und reglos liegen zu bleiben. Kein guter Zeitpunkt, um in Panik zu geraten.
Hubert Engel konzentrierte sich darauf, die Muskeln zu entspannen. Sein Körper musste schlapp und leblos wirken, wenn er den Mann täuschen wollte. Nicht einmal blinzeln durfte er, dabei taten die milchig trüben Kontaktlinsen trotz stundenlanger Tragversuche verflucht weh.
Das Wasser lief schneller auf als erwartet. Eine Welle erreichte seine Hand. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal Beklemmungen gehabt hatte. Jetzt stand oder besser gesagt lag er kurz davor, ihnen nachzugeben. Er befürchtete, mit der Nase im Sand liegend zu ertrinken, noch ehe der Erpresser ihn fand, oder aus Angst davor aufspringen zu müssen.
Die Flut kam mit Macht. Sie umspülte Engels Unterarme und erreichte seine Hüfte, dann den Bauchnabel. Einige Wellen später stand ihm das Wasser bis zur Brust. Wenn sein Erpresser weiter so trödelte, musste Engel aufgeben.
Er drehte sein Gesicht bei der nächsten Welle so hoch, wie er meinte, dass es aus der Entfernung nicht auffallen würde. Zum Glück lief ihm kein Wasser in die Nase. Obwohl Salzwasser, durch die Nase gespült, gut bei Nebenhöhlenerkrankungen sein sollte. Wie konnte er jetzt an so was denken?
Er hörte das leise Schmatzen von Schritten im nassen Sand. Gleich war er da. Engel hoffte inständig, dass der Mann nicht auf die Idee kam, ihn umzudrehen. Sein ganzer Bluff basierte darauf, dass er das auf keinen Fall tat. Niemals würde er längere Zeit mit weit aufgerissenen Augen in den blendend hellen Himmel starren können. Daher vertraute er auf die natürliche Abneigung, einen Toten anzufassen. Verflixt, der Fremde tat es doch. Engel spürte eine Schuhspitze, die ihn wohl anheben sollte.
Jetzt kam der schwierigste Teil. Er hatte ihn vor dem Spiegel geübt. Mit der durch den Fuß erzwungenen Bewegung seines Oberkörpers drehte er seinen Kopf leicht zu dem Mann hin und starrte mit halb geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen in den Himmel. Gott sei Dank hatte er sich mit den Kontaktlinsen herumgequält, das machte sich jetzt bezahlt. Sie wirkten wie tote Augen, und er schaffte es tatsächlich, nicht zu blinzeln.
Der Fuß des Mannes drückte in seine Seite. Nur ein wenig länger, und sein Rheuma würde Engel zwingen, die Position seiner Beine zu verändern. Ein oder zwei Sekunden konnten unter Schmerzen unendlich lang werden. Noch schwieriger war es, die Augen geöffnet zu halten.
Eine kleine Wolke schob sich vor die Sonne. Glück musste man haben. Der Schuhdruck ließ nach, und Engel rollte in die Ausgangsposition zurück. Jetzt konnte er wenigstens zwinkern.
»Verfluchte Scheiße«, sagte der Mann. Der nachfolgende Tritt kam unerwartet, war jedoch weniger schmerzhaft als Engels Rheuma und auszuhalten. Er spürte, wie er abgetastet wurde, aber damit hatte er gerechnet.
Aus dem Augenwinkel sah Engel eine Möwe, die neben ihm im Sand landete. Hoffentlich versaute die jetzt nicht alles. Er stellte sich vor, wie der Vogel ihm auf den Kopf hüpfte, um nach seinen Augäpfeln zu picken. Spätestens dann, das wusste er, würde sein Tote-Mann-Spiel ein Ende haben.
»Du kannst ihn haben«, sagte der Mann verärgert zu dem Vogel, als er von ihm abließ, und Engels Herz schlug schneller.
Er hörte die Möwe gackern. Flügel schlugen, und er bildete sich ein, das Tier reden zu hören. »Den blöden Kerl da kannst du täuschen«, krächzte sie, »mich aber nicht.«
Dann flog sie davon. Puh. Das war knapp gewesen.
