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Während eines Theaterstücks des Rotary Club Borkum wird eine junge Frau ermordet. Was die Zuschauer zunächst für einen Teil der Aufführung halten, ist jedoch tödlicher Ernst – und ein Fall für Kommissar Busboom. Schleunigst macht er sich auf den Weg, um sich die Borkumer Honoratioren vorzuknöpfen. Doch auch für ihn selbst hält seine Lieblingsinsel nicht nur malerische Idylle bereit, sondern auch so manches verminte Terrain . . .
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Seitenzahl: 311
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Ocke Aukes lebt seit ihrer Kindheit auf Borkum. Sie ist in der Touristikbranche tätig und hat bereits mehrere Kriminalromane veröffentlicht.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind– mit einigen Ausnahmen– frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind in diesen Fällen nicht gewollt und rein zufällig.
©2017 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: iStockphoto.com/Oliver Hoffmann Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-180-2 Insel Krimi Originalausgabe
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Bei allem, was wir denken, sagen oder tun, sollten wir uns fragen:
1. Ist es wahr?
2. Ist es fair für alle Beteiligten?
3. Wird es Freundschaft und guten Willen fördern?
4. Wird es dem Wohl aller Beteiligten dienen?
PROLOG
»Verfluchte Scheiße«, schimpfte Fridolin Dobermann, dass es durch die Hotelküche hallte, und trat gegen einen Hocker. Der Mülleimer folgte dem Möbelstück. »Das lasse ich mir nicht länger gefallen. Ihr werdet mich kennenlernen!«
Er war außer sich. Erst waren die Buchungen peu à peu zurückgegangen, und nun begannen die Gäste auch noch, ihre Reservierungen abzusagen. Wenn das so weiterging, kam er finanziell in schwere Bedrängnis. Die Schuld daran gab er der Konkurrenz. Wem sonst? Er durfte auf keinen Fall zulassen, dass sie sein Lebenswerk ruinierten. Dafür hatte er nicht ein Leben lang gearbeitet. Es wurde Zeit, etwas dagegen zu unternehmen. Er hätte sich bereits damals wehren müssen, als seinem Hotel der erste Stern genommen worden war. Wenig später hatte er den zweiten eingebüßt und mit ansehen müssen, wie andere Häuser einen zusätzlichen Stern bekamen. Von der »Strandvilla« bis zum »Ostfriesenhof«. Alle hatten sie bessere Kritiken als die »Seeschwalbe«. Wenn er jetzt nichts unternahm, blieb er auf der Strecke.
Zu allem Überfluss hatten sein Küchenchef Hermann, die erste Servierkraft und Birgit, seine Rezeptionistin, vergangene Woche gekündigt. Wo sollte er jetzt noch neues Personal herbekommen, so kurz vor Beginn der Saison?
Als der Mülleimer von der Wand abprallte und wieder auf ihn zurollte, fiel die Entscheidung. Er würde nicht länger untätig herumsitzen und seinem Untergang entgegensehen. Die Konkurrenz und alle, die ihn verraten hatten, sollten sich besser warm anziehen. Beginnen würde er mit der Strandvilla. Dort hatten Birgit und Hermann neue Arbeitsstellen angetreten.
Undankbares Gesinde. Birgit hatte in seinem Haus gelernt. Sie würde es noch bereuen, ihn im Stich gelassen zu haben. Und auch Hermann sollte sich besser vorsehen, denn er kannte sein Geheimnis und ärgerte sich über sich selbst, ihn mit diesem Wissen nicht schon vor Tagen dazu veranlasst zu haben, in seinen Diensten zu bleiben. Dazu war es nun zu spät. Allerdings konnte er sein Wissen auch auf andere Weise nutzen.
Aber eines nach dem anderen. Zuerst brauchte er ein paar Skandale, die die Konkurrenz erschütterten. Was fehlte, waren geeignete Ideen, wie er das bewerkstelligen konnte, doch die würden ihm schon noch kommen. Mit diesem heiteren Gedanken stellte er den Hocker auf und schob den Mülleimer zurück an seinen Platz.
Gleich heute Abend wollte er damit beginnen, den Feind auszukundschaften.
Das Essen im Restaurant der Strandvilla Mare war ekelhaft gut. Kein Wunder, den Koch hatte man bei ihm abgeworben. Und die Kombination, entweder Büfett oder Gerichte aus einer Speisekarte mit kleinem Angebot, war eine tolle Idee. Nur dass das Restaurant bereits um zwanzig Uhr schloss, fand er gewöhnungsbedürftig. Vermutlich, weil der größte Teil der Kundschaft Hausgäste waren und diese wiederum fast alle Kururlauber. Da kam die Strandvilla Mare, was die Essenszeiten ihrer Gäste anging, einer Kurklinik recht nahe.
»Zu viel Oregano«, teilte er seiner Ehefrau und seiner Tochter mit und betupfte seine verkniffenen Lippen mit der Serviette. Bis zur Nachspeise schwieg er und verfolgte aufmerksam das Geschehen um sie herum, während seine Familie das Tischgespräch allein bestritt.
»War alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, erkundigte sich der Kellner, als er die Nachtischschälchen abräumte.
»Nein. Das Dessert hätte luftiger sein können. Sagen Sie dem Koch, er soll es in Zukunft länger schlagen.«
Zweimal suchte er die Toilette auf und kam dabei an der Rezeption vorbei. Da saß sie, die Birgit. Das schlechte Gewissen in Person. Wagte ihm nicht in die Augen zu schauen. Als er nach dem zweiten Toilettenbesuch ins Restaurant zurückkehrte, sprach sie gerade mit einem Gast, der ihr erzählte, er sei im letzten Urlaub im Harz in einem Hotel bestohlen worden.
»Beim Anrempeln aus der Manteltasche heraus. Die sehen mich nie wieder, das können Sie mir glauben«, erklärte er.
»Aber das Hotel kann doch nichts dafür«, sagte Birgit.
