Borkum-Zauber - Ocke Aukes - E-Book

Borkum-Zauber E-Book

Ocke Aukes

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Ein zauberhaft-gruseliges Krimivergnügen. Während des Familienurlaubs auf Borkum entdeckt Hanni, Kommissar Busbooms Tochter, ihre Vorliebe für Okkultismus. Sie nimmt an einer Geisterwanderung teil, besucht Pendelkurse und beschäftigt sich mit einem Hexenbrett. Alles halb so wild, doch die mysteriösen Tarotkarten, ein Zauberpulver und der blutige Mojo-Beutel bereiten Busboom dann doch Sorgen. Um sich schlauzumachen, besucht er das örtliche Fachgeschäft für Magie und erlebt dort sein blaues Wunder. Kann er seine Tochter noch vor den dunklen Mächten retten?

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Seitenzahl: 335

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Ocke Aukes lebt seit ihrer Kindheit auf Borkum. Sie ist in der Touristikbranche tätig und hat mehrere Kriminalromane veröffentlicht.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: fotolia.com/Tanja Thomssen Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-380-6 Insel Krimi Originalausgabe

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1

»Guten Abend meine Damen und Herren. Ich heiße Olaf Kern. Willkommen bei der Geisterwanderung. Wir werden heute gemeinsam jene Plätze aufsuchen, an denen die Spukgestalten unserer Insel wandeln. Überall sind sie, die Gespenster. Man muss nur genau hinschauen, um sie zu entdecken. Sie schweben im Gestühl alter Gebäude und in der Umgebung hoher Türme. Natürlich huschen sie auch auf Friedhöfen umher und hocken dort vorzugsweise auf den Grabsteinen.«

Olaf Kern holte tief Luft, ehe er weiterredete. »Und das ganz besonders gern auf unserem Walfängerfriedhof. Sie schwirren um die mit Totenköpfen verzierten Grabsteine. Auch in den Dünen, dort, wo der Drinkeldodenkarkhof liegt.«

»Drinkeldodenkarkhof, was ist das?« Eine häufige Frage auf Olafs Nachtwanderungen.

»So nennen wir das Gräberfeld für die namenlosen Toten, die von den Wellen an den Strand geworfen wurden.« Mit ausgestreckter Hand deutete er hinaus aufs Meer.

»Kommt das oft vor, dass Wasserleichen angespült werden?«

»Heutzutage eher selten. Aber im18. und 19.Jahrhundert war es an der Tagesordnung«, übertrieb Olaf. »Jedenfalls erinnert ein Gedenkstein an die Ertrunkenen. Und auf dem«, kam er zum Thema zurück, »lassen sich die Geister nieder.«

Die meisten Zuhörer nickten. Einige schauten zweifelnd, wie die Frau mit den kurzen Locken, die nach den Wasserleichen gefragt hatte. Die Skeptiker, so hoffte Olaf, würden am Ende der Führung ihre Meinung geändert haben. Oder wenigstens mit dem, was er ihnen heute geboten hatte, zufrieden sein.

»Geister bevölkern zudem mehr Häuser, als manch einer vermuten würde.« Das war eine von Olaf Kerns Lieblingsbehauptungen. Wenn er von Gespenstern sprach, wirkte er aufgeputscht, getrieben von dem Verlangen, sein Wissen zu teilen. Es gelang ihm oft, dem Publikum bei der nächtlichen Wanderung das Gefühl zu vermitteln, es käme gleich eines der besagten Gespenster um die Ecke geflogen. So musste es sein, wenn man als Fremdenführer gutes Geld verdienen wollte.

Bevor es gleich richtig losging, kassierte Olaf Kern von den vierundzwanzig Teilnehmern, die an diesem Abend mit ihm an der Litfaßsäule auf der Borkumer Strandpromenade standen, nun erst einmal die stattliche Gruselgebühr. Zwei Stunden würde die Führung durch Borkums Dünen und Inselstraßen dauern, und kurz vor Schluss erwartete die Zuhörer eine blutrünstige Mordgeschichte. Exakt zur Geisterstunde, um Punkt zwölf Uhr, würde sein Kompagnon Vittorio Garanca hinter der Grundschule stehen und für einen nervenaufreibenden Kick sorgen.