Engel hoffte, nicht noch einmal getreten zu werden. Er spürte den Blick des Mannes auf sich. Dann ging der elende Mistkerl endlich.
Engels Blutdruck war mit Sicherheit höher, als für seine Gesundheit förderlich, der beschleunigte Puls hatte aber den Vorteil, dass ihm warm wurde. Er blieb noch einige Zeit liegen. Die Wellen zerrten an ihm, aber er konnte es wagen, den Kopf leicht anzuheben, wenn sie heranrollten. Als er meinte, dass sein Erpresser inzwischen weit genug entfernt sein müsste, stützte er sich auf die Ellenbogen. Er sah, wie der junge Mann oben auf dem Deckwerk einem Rad einen Tritt verpasste, es aufhob und davonfuhr.
Engel ging auf die Knie und kroch in den trockenen Sand, dorthin, wo das Wasser auch im Höchststand der Flut nicht hinkam. Er wartete, bis der Fahrradfahrer außer Sicht war, ehe er die nasse Jogginghose und das T-Shirt auszog. Die Sonne kam hinter der Wolke hervor. Genau richtig. Das nannte er Timing. Was für ein Glück.
Wenige Meter weiter links steckten drei weiße Federn im Sand. Von unaufmerksamen Beobachtern kaum zu bemerken, markierten sie die Stelle, an der er seine trockene Kleidung vergraben hatte.
Eine Minute später rubbelte sich Engel mit einem Handtuch den Sand von den Fingern und fummelte die Kontaktlinsen heraus. Verflucht, tat das weh! Er nahm ein wenig Abstand von dem Handspiegel, da dieser von seinem Atem beschlug. Endlich waren sie raus. Eine fiel in den Sand, die zweite warf er hinterher. Sie hatten ihre Schuldigkeit getan. Danach zog er einen knallroten Pullover und eine grüne Jogginghose an, stopfte die nassen Sachen in eine Plastiktüte und machte sich auf den Weg zurück ins Hotel. Der Spaziergang würde ihm guttun. Fürs Erste war er den Erpresser los, doch lange konnte die Täuschung kaum vorhalten. Spätestens in ein paar Tagen würde er sich wundern, warum niemand über den Toten vom Strand sprach. Das war hoffentlich genug Zeit, um einiges über den jungen Mann herauszufinden. Er wusste ja jetzt, wie er aussah. Groß, schlaksig, dunkelblonde kurze Haare, die kerzengerade in die Höhe standen, markantes Kinn, etwa dreißig Jahre alt. Und er hatte Feenaugen. Das war selten und machte die Suche einfacher.
Als Erstes musste Engel feststellen, wer er war. Danach gelang es ihm vielleicht, zu erfahren, woher der Mann sein Geheimnis kannte. Denn schließlich galt es zu entscheiden, wie er weiter mit dieser Erpressung umgehen sollte.
Was das betraf, gab es mehrere Möglichkeiten. Erstens: die Insel verlassen und nie wieder zurückkehren. Das wäre die einfachste Lösung, die ihm jedoch am wenigsten behagte. Er verbrachte seinen Urlaub gern hier. Besser wäre es umgekehrt – der Fremde sollte verschwinden.
Er könnte ihm drohen, ihn bei der Polizei anzuzeigen. Nein, das war keine gute Idee. Dann musste er den Beamten erklären, womit er erpresst wurde.
Eher könnte er zum Mörder werden, den jungen Mann beseitigen und fertig. Engel seufzte. Wenn er eines verabscheute, dann waren es Menschen, die ihre Mitmenschen umbrachten.
Doch ein Schritt nach dem anderen. Zuerst die Identität feststellen, danach sah man weiter.
***
Auf dem Heimweg überlegte Sebastian, wie er ungesehen in das Hotel gelangen konnte, in dem Hubert Engel wohnte. Vorher musste er Tante Erika allerdings klarmachen, dass er noch ein paar Tage auf der Insel bleiben wollte. Sie würde sich freuen, sein Onkel weniger.
Bei diesem Gedanken kam ihm eine interessante Idee zur Lösung seines Problems. Dazu musste er keinen Fuß ins Hotel setzen. Er könnte doch einfach die Witwe erpressen. So oder so war eine Befragung von Tante Erika angesagt. Verdammt, das artete langsam in Arbeit aus.
