Das Strandhotel auf Borkum - Ocke Aukes - E-Book
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Das Strandhotel auf Borkum E-Book

Ocke Aukes

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Beschreibung

EIN VERHÄNGNISVOLLER SOMMER ZWISCHEN DUNKLEN GEHEIMNISSEN, FREUNDSCHAFT, LIEBE, MACHT UND GELD.

Borkum 1889: Hermine arbeitet als Zimmermädchen im Hotel Bakker. Dort bekommt sie den Posten als Hausdame angeboten, doch eine Freundin macht ihr die Stelle streitig. Außerdem wird sie von einem Mann bedrängt, und der Enkelsohn des Chefs ist in sie verliebt, was ihr nicht behagt. Hermine gerät zwischen die Fronten und muss feststellen, dass nicht alle Gäste, die auf die Insel reisen, Urlaub machen. Manche haben Böses im Sinn. Streitereien um Liebe, Macht und Geld lassen Hermine nicht zur Ruhe kommen. Ihr Dienstherr Willem Bakker braucht dringend Ideen, um die Zukunft der Familiendynastie zu retten, denn der Bau des Strandhotels geht nicht voran. Baumaterial wird gestohlen, Sabotageakte verzögern die Arbeiten, Mitarbeiter werden verletzt und die finanziellen Mittel sind erschöpft. Doch damit nicht genug: Zechpreller, die Verschwendungssucht der Tochter und der Ehefrau sowie der Tod zweier Familienmitglieder bringen den Betrieb des alten Hotels ins Wanken. Der Geschäftsmann steht kurz vor der Pleite. Hermine Flessner und Willem Bakker müssen nun zu allem bereit sein, um ihre Zukunft zu retten.

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Die Geschehnisse in diesem Roman bleiben reine Fiktion. Sämtliche Handlungen sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2025 Niemeyer Buchverlage GmbH, Osterstraße 19, 31785 [email protected] Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8726-0

Ocke AukesDas Strandhotel auf BorkumZeit der Hoffnung

Personen

Die historischen Personen sind mit einem * gekennzeichnet.

Eine Aufstellung der wichtigsten Personen:

Willem Dirks Bakker*, Hotelier

Harmina Klaassen Bakker*, seine Ehefrau

Klaas Willems Bakker*, sein ältester Sohn

Dirk Willems Bakker*, sein zweitältester Sohn

Adeline Bakker*, Dirks Ehefrau

Jann Willems Bakker*, dritter Sohn

Eildert Willems Bakker*, vierter Sohn

Jakob Willems Bakker*, fünfter Sohn

Hieltje Bakker*, Jakobs Ehefrau

Geeske Willems Bakker, geb. Bakker*, jüngstes Kind von Willem Dirks und einzige Tochter.

Wilhelm Lüpkes Bakker*, Geeskes Ehemann; er trägt fast den gleichen Namen wie sein Schwiegervater, diese Bakkers sind jedoch nicht blutsverwandt.

Willem Dirks Bakker*, Sohn von Dirk Willems Bakker, genannt Willi, da er denselben Namen wie sein Großvater hat.

Thomine Luise Bakker*, Willis jüngere Schwester.

Harmina Gesine Bakker*, Willis jüngste Schwester.

Hermine Flessner, Zimmermädchen

Luise Menninga, Hausdame

Gertrud Dirksen, Köchin

Dina, Küchenmädchen

Waldemar, Hoteldiener

Georg Köhler*, Hotelier, Bürgermeister und Freund von Willem Dirks Bakker.

Daniel Daniels Meyer, selbstständiger Fischer, Kapitän und Freund von Klaas Bakker.

Pieter Akkermann*, Hotelier

Prolog

Der Knall des Schlages hallte in seinen Ohren nach. Aus dem Augenwinkel sah Waldemar, wie jemand mit einem Holzbrett seinem Freund Hubert auf den Kopf schlug.

Hubert fiel zu Boden. Im Fallen stieß er ihn mit der Hand zur Seite.

So traf der Schlag des zweiten Angreifers ihn nur an der Schulter. Waldemar ging in die Knie, das Brett rutschte hoch und glitt an seinem Kopf vorbei. Ein stechender Schmerz durchfuhr ihn. Er legte die Hand auf die Wange, die sich sofort rot färbte. Ein Nagel hatte ihn verletzt.

Hubert lag hinter einem Stapel Holzbalken auf dem Boden und rührte sich nicht. Die Täter haben ihn erschlagen und du bist schuld, dachte Waldemar. Hubert, der gute Hubert. Er hatte dir im letzten Augenblick seines Lebens mit einem Stoß dein Leben gerettet.

Die Hand fest auf die Wunde gedrückt sah er, wie einer der Attentäter floh. Der würde kein weiteres Mal auf ihn einschlagen. Doch das konnte ihn im Augenblick kaum trösten. Er blickte sich um. Von dem zweiten Täter war nichts mehr zu sehen.

Wie sollte er das alles erklären? Wie erläutern, was er und Hubert überhaupt hier zu suchen hatten? Zu nachtschlafender Zeit. Es musste fünf Uhr morgens sein. Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen übers Meer.

Die Wange schmerzte fürchterlich. Er stand auf, er musste nachsehen, wie es Hubert ging.

Es war eine blöde Idee gewesen, auf eigene Faust die Verbrecher fangen zu wollen.

Am meisten quälte ihn der Gedanke, was er Huberts Ehefrau sagen sollte. Sie war mit dem ersten Kind schwanger und nicht erfreut gewesen, dass Hubert die Nacht auf der Baustelle verbringen würde. Nur die in Aussicht gestellte Belohnung hatte sie überzeugt. Denn die wäre ihnen gewiss, hätten sie die Diebe erwischt.

Der arme Hubert. Er durfte nicht tot sein! Waldemar könnte mit der Schuld nicht weiterleben. Er hätte besser auf ihn aufpassen müssen.

Er kniete sich neben ihn.

Da, ein knackendes Geräusch. Ruckartig wandte er den Kopf in die Richtung, aus der es gekommen war. Die Wunde schmerzte und blutete heftig. Ein warmes Rinnsal lief ihm den Unterarm herunter. Er spürte, wie sich seine Jacke am Ellenbogen mit Flüssigkeit füllte.

„Willst du noch lange dumm rumhocken?“

„Du lebst! Ich dachte und überlegte schon …“ Erleichtert rückte er Huberts Mütze zurecht.

„Lass das! Hilf mir lieber hoch!“

Er half Hubert auf die Beine.

„Hast du einen von ihnen erkannt?“

„Nein!“

„Du blutest“, sagte Hubert. Mit einer Hand deutete er auf seine Wange, mit der anderen rieb er sich den Hinterkopf. „Lass uns von hier verschwinden.“

Waldemar nickte. „Geht es dir gut und besser und fühlst du dich …“

„Mein Kopf schmerzt. Ich glaube, ich bekomme eine Beule.“

Kapitel 1

Gertrud Dirksen kannte sie alle. In dem vergangenen Viertel- jahrhundert kamen, gingen oder blieben sie.

Die Borkum-Mädchen, die auf die Insel reisten, um hier den Sommer über zu arbeiten. Es gab die braven jungen Frauen, die höflich waren und einem Respekt zollten. Die Forschen, die weder Achtung vor dem Alter oder der Stellung einer Person zeigten. Die Arbeitsscheuen, dann die, die versuchten ihr Unvermögen zu vertuschen, und die Faulen, die sich durchmogeln konnten. Fleißige, Dämliche, Freche und die, die sich für etwas Besseres hielten. Sie alle hatten an ihrem Küchentisch gesessen, sich mehr oder weniger manierlich beim Essen benommen und ihre Pflichten als Hotelangestellte erfüllt oder eben nicht.

Mathilde Remmers besaß von all denen, die sie hatte kommen und gehen sehen, nur das Schlechte. Gertrud mochte sie von Anfang an nicht leiden. Mathildes Tricks, sich vor der Arbeit zu drücken, gingen immer auf Kosten anderer.

Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit.

Gertrud hatte sich nur einen kurzen Moment gewundert, als man ihr von einer weiteren Sommersaison Mathildes hier im Hause erzählte. Mit irgendeiner krummen Tour musste sie es geschafft haben, um von den Bakkers wieder eingestellt zu werden. Keinen halben Tag, nachdem die Köchin davon erfahren hatte, dass sie auch in dieser Saison das Vergnügen ihrer Gesellschaft in Kauf nehmen musste, wusste sie, wie Mathilde Remmers ihr Ziel erreicht hatte.