Die letzten einkassierten Euros verschwanden in Olafs Umhängetasche und diese wiederum unter einem schwarzen, wallenden Cape. Er rückte seinen Schlapphut zurecht, einen, wie ihn der Sage nach der Göttervater Odin getragen hatte, um ein fehlendes Auge zu verdecken. Bis vor wenigen Monaten hatte Olaf bei seinen Geisterführungen noch eine Augenklappe getragen, was an einen Piraten erinnern sollte. Das Ding war unbequem und kratzte, und sein Partner fand sie kindisch. Doch erst als Olaf wegen der Sichtbehinderung über ein Hindernis gestolpert war und sich vor den Teilnehmern lang hingelegt hatte, war die Klappe im Müll gelandet. Vittorio hatte dann den Einfall mit dem Hut.

»Wenn wir vollzählig sind«, rief Olaf, »kann es losgehen.« Er zwinkerte einer jungen Frau mit schulterlangen blonden Haaren zu. Ein hoffnungsloser Flirtversuch. Olaf war kein Typ, nach dem sich die Frauen umdrehten. Er wirkte wie ein großes Kind. Seine Gesichtszüge würden vermutlich noch männlicher werden, doch die hellen, fast farblosen Augen, das rote Haar und die fleckige Haut würden bleiben. Gegen die schiefen Zähne sollte er etwas unternehmen, wenn er jemals von einem Mädchen geküsst werden wollte.

Er bückte sich nach einer Laterne, in der ein künstliches Licht flackerte. Den Wanderstock, der an der Litfaßsäule lehnte, nahm er in die andere Hand und deutete damit in Richtung Norden. »Da entlang.«

Aufgeregt miteinander plaudernd folgte ihm die Gruppe. Hinter dem Hotel »Hohenzollern« begann, zu beiden Seiten von Dünen umgeben, der gepflasterte Wanderweg. An der Dünenkante unterhalb des Kleinen Kaaps blieb Olaf Kern stehen und stieß den Stock in den Dünensand. Er hob und senkte die Lampe, als wollte er jemandem ein Zeichen geben.

»Sehen Sie das mit roten Klinkern gemauerte Seezeichen dort? Das ist ein Kaap. Es steht für zwei tote Seelen. 1811 sind von einem englischen Kaperfahrer an genau dieser Stelle zwei Insulaner desertiert. Anfang des 19.Jahrhunderts, zur Zeit der Kontinentalsperre. Borkum war von den Franzosen besetzt.« Er hob die Stimme und verlieh ihr einen unheilvollen Ton. Spätestens jetzt verstummte auch das letzte Privatgespräch in der Gruppe. Als wäre Olaf der britische Kapitän höchstpersönlich, der die flüchtenden Deserteure erspähte, deutete er auf die Dünen. »Da hinauf«, rief er, »sind sie entflohen.«

Sämtliche Augenpaare folgten seinem ausgestreckten Zeigefinger.

»Nachdem die beiden von Bord gesprungen und mühsam an Land geschwommen waren, schleppten sie sich bis hierher, ehe sie eingeholt wurden und ihr Leben aushauchten.« Er ging in die Knie, nahm eine Handvoll Sand auf und ließ betont andächtig die Körner durch seine Finger rieseln.

Er wusste, dass es damals wahrlich anders gewesen war. Hier verbog Olaf die Wahrheit ein wenig. Denn keiner der beiden Deserteure hatte auf der Flucht den Tod gefunden. Im Gegenteil. Entgegen dem Schicksal eines jeden von den Engländern wieder eingefangenen Seemanns hatten die zwei Borkumer anno dazumal überlebt. Tote Fahnenflüchtige kamen im Gegensatz zu lebenden jedoch viel besser beim Publikum an.