Er hatte schon viel im Leben ausprobiert, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er war ewiger Student und jobbte gelegentlich als Taxifahrer in einer Stadt, in der er sich schlecht auskannte. Auch hatte er sich als Hundeausführer versucht, obwohl ihn die Viecher unausstehlich fanden, und er hatte in einer Restaurantküche Geschirr gespült. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Von wegen. Die Millionen blieben aus. Vielleicht musste man dafür nach Amerika fahren, doch auch dazu fehlte ihm das nötige Kleingeld.
Deshalb endete Sebastians Reise regelmäßig bei Tante Erika. Die Schwester seiner Mutter konnte er problemlos um den kleinen Finger wickeln. Sie war sehr leichtgläubig und unterstützte ihn, wenn ihm die Kohle ausging. Blöd nur, dass Tante Erika auf Borkum lebte. Die Insel war wahrlich nicht mit Amerika zu vergleichen, doch immerhin lagen hier die Millionen – oder wenigstens ein Bruchteil davon – in Sebastians Reichweite.
Er musste es nur schlau genug anstellen.
Bevor er in die Straße einbog, in der er zurzeit wohnte, hielt er an und schaute auf die Uhr. Kurz vor sieben. Wenn er Onkel Horst nicht begegnen wollte, musste er noch ein wenig warten.
***
»Wann fährt dein nichtsnutziger Neffe wieder nach Hause?«, fragte Horst Becker seine Frau Erika beim Frühstück.
»Er ist auch dein Neffe.«
»Keineswegs. Nur verschwägert, wenn man das von den Söhnen der Schwester einer Ehefrau sagen kann. Also? Wann fährt er?« Horst Becker entnahm einem kleinen Körbchen vier Tablettenblister und drückte aus jedem eine Pille heraus. Er wiegte sie kurz in der Hand, steckte sie in den Mund und spülte alles mit einem großen Schluck Tee hinunter.
»Die längliche Braune«, Erika deutete auf einen der Blister, »ist die neu?«
Horst Becker durchschaute ihre Absicht. Sie versuchte ganz klar, vom Thema abzulenken. »Vitamin D3. Hilft gegen schlechte Stimmung. Also, was ist nun mit Sebastian? Hat er überhaupt Ferien?«
»Semesterferien? Vermutlich.«
»Und was studiert der feine Herr jetzt?«
»Irgendwas mit Medien.«
»Ich dachte, Archäologie und Chinesisch.«
»Das war letzten Sommer. Sebastian meint, Medien seien die Zukunft.«
»Ich sehe seine Zukunft eher düster. Wenn du mich fragst, studiert er überhaupt nichts mehr.«
»Doch, ich denke schon. Vor drei Wochen hat Astrid die Gebühren fürs kommende Halbjahr an die Uni überwiesen.«
»Deine Schwester ist genauso naiv wie du.«
Erika schnitt ein Brötchen auf. An den ruckartigen Bewegungen konnte er erkennen, dass sie gereizt war. Sie warf das Messer auf den Tisch und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Dann griff sie erneut nach dem Brotmesser und deutete mit der Spitze auf ihn. »Du witterst hinter allem und jedem irgendetwas Schlechtes. Der Junge braucht eben länger als andere, um herauszufinden, was er machen will. Vielleicht«, sie legte das Messer sanft zur Seite und strich die Tischdecke glatt, »wird er sein Studium ganz aufgeben.«
»Aha«, entgegnete Horst Becker knapp. Es klang wie: Wusste ich’s doch. »Wie kommst du darauf?«
»Er interessiert sich sehr für meinen Beruf.«
»Das würde mich wundern.«
»Soso«, rief sie. »Du denkst also, meine Arbeit ist weniger interessant als die des Herrn Polizeikommissars?«
»Nein, ich denke, er ist für das Hotelgewerbe schlicht zu faul.« Becker nahm noch einmal den Blister mit den Vitamin-D3-Tabletten in die Hand, so als überlegte er, ob er zur Stimmungsaufhellung noch eine weitere benötigte. Dann warf er ihn zurück ins Körbchen. »Was möchte unser Neffe denn alles von dir wissen?«
Erika lächelte, sie konnte einem nie lange böse sein. »Ach, so dies und das.« Sie griff nach dem Marmeladenglas. Es gelang ihr nicht, den Deckel aufzudrehen, also reichte sie es ihm, damit er ihr half.