Noch tiefer konnte man kaum sinken. Aber, dachte Gertrud, es gab Zeiten, da war das Personal in diesem Haus noch schlechter gewesen. Erst nachdem Adeline Bakker das Zepter in die Hand genommen hatte, änderte es sich zum Guten. Die Arme. Es ging ihr gesundheitlich miserabel.

Erst in der vergangenen Woche hatte Gertrud beim sonntäglichen Gottesdienst für sie gebetet.

„Dina!“ Gertrud schlug mit der flachen Hand auf den Küchentisch.

Erschrocken hob die Küchenhilfe den Kopf. „Was denn, Frau Dirksen?“

„Den Schinken nicht so dick schneiden. Nur ein Hauch. Das hat nichts mit Geiz zu tun. Er schmeckt einfach besser, wenn man durch den Schinken die Zeitung lesen kann.“

Als müsste sie es ausprobieren, schnitt Dina eine hauchdünne Scheibe ab, nahm die Badezeitung und legte den Schinken drauf. Dann schüttelte sie den Kopf, steckte den Schinken in den Mund und versuchte, mit dem Handrücken die Fettflecken fortzuwischen.

„Lass gut sein, Dina!“ Gertrud strich ihr kurz über die Schulter. Sie mochte das Mädchen. Ein wenig naiv, aber gelehrig. Es gab Tage, da überraschte Dina mit Aussagen, die man ihr nicht zutraute. Dina war noch fast ein Kind und wie sie wusste, eine Spätentwicklerin. In ein paar Jahren, wenn sie zwanzig oder etwas älter wäre, würde sie vermutlich noch alle überraschen.

„Ich freue mich schon, Frau Dirksen!“

„Worauf?“

„Auf Hermine.“

„Ich auch, Dina.“ Das entsprach der Wahrheit. Hermine Flessner gehörte zu der Sorte der höflichen, respektvollen und fleißigen Borkummädchen. Aber das Mädchen aus Leer besaß auch eine Seite, hinter die nicht einmal Gertrud einen genauen Blick werfen konnte. Eines war Hermine auf jeden Fall: verschwiegen.

***

Als Kind von Leuten, denen von zehn Mark immer neun fehlten, war Hermine Flessner die älteste von insgesamt sechs Geschwistern. Ihre Mutter hatte alle Hände voll zu tun, um die Kinder, den Haushalt, ein wenig Vieh und den kleinen Garten in Ordnung zu halten. Viel Obst und Gemüse konnten sie selbst anbauen, der Rest an Lebensmitteln musste von dem wenigen Geld gekauft werden, das Hermines Vater verdiente. Deswegen schickten sie Hermine als Saisonkraft, Borkum-Mädchen genannt, auf die Insel. Es würde Hermines zweite Saison auf Borkum werden.

Hermine freute sich auf ein Wiedersehen mit den Arbeitskollegen: auf Frau Dirksen. Sie war Köchin im Hotel Bakker Senior und eine mütterliche Kollegin, die ihr sehr ans Herz gewachsen war. Frau Dirksen schrieb vor Wochen, dass die Anlandung auf die Insel sehr viel komfortabler sein würde als im vergangenen Frühling. In den Wintermonaten soll sich einiges auf Borkum getan haben. Überall wurde gebaut. Hermine war gespannt, wie weit die Baustellen fortgeschritten waren.

Kurz bevor das Personenschiff Augusta sein Ziel erreichte, ging Hermine an Deck. Da war er, der neue Hafen. Noch nicht ganz fertiggestellt, dennoch konnten schon Schiffe festmachen und die Fahrgäste über eine Gangway aussteigen. Für den Weitertransport in den Ort gab es eine funkelnagelneue Eisenbahn und eine Gleisanlage, die streckenweise auf hölzernen Pfählen über das Wattenmeer hinweg führte. Hermine fand den angenehmen Ausstieg vom Fährschiff, von dem Frau Dirksen in ihrem Brief so geschwärmt hatte, langweilig. Lieber wäre sie bis an den Strand ganz in der Nähe des Dorfes herangeschippert, um dort ausgebootet zu werden. Im vergangenen Jahr war der Umstieg vom Schiff in ein Pferdefuhrwerk aufregend gewesen. Man musste achtgeben, nicht ins Wasser zu fallen. Besonders ausgebildete Pferde, denen es nichts ausmachte, bei Wellengang bis zum Bauch im Wasser zu stehen, hatten die Fuhrwerke gezogen. Jetzt würden sie vermutlich zu ganz normalen Zugtieren werden. So wie sie Hinnerk, einen Kutscher, kennengelernt hatte, grämte ihn das sicherlich. Er war so stolz auf seine mutigen Tiere.

Hermine verließ die Augusta mit ihrer Reisetasche in der Hand. Sie entschied sich, in den ersten Waggon gleich hinter der Lokomotive einzusteigen. Dazu musste sie am ganzen Zug entlanglaufen. Sie trödelte. Schloss die Augen und atmete tief durch. Der Hafen. Ein Geruch von Salz, Seetang und dem Schiffsqualm, der aus dem Schornstein quoll. Möwengeschrei vermischte sich mit den spitzen Schreien der Seeschwalben. Hermine öffnete die Augen und sah einen Vogel kopfüber ins Meer stürzen und mit einem winzigen Fisch im Schnabel wieder auftauchen. Die Lokomotive stieß einen Pfiff aus.

„Wollen Sie mit?“ Der Schaffner gab ihr ein Handzeichen, sie solle einsteigen. Schnell sprang sie auf die erste Stufe des zweiten Waggons gleich hinter der Lok. Ein Mann reichte ihr die Hand, um die Reisetasche anzunehmen, und schon war sie die weitere Stufe hinauf und auf der Waggonplattform angekommen.

„Herzlichen Dank für Ihre Hilfe.“ Sie nickte ihm zu.

„Kann es sein, dass wir uns schon einmal begegnet sind?“ Sie blickte ihn an. Er war ihr sofort unsympathisch. Ob es an seinen Augen lag, den Haaren, die mit zu viel Pomade zurückgekämmt waren, oder der Art, wie er sich bewegte?

Er öffnete die Schiebetür des Waggons und stellte ihre Tasche auf eine der leeren Holzbänke. Mit der Hand strich er sich über einen kleinen, sauber gestutzten Schnurrbart.

Hermines Herz machte einen Satz. Sie hatte ihn schon einmal gesehen. Wenn sie nur gewusst hätte, wo? Jedenfalls war es keine angenehme Erinnerung.

Sie zwang sich freundlich zu lächeln. Ihr wurde mulmig im Magen. Seine Kleidung verriet, dass er kein einfacher Handwerker, sondern eher ein Geschäftsmann war.

„Ich glaube nicht!“, sagte sie. Nur weg hier. Sie nahm ihre Reisetasche und wollte an ihm vorbeigehen.

In der Mitte des Waggons saßen mehrere junge Frauen. Dort würde sie Platz nehmen.

„Doch, doch.“ Er versperrte ihr den Weg. „Ich könnte schwören, dass ich Sie kenne.“

Sein starrer Blick war unhöflich. Er hatte fast keine Wimpern und seine Augen erinnerten an ein Schwein. Den Geruch nach Nikotin fand sie widerlich. Er machte ihr Angst.

„Sicherlich verwechseln Sie mich mit jemanden.“ Hermine drängte sich an ihm vorbei und eilte in die Mitte des Waggons. Dabei schwankte sie, denn der Zug hatte an Fahrt aufgenommen und holperte über die Schienen wie ein betrunkener Seemann.

Der Fremde ließ nicht locker und folgte ihr. Kurz hielt er sie sogar am Oberarm fest.

„Sie haben im vergangenen Sommer im Musikpavillon am Klavier gespielt“, sagte er.

Erleichterung durchströmte sie. Er war wohl keiner von den Männern, denen sie im letzten Sommer durch die Zusammenarbeit mit ihrem Seniorchef Schaden zugefügt hatte. Indirekt, verbesserte sie sich selbst. Sie hatte nur Willem Dirks Bakker Senior dabei geholfen, Sieger im Wettlauf um begehrte Grundstücke zu werden. Wenn jemand auf den Ausgang der Ausschreibung böse sein sollte, dann doch eher auf Bakker Senior, ihren Arbeitgeber.

„Sehr unwahrscheinlich.“

„Dann sind Sie keine Musikerin?“ Er tat verwundert. Es schien, als würde ihm gleich einfallen, woher er sie kannte.

„Ich kann nicht einmal singen“, murmelte sie.

„Einen Augenblick noch. Gleich fällt es mir ein, an wen Sie mich erinnern.“

Hermine blickte hilfesuchend zu den jungen Frauen hinüber. Eine dralle Dunkelhaarige hatte sie bemerkt. Sie stand auf, griff nach Hermines Hand und zog sie auf den freigewordenen Sitzplatz.