»Mucksmäuschenstill sollten Sie jetzt sein«, ermahnte er die Zuhörer, erhob sich und zwinkerte erneut der jungen Frau zu, die ihm gut gefiel. »Ganz leise, wenn Sie die Geister der beiden Männer hören wollen, die seither um dieses Gemäuer spuken.«

Die Leute rückten näher aneinander. Einige hoben die Gesichter und reckten die Hälse, als könnten sie so besser hören. Alle lauschten.

Rund ums Kaap blieb es still. Ein leichter Wind trug vom Meer die Geräusche der Wellen herüber, doch das interessierte im Moment niemanden. Ebenso wenig wie der wahre Grund, der zum Bau des Seezeichens geführt hatte. Das stand nämlich keineswegs dort, weil hier jemand sein Leben ausgehaucht hatte. Ein Kaap war ein Schifffahrtszeichen. Es wurde zur Sicherheit der Schiffe auf hoher See gebaut und nicht als Mahnmal für getötete Insulaner.

»Aaahhhrrr«, rief Olaf unvermittelt und freute sich, dass die Leute zusammenzuckten und jemand vor Schreck aufschrie. »Genau hier hat der englische Kapitän dem ersten Abtrünnigen damals höchstpersönlich mit dem Schwert die Kniescheiben durchtrennt, damit er keinen Schritt weiterlaufen konnte.«

»Sehr unwahrscheinlich.« Die Aussage kam von einer Frau in mittleren Jahren in buntem Rock, langer, selbst gestrickter Jacke und Gesundheitssandalen. »Da müsste sich der fliehende Mann, als der Hieb ihn traf, ja im Laufen umgedreht haben. Sonst können die Kniescheiben nicht getroffen worden sein.«

Olaf hasste Ökotanten, die immer alles besser wussten, ignorierte die Bemerkung und fuhr mit seinen Erläuterungen fort. Jetzt kam die Stelle, an der der Deserteur sich trotz durchschnittener Kniegelenke standhaft wehrte. Olaf schmückte das Duell zwischen dem Kapitän und dem Geflohenen wortreich aus. Er nahm den Stock und deutete damit die Hiebe der Säbel an. »Hier, nimm das« und »Du entkommst mir nicht«, rief er in verschiedenen Stimmlagen. Gefolgt von weiteren Kommentaren der beiden Kämpfenden, die angeblich genauestens überliefert waren. »Mit blutenden Beinen, diversen Schnittwunden an den Armen und einem Stich in die Herzgegend am Boden liegend, soll der Insulaner kurz vor seinem Ende gerufen haben: ›Nieder mit Napoleon, weg mit der Seeblockade.‹ Dann sank er zu Boden und krächzte: ›Leiwer dot as Sklav.‹«

»Was heißt das?«

»Lieber tot als Sklave. Und genau in dem Moment, als der Insulaner an exakt dieser Stelle seinen letzten Atemzug tat«, Olaf schob mit einem Fuß ein wenig Sand beiseite, »gab es einen Kanonenschlag.«

Es krachte. Olaf wirbelte herum, die meisten der Zuhörer taten es ihm nach. Irgendwo zwischen den Dünen, dem Strand und dem Meer ertönte Donnergrollen. Es könnte ruhig ein wenig lauter sein, dachte Olaf. Vittorio sollte beim nächsten Mal den Ton besser einstellen.

»Eine Kugel, von der englischen Fregatte abgeschossen, zerfetzte den zweiten Mann. Der hatte zwar in die Dünen flüchten können, machte jedoch kehrt, um dem Kameraden zur Hilfe zu eilen.« Olaf sog demonstrativ die Luft ein. »Riechen Sie den Duft von Schießpulver?«, fragte er.