Den Einwand wies der Mann weit von sich. »Keine Empfehlung.«
Was für ein herrlicher Gedanke! Gleiches müsste auch hier zu schaffen sein, nur außergewöhnlicher, wenn möglich. Ein Überfall vielleicht? Das wäre was. Am besten, wenn die Rotarier, die ihre Treffen in der Strandvilla abhielten, tagten. Da schlug er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Club war nie an ihn herangetreten, um ihn aufzunehmen, und das stieß ihm übel auf.
Da war sie also, seine Idee. Fröhlich vor sich hin pfeifend, kehrte Fridolin Dobermann zu seiner Familie an den Tisch zurück.
EINS
Gunda Fischer war ein Einzelkind. Sie war sechsunddreißig und hatte bis vor ein paar Tagen mit ihrem Lebensgefährten Julian Grauer in einer kleinen Mietwohnung zusammengelebt. Jetzt saß sie im Haus ihrer Eltern, die für drei Wochen auf den Kanaren Urlaub machten und noch keine Ahnung hatten, dass ihre Tochter wieder bei ihnen eingezogen war. Gunda beabsichtigte, ihnen erst nach dem Urlaub von der Trennung zu erzählen. Sie hatten Julian von Anfang an nicht leiden können, und Gunda brauchte noch etwas Zeit für sich, bevor sie sich von ihren Eltern den Spruch anhören konnte, dass sie es ja gleich gewusst hätten.
Sie stand auf und verstaute die letzten Sachen aus der gemeinsamen Wohnung in Schubladen, Regalen und im Kleiderschrank ihres ehemaligen Kinderzimmers, ehe sie den Koffer erneut mit ein paar Sachen packte, die sie in den kommenden Tagen brauchen würde. Bevor sie das Kapitel Julian ganz abschloss, musste sie noch etwas erledigen.
Gunda hatte lange überlegt, ob sie Teil zwei des Engagements in letzter Minute absagen sollte, zumal ihr etwas daran komisch vorkam. Der Auftraggeber verhielt sich sonderbar und machte ihr Angst. Sie verspürte mehr als Unbehagen, wenn sie an ihn dachte. Doch sie würde keinen Rückzieher machen, denn die Hälfte der Arbeit hatte sie ja bereits getan, da konnte sie genauso gut den Rest auch noch erledigen.
Vielleicht war es ja ganz gut, wenn sie die kommenden Tage verreiste. So war sie weit weg von Julian und konnte aufhören, an ihn zu denken. Denn seit sie ihn verlassen hatte, meinte sie, ihn überall in ihrer Umgebung zu entdecken.
Sie wusste, Julian liebte sie, zumindest behauptete er das immerzu. Dennoch fühlte sich die Trennung für Gunda gut und richtig an. Die ewigen Eifersüchteleien hatte sie einfach nicht mehr ertragen können. Anfangs war es ja noch ganz schön gewesen, dass er immer von ihr wissen wollte, wo sie gewesen war, was sie getan und mit wem sie gesprochen hatte. Eifersucht bedeutete doch, dass man geliebt wurde und dass der Partner nicht bereit war, einen mit anderen zu teilen. Doch Julian hatte es damit übertrieben, er war zu weit gegangen. Es war unerträglich, wenn er bei ihrer Heimkehr zu Hause hinter der Wohnungstür auf sie wartete, immer einen finsteren Blick auf seine Armbanduhr gerichtet, und wissen wollte, wo sie denn so lange gewesen war. Schließlich brauche man zum Einkaufen weniger als eine halbe Stunde. Oder wenn er der Meinung war, der Heimweg von der Arbeit wäre auch in kürzerer Zeit zu schaffen gewesen, und ob sie Zeit mit anderen Menschen, mit Männern, verbrachte, von denen er nichts wissen durfte? Außerdem würde der Nachbar von gegenüber sie viel zu freundlich grüßen, ob da was wäre?
Als sich die Verdächtigungen, sie würde hinter seinem Rücken einen anderen Mann treffen, häuften, hatte sie erstmals in Betracht gezogen, ihn zu verlassen. Die endgültige Entscheidung darüber hatte sie vor sich hergeschoben, so lange, bis Julian dem Ganzen das i-Tüpfelchen aufsetzte. Zuletzt hatte sie nicht einmal mehr ihre Eltern besuchen dürfen, ohne dass er ihr eine Szene machte.
Gunda trat ans Fenster und schaute hinaus. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Mann in einem blauen Overall mit einem Klemmbrett in der Hand und schaute sich die Häuser an. Im ersten Moment dachte Gunda, Julian habe sich als Vertreter der Gas- oder Wasserwerke verkleidet, um sie zu beobachten, aber der Mann gegenüber wirkte eher klein und dicklich. Julian war recht talentiert, wenn es darum ging, sich zu verkleiden, doch an seiner Körperlänge konnte er nicht drehen.
Gunda packte die benötigte Kleidung in den Koffer, dann trat sie ans Regal und betrachtete die Perücke. Sie nahm sie in die Hand, drehte sie ein wenig hin und her und fuhr einmal mit den Fingern durch die künstlichen Haare, ehe sie sie auf einen Kunststoffkopf zog und in den Koffer legte. Der Perücke folgten eine halb volle Dose Schminkwachs sowie ein paar Döschen Theaterschminke, die sie für ihren Auftritt benötigte. Sie überlegte, ob sie auch noch ein Beautycase dafür mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen. So viele Kosmetika brauchte sie nicht. Gunda war eher der Typ, der ungeschminkt durchs Leben ging, zumindest privat.
Noch so ein Punkt, den sie im Nachhinein an Julians Verhalten bemängeln musste. Er liebte es, sich als ein anderer auszugeben, als er war. Zuerst hatte sie es auf seinen Beruf geschoben. Als Schauspieler gehörte es einfach dazu, in verschiedene Rollen zu schlüpfen. Ihr lag das nur bedingt. Für sie würde dieses Kapitel in wenigen Tagen jedenfalls ebenso abgeschlossen sein wie Julian selbst. Sie war nur ihm zuliebe bei seiner Agentur als Laiendarstellerin gelistet, im Grunde hatte sie am Theaterspiel keinen Spaß. Zum Glück wurde sie nur selten vermittelt, und in Zukunft würde sie ja ganz davon verschont bleiben. Nur noch dieses eine Engagement, dann war Schluss.