Jetzt stand sie an Hermines Stelle vor dem Kerl, die Hände fest in die Hüften gestemmt. „Verschwinden Sie!“

Ihr Mut und das selbstbewusste Auftreten fand Hermine beeindruckend.

„Waren Sie mal in Berlin?“ Der Mann ließ nicht locker.

„Noch nie.“ Hermine schaute zum Fenster hinaus. In der Fensterscheibe spiegelten sich die Personen, die im Abteil saßen. Die Dunkelhaarige trat noch dichter an den Fremden heran.

„Wenn Sie nicht sofort verschwinden“, sagte sie, „schreie ich. Und alle meine Freundinnen werden bestätigen, dass Sie uns unschicklich belästigt haben.“

Die jungen Damen nickten, wobei die meisten eher ängstlich als forsch wirkten.

„Jetzt weiß ich es!“ Er deutete mit dem Zeigefinger auf Hermine, trat aber einige Schritte zurück.

„Sie sind die …“

„Verschwinden Sie“, rief Hermines Beschützerin.

Ohne ein weiteres Wort verließ der Mann den Waggon und blieb für den Rest der Fahrt draußen auf der Einstiegsplattform stehen.

In der Zwischenzeit hatte die Inselbahn fast ein Drittel der Strecke hinter sich gebracht. Ab hier fuhr die Bahn nicht mehr über hölzerne Stelzen, unter denen bei Flut sicherlich das Wasser stand. Sie erreichten Dünengelände.

Die Frauen übergingen den Vorfall, der Hermine sichtlich nahgegangen war. „Ich bin Waltraut“, sagte die Brünette und setzte sich auf eine der freien Bänke. „Das sind Helga, Mechthild, Simone und Monika. Wir alle sind zum ersten Mal auf der Insel. So wie es aussieht“, sie nickte in Richtung des fremden Mannes, „bist du nicht zum ersten Mal hier. Du kennst dich aus – oder?“

„Ich war letzten Sommer hier. Woher wusstest du, dass ich ein Borkum-Mädchen bin?“ So nannte man die weiblichen Saisonkräfte, die nicht ständig auf der Insel lebten, sondern nur von April bis Oktober hier arbeiteten.

„Habe ich geraten.“ Waltraud blickte kurz auf Hermines Kleid und die Schuhe. Klar, ein Urlaubsgast, der sich Borkum leisten konnte, ist besser gekleidet.

„Ich habe eine Anstellung in der Villa Schumacher“, sagte Waltraud. „Weißt du, wo die ist?“

„Mitten im Ort, direkt am Bahnhof. Kannst du gar nicht verfehlen.“

„Kennst du die Pension Albertus Akkermann?“, fragte Helga. „Da bin ich als Hausmädchen angestellt.“

„Keine Ahnung, ob ich ihn kenne. Auf Borkum heißen viele Leute Akkermann. Ist es die in der Westerstraße?“

Helga nickte. „Sind es nette Leute?“

„Ganz bestimmt. Aber nach einer Saison kenne ich nicht jeden einzelnen Insulaner.“

„Es sollen nur tausend sein“, sagte Simone. Es hörte sich anklagend an. Als sollte man bei so wenig Einwohnern jeden kennen. „Ich komme aus Minden. Ich habe eine Anstellung im Haus San Remo. Soll ja eine tolle Villa sein. Sie liegt in der Kirchstraße.“

„San Remo! Das ist die Familie Behrends.“

„Richtig. Sie haben mir geschrieben, dass sie bald ein Strandhotel haben werden. Stimmt das?“

Herr Behrends war einer der Bewerber gewesen, der im vergangenen Herbst den Zuschlag für den Bau eines Strandhotels erhalten hatte. „Ja, das stimmt. Aber ich glaube nicht, dass es schon fertig ist.“ Sie blickte aus dem Fenster. Zwischen den Dünen meinte Hermine zwei Männer mit einem Gewehr über der Schulter gesehen zu haben. Bei dem Gedanken an einen Kaninchenbraten mit Rotkohl lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Nicht einmal ihre Mutter wusste Kaninchen so gut zuzubereiten, wie Frau Dirksen, die Köchin im Bakker Senior, es konnte. Hermine freute sich darauf, sie und das Küchenmädchen Dina wiederzusehen, und wandte den Blick wieder auf Simone. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass so ein Hotelneubau in einem halben Jahr fertig sein kann.“

„Kennst du auch das Hotel Bakker Junior? Dort fange ich als Zimmermädchen an“, sagte Monika. „Was sind das für Leute? Kennst du die?“

„Ja.“ Hermine betrachtete Monika genauer. Sie war eine junge Frau, nach der sich kein Mann umsehen würde.

Das ist gut. Da würde sie keine Probleme mit Hieltje Bakker bekommen. Sie bewohnte mit ihrem Ehemann Jakob Räumlichkeiten im Bakker Junior, war sehr eifersüchtig und war die Chefin des Hauses, obwohl sie das Arbeiten nicht erfunden hatte. Doch Interna über die Familie Bakker würde Hermine nicht laut aussprechen. Stattdessen meinte sie: „Ich arbeite im Bakker Senior. Das ist gleich um die Ecke. Die Betriebe gehören zusammen. Es ist eine große Familie.“

„Vermutlich eine langweilige.“ Waltraud zupfte an einem Faden, der aus ihrer selbstgenähten Handtasche hervorschaute. „Sonst hätten sie ihren Häusern schönere Namen gegeben.“

Langweilig? Hermine lächelte. Die Bakkers waren alles andere als das! Und schon fuhren sie an den ersten Häusern des Dorfes vorbei und erreichten kurz darauf den Bahnhof. Die Lok tutete und eine Glocke bimmelte heftig, um die wartenden Menschen an dem Gleis auf den einfahrenden Zug aufmerksam zu machen.

Hermine machte große Augen. Die Umgebung rund um den Bahnhof war kaum wiederzuerkennen. Dort, wo im vergangenen Jahr noch freie Flächen waren, entstanden Häuser. Die meisten waren noch nicht fertig. Erstaunlich, was in den Wintermonaten geschafft worden war.

„Auf Wiedersehen“, sagte Hermine. Sie konnte sicher sein, die eine oder andere der jungen Frauen in der kommenden Zeit zu treffen.

Sie setzte eben den Fuß auf die oberste hölzerne Waggonstufe, da sah sie ihn. Der Mann mit den flauen Augen schien auf sie zu warten. Ihre Blicke trafen sich. Er lächelte wie eines der ausgestopften Krokodile, die im Schaufenster beim Tierausstopfer Bekaan zu sehen waren.

„Worauf wartest du?“ Waltraud stand hinter ihr.

Der Mann setzte seinen Hut auf, tippte als Gruß mit dem Zeigefinger dagegen, wandte sich um und verschwand in der Menschenmenge.

Das Wiedersehen mit Borkum hatte sie sich anders vorgestellt.

Nicht im Traum wäre sie auf die Idee gekommen, dass die Erlebnisse des vergangenen Sommers Nachwirkungen für sie persönlich haben könnten. Was sollte sie machen, wenn der Mann Geld von ihr verlangen würde? Als Wiedergutmachung dafür, dass sie mitgeholfen hatte, ihm ein Geschäft zu versauen. Als ob bei ihr etwas zu holen wäre. Das, was sie verdiente, schickte sie ihrer Familie. Für sie selbst blieben höchstens ein paar Mark übrig. Keine Summen, die den Mann zufriedenstellen könnten. Mach dich nicht verrückt, dachte sie. Woher sollte er wissen, dass sie es gewesen war, die dem alten Bakker im vergangenen Sommer bei seinen Tricks geholfen hatte. Nein, das konnte er nicht wissen. Es musste einen anderen Grund geben, warum er so beharrlich war. Sie ahnte, dass er sie weiter belästigen würde. Er wirkte wie jemand, der nicht lockerlassen wird, ehe er sein Ziel erreicht hat. Was immer das auch sein mochte. Ihr blieb nur abzuwarten, was in Zukunft geschehen würde, denn sie konnte sicher sein, ihm wieder zu begegnen. Die Insel war klein, der Ort überschaubar und noch waren kaum Urlauber auf Borkum. Die Saison begann erst in zwei Wochen.

Statt mit beschwingten Schritten und der Vorfreude, alle ihre liebgewonnenen Kollegen wiederzusehen, begleitete sie ein ungutes Gefühl den ganzen Weg zum Hotel.