Die Leute nickten. Obwohl Pulverdampf anders roch, reichte der Geruch eines einzigen in den Dünen versteckten Räucherstäbchens aus, um die Sinne zu täuschen. Eine von Vittorio eingeführte Version. Es gab bisher niemanden, der dieser Wahrnehmung widersprochen hatte.

Kurz war Olaf beunruhigt, da die Frau im Rock die Hand hob, als wollte sie etwas sagen, doch dann ließ sie den Arm wieder sinken. Vermutlich erreichte der Rauch erst jetzt ihre schnuppernde Nase. Der Wind hatte gedreht, was Vittorio glücklicherweise mitbekommen hatte. Er lag mit dem Räucherstäbchen irgendwo dort oben hinter dem Dünenhafer auf dem Bauch. Leider gaben die Pflanzen weniger Sichtschutz als beispielsweise die Sanddorn- oder Dünenrosenbüsche, die neben dem Kaap standen. Olaf musste die Aufmerksamkeit der Leute auf das Seezeichen lenken, ehe jemand seinen Kompagnon entdeckte.

»Riecht nach chinesischem Kramladen«, bemerkte die Frau in den Gesundheitslatschen und durchbrach so die ehrfürchtige Stille. Einige Touristen lachten. Ein Unding bei einer Geisterführung. Gruseln sollten sie sich. Olaf brach der Schweiß aus. Es wurde Zeit, die Zuhörer zu verzaubern, ehe die Zicke den gesamten Rundgang ruinierte. Wenn er unglaubwürdig und die Führung albern wurde, konnte er jede Hoffnung auf Trinkgelder begraben, von einer Weiterempfehlung ganz zu schweigen. Womöglich verlangte der eine oder andere sogar, die Teilnahmegebühr zurückerstattet zu bekommen.

»Folgen Sie mir«, befahl er seinem Publikum. Er trat direkt unter das Kaap und schlug mit dem Stab gegen einen der gemauerten Pfeiler. Anschließend rammte er ihn in den trockenen Dünensand, stellte die Laterne daneben und breitete die Arme aus.

»Wie der Pastor auf der Kanzel«, bemerkte die Frau spöttisch.

»Halten Sie den Mund«, sagte eine Dame älteren Semesters. »Ich möchte wissen, was mit dem Deserteur passiert ist.«

Wie schön es doch war, wenn Teilnehmer Olaf unterstützten.

»Ich bezweifle, dass es die beiden Seefahrer überhaupt gegeben hat.«

»Natürlich gab es die. Wenn Sie die Führung im Heimatmuseum mitgemacht hätten, wüssten Sie es«, erklärte eine andere Frau.

Im schummrigen Licht des Mondes und der Lampe auf dem Boden konnte man die Gesichter der beiden Frauen kaum erkennen. Dass sie zornig waren, verrieten die Stimmen.

»Wenn Sie alles anzweifeln, dann frage ich mich, warum Sie überhaupt hier sind«, bemerkte die ältere Dame. »Ich jedenfalls will hören, was der Mann zu berichten hat. Ihre Kommentare können Sie für sich behalten.«

»Das ist ausgemachter Schwachsinn, was der uns erzählt.«

»Dann gehen Sie doch«, knurrte eine Männerstimme.

Ja, bitte. Der Meinung war Olaf auch. Er hoffte, dass Vittorio alles mit anhörte und entsprechend reagierte. Es wäre schön, wenn jetzt der Geist im hölzernen Gestühl hoch über ihren Köpfen fliegen würde.

»Der Fahnenflüchtige«, rief Olaf, »fand hier, an dieser Stelle, den Tod. Wie kurz nach ihm auch sein Kamerad«, betonte er.

»Ich dachte, das war da unten.«

»Halten Sie den Mund.«

Olaf dankte im Stillen dem Mann, legte den Kopf in den Nacken und hob die Hände, als wollte er das Gespenst heraufbeschwören.