Gunda trat erneut ans Fenster und blickte hinaus. Der Mann im Overall war verschwunden, dafür schob eine schlanke, hochgewachsene und verlottert wirkende männliche Gestalt einen Einkaufswagen vor sich her, in dem Plastiktüten, Wolldecken und andere Dinge, die Obdachlose mit sich herumschleppten, lagen. Aus der Entfernung vermochte sie nicht zu erkennen, ob es sich tatsächlich um einen Obdachlosen handelte. Als der Mann jedoch direkt zu ihr heraufblickte, wusste sie, dass es Julian sein musste. Bis vor Kurzem hatte sie seine Nachstellungen als lästig empfunden, mittlerweile fürchtete sie sich vor ihm. Bei Julian musste vor lauter Eifersucht eine Sicherung durchgeknallt sein, was ihr Angst machte. Niemals hätte sie geglaubt, dass er sich nach der Trennung zu ihrem Stalker entwickeln würde. Sobald sie von ihrem Engagement zurück war, musste sie sich etwas einfallen lassen, um ihn loszuwerden.
Sie eilte ins Bad, da sie fast die Ersatzdose mit Modellierwachs vergessen hätte, die sie benötigte, um ihre Nase und die Höhe der Wangenknochen so umzuändern, dass sie einer bestimmten Person zum Verwechseln ähnlich sah. Was die Kunden sich so alles Verrücktes einfallen ließen. Hoffentlich bekam sie es genauso gut hin wie beim letzten Mal.
Sie legte ein Plastikmesser in den Koffer, das als Requisit im Theaterstück verwendet werden sollte, und tat vorsichtshalber ein Tütchen mit rotem Pulver und einen Beutel dazu, der mit gefärbtem Wasser gefüllt werden konnte, um eine Stichverletzung zu simulieren. Das war zwar nicht mit dem Kunden abgesprochen, doch sicher war sicher.
ZWEI
Er schob die Computertastatur so heftig von sich weg, dass man Angst haben musste, sie würde gleich zerbrechen. Jemand stand vor seinem Haus und drückte ununterbrochen die Türklingel. Das nervte.
»Ignorieren und weiterarbeiten«, ermutigte sich Karl Richter, Journalist und Herausgeber des hundertsechzehnseitigen Blattes »Borkum-Aktuell«, doch die Person vor der Haustür hatte die besseren Nerven. Der Dauerton ließ seinen Blutdruck in die Höhe schnellen.
Er sprang erbost vom Bürostuhl hoch, der mit Schwung gegen den Aktenschrank schlug. Durch das Fenster blickte er auf die Straße. Das Fahrrad, das am Gartenzaun lehnte, kannte er. Es gehörte einem guten Kunden. Noch lange kein Grund, ihn zu stören. Sicherlich wollte er diesmal in seiner Anzeige die roten Buchstaben in weinrote umgewandelt haben, die Schriftgröße um eine Nuance kleiner oder größer als bei der vorletzten Ausgabe gedruckt sehen oder sein schwarzes Markenzeichen, einen stilisierten Seehund, von normal Schwarz in ein helleres Schwarz oder dunkleres Grau umgewandelt wissen.
»Es ist gleich Mitternacht, ich sollte den Hund auf ihn hetzen«, murrte er, entschlossen, nicht auf das Klingeln zu reagieren. Er sollte in Zukunft sogar ganz auf diesen Kunden verzichten. Aber wahrscheinlich nervte dann bald ein anderer, so war das doch immer.
Die Fensterscheibe beschlug von seinem Atem. Er trat wieder an seinen Schreibtisch, schob den Stuhl zurecht und setzte sich. Das hatte er nun von dem kurzen Wutausbruch. Im Aktenschrank war eine Beule.
Der Störenfried klingelte noch ein paarmal und gab schließlich auf.
Richter schaffte es in der darauffolgenden halben Stunde, seine Abschlussarbeiten an dem Monatsjournal fertigzustellen und es zur Druckerei hinüberzumailen. Sein besonderes Augenmerk galt den Werbeanzeigen, mit denen wurde das kostenlos herausgegebene Journal schließlich finanziert. Sie wechselten ständig und mussten genau platziert werden, damit direkte Konkurrenten nicht auf derselben Seite inserierten. Alles andere erfolgte in bewährter Form. Auf den ersten zwanzig Seiten der Veranstaltungskalender für den kommenden Monat, gefolgt von Berichten über die Veranstaltungen der vergangenen vier Wochen. Dann eine Vorausschau auf Kommendes, die plattdeutsche Kurzgeschichte von Jan, der immer umfangreicher werdende Bereich der Kleinanzeigen und schließlich die Beratungs- und Empfehlungsseiten mit rechtlichen und gesundheitlichen Tipps sowie Grüßen aus aller Welt, bis am Ende das Preisrätsel kam. In den frühen Morgenstunden würde der Druck erfolgen und die Hefte anschließend mit dem Mittagsschiff zur Insel Borkum herübergebracht werden. Danach konnten er und seine beste Mitarbeiterin, seine Ehefrau Martina, es wieder etwas ruhiger angehen. Erst ab Mitte des Monats würde erneut die allgemeine Hektik einsetzen, weil sich die meisten Kunden an den bevorstehenden Anzeigen-Annahmeschluss erinnerten und noch schnell eine Anzeige aufgeben wollten.
Das Mai-Heft war fertig. Mit diesem befriedigenden Gedanken ging er schlafen. Hätte er gewusst, was eine der Kleinanzeigen auslösen würde, er hätte Alpträume bekommen.