Das Hotel Bakker Senior lag in der Neuen Straße, keine zweihundert Meter vom viereckigen Leuchtturm entfernt. Man nannte ihn den alten Turm, denn er stand hier bereits seit dem 16. Jahrhundert. Vor wenigen Jahren wurde an anderer Stelle ein neuer Turm gebaut, der seine Aufgabe als nächtlicher Lotse für die Seefahrer übernahm.

Das Bakker Senior galt als eines der ersten Häuser am Platz und war mit allem Komfort ausgestattet. Ein großes Haus. Dreißig Logierzimmer. Erst vor wenigen Jahren wurde eine Veranda angebaut. Von hier aus konnten die Gäste beim Essen einen Blick auf die Straße werfen. Auf dem Vorplatz des Hotels standen drei Bäume, deren Äste zur Straße hin abgeschnitten wurden, damit sie nicht über den Bürgersteig ragten. Die Neue Straße war nicht gepflastert. Keine der Inselstraßen war es, aber es gab Bürgersteige.

Auf der kurzen Wegstrecke schaute sie sich mehrmals um, ob der Mann ihr folgte. Doch er war verschwunden. Dabei entging ihr einiges, was sich in den Wintermonaten allein auf dem Weg vom Bahnhof bis zum Hotel Bakker Senior verändert hatte. Nur eines fiel ihr auf. An einem weißgetünchten kleinen Insulanerhäuschen war in hartgebrannten Backsteinen nach hinten hinaus ein Anbau entstanden. In einem Fenster gleich neben der Haustür stand ein Stück Pappe. Darauf stand zu lesen: Zimmer frei.

Es schien einige Tage nicht geregnet zu haben, der Sand in den Straßen war sehr trocken. Ein Pferdefuhrwerk überholte sie. Die Tiere mussten sich ordentlich ins Zeug legen, um es zu ziehen. Tiefe Reifenspuren verrieten es. Zwei Häuser weiter hämmerte Tischlermeister Buse etwas auf dem Dach einer Veranda fest. Sie winkte ihm, doch er bemerkte sie nicht. Der Anblick des ersten vertrauten Gesichtes hatte etwas Beruhigendes.

Auf der gegenüberliegenden Seite vom Hotel Bakker Senior blieb sie stehen. Hier hatte sich nichts verändert. Die Bäume vor dem großen Gebäude waren längst noch nicht so grün wie die auf dem Festland. Der kalte Nordseewind verzögerte den Frühling auf der Insel. Im Vergleich zum restlichen Ostfriesland blühten die Blumen hier erst vierzehn Tage später. Sie überquerte die Straße und betrat die Gasse zwischen dem Hotel und der Bäckerei gleich daneben. Wie die beiden Hotels Bakker Senior und Bakker Junior gehörte auch die Backstube sowie die Apotheke ein Haus weiter der Familie Bakker.

Hermine erreichte den Hinterhof des Hotels und betrat durch die Hintertür das Haus. Wie vertraut alles war. Als wäre ich gestern noch hier gewesen, dachte sie. Den Geruch von Brot, das eben aus dem Ofen kam, noch in der Nase, gesellten sich Essensdünste aus der Hotelküche dazu, durchzogen vom Geruch frisch gewaschener Wäsche aus der Hotelwaschküche. Alles zusammen hatte etwas Beruhigendes. Zufrieden atmete sie auf.

„Willkommen zurück, Fräulein Flessner.“ Die Hausdame Luise Menninga lächelte. Wie schön. Frau Luise, wie sie von allen genannt wurde, mit freundlichem Gesicht zu sehen.

Frau Luise zog die Tür zu dem Raum, für den Hermine nie eine richtige Bezeichnung gefunden hatte, hinter sich zu. Die Gäste nahmen darin ihre Mahlzeiten ein. Demnach war es vormittags ein Frühstücksraum, mittags und abends ein Speisesaal. Aber auch ein Restaurant, da auch Gäste, die nicht im Haus wohnten, hier essen konnten. Und an manchen Tagen verwandelte er sich am späten Abend in einen kleinen Saal, in dem gelegentliche Veranstaltungen stattfanden. Dann kamen auch die kleine Bar und das Klavier zum Einsatz. Die Bar im Hintergrund des Raumes war mit Fischernetzen und ausgestopften Fischen aus Bekaans Laden dekoriert. Sogar ein winziges Krokodil und ein Kugelfisch hingen in den Maschen. Tiere, die niemals lebend in der Nordsee zu finden sind. Die Gäste waren dennoch begeistert und fanden, es passe hierher. Hermine hörte einmal, wie der Juniorchef sagte, er empfinde die Mischung aus Hafenkneipe und elegantem Saal als skurril. Tagsüber verhinderten spanische Wände den Blick auf die Bar.

Seit die Veranda angebaut worden war, gab es für diesen großen Raum garantiert einen Namen, nur fiel ihr kein passender ein.

„Guten Tag, Frau Luise.“ Hermine knickste.

„Schön, dass Sie wieder da sind.“

Fast hatte es den Anschein, als wollte die Hausdame sie umarmen, doch Frau Luise blieb zwei Schritte vor ihr stehen.

„Ich freue mich auch. Ich bin glücklich, dass die Familie Bakker mich wieder eingestellt hat.“

„Sie doch immer, Fräulein Flessner. Es ist viel geschehen, seit Sie fortgingen. Die Insel hat sich verändert.“

„Ja. Das ist nicht zu übersehen. Der neue Hafen, der Zug und der Bahnhof. Das ist faszinierend.“

„Faszinierend? Ich weiß nicht. Überall wird gebaut. Wer weiß, wo das noch alles hinführen soll.“

„Und das Strandhotel? Unser Strandhotel? Ist es fertig?“ Sie hatte sich vorgenommen, nicht sofort danach zu fragen, doch die Gelegenheit war günstig.

„Wo denken Sie hin? So schnell schießen die Preußen nicht. Sie werden es in den kommenden Tagen selbst sehen, wie weit die Bauten am Strand gediehen sind.“ Frau Luise schaute zur Treppe. „Ich habe Sie und Mathilde Remmers wieder in derselben Kammer untergebracht.“

„Oh.“ Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Sie hatte nicht erwartet, Mathilde überhaupt wiederzusehen. Die Geschichte mit dem Engel, die sich Mathilde hatte einfallen lassen, um an eine weitere Anstellung zu gelangen, hatte demnach funktioniert.

„Ja. Ich sehe schon, Sie wundern sich ebenfalls. Fragen Sie mich nicht, wie Fräulein Remmers das geschafft hat. Ich hätte sie nicht wieder eingestellt. Aber vielleicht verrät sie es Ihnen ja. Bringen Sie Ihr Gepäck auf die Kammer und dann kommen Sie in die Küche.“

Das Zimmer unter dem Dach, dass sie sich mit Mathilde teilte, war unverändert. Mathildes Bett war bereits bezogen, aber nicht gemacht. Überall lagen ihre Sachen herum. Normalerweise regte sie sich darüber auf, doch heute hatte die Unordnung etwas Beruhigendes und Vertrautes an sich.

Sie lächelte, als sie das benutzte Seifenwasser in der Waschschüssel sah. Mathilde würde wohl nie lernen, es nach Gebrauch in einen Eimer zu schütten, um es später beim Verlassen des Zimmers mitzunehmen und es im Hinterhaus im Göttstein zu entsorgen.

Schnell verstaute sie den Inhalt ihrer Reisetasche in den Schubladen, die Mathilde frei gelassen hatte, und schob die leere Reisetasche unter ihr Bett. Sie goss das Seifenwasser in den Eimer und nahm auch gleich die Kanne für frisches Wasser mit nach unten. Der Eimer war schnell im Ausguss der Waschküche geleert. Für Frischwasser konnte sie entweder die Pumpe in der Hotelküche benutzen oder die in der Waschküche. Lieber die in der Küche, dachte sie. Denn dort wurde sie erwartet. Sie war gespannt darauf, ob Dina, das Küchenmädchen, und Gertrud Dirksen, die Köchin, sich ebenso wie sie auf das Wiedersehen freuten. Nur kurz kam ihr der Gedanke, ob die beiden überhaupt noch im Haus arbeiteten. Ganz bestimmt, sonst hätte Frau Dirksen es ihr geschrieben. Die beide waren Insulanerinnen, da würden sie wohl kaum den Arbeitgeber wechseln. Frau Dirksen war seit vielen Jahren hier beschäftigt und galt als die gute Seele des Hauses. Als der Juniorchef und seine Geschwister noch Kinder waren, hatten sie bereits an ihrem Küchentisch gesessen.