Klack. Kaum vernehmlich, nur für Olafs geübte Ohren deutlich zu hören, klickte der Schalter, der die Show in Gang setzte. Hinter Olafs Zuhörern erzitterte ein Busch, etwas zischte heraus, gewann an Höhe und verpuffte zwischen dem offenen Holzgebälk über ihren Köpfen. Wie aus einer Wolke aus Wasserdampf bildete sich etwas heraus, das als Geist durchgehen konnte. Da der Wind ein bisschen auffrischte, zerstob das Gebilde ebenso schnell, wie es entstanden war.

»Faszinierend.« Sarkastischer konnte man ein einzelnes Wort kaum aussprechen.

»Hören Sie auf zu meckern«, schimpfte einer der Zuhörer.

Olaf war froh, dass Vittorio auf die Geisterstimmen verzichtete, die jetzt normalerweise mit leisem Klagen beginnen sollten. Das wäre bei der heutigen Personenkonstellation ein wenig zu dick aufgetragen.

»Uns gefällt’s«, befand eine korpulente Dame.

»Wir lassen den Geistern ihren Frieden und gehen Richtung Walfängerfriedhof.« Olaf bückte sich nach der Laterne und schwenkte sie mehrmals hin und her. »Passen Sie auf, wo Sie hintreten«, mahnte er.

»Nicht dass ich noch über ein Skelett stolpere«, spottete die Frau.

»Nicht dass Sie in ein Kaninchenloch treten«, korrigierte Olaf, »und sich den Fuß brechen.«

Einige der Teilnehmer lachten. Schade, dass ihr blödes Gesicht in der Dunkelheit nicht zu sehen war.

Im Gänsemarsch ging es über einen schmalen Weg, bis sie die Straße neben der Knappschafts-Klinik am Ende der Boeddinghausstraße erreichten. Keine hundert Meter weiter stoppte Olaf an der zweiten Station der Wanderung, dem ehemaligen Drinkeldodenkarkhof. Ein Gedenkstein, erst vor wenigen Jahren errichtet, erinnerte hier an all die namenlos verscharrten Ertrunkenen, die das Meer in früheren Jahrhunderten an Land gespült hatte. Am Fuß dieses Erinnerungsmals erzählte Olaf eine weitere Schauergeschichte– eine, in der es um Leichenfledderei ging.

»Eines Nachts, es war ein besonders kalter Winter, lief ein Einheimischer nach einem Sturm am Strand entlang. Damals suchten die Insulaner nach jedem heftigen Wind die Wasserkante nach Strandgut ab. Er fand eine Leiche, durchsuchte sie und stahl ihr Geld und die Stiefel. In der folgenden Nacht erschien dem Dieb der Geist des Toten.«

Olaf hob zu einem wimmernden Klagegesang an. »›Gebt mir meine Stiefel zurück‹, rief der Verstorbene mit unheimlicher Stimme. ›Gebt sie zurück!‹ Reumütig ging der Mann am kommenden Morgen an den Strand und zog dem Toten die Stiefel wieder an.«

Olaf war heilfroh, dass die zänkische Frau keinen Kommentar beizusteuern hatte.

»Bitte folgen Sie mir nun in den historischen Ortskern.«

Auf dem Weg zum alten Leuchtturm, zu dessen Füßen die Gräber der Borkumer Walfänger und ihrer Familien lagen, erzählte Olaf der Gruppe Seefahrergeschichten von früher. Er sprach von Händen, die abgehackt wurden, damit sich die Schiffbrüchigen, die sich an der Bordwand festhielten, nicht ins Boot hineinziehen konnten. Im Schatten des ehemaligen Dorfhotels unterhalb des Turmes blieb er stehen. Hier war die Straße nur spärlich beleuchtet.

»Es war eine eiskalte Nacht im November«, begann er.

»Schwüle Nächte im August…« Weiter kam die Unruhestifterin nicht. Ein »Aua« folgte.