Als am darauffolgenden Nachmittag jeder Borkumer Haushalt mit einem frischen Monatsheft versorgt war, begann das Desaster. Ständig klingelte das Bürotelefon, und die Besucher gaben sich die Klinke in die Hand. »Nein, es ist keine öffentliche Veranstaltung«, beteuerte Richter immer wieder, und: »Ja, nur für Clubmitglieder«, das konnte er mit Sicherheit sagen, denn er war seit Jahren selbst Mitglied im Club. Rotary-Meetings fanden grundsätzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Als er die Fragerei leid war, bat er seine Frau, ihn zu verleugnen, und zweifelte an seiner Professionalität. Niemals hätte er diese Anzeige annehmen dürfen.
* * *
Harald Sürken stand an der Rezeption seines Hotels, strich sich die Locken aus der Stirn, öffnete die »Borkum-Aktuell« und überflog die redaktionellen Beiträge. Er wollte das Magazin eben beiseitelegen, um es später in Ruhe zu lesen, als sein Blick an einem Logo im Anzeigenteil hängen blieb. Ein goldgelbes Rad mit drei Speichen auf blauem Untergrund, darum herum zum Kreis gebogen der Schriftzug »Rotary International«. Zuerst verspürte er einen kurzen Schreck. Hatte er versehentlich einen Monat zu früh die vom Rotary Club Borkum geplante Ankündigung der Spendenaktion »Polio Plus« ins Heft setzen lassen? Als Schriftführer war das seine Aufgabe. Nein, auch wenn sein Arbeitstag prall gefüllt war, so vergesslich war er nicht. Und doch sah er richtig. Das Rad sprang dem Betrachter sofort ins Auge. Er lehnte sich gegen den Rezeptionstresen und las den Text genau. Sein Gesicht wurde weiß, als hätte er Mehl abbekommen, ehe sein ansteigender Blutdruck die Wangen rot färbte.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, wollte eine besorgte Hausangestellte wissen.
Harald Sürken stieß laut die Luft aus, was seiner Mitarbeiterin noch mehr Sorgen bereitete.
»Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?« Schon war sie hinter dem Tresen der Rezeption hervorgetreten.
»Danke. Es geht mir gut.«
Die junge Frau kniff die Augen zusammen und schaute ihn skeptisch an.
Wütend darüber, dass jemand über seinen Kopf hinweg eine Anzeige aufgegeben hatte, schlug er das Heftchen zu. »Ich bin in meinem Büro und für die nächste Stunde nicht zu sprechen.«
»Aber die Gäste, die mit der Vierzehn-Uhr-Fähre anreisen, werden gleich eintreffen.«
»Die können Sie auch allein begrüßen.«
Die »Borkum-Aktuell« in seinem Büro auf den Tisch werfend, griff er zum Telefonhörer. Karl Richter konnte nicht bei Sinnen gewesen sein, so etwas in dem Blättchen zu veröffentlichen.
* * *
»Hallo, mein Schatz«, sagte Anna Hüppe und goss ihrem Mann eine Tasse Tee ein. Sie tat zwei Kluntjes und einen Schuss Sahne dazu und stellte sie vor ihn hin. Dann wartete sie, bis er umgerührt und mehrere Schlucke genommen hatte. Als kein Kommentar erfolgte, weil sie wieder einmal zuerst den Tee und dann die Kluntjes statt traditionsgemäß umgekehrt in die Tasse getan hatte, sagte sie: »Dackel Balu ist das Tier des Monats Mai.«
»Nicht schon wieder«, murmelte Sören Hüppe, unsanft aus seiner Tee-Andacht gerissen. Er sah die »Borkum-Aktuell« in ihrer Hand und stellte laut seine Tasse ab.
»›Ich bin ein verschmuster Kuschelbär‹«, informierte Anna ihren Gatten mit verstellter Stimme, als würde das Tier für sich selbst sprechen.
Sören verzog unwillig das Gesicht. »Vermittelt das Tierheim jetzt schon Bären?«, moserte er. »Wir wollten doch kein Haustier.«
Seine tiefen Stirnfalten und das Tassenscheppern ignorierend, las sie weiter vor: »›Anderen Hunden gehe ich entweder aus dem Weg, oder ich spiele mit ihnen.‹«
»Wie schön für ihn.«
Jeden Monat das gleiche Theater wegen eines verlassenen Hundes aus dem Tierheim.
»Warum reagierst du denn so brummig?«
»Du weißt, dass wir uns ein Tier nicht leisten können. Wir haben keine Zeit dafür. Der Hund würde den ganzen Tag allein in der Wohnung hocken. Das ist in meinen Augen Tierquälerei.«
»Aber dann gäbe es einen Grund, jeden Abend einen Spaziergang zu machen.«
»Schatz, das hatten wir doch alles schon. Ein Tier kommt mir nicht ins Haus, Schmusebär hin oder her.«
Eine Weile herrschte greifbare Stille. Mit unverstellter Stimme, deren Klang er so mochte, verkündete Anna sodann: »›Hurra, unsere Angelina ist da‹«, und Sören wusste, das Thema Hund war für diesen Monat erledigt. »›Jacqueline, Chantal und Kevin haben ein Schwesterchen bekommen.‹– Mein Gott, dass die Leute ihre Kinder immer nach Schauspielern benennen müssen.«
Sören schniefte ein wenig, eine Erkältung war im Anmarsch. Seine Frau reichte ihm ein Papiertaschentuch.
»›Verkaufe E-Mobil, sechs Kilometer pro Stunde. Siebenhundertfünfzig Euro‹«, las sie vor. »Meinst du, das wäre was für uns?«
»Sehe ich aus, als könnte ich bald nicht mehr laufen?«
»Nein, Schatz. Ich dachte eher an die Hotelgäste. Es gibt schließlich eine Menge gehbehinderte Urlauber. Wir könnten es kostenlos anbieten, als Service am Gast. Im Foyer ist Platz genug, da kann es stehen.– Ah, hör mal, Opa Konrad wird siebzig. Komisch, wir haben gar keine Einladung erhalten. Oder doch?«
»Nein.« Sören seufzte leise und hoffte, dass auch keine kommen würde.