„Dina“, hörte sie Gertruds Stimme. „Wie oft soll ich es dir noch sagen …“

Wie schön. Es gab Dinge, die sich nicht änderten. Hermine betrat die Küche mit einem fröhlichen: „Moin miteinander.“

„Hermine!“, rief Dina. Sie ließ ein Küchentuch fallen, stürmte ihr entgegen und schloss sie in die Arme.

Auch die Köchin hatte die Rüge für Dina vergessen.

„Hermine, wie schön.“

Etwas unbeholfen umarmte auch Gertrud sie.

Ich kann mich nicht erinnern, ihr im letzten Sommer jemals so nahegekommen zu sein. Ihr Herz weitete sich vor Glück. Endlich daheim.

„Heb das Tuch auf und nimm die Töpfe vom Feuer“, befahl Gertrud Dirksen dem Küchenmädchen. „Und dann füllst du Hermines Wasserkanne.“ Und zu Hermine sagte sie: „Hat Mathilde dir schon in der ersten Sekunde, die du da bist, ihre Arbeit aufgehalst? Setzt dich. Erzähle uns, wie es dir im Winter ergangen ist.“

„Du wirst staunen“, meinte Dina, „was sich hier alles verändert hat.“

„Nun setz dich doch!“ Frau Dirksen deutete auf den langen Tisch, an dem das Personal seine Mahlzeiten einnahm. Hermine hatte schon die Lehne des Stuhles in der Hand, auf dem sie im vergangenen Sommer immer gesessen hatte. Da ging die Küchentür auf.

Hermine erschrak.

„Oh, je, Waldemar! Wie siehst du denn aus?“

Der Hoteldiener fasste sich an die Wange.

„Die Blessur“, sagte Gertrud Dirksen, „wurde ihm auf der Baustelle verpasst.“

„Er ist unser Held“, sagte Dina. „Du solltest mal die Wunde sehen. Mein Gott hat die geblutet.“

„Dina übertreibt und dramatisiert.“ Waldemar nahm auf seinem angestammten Stuhl Platz.

„Aber er hat den Dieb vertrieben.“

„Nur leider nicht erkannt, identifiziert und die Personalien festgestellt.“

Wie hatte sie Waldemars umständliche Redensart vermisst.

„Ein Dieb?“

„Eher ein Saboteur. Jemand bekämpft unsere Baustelle.“

Der Kerl mit den Schweinsaugen? Nein, das konnte nicht sein, er war mit ihr angereist, da war es ihm nicht möglich, den Hoteldiener zu verletzen. Vielleicht hatte er ja einen Mitstreiter. Noch ehe sie den Gedanken weiterspinnen oder mehr über die Geschichte erfahren konnte, ging die Küchentür erneut auf.

Der ersten Begegnung mit der Juniorchefin hatte sie mit gemischten Gefühlen entgegengesehen. Im letzten Sommer hatte Adeline Bakker nichts unversucht gelassen, Hermine loszuwerden. Jetzt erschreckte sie ihr Anblick.

Sie sah grau aus. Mager war sie schon immer gewesen, doch nun saß das Kleid an ihr, als hinge es an einem Kleiderbügel. Die dunklen Ringe um die Augen machten Adelines Gesicht noch blasser. Schnell tauschte Hermine mit Gertrud Dirksen einen Blick. Die Köchin wirkte besorgt. Demnach hatte Adeline Bakker sich von der Geburt ihres siebten Kindes noch nicht erholt.

„Was sitzen Sie hier herum. Es gibt viel zu tun. Fräulein Flessner, Frau Luise wartet auf Sie.“

Kein „Guten Tag“ oder „Herzlich willkommen“. Aber das hatte sie auch nicht erwartet.

„Wo ist sie?“

„Da, wo Sie auch schon längst sein sollten. In der zweiten Etage. In wenigen Tagen kommen die ersten Gäste und noch keines der Zimmer ist sauber.“

„Aber die haben wir doch im vergangenen Herbst alle fertig gemacht.“

„Was glauben Sie denn, Fräulein Flessner, wo die vielen Handwerker in den letzten Monaten gewohnt haben?“

***

Gestern hatten Mathilde und Hermine nur zwei Zimmer reinigen können. Dann wurde es zu dunkel, um im Licht der Petroleumlampen ordentlich weiterarbeiten zu können. Die Handwerker waren nicht gerade pfleglich mit den Räumen umgegangen.

„Sabine und Margret haben mir die dreckigsten Zimmer überlassen“, murrte Mathilde frühmorgens beim gemeinsamen Frühstück. Um sechs Uhr war die beste Gelegenheit für die Belegschaft, sich Geschichten zu erzählen, Gerüchte zu verbreiten oder sich Neuigkeiten mitzuteilen, da um diese Zeit von der Familie Bakker noch keiner aufgestanden war.

„Ach was, das bildest du dir ein“, sagte Hermine.

Minchen, Minchen, dachte Mathilde. Du hast dich nicht verändert.Immer auf Harmonie bedacht. Das wäre mir zu anstrengend.

Finster blickte sie über den Tisch hinweg die zwei Zimmermädchen an. Sabine und Margret. Beide in der dritten Saison im Haus. Die hielten die Augen gesenkt, als gäbe es Wichtiges in ihren Schüsseln mit Griesbrei zu entdecken.

„Als ob ich das nicht merken würde. Die fiesen Arbeiten brummt ihr immer mir auf.“

„Fräulein Remmers, Sie sehen Gespenster.“ Frau Luise, die Hausdame, setzte sich auf ihren Platz.

Mathilde hatte ihr Kommen nicht bemerkt. Luise Menninga, für die Arbeitseinteilung im Hause zuständig, hackte seit ihrer Ankunft auf ihr herum. Fräulein Remmers tun Sie dies, Fräulein Remmers machen sie das und oft hatte sie eine komische Bemerkung auf den Lippen. Dabei war sie ihr noch einen Gefallen schuldig. Da konnte der alte Drache ruhig etwas freundlicher sein. Nun, zu gegebener Zeit würde sie ihr das unter die Nase reiben.

„In meiner Küche wird nicht über Gespenster geredet“, sagte Frau Dirksen.

Die sah selbst schon wie eines aus. Mathilde hatte gehört, wie im vergangenen Herbst die Seniorchefin Gertrud als eine von des Pharaos dürren Kühen bezeichnet hatte. Die alte Bakker, Ehefrau des Seniors, redete ständig über Gott, den Glauben im Allgemeinen und die Bibel im Besonderen. Total verrückt. Man hätte sie in der Klapsmühle lassen sollen.

„Aber Seemannsgarn hört jeder gerne, Frau Dirksen!“

Hatte sie das wirklich gesagt? Dass ihre Zunge auch immer schneller sein musste als ihr Gehirn. Aber ist doch wahr! Die olle Köchin sollte sich lieber selbst an die Nase fassen. Ihre Geschichten strotzten nur so von Männlein mit grünen Haaren und unter Wasser brennenden Fässern, die Neptun, dem Klabautermann oder wer weiß wem gehörten. Kein Besen durfte hinter einer Tür stehen, kein Salzfässchen umfallen, von Hufeisen, Kleeblättern und schwarzen Katzen ganz zu schweigen.

Schnell schickte Mathilde ihrer Feststellung eine Frage hinterher: „Gibt es einen Unterschied zwischen Geistern, Gespenstern und dem Fliegenden Holländer oder dem Klabautermann, Frau Dirksen?“

„Aber natürlich gibt es die.“

Wohl nur für sie. Für alle anderen Leute mit gesundem Menschenverstand waren das ein und dasselbe

Was solls? Die Köchin war besänftigt. Wenn auch herablassend, so doch wieder in ihrem Element. Und schon fuhr die Hausdame ihr in die Parade.

„Ich möchte keine Ihrer abergläubischen Geschichten beim Frühstück hören, Frau Dirksen.“ Als ob Frau Luise in dieser Küche etwas zu sagen hätte.

Mathilde nahm sich eine Scheibe Brot und griff nach der Butter.

„Eines Tages werden auch Sie daran glauben, Frau Menninga.“

„Da ihr gerade vom Glauben redet. Mathilde, stimmt das mit der Jungfrau Maria?“ Dina war aufgestanden, um heißes Wasser in den Teekannen nachzufüllen.

Alle Köpfe ruckten hoch. Die Lippen der Köchin kräuselten sich verärgert.

„Die Erscheinung“, sagte Dina. „Der Engel. Komm schon Mathilde. Erzähl uns die ganze Geschichte.“

Ja, das war ein Glanzstück von ihr gewesen. Sie konnte stolz auf sich sein. Alle hier hätten einen Wochenlohn darauf gewettet, dass sie diese Saison nicht wieder ins Bakker Senior zurückkommen würde. Sogar Hermine. Doch da hatten sich alle verrechnet.