Hat es ihr endlich die Sprache verschlagen, dachte Olaf und spann den Faden weiter. »Ein Orkan wehte Schneeflocken vom Eismeer bis hierher. Sie peitschten fast waagerecht den Menschen ins Gesicht, die sich zu dieser späten Stunde aus dem Haus wagten. Es hieß, arglistige, finstere Gestalten, Mördergesindel, habe sich auf dem Ostland, etwa fünf Kilometer von hier, versammelt. Und dass sie einen Bauern, seine Familie sowie die Knechte in ihrer Gewalt hielten. Die Männer waren in das Bauernhaus eingedrungen und gaben an, Schiffbrüchige zu sein, die von einem Schiff ausgesetzt worden waren, auf dem es eine Meuterei gegeben hatte, weil sie dem Kapitän treu ergeben waren. So hatte der Bauer sie für die Nacht in seiner Scheune untergebracht. Doch es befand sich auch ein Junge unter den Gestrandeten. Ihm war es gelungen, aus der Scheune zu flüchten und in eisiger Kälte vom Ostland bis hierher zu fliehen.« Olaf zeigte auf die Stelle vor seinen Füßen. In den Boden des kleinen gepflasterten Hofes war das Wappen der Insel Borkum eingearbeitet. Auf seinen Stock gestützt ging Olaf auf die Knie und deutete an, wie das Kind sich damals zum alten Turm, in dem in dieser Nacht als Einziges ein Licht brannte, geschleppt haben mochte. Er kroch mit mühevollem Ausdruck einige Meter vorwärts und erhob sich wieder.

»Gehen wir die wenigen Meter, die für den Jungen, geschwächt, entkräftet und halb erfroren, meilenweit gewesen sein müssen.«

»Warum ist er überhaupt hierhergekommen?«

»Er wollte die Bevölkerung warnen, denn in Wirklichkeit waren die Schiffbrüchigen die Meuterer, und sie hatten nichts Gutes im Sinn.«

Die Gruppe folgte Olaf Kern bis an das schmiedeeiserne Tor, das vor der hölzernen Eingangstür des Leuchtturmes in die dicken Mauern eingelassen war. Es zeigte eine Frau in einem wallenden Kleid, die am Meer stand und mit einem Tuch in der Hand einem Segelschiff nachwinkte.

Das Tor war verschlossen. Olaf stellte die Laterne links neben dem Gitter ab, den Wanderstock lehnte er an die Backsteinwand des Turmes. »Über fünfhundert Jahre steht er hier, ›de Olle Baas‹, so nennen wir Insulaner den Turm. ›Olle Baas‹ bedeutet ›ehrwürdiger Chef‹ oder ›alter Herr‹. Der Turm hat schon viel Leid gesehen, doch die Tragödie dieser Nacht…«, hier machte er regelmäßig eine längere Pause, »wird unvergessen bleiben.«

»Gleich will er uns weismachen, dass schon Christoph Kolumbus dem Licht des Leuchtturmes folgte.«

»Jetzt ist es aber genug. Sie verderben uns allen hier den Spaß. Halten Sie endlich den Mund oder verschwinden Sie«, rief jemand aus der Gruppe.

»In jener unglücklichen, eiskalten Nacht«, hob Olaf an, »begab sich ein Knabe selbstlos in Lebensgefahr und rettete die Einheimischen, ehe er kurze Zeit später an seinen Erfrierungen starb.«

Schweigen folgte stets an dieser Stelle.

»Aber wieso rettete der Junge alle?«

»Die finsteren Männer waren blutrünstige Mörder und Meuterer. Um unentdeckt zu bleiben, hätten sie die Bauersfamilie und womöglich auch sämtliche anderen Insulaner ermordet, sobald diese ihre Anwesenheit auf der Insel bemerkt hätten«, erklärte Olaf.

»Kriegen wir hier den Geist des Kindes zu sehen, oder haust er woanders?«

Olaf ignorierte die Frage. Darüber hatte er sich noch nie Gedanken gemacht. Er sollte das in Zukunft in irgendeiner Form mit ins Programm aufnehmen. Vielleicht mittels eines Kinderskeletts, wie in den Geisterbahnen. Nur, wo sollte er es hinhängen?