»›Unser Schnurzelburzel wird achtzehn Jahr.‹– Was für verrückte Kosenamen die Leute sich geben.«
»Ja, mein Zuckerhäschen.«
»›Vier ostfriesische Hörnstühle zu verschenken.‹«
»Sei bitte still, ich muss nachdenken.«
Sie schob die Schale mit den Keksen zu ihm herüber, als würden sie sein Denken unterstützen, und war nicht einmal neugierig genug zu fragen, über was er denn so dringend nachdenken musste. Die Anzeigen interessierten sie im Moment viel mehr. Sie blätterte um und stieß einen Schrei aus.
»Mein Gott, hast du mich erschreckt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Natürlich hast du das!«
»Ach, sei nicht so zimperlich. Ich meinte doch die Anzeige. Hier steht’s: ›Ein Mord wird angekündigt– pünktlich um zwanzig Uhr fünfundvierzig. Am Montag, den 1.Mai, wird er in der Strandvilla Mare verübt. Alle Freunde des Rotary Club Borkum sind herzlich eingeladen.‹– Das ist heute.« Vorwurfsvoll schaute sie ihren Mann über den Rand des Journals hinweg an. »Du hast mir verschwiegen, dass ihr ein Mörderspiel plant.«
»Davon hatte ich keine Ahnung.«
»Du wirst es vergessen haben.«
»Zeig her.«
Anna reichte ihm widerwillig die »Borkum-Aktuell«. »Ein Mörderspiel«, wiederholte sie sehnsüchtig. »Bei so etwas wollte ich immer schon mitmachen.«
»Was ist das überhaupt?«, fragte er.
»Das ist wie ein Theaterstück. Ein Mord wird verübt, und die Gäste müssen erraten, wer der Täter ist.«
»Ich hasse Mitmachspiele.«
»Ach was. Aber merkwürdig ist die Einladung schon, wenn du nichts davon weißt.« Dem stimmte Sören zu. Seine Gattin biss herzhaft in einen Keks und fragte mit vollem Mund: »Meinst du, mit ›alle Freunde‹ sind auch Ehepartner gemeint?«
»Ich weiß nicht genau, aber ich denke schon.«
»Wunderbar, das wird bestimmt lustig.«
* * *
»Peter?«, sagte Sigrid Wegmann zu ihrem Mann, und ihr Tonfall klang vorwurfsvoll.
Peter dachte, es läge daran, dass er seine Schuhe nicht ausgezogen hatte, als er in Eile aus der unter ihrer Wohnung liegenden Autowerkstatt zur Teepause heraufgekommen war, und schaute schuldbewusst. Sie sah es ungern, wenn er in Arbeitskleidung am Tisch Platz nahm.
»Mir erzählst du immer was anderes.«
»Was erzähle ich dir?«
»Dass keiner von euch vorher etwas weiß.«
»Wovon etwas weiß? Was meinst du?«
»Ich rede vom Rotary Club. Von euren wöchentlichen Meetings. Du hast mir erzählt, dass nur wenige im Club wissen, über welches Thema ein Vortrag gehalten wird.«
»So ist es. Nur der Vortragswart kennt den Inhalt– und derjenige, der referiert. Logisch. Wie kommst du darauf?«
Sigrid klappte die »Borkum-Aktuell« zusammen, sicherte die betreffende Stelle aber mit einem Finger zwischen den Seiten. »Heute Abend wird ein Mord verübt, bei Rotary.«
»Unmöglich.«
»Du glaubst mir nicht?« Sie klappte die entsprechende Stelle des Journals wieder auf. »›Ein Mord wird angekündigt– pünktlich um zwanzig Uhr fünfundvierzig. Am Montag, den 1.Mai, wird er in der Strandvilla Mare verübt. Alle Freunde des Rotary Club Borkum sind herzlich eingeladen.‹– Die Steemann will ein Mörderspiel veranstalten.«
»Wie kommst du darauf?«
»Sie schreibt Krimis.«
»Ja und?«
»Eine Krimischreiberin– ein Mörderspiel. Da muss man kein Detektiv sein, um das herauszufinden. Das wird amüsant werden, wenn man es richtig macht.«
Peter schaute Sigrid mit einem Augenzwinkern an. »Du und deine Leidenschaft für Krimis.« Dann zögerte er. »Komisch ist es schon.«
»Was denn?«
»Dass es in der Zeitung steht.«
»Schwarz auf weiß. Ich habe es dir eben vorgelesen. Mörderspiel– bei Rotary– heute Abend.«
»Verrückte Idee.«
»Aber nicht meine. Hier steht es.« Sie tippte auf die entsprechende Stelle.
Er nahm ihr das Heft aus der Hand. Sie hatte recht. Oben links in der Anzeige war das internationale Zeichen, das Rotary-Rad, deutlich zu erkennen.
»Ich geh mit«, erklärte Sigrid.
»Nur für Rotary-Freunde, Schatz.« Er sagte das, um sie zu necken. Doch was Krimis anging, verstand sie keinen Spaß.
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite.
Oh, oh, den Blick kannte er. So einfach ließ sie sich nicht abspeisen. Kulturelle Ereignisse gab es auf Borkum von Mitte Mai bis September, ein Mörderspiel war noch nie dabei gewesen. Sigrid würde sich das nicht entgehen lassen.
Mit fester Stimme sagte sie: »Du kannst ja zu Hause bleiben. Ich jedenfalls gehe hin.«
Wer mochte dem widersprechen?
DREI
Clubpräsident Freymuth Schultz war ein Mann, der viel und gern parlierte. Dabei drückte er sich gelegentlich sehr diffizil aus, insbesondere dann, wenn er zu Beginn eines Meetings clubrelevante Statements verkündete. Dessen ungeachtet wurde es nie langweilig, ihm zuzuhören. An diesem Nachmittag verschlug es ihm jedoch regelrecht die Sprache. Harald Sürken hatte ihn telefonisch von der Anzeige in Kenntnis gesetzt– und Schultz musste der Meinung seines Clubschriftführers zustimmen: Die Angelegenheit war ärgerlich. Warum hatte man ihn nicht rechtzeitig informiert? Es war eine Respektlosigkeit seinem Amt gegenüber, das er wie jeder Rotary-Präsident weltweit nur zwölf Monate bekleidete, ehe ein anderes Clubmitglied Präsident wurde.