Wenn schon die dumme Dina von der Sache wusste, konnte sie es erzählen. Aber vorerst würde sie sie noch ein wenig schmoren lassen.

„Das geht euch gar nichts an.“ Sie schob die Scheibe Brot beiseite und nahm Dina die Schüssel Griesbrei ab, die für Frau Luise bestimmt war. „Gibt es auch Apfelmus?“

„Das Fräulein Remmers könnte sich das ja auch selbst holen.“ Frau Dirksen schob die Schüssel mit dem Mus außerhalb ihrer Reichweite. Alte Ziege.

Eine Weile herrschte Schweigen. So lange, bis Dina Frau Luise eine neue Schüssel mit Brei vorsetzte.

„Du kannst es uns ruhig verraten.“ Dina setzte sich und platzierte die zweite Schüssel Apfelmus direkt vor Mathilde. Die andere Schüssel hielt Frau Dirksen fest. „Du hast ihn doch gesehen. Den Engel! Oder?“

„Wer sagt das?“

Dina bekam rote Wangen und senkte kurz den Kopf. „Ich habe gehört, wie unsere Seniorchefin es ihrem Sohn erzählt hat.“

„Und ich habe dir gesagt, man belauscht keine Gespräche der Herrschaften.“ Der Klaps, den Dina von Gertrud erhielt, war liebevoll.

Mich hat sie noch nie so behandelt!

„Und da schon das meiste bekannt ist, kann uns Fräulein Remmers endlich den Rest erzählen,“ forderte Sabine.

Sabine und Margret hoben interessiert den Kopf.

„Guten Appetit.“ Frau Luises Stimme klang eher wie ein Befehl denn wie ein Wunsch.

Eine Weile aßen sie schweigend.

„Was ist eigentlich eine Erscheinung?“ Auf Dina war Verlass, das musste sie der Vierzehnjährigen lassen. Sie blieb hartnäckig. Das Klappern der Löffel in den Schüsseln verstummte. Sabine hätte sich fast an ihrem Tee verschluckt.

Dem fragenden Blick Dinas konnte sie nicht mehr lange widerstehen. „Etwas Besonderes.“ Sie kratzte die Reste aus ihrer Schüssel heraus und leckte anschließend den Löffel mehrmals ab.

Dann wechselte sie einen schnellen Blick mit Hermine. Sie nickte.

„Wir alle wollen es wissen und hören“, Waldemar berührte seinen Verband. „Mit unseren eigenen Ohren vernehmen.“ Niemand lachte, wenn er sich umständlich ausdrückte, und sie hatte es aufgegeben, ihn deswegen zu hänseln. Der Mann ärgerte sich einfach nicht darüber. Es machte keinen Spaß, ihn zu quälen.

„Ja, es ist etwas ganz Besonderes.“ Mit erhobenen Händen, als wolle sie sich ergeben, seufzte sie. „Dina hat recht. Ich hatte eine Vision.“

Gertrud Dirksen schnaubte verächtlich.

Die dachte wirklich, ihre abergläubischen Fantasiegeschichten wären glaubwürdiger.

„Aber Frau Dirksen will wohl nicht, dass ich sie erzähle.“

„Doch, doch, das will sie.“ Dina schaute die Köchin an wie ein kleiner Hund, der um ein Leckerli bettelt. „Oder, Frau Dirksen? Bitte!“

Nickende Köpfe rund um den Tisch.

„Dann erzählen Sie es endlich, ehe Frau Luise alle an die Arbeit schickt.“

Mathilde konnte sich ein zufriedenes Lächeln nicht verkneifen. „Es war an einem Sonntag.“ Entspannt lehnte sie sich auf ihrem Stuhl zurück, hob den Kopf und blickte an die Zimmerdecke. Nur nicht die Köchin anschauen, die konnte einem bis in die tiefsten Tiefen der Seele schauen. Musste ihren siebten Sinn für das Aufspüren von Lügen von einem ihrer Götzen bekommen haben. Sie witterte eine Lüge wie eine Biene ein Blumenfeld und stieß genauso darauf zu. Schon so manches Mal traf Gertruds Stachel sie und deckte die Wahrheit auf. Sie durfte ihr nicht in die Augen schauen.

„Ich spazierte über den Strand, um in der freien Natur und bei schönstem Wetter einen klaren Kopf zu bekommen. Ich wanderte durch die Dünen und mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als müsste ich mich auf einer niederlassen. Das tat ich dann. Mein Blick schweifte über das Meer und da sah ich sie.“

„Wen?“, fragte Margret. Gemeinsam mit Sabine teilte sie sich eine Schlafkammer unter dem Dach.

Sie strafte Margret mit einem bösen Blick für die Unterbrechung, ehe sie wieder zur Zimmerdecke hochschaute.

„Als ob die Sonne ihre Lichtstrahlen gebündelt zwischen zwei Wolken schickte – da sah ich sie!“ Sie atmete schwer und fasste sich mit einer Hand ans Herz. „Eine lichtumflutete Gestalt. Vielleicht ein Engel, dachte ich. Die Gestalt blieb nur wenige Sekunden, und als sie verblasste, sah ich drei dunkle Fischrücken aus dem Wasser auftauchen und wieder verschwinden.“

„Schweinswale.“ Gertrud Dirksen ließ ein dickes Kluntje in ihre Tasse fallen.

Das Gleiche hatte die Seniorchefin im vergangenen Herbst auch geantwortet. „Die sieht man öfter.“

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Sabine und Margret sich den Resten ihres Griesbreis zuwandten. Zuhören konnte man auch, während man aß. Waldemar strich sich mit der flachen Hand erneut über die verbundene Wange. Er hatte auch eine Beule auf der linken Stirnseite, die er sich zugezogen hatte, nachdem er verletzt wurde. Tollpatsch. Der stolperte über seine eigenen Beine. Jetzt sah er aus wie ein Ochse mit einem Horn in Hoteluniform.

Den Einwand mit den Schweinswalen ignorierend flüsterte sie: „Stella Maris, die Schutzpatronin der Seeleute.“

Das musste doch Wasser auf die Mühlen von Frau Dirksen sein. Mathilde verkniff sich ein zufriedenes Grinsen.

Sie senkte leicht den Kopf und sah, wie die Köchin heftig nickte.

„Der heilige Nikolaus. Er ist der Schutzpatron der Seefahrer“, sagte Gertrud.

„Genau. Doch der war es nicht.“ Mathilde wagte es in die Runde zu schauen und hob ein wenig die Stimme. „Eine innere Eingebung verriet mir, dass es die Jungfrau Maria sein musste. Und sie sprach mit mir.“

Das Klappern von Löffeln in Porzellanschalen verstummte.

„Wie ich Fräulein Remmers kenne“, sagte Frau Luise, „konnte sie selbst das Wunder kaum glauben!“

Ja, spotte du nur, du alte Ziege. Gegen dich habe ich noch ein Eisen im Feuer. Hüte dich noch fieser zu werden, sonst lasse ich die anderen wissen, was dein Geheimnis ist. Das wird vielen Menschen nicht gefallen.

Laut sagte sie: „Die Jungfrau Maria sprach …“

Gertrud schob ihren Stuhl zurück und erhob sich. „Das unsere Seniorchefin Sie unbedingt wieder einstellen muss! Und das haben Sie unserer lieben Frau Bakker auf die Nase gebunden? Eine Unverschämtheit!“

„Wenn es doch so war!“

„Pah.“ Gertrud machte mit beiden Händen eine auffordernde Bewegung und sofort standen die Kollegen mit ihren leeren Schüsseln, den Frühstücksbrettchen und dem Besteck in der Hand auf. Im Gänsemarsch gingen sie zum Spülstein, stellten dort alle ihr Geschirr ab und verließen die Hotelküche.

Mathilde blieb sitzen.

„Ich habe mich schon gefragt“, Gertrud steckte sich das Kluntje aus ihrer leeren Teetasse in den Mund, „wie Sie es geschafft haben, wieder eingestellt zu werden. Die Geschichte ist erbärmlich, sogar für Sie, Fräulein Remmers. Ich warne Sie!“

„Wovor?“ Mathilde stand auf, ging zum Spülstein und setzte ihre Schüssel so heftig ab, dass es klirrte.

„Mit Ihren Abenteuergeschichten und Ihrem Schlendrian kommen Sie nicht immer durch.“

„Wir werden sehen.“ Hoch erhobenen Hauptes verließ sie die Hotelküche.