»Neue Sorte?«, fragte er. Nachdem er das Verfallsdatum überprüft hatte, drehte er den Deckel auf, schnupperte ausgiebig am Inhalt und reichte er ihr das Glas zurück.
Erika ließ die Frage nach der Marmelade unbeantwortet. »Er erkundigt sich ganz genau.«
»Wonach konkret?«
»Eben nach allem. Was ich so mache, wem ich begegne und so weiter. Er scheint ein Interesse am Hotelfach zu entwickeln.«
Becker verzog den Mund, als habe er auf etwas Saures gebissen.
»Mach kein so finsteres Gesicht. Ich glaube, der Junge weiß langsam, was er wirklich will. Er hat es zwar nicht ausgesprochen, aber ich denke, das Studieren ist auf Dauer nichts für ihn. Er braucht einen guten, soliden Beruf, in dem man niemals arbeitslos wird …«
»Da muss man aber hart arbeiten«, widersprach Becker. »Das wird er niemals schaffen.«
»Du hackst immer auf ihm herum. Er ändert sich gerade, wird endlich erwachsen.«
»Und das bei uns.« Becker sah auf die Uhr, stand auf und drückte Erika einen flüchtigen Kuss auf die Lippen. Er war schon fast zur Küchentür hinaus, da wandte er sich noch einmal um. »Zeigt er an etwas ganz besonderes Interesse? Hotelsafe? Bargeldkassen?«
»Du bist gemein. Nur weil er in seiner Jugend einmal einen Fehler gemacht hat.«
»Das ist noch keine zwei Jahre her.«
»Erinnere mich nicht daran. Aber du täuschst dich, Horst. Sebastian hat sich geändert.«
»Würde mich wundern«, murmelte Becker und wiederholte das auf dem Weg zur Polizeistation noch weitere zwei Mal. Als er sein Büro betrat, war der Neffe jedoch vergessen.
Der Polizistenalltag nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch.
***
»So früh schon auf den Beinen? Mein Gott, Junge, wie sehen denn deine Schuhe aus?«
Sebastian Friedland betrat die Küche, ließ sich auf einen Stuhl fallen und strich, ohne sich zu bücken, die sandigen und nassen Schuhe von den Füßen.
Tante Erika beugte sich hinunter, um sie aufzuheben. »Wo bist du gewesen?«
»Am Strand.«
»Das sehe ich. Das schöne Leder bekommt Salzränder, wenn nichts dagegen getan wird. Aber keine Bange, die kriege ich wieder hin. Ich werde sie zum Trocknen mit Zeitungspapier ausstopfen und anschließend mit ordentlicher Schuhwichse einschmieren.«
Als ob es Sebastian interessierte, wie sie seine Schuhe wieder in Schuss brachte. Hauptsache, sie tat es, und zwar ohne ihm auf den Wecker zu gehen. »Gibt es Kaffee?«
Sie wollte ihm übers Haar streichen, doch er entzog sich ihrer Hand mit einer Kopfbewegung. Er hasste es, wenn sie das tat.
Tante Erika legte die Schuhe auf einen der Stühle. Dort stapelten sich die Tageszeitungen. Sie trat an die Küchenzeile, um ihm den gewünschten Kaffee einzuschenken. »Hast du gefrühstückt?«
Was für eine dumme Frage. Sie wusste doch, wie er es hasste, morgens zum Essen gedrängt zu werden. Gleich kam sie ihm wieder mit einem ihrer dämlichen Sprüche, »Morgenstund hat Gold im Mund« oder »Das Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages«. Doch sie seufzte nur, als müsste sie die Last der ganzen Welt tragen.
Er beobachtete, wie sie ihm drei Stück Zucker und einen kräftigen Schluck Kuhmilch in den Kaffee tat, einen Löffel aus der Schublade nahm und neben der Tasse vor ihm auf dem Tisch ablegte. Während er umrührte, den Löffel ableckte und am Kaffee nippte, nahm sie erneut die nassen Schuhe in die Hand.