Er versuchte, den Herausgeber von »Borkum-Aktuell« zu erreichen. Vergebens. Nur Richters Ehefrau bekam er an den Apparat. Sie klang reserviert und sparte an Worten, was für sie ungewöhnlich war. Er hegte den Verdacht, dass sie ihren Gatten verleugnete. Dennoch versprach sie, dass ihr Mann ihn auf jeden Fall vor Beginn des Meetings zurückrufen würde. Was aber nicht geschah. Den ganzen Nachmittag über wartete er darauf, dass Richter sich meldete. Am Ende des Tages war Präsident Schultz dermaßen empört darüber, immer noch keine Informationen erhalten zu haben, dass seine Laune von Minute zu Minute sank. Viel zu früh und hochgradig verärgert machte er sich auf den Weg.
Nicht zu wissen, was im Club vor sich ging, war unsäglich. Er hatte deswegen sogar mit seiner Ehefrau gezankt und sie, kurz bevor er das Haus verließ, angefahren, nur weil sie eine umgeknickte Ecke seines Hemdkragens für ihn zurechtgezupft hatte.
Nun erreichte er bereits um neunzehn Uhr dreißig, eine halbe Stunde vor Beginn der normalen Rotary-Meetings, die Strandvilla. Er hoffte, den Clubmeister dort anzutreffen, der, soweit Gerätschaften für einen Vortrag benötigt wurden, für deren Aufbau zuständig war. Präsident Schultz konnte sich vorstellen, dass für ein Krimispiel einiges an Requisiten gebraucht wurde.
Im Empfangsbereich nickte ihm die Rezeptionistin zur Begrüßung freundlich zu. Im angeschlossenen Restaurant waren die Tische leer. Die Mitarbeiter des Hotels räumten bereits auf. Er durchquerte das Restaurant, das sich über die Länge eines Straßenblocks erstreckte und von der Hindenburgstraße bis zur Viktoriastraße reichte. Von allen Plätzen aus hatte man einen phantastischen Blick auf den Leuchtturm. Er passierte den Getränketresen, der um diese Uhrzeit normalerweise noch besetzt war. Einen Moment lang verharrte er und lauschte.
Aus dem Küchenbereich hörte er Stimmen. Vermutlich der Koch und einer der Kellner.
Der Büfettbereich war abgeräumt und gesäubert worden. Die Hausgäste, allesamt Kururlauber mit festen Essenszeiten, waren längst fertig mit ihrem Abendessen. Extra für den Rotary Club blieben der Koch und eine Servierkraft montagabends nach Restaurantschluss noch hier, um für die Mitglieder etwas zu kochen und zu servieren. Der Koch stellte zwei Gerichte zur Auswahl, damit zügig mit dem Essen begonnen werden konnte, denn das Wichtigste an den Treffen waren die Gespräche, die Projektplanungen des Clubs und die Vorträge, die zumeist kurz vor neun Uhr begannen.
Präsident Schultz bog nach links ab und erreichte den erweiterten Speisesaal, der vom Hauptrestaurant abging. Die gläserne Raumabtrennung war verhangen, er bemerkte es nicht. Dies war der Raum, in dem sich die Rotarier einmal wöchentlich trafen.
Er war leer.
Präsident Schultz schaute auf seine Armbanduhr. Zwanzig vor acht. Vermutlich wurde die Arbeit des Clubmeisters nicht benötigt, sonst wäre er längst da.
Prüfend ließ Schultz den Blick über die Tische wandern. Sie standen anders als normalerweise. Das Personal hatte sie in u-Form zusammengestellt. In der Mitte war eine freie Fläche entstanden. Vermutlich für die geplante Aufführung. Außerdem waren die Tische liebevoll eingedeckt. Neben Tellern und Besteck lagen Servietten, die zum Thema des Abends passten. Fleißige Hände hatten Messer, Pistolen und Skelette aus Papier ausgeschnitten und als Dekoration auf den Tischdecken verteilt. Kerzen und Wimpel, die von anderen Rotariern als Gastgeschenk mitgebracht worden waren oder die manche der Freunde als Geschenk bekommen hatten, zierten die Tische. Er erkannte den Wimpel aus Tokio, den er selbst in Japan erhalten hatte, und schaute erneut auf die Armbanduhr. Zwei Minuten waren vergangen.
Komisch, immer noch kein Mensch zu sehen. Gern hätte er von einem der Hotelmitarbeiter erfahren, wer die Tischordnung in Auftrag gegeben hatte.
Er trat ans Rednerpult, das weit entfernt von der Aufführungsfläche stand. Die Hotelangestellten waren so freundlich, es jede Woche an diesem Platz aufzustellen. Er legte eine Hand an die Tischglocke. Sie hing an einem hölzernen Bogen. Ein kleiner Holzhammer zum Anschlagen gehörte dazu.
Wenn du schon der Erste bist, kannst du dir den besten Sitzplatz aussuchen, dachte er und überlegte, von wo aus man den günstigsten Überblick hatte. Dann nahm er die Glocke in die Hand und schritt um mehrere Tische herum. Er wollte sie eben abstellen, als er merkte, dass sie doch besser am Rednerpult zur Geltung kam. Also brachte er sie zurück und fuhr erschrocken zusammen, als hinter ihm eine weibliche Stimme laut verkündete: »Da sind wir.«
Anna Hüppe eilte auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Er mochte die junge, hübsche Frau, die vermutlich noch keine dreißig Jahre alt war.
»Ah, es ist noch niemand da. Das ist gut«, sagte sie fröhlich. Zielstrebig ging sie an den Platz, von dem sie sicherlich meinte, dass er die beste Sicht auf den angekündigten Mord bot.