„Dina“, hörte sie Gertrud sagen, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, „wir müssen uns sputen. Gleich kommen die Kinder zum Frühstück. Ich hoffe, die Juniorchefin bleibt im Bett liegen und schont sich ein wenig. Die Arbeit geht auch ohne sie voran.“

Kapitel 2

„Vater wird erfreut sein, dass zu hören.“

Vier der fünf Bakker-Brüder saßen im Wohnzimmer ihrer Eltern. Sie hatten sich in den vergangenen Monaten angewöhnt, sich wenigstens einmal die Woche zu treffen, um über den Fortgang auf der Baustelle zu reden. Entgegen allen Erwartungen verlief der Neubau des Strandhotels schleppend.

„Worüber werde ich mich freuen?“

„Ach, Vater, da bist du ja. Es gibt neue Informationen von der Baustelle. Diesmal sind es gleich zwei gute Nachrichten.“

In letzter Zeit war auf der Baustelle viel kaputt oder verloren gegangen, gar nicht oder falsch angeliefert worden oder schon im Emder Außenhafen verloren gegangen oder abgefangen worden.

Es lief einfach zu viel schief, was den Bau des Strandhotels der Bakkers betraf. Mehr als üblich und viel mehr als auf anderen Baustellen ging quer. Das konnte unmöglich ein Zufall sein. Irgendjemand sabotierte sie, da waren sich die Familienmitglieder einig.

Wer so viel Energie aufwandte, musste die Bakkers sehr hassen. Vielleicht einer, den Vater bei der Ausschreibung der Grundstücke ausgestochen hatte? Oder jemand, der neidisch war und dem Familienunternehmen einen weiteren lukrativen Erwerbszweig nicht gönnte? Auf jeden Fall einer, den sie bald erwischen mussten.

„Die Holzbalken sind geliefert worden?“

„Richtig.“ Jakob Bakker, der jüngste Sohn von Willem Dirks Bakker grinste, als habe er eben erfolgreich einen Lausbubenstreich hinter sich gebracht. „Und das Schöne daran: Es fehlen keine und sie haben alle die richtige Länge.“

Der Senior nickte. Die Lieferung davor war viel zu spät angekommen und die Balken waren einen Meter zu kurz gewesen. Zum Glück konnte der beste Freund von Willem Dirks Bakker, Georg Köhler, der ebenfalls ein Strandhotel baute, sie auf seiner Baustelle gebrauchen.

„Und es gibt eine weitere gute Nachricht.“ Jakob, der sich ursprünglich nicht entscheiden konnte, ob er für oder gegen den Neubau eines Luxushotels sein sollte, setzte sich jetzt mit all seiner Kraft für das Projekt ein. Seine Brüder und vor allem sein Vater waren froh darüber. Endlich hatte Jakob einen Platz in den Bakker`schen Betrieben gefunden, der ihm gefiel. Die täglich auftretenden Querelen, der Stress, ob das Wetter zu schlecht war oder die Handwerker überhaupt zur Arbeit kamen, lagen ihm.

„Jakob will der Erste sein, der Richtfest feiert“, hatte dessen Ehefrau Hieltje noch vor wenigen Tagen behauptet. „Und wenn man sich die Baustellen der anderen anschaut, stehen wir ganz gut da.“

„Hieltje vergleicht Äpfel mit Birnen“, hatte ihre Schwägerin Geeske behauptet. „Man kann unmöglich unseren Bau mit den der anderen vergleichen.“

„Zum Glück. Wäre ja noch schöner, wenn alle Hotels gleich aussehen würden. Unseres wird sowieso das prächtigste sein.“

„Welche gute Nachricht?“ Willem Dirks Bakker blickte Jakob erwartungsvoll an.

„Sagst du uns endlich, was die zweite gute Nachricht ist?“, grollte Jann. Jakobs Bruder umgab der Duft frisch gebackenen Brotes. „Ich habe wenig Zeit, muss zurück in die Backstube.“

„Klaas konnte im Emder Hafen eine zusätzliche Ladung Steine bunkern. Er ist vor zwei Stunden angekommen und ich habe bereits all unsere Fuhrwerke hingeschickt, um sie zur Baustelle zu bringen. Das …“, Jakob grinste, „… meine Herren, bedeutet, dass wir vermutlich noch in diesem Monat eine weitere Etage aufsetzen können.“

„Solange keiner von den Handwerkern streikt, krank wird oder …“ Dirk Bakker, Hotelier des Hauses Bakker Senior, vollendete selten seine Sätze.

„Auch das habe ich geregelt.“ Jakob Bakker lächelte und schwieg. Es war offensichtlich, dass er gefragt werden wollte.

„Und? Wie hast du das gemacht?“, tat Bruder Eildert Bakker ihm den Gefallen.

„Ich habe jedem Maurer, Tischler, Putzer, Stuckateur, Pleesmann oder wie die Handlanger heißen, also allen, die auf dem Bau arbeiten, für jeden Tag, den sie auf unserer Baustelle sind, zwei Mark zusätzlich versprochen.“

„Das hättest du vorher mit mir absprechen sollen!“ Eildert Bakker war für die Finanzen der Bakker`schen Betriebe verantwortlich.

„Vermutlich. Aber ich habe mit Frau Luise gesprochen.“

Eildert unterbrach ihn scharf. „Seit wann ist das die Aufgabe unserer Hausdame?“

„Sie …“

„Habt ihr eine ungefähre Vorstellung, woher ich das Geld nehmen soll?“

„Das will ich dir ja gerade sagen. Frau Luise hat all unsere Stammgäste angeschrieben und ihnen einen Nachlass von zehn Prozent angeboten, wenn sie ein Jahr im Voraus ein Zimmer für wenigstens drei Wochen im neuen Hotel buchen.“

„Zehn Prozent?“ Eildert war entsetzt. „Und wer bitte soll dann im Bakker Senior und Junior zu Gast sein, wenn unsere Stammgäste im Strandhotel wohnen? Weiß Adeline davon?“

„Die hat im Augenblick andere Sorgen und sollte erst einmal gesund werden.“

„Was sollen die zehn Prozent Nachlass uns bringen?“ Bäckermeister Jann klopfte sich etwas Mehl von der Hose.

„Das ist es ja. Sie zahlen jetzt und wohnen es im kommenden Jahr ab.“

„Du hättest es mit mir besprechen sollen.“

„Reg dich nicht auf, Brüderchen.“ Jakob hob beide Hände, ließ sie aber sofort wieder sinken. „Du bist doch immer derjenige, der sagt, ich soll mehr Verantwortung übernehmen. Jetzt tu ich es und das ist auch wieder nicht recht. Denkt nach. So ein Angebot hat einige Vorteile. Wir bekommen das Geld jetzt sofort. Damit kannst du doch arbeiten.“ Jakob blickte Eildert herausfordernd an. Der wirkte, als rechnete er bereits.

„Und wir werden schon in diesem Jahr wissen, mit welcher Auslastung wir ungefähr rechnen können. Wer weiß, vielleicht setzen wir einfach noch ein Stockwerk drauf?“

„Sie zahlen vorab, sagst du?“ Eilderts Berechnungen schienen abgeschlossen zu sein.

„Hast du mir nicht zugetraut, was? Ich weiß, ihr alle glaubt, ich bin von Beruf Sohn und kann nichts. Aber da täuscht ihr euch.“

„Wie viele Antworten hast du erhalten?“

„Von den Gästen?“

„Von wem sonst?“

„Noch keine.“ Jakob verschwieg, dass er vergessen hatte, die Briefe bei der Post aufzugeben.

„Hoffen wir, dass keine Antwort eintrudelt.“

„Wieso das denn nicht?“

„Dein schöner Plan setzt voraus, dass der Bau pünktlich fertig wird.“

„Wird er.“

„Wie kannst du da so sicher sein? Die meisten Handwerker sind abgereist und kommen erst im Herbst wieder. Und bedenke, was bisher alles schiefgelaufen ist!“

„Das, Bruderherz, lass mal meine Sorge sein.“

***

Seitdem es seiner Frau Adeline gesundheitlich sehr schlecht ging, lag es an Dirk Bakker, sich um alle Angelegenheiten, die das Hotel betrafen, zu kümmern.

Eine Last, die schwer auf ihn drückte. Erst seit Adeline kaum noch das Bett verließ und sich wenig für die Belange des Betriebes interessierte, wusste er, was sie bisher geleistet hatte. Die Kinder und die Führung des Hotels brachten ihn an den Rand der Belastung, dabei hatte die Saison noch nicht einmal begonnen. Adeline schien das alles wie nebenbei erledigt zu haben. Doch nach der Geburt ihres siebten Kindes wurde alles anders. Dirk fürchtete um die Gesundheit seiner Frau und verbot sich den Gedanken, sie könnte bald für immer gehen.