»Wenn du etwas früher gekommen wärst, hättest du noch mit uns frühstücken können. Jetzt ist dein Onkel schon zur Arbeit.«
Gut so. Der ging ihm mit seinen ewigen Krankengeschichten und dem lauernden Blick noch mehr auf die Nerven als Tante Erika.
»Ich glaube, die muss ich erst einmal wässern, damit das Salz herausgewaschen wird.« Sie verließ die Küche, um gleich darauf im Bad die Duschbrause anzustellen.
Wäre am Strand alles glatt gelaufen, hätte er jetzt reichlich Geld und die Schuhe in den Müll geworfen. Mist.
Wütend fegte er die oberste Zeitung vom Stuhl.
Tante Erika kam zurück, tat so, als habe sie seinen Wutanfall nicht bemerkt, und beugte sich übers Geschirrspülbecken, um die Gardine am Küchenfenster zurechtzuzupfen. Wenn sie gleich zum wiederholten Male betonte, wie angenehm es doch war, beim Abwasch aus dem Fenster schauen zu können, würde er schreien.
Doch sie schwieg. Während sie ihm weiter den Rücken zuwandte, nahm sie erneut die Kanne aus der Kaffeemaschine und schenkte sich selbst einen Becher ein. Aus dem Zuckerpott fischte sie einen Würfel, den sie in der Mitte auseinanderbrach. Warum sie keinen losen Zucker nahm, würde ihm auf ewig ein Rätsel bleiben. Mit einem Geschirrtuch wischte sie die Krümel von der Arbeitsfläche, gab einen Schuss Milch in den Kaffee, drehte sich zu ihm um und nahm schweigend auf der anderen Seite des Tisches Platz. Gleich nimmt sie meinen Löffel, rührt damit in ihrem Becher herum, lutscht ihn ab und legt ihn neben meinen Becher zurück, dachte er. Eklig.
Wortlos beugte sich Tante Erika zur Seite und nahm die »Ostfriesenzeitung« vom Stuhl. Warum seine Tante beide Zeitungen, die Ostfriesen- und die Borkumer abonnierte, wo doch in beiden das Gleiche stand, war auch so etwas, was er nie verstehen würde.
»Skorpion«, las sie vor und schaute ihn an, als müsste sie ihn an sein eigenes Sternzeichen erinnern. »Lassen Sie der Wut keinen freien Lauf. Am Ende des Tages wird sich alles zu Ihren Gunsten wenden.«
Seit der Hokuspokusladen in der Franz-Habich-Straße aufgemacht hatte, trieben Tante Erika und Onkel Horst auf der okkulten Welle. Sebastian schlürfte laut seinen Kaffee, ehe er den Becher so hart aufsetzte, dass Zeitung und Tischdecke braune Spritzer abbekamen. Er wischte mit dem Ärmel darüber. Nicht Tante Erika zuliebe, sondern weil er im Moment auf ihr Wohlwollen angewiesen war.
»Entschuldige bitte, Tantchen. Ich war am Strand, weil du mir geraten hast, vor dem Frühstück Sport zu treiben«, log er, und schon entspannte sich ihre Miene. »Und was steht beim Widder?« Tante Erikas Geburtstag war irgendwann im April.
Sie lächelte, erfreut darüber, dass er wusste, welches Sternzeichen sie war. Was sie ihm aus ihrem Horoskop vorlas, hörte er nicht.
»Wie schön«, murmelte er und erkannte an ihren geweiteten Augen, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Ich meine natürlich weniger schön. Von diesen ganzen Auslegungen und Prophezeiungen hast du einfach mehr Ahnung als ich, liebste Tante.«
Das Kompliment versöhnte sie.
»Gehst du gleich zur Arbeit?« Er bückte sich, um die Zeitung vom Boden aufzuheben, und wäre dabei fast vom Stuhl gerutscht.
»Natürlich. Wohin sollte ich sonst gehen? Warum fragst du?«
»Ich interessiere mich halt für das, was du tust.«
Kurz wirkte sie nachdenklich, dann schien sie sich über sein Interesse zu freuen. Seinem Lächeln konnte sie noch nie widerstehen.