»Meine Frau ist mitgekommen«, erklärte Sören Hüppe, als hätte Schultz keine Augen im Kopf.
In dem Moment trafen Sigrid und Peter Wegmann ein und wünschten »Guten Abend«.
»Wissen Sie, warum die Anzeige für die Veranstaltung in der ›Borkum-Aktuell‹ erschienen ist?«, fragte Sören Hüppe. »Wäre es nicht schöner gewesen, kleine Einladungen an die Clubmitglieder zu versenden?«
»Die gleiche Frage stelle ich mir auch.– Ah, da kommt Freund Stein. Der wird es uns sagen können.« Gerhardt Stein war seit Jahren als Vortragswart für die Vergabe der Vorträge zuständig. Er musste wissen, wer für die Abendvorstellung verantwortlich zeichnete. Schultz ärgerte sich, dass er nicht gleich daran gedacht hatte. Er winkte ihn zu sich. »Was weißt du über die Anzeige und den Mord?«
»Welchen Mord?«
»Der heute Abend hier stattfinden soll. Schau doch bitte auf deinen Terminplaner.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon du sprichst.« Erst nachdem ihm von der Anzeige berichtet wurde, die er offenkundig nicht kannte, war Gerhardt Stein bereit, in seinen Terminkalender zu sehen. Aus einer schmalen Aktentasche, die er immer dabeihatte, zog er das Büchlein und ließ die Tasche auf einen der Stühle fallen. Dann blätterte er zum heutigen Eintrag und hielt die Seite dem Präsidenten hin. »Hier, Freymuth, du kannst es selbst nachlesen. Meinen Unterlagen zufolge wird heute Freundin Ilona Weber über Kinder mit Lernschwäche sprechen. Von einem Mord steht da nichts.« Er wirkte mit Recht verärgert, weil ihm anscheinend jemand in seine Terminplanung hineingepfuscht hatte. »Mir sagt ja keiner was«, beschwerte er sich. Er klemmte sich die Tasche unter den Arm und suchte nach einem geeigneten Sitzplatz, da ihm durch die Tischumstellung sein Stammplatz abhandengekommen war. Danach vertiefte er sich in den Terminkalender, als könnte er durch mehrmaliges Lesen dem Geschriebenen weitere Informationen entlocken. »Nein, ich habe mich nicht getäuscht«, murmelte er vor sich hin. »Hier steht es: Vortrag Ilona Weber, und der Termin ist von langer Hand geplant, da sie oft auf dem Festland ist.«
Der Saal füllte sich. Viele Clubmitglieder brachten ihre Ehepartner mit, und es waren einige Gäste– Rotarier aus anderen Clubs, die wahrscheinlich ihren Urlaub auf der Insel verbrachten– gekommen.
Mit so vielen Teilnehmern hatte niemand gerechnet. Zwei Kellner brachten weitere Stühle und trugen zusätzliche Gedecke auf. Karl Richter, der vermutlich Einzige, der etwas Aussagekräftiges über die Anzeige beziehungsweise denjenigen, der sie aufgegeben hatte, sagen konnte, war noch nicht da. Schultz verließ den Raum, um zu telefonieren.
Nach dreimaligem Klingeln wurde abgehoben. Erleichtert, Richters Stimme zu hören, rief er: »Na endlich!« Wenige Sekunden später war es mit seiner kurzfristigen Beruhigung vorbei. Er hasste es, mit einem Anrufbeantworter sprechen zu müssen.
Verärgert darüber, dass der Herausgeber der »Borkum-Aktuell« weder anwesend noch telefonisch zu erreichen war, kehrte er in den Saal zurück. Man zwang ihn, zu improvisieren. Was um alles in der Welt sollte er bei der Eröffnung des Abends im Hinblick auf den weiteren Verlauf nur sagen? Ah, da kam der Clubsekretär auf ihn zugeeilt und reichte ihm einen Zettel, auf dem die Namen der anwesenden Gäste standen. Der Besuch fremder Clubs, egal, wo auf der Welt, war eine schöne rotarische Sitte, die er selbst schon oft in Anspruch genommen hatte. Zuletzt in Alaska, wo er in einem Rotary Club, der nur aus Damen bestand, einen angenehmen Abend als einziger Herr verbracht hatte.
Er wartete bis zwei Minuten nach acht, ehe er sich ans Rednerpult stellte, sich räusperte und mit dem Hammer gegen die Tischglocke schlug.
»Guten Abend, meine lieben rotarischen Freundinnen und Freunde«, begann er einigermaßen selbstsicher. Er hatte beschlossen, die Anzeige zu ignorieren, die Ansprache etwas in die Länge zu ziehen und zu schauen, was geschah. »Besonders willkommen heißen möchte ich unsere angereisten Gäste: Freund Dr.Christian Waterkamp vom Club Bruchsal-Bretten und Freund Stefan Schoen vom Club Freiburg-Sense in der Schweiz. Wir freuen uns, dass Sie mal wieder auf Borkum sind und uns mit Ihrem Besuch beehren. Als ganz neuen Gast möchte ich Herrn Johannes Grau vom Club Köln-Nord begrüßen. Herr Grau«, fuhr er fort und sah den Mann direkt an, »Sie sind zum ersten Mal bei uns. Wenn Sie sich bitte selbst vorstellen möchten.« Er machte eine einladende Geste. Hoffentlich war das einer, der sich selbst gern reden hörte und damit Zeit herausschlug.
Der Angesprochene wirkte überrascht, um so etwas gebeten zu werden, stand jedoch folgsam auf, sagte seinen Namen, nannte seinen Beruf– er war der Pfarrer einer kleinen Gemeinde im Kölner Norden– und nahm wieder Platz.