Dermaßen mit sich selbst und seiner eigenen Familie beschäftigt, ersparte er es sich, seine Hausdame wegen der Briefe an die Gäste zu schelten. Er war sicher, Jakob hatte sie überredet. Jakobs Süßholzgeraspel konnte kaum eine Frau widerstehen und Luise vermochte es noch nie, ihm etwas abzuschlagen.

Vielleicht lag es auch daran, dass seit Wochen seine Angestellten Eigeninitiative entwickelten, was ihm nur recht war. In den Wintermonaten, in denen Handwerker die Zimmer bewohnt hatten, besorgten Frau Luise und die anderen übers ganze Jahr festangestellten Mitarbeitern zusätzliche Arbeiten im Haus, ohne zu murren, oder dass er sie darum hätte bitten müssen. Frau Luise kümmerte sich sogar gelegentlich um seinen Nachwuchs, obwohl ihr der Umgang mit Kindern nicht lag. Ohne sie und Gertrud Dirksen, bei der er als Junge schon auf dem Schoß gesessen hatte, könnte er das hier alles nicht stemmen.

Ihn grauste es bei der Vorstellung, wenn nächste Woche das Haus voll belegt sein würde. Wie sollte er das alles ohne die Mithilfe seiner Adeline bewältigen?

Ein winziger Lichtblick schien Jakob zu sein. Es freute Dirk, dass sein jüngster Bruder endlich zur Besinnung gekommen war und sich mehr als nur gelegentlich um seine Aufgaben im Familienbetrieb kümmerte.

Vielleicht, dachte Dirk, würde Jakob endlich ein Mann werden, auf den man sich verlassen konnte.

Je länger er über die Idee mit dem Rabatt und den Vorauszahlungen nachdachte, umso mehr konnte er sich damit anfreunden. Schlussendlich lag die letzte Entscheidung, ob diese Maßnahme angegangen wurde, bei seinem Vater.

***

Die Hinterlassenschaften der Handwerker in den Gästezimmern und die Grundreinigung der Räume ging gut voran. Sogar die Hausdame fasste mit an. Am späten Nachmittag des fünften Tages seit Hermines Ankunft waren alle Zimmer bereit, die ersten Badegäste dieser Saison aufzunehmen.

Frau Luise schickte Mathilde in die Waschküche, um dort zu helfen. „Und Sie, Fräulein Flessner, schauen, was bei den Herrschaften zu tun ist.“

Ein Vertrauensbeweis. Nicht jede Angestellte durfte alleine die privaten Räumlichkeiten der Familie Bakker betreten.

Hermine war oft zum Sauber- oder Feuermachen im Wohnzimmer der Bakkers gewesen. Der Raum war fast vier Meter hoch, die Wände mit einer Streifentapete tapeziert, deren senkrechte Streifen die Höhenoptik noch verstärkten. Eine Ecke des Raumes war gleichzeitig eine Gebäudeecke. Zwei Fenster standen dort im rechten Winkel zueinander, beide knapp einen Meter von der Ecke entfernt. Dazwischen stand quer ein Sofa. Der so verschenkte Raum dahinter beherbergte mehrere Kartons, in denen das Strickzeug der Juniorchefin Adeline aufbewahrt wurde. Darüber hingen zwei Bilder. Adelines Kinder starrten in die Kamera des Fotografen. Hermine konnte sich gut vorstellen, wie lange es gedauert haben mochte, bis alle lange genug stillstanden, um das Foto machen zu können.

Ein dreibeiniger Tisch stand vor dem Sofa, links und rechts jeweils ein großer Sessel. Hermine warf einen prüfenden Blick auf die dreiarmige Lampe auf der Anrichte. Sie musste die Gläser vom Ruß der Kerzen befreien und neue Kerzen einsetzen.

Auf den Verzierungen des schmiedeeisernen Ofens lag eine Staubschicht. In letzter Zeit hatte hier niemand auf Sauberkeit geachtet. Das lag sicherlich daran, dass Adeline Bakker krank war. Frau Dirksen meinte, die Geburt des siebten Kindes musste ihr heftig zugesetzt haben.

Die dicken Teppiche, die jeden von Hermines Schritten dämpften, sollten auf den Hinterhof geschafft und ausgeklopft werden. Auf einer Kommode standen aufgereiht einige Familienfotos. Eine Staubschicht bedeckte sie. Irgendwo musste Hermine anfangen. Mit dem Staubtuch in der einen und einem gerahmten Foto in der anderen Hand begann sie jedes Bild und die Fläche darunter abzustauben. Eine Fotografie mit einem jungen Mädchengesicht darauf betrachtete sie etwas länger. Das abgebildete Mädchen stützte sich mit beiden Ellenbogen auf eine hohe Stuhllehne, die Hände gefaltet und den Kopf daran gelehnt. Sie trug ein helles Spitzenkleid mit halblangen Ärmeln und einen Gürtel, der ihre schmale Taille betonte. Hermine stellte sich vor, dass er rosa oder hellgrün sein könnte. Ob der Rock der Dunkelhaarigen bis auf den Fußboden ging, konnte man auf dem Foto nicht sehen. Aber es musste in diesem Raum aufgenommen worden sein, was gut an den Streifentapeten zu erkennen war.

Die Tür ging auf, Mathilde betrat das Wohnzimmer.

„Auf dem Bild wirkt sie traurig“, sagte Hermine.

„Vermutlich wird sie allen Grund dazu gehabt haben.“ Mathildes Kommentar klang alles andere als nett.

Hermine seufzte tief, fuhr ein weiteres Mal mit dem Staublappen darüber und stellte das Foto von Geeske Bakker an seinen Platz zurück.

„Willst du gar nicht wissen, warum?“ Mathilde griff nach dem Fotorahmen und betrachtete das Bild. Dann tat sie so, als würde ihr der silberne Rahmen aus der Hand fallen. Hermine holte erschrocken Luft und griff danach. Mathilde lachte.

„Du solltest doch in der Waschküche sein.“ Entschlossen nahm sie Mathilde den Silberrahmen ab und stellte ihn auf seinen Platz zurück. „Wenn Frau Luise …“

„Ach die. Keine Bange, Hermine. Die ist anderweitig beschäftigt.“

„Womit denn?“

Mathildes Lächeln verriet, dass jetzt etwas Gehässiges kam. Sie deutete auf das Porträt im Silberrahmen.

„Jakob Bakker beehrt unser Haus mit seinem Besuch. Und wenn er nicht um seine Schwägerin herumscharwenzelt, um ihr irgendeinen Gefallen abzuschwatzen, verwette ich einen Wochenlohn darauf, dass er den neuen Borkum-Mädchen nachstellt.“

„Und was hat das mit Frau Luise zu tun?“

„Sie hält vermutlich die neuen Borkummädchen von ihm fern.“ Mathilde deutete auf das Foto im Silberrahmen.

„Schau doch mal genauer hin. Wer ist das?“

„Geeske Bakker.“

„Richtig. Halb so alt wie heute. Und wem sieht sie ähnlich?“

„Der kleinen Thomine.“

„Genau. Die beiden sind Tante und Nichte. Und wer sieht noch so aus?“

Hermine kannte die Geschichte, schüttelte aber den Kopf. „Mit üblen Nachreden will ich nichts zu tun haben.“

„Und dennoch ist sogar dir die Ähnlichkeit zwischen Geeske Bakker und der Nichte von Frau Luise aufgefallen.“

Es ging das Gerücht, besagte Nichte sei in Wirklichkeit ein Bastard von Jakob Bakker.

„Frau Luise hat versichert, dass Herr Jakob niemals ihrer Schwester begegnet sei. Und das glaube ich ihr.“

„Unsere Hausdame würde für Jakob sogar behaupten, den Klabautermann gesehen zu haben.“

„Das ist doch Quatsch.“

„Überhaupt nicht. Achte mal darauf. Warum sonst ist sie immer gleich zur Stelle, wenn der feine Herr Jakob auftaucht? Ich sage dir, sie ist schwer verliebt in ihn.“

„Ist mir nie aufgefallen.“

„Du bist ja auch ein Schaf, Minchen.“

„Warum bist du hier, Mathilde?“ Bestimmt nicht aus Sorge darüber, dass der jüngste Sohn des Seniorchefs ins Wohnzimmer kam, um mit einer der Angestellten anzubandeln, und sicherlich auch nicht, um Hermine vor ihm zu warnen. Denn das Jakob Bakker jedem Frauenrock hinterherlief, vom Dienstmädchen bis zur Frau Baronin, die hier ihren Urlaub verbrachte, wusste jeder. Wollte Mathilde etwa auch in den Genuss seiner Zuneigung kommen?