»Du denkst also ernsthaft darüber nach, eine Hotelfachausbildung zu machen?«, erkundigte sie sich hoffnungsvoll. Wenn nur die Litanei, dass man in diesem Beruf niemals arbeitslos werden würde und es viele Aufstiegschancen gab, ausblieb. Was fanden die Leute bloß an dem Job? Er war anstrengend und stressig. Außerdem verdiente man zu wenig, und die Arbeitszeiten waren total beschissen.
»Mhmmm«, nuschelte er vage und umging so die ehrliche Beantwortung der Frage. »Wohnt dieser Detektiv immer noch bei euch im Hotel?«
»Hubert Engel?« Erika lächelte, als würde sie sich an einen lieben Freund erinnern, der ihr am Herzen lag. »Ja. Soweit ich weiß, bleibt er noch ein wenig.«
Würde ihn wundern. »Grüß ihn unbekannterweise von mir. Und seine Frau natürlich auch.«
Überrascht sah sie ihn an, dann nickte sie. »Jetzt muss ich aber los, ich bin schon spät dran.«
Sebastian beschloss, abzuwarten, was Tante Erika ihm zur Mittagszeit über das Ableben des Hotelgastes erzählen würde.
***
»Guten Morgen, Herr Engel. Wow, vor dem Frühstück schon spazieren gehen, das nenne ich aber sportlich.«
»Guten Morgen, Mara.« Hubert Engel blieb an der Hotelrezeption stehen und lächelte. Seine Zähne waren ziemlich gelb und schief, aber immerhin noch vollzählig.
»Sie waren am Strand?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.
»Woran erkennen Sie das?«
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf seine sandigen Schuhe.
»Oje. Ich habe vergessen, mir die Füße abzutreten.«
»Nicht so schlimm. Das meiste ist auf der Treppe liegen geblieben.« Mit dem Kopf wies sie in Richtung Hoteleingang, wo von der Tür bis zur Rezeption diverse Stufen emporführten. Dann blieb ihr Blick an seinem Gesicht hängen. »Oh Gott, Herr Engel. Was ist denn mit Ihren Augen passiert? Damit sollten Sie zum Arzt gehen.«
»Nein, nein. Alles in Ordnung. Es ist nur Sand. Den habe ich dummerweise mit Salzwasser herauswaschen wollen«, flunkerte er. Die Augen mussten knallrot sein, so wie sie brannten.
Ein hochgewachsener Mann trat dicht neben Engel, beinahe so, als würde er ihn beiseiteschieben wollen.
»Haben Sie eine Schere und Paketklebeband für mich?« Er klang ungehalten und hielt fordernd seine offene Hand über den Rezeptionstresen. Schweigend reichte Mara ihm das Gewünschte und schüttelte leicht den Kopf, als er sich ohne ein Wort des Dankes abwandte und ging.
»Leute gibt es, fürchterlich«, kommentierte Engel das Benehmen.
Mara lächelte wissend. »Ihre Frau haben Sie um ein paar Minuten verpasst, Herr Engel.« Sie spielte mit ihrem tropfenförmigen Ohrring.
Alles entspannt bei ihr, dachte Engel. Wenn Mara nervös war, schob sie mit dem Zeigefinger dauernd ihre Brille hoch, auch wenn die gar nicht herunterrutschte. Soweit Engel das beurteilen konnte, war sie eine gute Rezeptionistin. Sie empfing die Gäste, als wären sie gute alte Bekannte, und kümmerte sich um sämtliche Wünsche, sofern es in ihrer Macht lag. Sie war verantwortlich für die Zimmerbelegungen, schrieb Rechnungen, kassierte und telefonierte und wirkte niemals genervt. Meistens jedenfalls.
»Meine Frau? Wo ist sie denn so früh schon hingegangen?«
»In die Sauna.« Mara gab ihm den Zimmerschlüssel, den seine Frau an der Rezeption hinterlegt hatte.
»Was will sie denn da?« Blöde Frage, dachte Engel im selben Moment, da er sie stellte. Was sollte man in der Sauna schon anderes wollen, als ordentlich zu schwitzen? Seine Frau liebte das und behauptete immer, danach fühle sie sich wie neu geboren. Als ob das in ihrem Alter noch möglich wäre. Na, sein Geschmack war das schweißtreibende Sitzen jedenfalls nicht.