Derweil warf Clubpräsident Schultz einen diskreten Blick auf seine Armbanduhr. Karl Richter war immer noch nicht da. Was nun? Er konnte ja über »Polio Plus« sprechen, auch wenn jeder Rotarier quasi von Haus aus von diesem Programm zur Ausrottung der Kinderlähmung wusste, das sich weltweit alle Clubs auf die Fahnen geschrieben hatten. Aber etwas Besseres fiel ihm im Moment nicht ein.
Also sprach er von der Impfaktion und erwähnte, dass die Landpartie auf dem Ostland ihre Einnahmen aus dem Verkauf von Rosinenstuten neuerdings für weitere Impfungen spendete. Er gratulierte einem Borkumer Freund nachträglich zum Geburtstag, auch wenn das schon vierzehn Tage her war. Dem Geburtstagskind wurde entsprechend verhalten applaudiert, die Leute wollten ganz was anderes hören.
Vielleicht könnte er ja noch einmal Frerk Veen gratulieren, der mit seiner Eiskreation »Exotischer Sommertraum« bei der »Gelato World Tour« in Rimini– oder war es in Berlin?– den dritten Platz belegt hatte. Nein, das war Schnee von gestern, und die meisten wussten es sowieso aus der Zeitung. Er verwarf auch den Gedanken, den Brief eines ihrer Patenkinder aus Indien vorzulesen. Der Club unterstützte sie finanziell, damit sie eine Schul- und Berufsausbildung erhielten. Doch das hatte er schon vergangene Woche getan. Da gab ihm der Oberkellner ein Zeichen. Gott sei Dank, die Küche war mit dem Essen fertig. Er wünschte einen guten Appetit, verließ das Rednerpult und eilte an seinen Platz.
»Du hast etwas vergessen«, mahnte einer der Zuhörer, doch das »Lasst euch überraschen« eines anderen enthob ihn einer Antwort. Alle lachten.
»Der Präsident macht es spannend«, sagte Sigrid Wegmann, die der Autorin Unetta Steemann am Tisch gegenübersaß, und zwinkerte ihr zu. »Er könnte ruhig verraten, dass du nachher das Zepter übernimmst.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Wegen der Anzeige.«
»Welcher Anzeige?«
»Na, du bist mir eine schöne Krimischreiberin. Es steht doch groß in der ›Borkum-Aktuell‹: ›Ein Mord wird angekündigt– pünktlich um zwanzig Uhr fünfundvierzig. Am Montag, den 1.Mai, wird er in der Strandvilla Mare verübt. Alle Freunde des Rotary Club Borkum sind herzlich eingeladen.‹« Sigrid konnte den Text auswendig.
»Davon weiß ich nichts.«
»Ach, und das soll ich dir glauben?« Sigrid zwinkerte erneut und widmete sich dann dem Essen, das ein Kellner vor ihr abstellte.
Die Tischgespräche waren lebhafter und lauter als bei normalen Meetings üblich. Die Freunde wirkten aufgeregt. Endlich wurden die Teller abgeräumt und der Nachttisch serviert. Vanilleeis mit heißen Himbeeren.
Als alle aufgegessen hatten, war es Viertel vor neun, und die Gespräche verebbten. Es wurde Zeit, dass der Teil des Abends begann, wegen dem viele gekommen waren. Clubpräsident Schultz musste Farbe bekennen.
Energisch schob er den Stuhl zurück, erhob sich, schritt zum Rednerpult und schlug die Tischglocke so heftig, als wäre diese an allem schuld. »Meine lieben Freunde«, begann er und zupfte an seiner Krawatte. Jetzt musste er zugeben, von der Anzeige nichts gewusst zu haben. »Es scheint, als wären wir einem schlechten Scherz aufgesessen. Der Vortrag–«
In dem Moment ging das Licht aus.
»Ahh«, raunte die Menge erwartungsvoll.
Doch nichts geschah.
Es war pechschwarz. Durch die schweren Vorhänge vor den Fenstern drang kein Licht. Die Verdunkelung der gläsernen Abtrennung zum Hauptrestaurant hin war professionell durchgeführt worden. Die in Erwartung des Auftritts der am Krimispiel beteiligten Schauspieler hoffnungsvoll ausgestoßenen »Ahhs« verstummten wieder. Vereinzelt wurden Stühle gerückt, dann war es ruhig. Niemand bewegte sich, keiner sprach ein Wort. Jeder lauschte und drehte sich oder zumindest den Kopf in Richtung Tür.
Alle warteten gespannt, die Dunkelheit vor Augen.
»Kannst du was sehen?«, flüsterte jemand.
»Nein.«
»Pscht.«
Schweigen.
»Jetzt sollte es aber mal losgehen«, forderte derjenige kurz darauf etwas lauter.
»Genau.«
»Pscht.«
Eine männliche Stimme, angefüllt mit Sarkasmus, sagte: »Wie aufregend.«
»Ruhe!«, moserte jemand erregt.
Endlich ging die Saaltür auf. Die in der Nähe Sitzenden wurden vom hereinfallenden Licht geblendet und wandten sich ab. Diejenigen, die hinten im Raum saßen, konnten eine Gestalt erkennen, die etwas in der Hand zu halten schien. Eine weibliche Stimme rief: »Hände hoch!«
Begeistert flogen die Arme in die Höhe. Die Tür ging zu, und wieder war es fast so dunkel wie zuvor. Ein Spalt am Türvorhang war offen geblieben und ließ etwas Licht herein. Es sah aus, als schliche die Frau, die »Hände hoch!« gerufen hatte, durch den Raum. Sonst tat sich nichts. Die meisten nahmen die erhobenen Hände wieder runter. Sie kamen sich ein bisschen blöd vor.
Da, leise Schritte auf dem Parkettboden. Im Dunkeln wurden Hälse gereckt, als könnte man dadurch besser hören. Alles lauschte angestrengt in die Finsternis und Stille. Eine Frauenstimme in der Nähe der Tür flüsterte: »Ich bekomm eine Gänsehaut.«
Im »Pschscht!«, das von allen Seiten kam, ging das Geräusch des fallenden Körpers beinahe unter. Ein kurzes Stöhnen folgte. Na, wenigstens etwas.