»Ich soll Ihnen ausrichten, dass sie um zehn eine Schlickpackung mit anschließender Massage hat.«
Mit anderen Worten, er hatte den kompletten Vormittag für sich.
Mara reagierte auf seine gerümpfte Nase. »Das ist etwas Gutes. Schlickpackungen sind gesund.« Sie klang überzeugend.
»Baden im stinkenden Watt?«
»Das sollten Sie sich auch mal gönnen, ist gut gegen Muskelverspannungen. Und so fürchterlich riecht es gar nicht.«
»Für mich schon. Danke.« Engel nahm den Zimmerschlüssel und ging zum Fahrstuhl. Von Meerespackungen hatte er für heute genug. Sein Rheuma schmerzte. Er wollte so schnell wie möglich die Beine hochlegen, um sich von dem Abenteuer am Strand zu erholen. Die Treppe in die oberste Etage hinaufzugehen, traute er sich in diesem Stadium nicht mehr zu. Ihm blieb keine andere Wahl, als sein Missfallen gegenüber Fahrstühlen zu überwinden und hochzufahren. Er plante, nach einer kurzen Erholungspause zu duschen, sich umzuziehen, anständig zu frühstücken und dann einige Erkundigungen über seinen Erpresser einzuholen. Ein Detail seines Aussehens würde ihm dabei sicher gute Dienste leisten: Der Mann hatte Feenaugen.
Darüber hatte er nachgedacht. Auch wenn Feenaugen recht selten vorkamen, waren sie ihm doch seltsam vertraut. Das eine blau, das andere grün, wo hatte er das schon gesehen?
Das sonstige Aussehen des Mannes entsprach dem vieler junger Männer. Doch das Gefühl, er sei gerade diesen Augen schon einmal begegnet, blieb.
Eine Stunde später quoll eine wohlriechende Dunstwolke aus dem Bad ins Hotelzimmer. Engel rubbelte sich mit einem Handtuch über den Kopf. Einen Fön zur Trocknung der wenigen Haare einzuschalten, wäre Stromverschwendung. Barfuß ging er zum Kleiderschrank, öffnete die Tür und fragte sich, was er anziehen sollte. Wenn seine Frau hier wäre, würde sie lachen. Er behauptete gern, nur die holde Weiblichkeit wisse nie, was sie anziehen sollte. Er entschied sich für eine helle Hose und ein kurzärmliges kariertes Hemd.
Nachdem er sich angezogen hatte, wollte er die Schranktüren schließen, überlegte es sich aber anders. Er ging in die Knie, obwohl er sich vorgenommen hatte, derartige Bewegungen für den Rest des Tages zu vermeiden, und zog seinen abgewetzten Detektivkoffer hervor. Ächzend richtete er sich wieder auf, wuchtete den Koffer auf das ungemachte Bett, ließ die Schlösser aufschnappen und öffnete den Deckel.
In Lederschlaufen im Kofferdeckel, fein säuberlich nach Größen sortiert, hingen Lupen, Pinsel und Pinzetten. Es gab Einmalhandschuhe, Wattestäbchen, Plastiktütchen, jede Menge Tinkturen und sonstige Dinge, die ein erfahrener Detektiv benötigte. Engel nahm den obersten Einlegeboden heraus und legte ihn beiseite. Darunter lagen diverse Dietriche, eine hochmoderne Abhöranlage und in einer Schachtel mit durchsichtigem Deckel die dazu passenden Wanzen und Kopfhörer. Er hob auch diesen Boden heraus, und da waren sie, die beiden Erpresserbriefe. Einer, um eine Erpressung anzukündigen. Und ein zweiter Brief, in dem er aufgefordert wurde, in der ersten Augustwoche zur Insel zu fahren. Beide Briefe hatte Engel fein säuberlich in Klarsichthüllen gesteckt. Spuren von dem Puder, mit dem man Fingerabdrücke sichtbar machen konnte, waren an den Rändern der Blätter zu erkennen. Doch was die Fingerabdrücke anging, so hatte er sich getäuscht. Keine vorhanden. Der Mann hatte Handschuhe getragen.
Die Briefumschläge hatte Engel ebenfalls aufbewahrt. Er vermutete, dass der Täter sie vor dem Zukleben angeleckt hatte – wer, bitte schön, meldete denn eine Erpressung an? Bestimmt kein Profi –, aber um eine DNA-Analyse zu machen, brauchte er eine Vergleichsprobe von demjenigen, den er verdächtigte. Doch auch wenn er nun bald wusste, wer das war, die Geldausgabe fürs Labor konnte er sich sparen – zumal er niemandem, schon gar nicht der Polizei, etwas beweisen musste.
Die Briefe enthielten teils ganze Worte, teils einzeln aneinandergesetzte Buchstaben, aus Zeitungen ausgeschnitten. Zudem stand im zweiten Brief, wo und wann sie sich treffen sollten und wie viel er zu zahlen hatte. Zu dem Termin war Engel einfach nicht erschienen. Wie erwartet erhielt er daraufhin einen Anruf, der die Situation für ihn verbesserte. Sein Erpresser schien die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen zu haben. Engel konnte ihn herunterhandeln und den neuen Übergabeort bestimmen.
Draußen auf dem Flur hörte Engel Frauenstimmen. Sollte seine Ehefrau mit ihren Anwendungen schon fertig sein? Sie wusste nichts von den Briefen, er wollte sie nicht beunruhigen.
Engel horchte. Die Stimmen auf dem Flur entfernten sich. Er legte die Briefe zurück, hielt inne und zog den älteren wieder heraus. Vor einem der ausgeschnittenen Worte meinte er etwas gesehen zu haben, das ihm bisher entgangen war. Er holte seine Lesebrille. Es war immer noch schlecht zu sehen. Mit der großen Lupe würde er mehr erkennen.
Er ging zum Fenster und drehte das Blatt so, dass das Sonnenlicht direkt darauffiel. Dann hielt er die Lupe über die Stelle. Es sah aus wie ein Stier, konnte aber auch ein Widder sein. Eine Art Wasserzeichen unter dem Wort. Demnach war es aus einer Zeitschrift ausgeschnitten worden, die Horoskope erstellte. Solche Vorhersagen gab es in allen Fernsehzeitungen, jedem Revolverblatt, in Frauenzeitschriften und Tageszeitungen. Enttäuscht legte er den Brief zurück zu dem anderen in den Koffer und stapelte die Einlegeböden darüber. Die Lupe kam wieder zurück in die Schlaufe. Er klappte den Koffer zu, ließ die Schlösser einrasten und stellte ihn neben den Schreibtisch. In seinem Magen rumorte es. Zeit fürs Frühstück.
Er hatte die Tür halb geöffnet, als ein Wäschewagen auf dem Flur vorbeigeschoben wurde. Engel schaute dem Zimmermädchen hinterher. Sein Gehirn fügte ein paar lose Enden zusammen, und endlich wusste er, an wen ihn die zweifach gefärbten Augen erinnerten: an die Hausdame Erika. Und mehr noch, sie hatte ein Faible für Horoskope. Das konnte kein Zufall sein. Zwar lasen viele Menschen die Horoskope in irgendwelchen Zeitschriften, zwei ungleiche Augenfarben aber waren eine äußerst seltene Laune der Natur. Angeboren, aber nicht erblich. Trotzdem. Daraus ergab sich mehr als nur eine flaue Spur.
Auf dem Weg nach unten kamen ihm Bedenken. Er kannte Erika Becker als eine integre Person, zumal sie mit einem Polizisten verheiratet war. Ihr traute er keine Erpressung zu. Aber man schaute den Leuten immer nur vor den Kopf. Hatte sie Kinder? Er wusste es nicht. Doch er würde es herausfinden.
Mit dem glücklichen Gefühl, der Identität des Erpressers dicht auf den Fersen zu sein, ging er fröhlich vor sich hin pfeifend zum Frühstück.
***
Sebastian vertrödelte den Vormittag mit Nichtstun und schlenderte durch den Ort. Als er ins Haus seines Onkels zurückkam, konnte er schon vom Flur aus sehen, dass Tante Erika in der Küche den Mittagstisch nur für zwei Personen eingedeckt hatte.