Ein Viertelstündchen noch, dann ging die Führung zu Ende. Denk an die Trinkgelder, ermahnte er sich, und sei freundlich. Er grinste die zänkische Sandalenfrau an. Lächeln ist auch eine Art, jemandem die Zähne zu zeigen, sagte seine Mutter immer, und Olaf zeigte ihr seine. Es fehlte ein Augenzahn. Kein wirklich schöner Anblick. Sie erwiderte das freche Grinsen mit einem finsteren Blick.

»Folgen Sie mir, meine Herrschaften. Ich geleite Sie nun zum Heimatmuseum. Unser Weg führt durch die Roelof-Gerritz-Meyer-Straße. Sie wurde nach einem erfolgreichen Borkumer Walfänger benannt. Wenn Sie sich für den Walfang interessieren und mehr wissen wollen, buchen Sie die Walfänger-Tour. Ich erzähle Ihnen gern alles über diese glorreiche Zeit. Sie hat Ruhm und Reichtum auf die Insel gebracht, aber auch Elend, denn viele der wackeren Seefahrer sind im Eismeer beim Walfang gestorben.«

Nachdem die Gruppe einen Blick auf das Museum geworfen und aus der Ferne die gut fünf Meter hohen Walknochen bewundert hatte, umrundete Olaf mit ihnen die Grundschule, um langsam in Richtung Inselbahnhof zu gelangen. Sie machten kurz Halt an den Walknochen, die als Zaun ein Grundstück umfassten.

»Bitte nicht anfassen«, warnte er.

»Warum?«

»Jede Hand, die daran rüttelt, jeder Finger, der daran kratzt und nur kleine Teile abbricht, schadet den über zweihundertfünfzig Jahre alten Knochen. Sie sind unbezahlbar, können niemals wiederbeschafft werden. Folgen Sie mir bitte.«

Der Weg zwischen Grundschule und Reformierter Kirche war schlecht beleuchtet. Hier kamen im Allgemeinen nur diejenigen vorbei, die ihre Kinder zur Schule brachten oder an den sonntäglichen Gottesdiensten teilnehmen wollten. Er blieb stehen und wartete geduldig, bis der letzte Nachzügler zur Gruppe aufschloss.

Wo blieb Vittorio? Es wurde Zeit für seinen letzten Einsatz, den Höhepunkt der Führung, der den Touristen zum guten Schluss noch einmal eine Gänsehaut über den Rücken jagen sollte. Aber nichts passierte. Lange konnte Olaf die Leute nicht mehr hinhalten. Sie wurden unruhig, und er befürchtete, dass die Zicke gleich wieder zu meckern anfing. Also ging er weiter.

Am Ende der Straße, kurz vor dem Haus der Borkumer Zeitung, stand eine Straßenlaterne. Dort machte er Halt, um von der tragischen Geschichte eines achtzehnjährigen Jungen zu berichten. Er war in einer kalten Dezembernacht vor nicht allzu langer Zeit genau an dieser Stelle tot zusammengebrochen. Angeblich hatte er einen Herzinfarkt erlitten, doch die polizeilichen Ermittlungen ergaben, dass er ermordet wurde.

»Kommen Sie bitte etwas näher«, rief er die Teilnehmer zusammen. Seine Laterne stellte er auf die Mauer, die Haus »Friesenhof« umgab. Während sich die Gruppe um ihn scharte, schaute er im Schein der Straßenlaterne jeden seiner Zuhörer einzeln an, um ihnen das Gefühl zu vermitteln, von ihm als Person bemerkt worden zu sein. Er zwinkerte einer Dame zu, legte einem Mann kurz die Hand auf die Schulter und griff einem anderen an den Ellenbogen. Ein psychologischer Kunstgriff, der für reichlich Trinkgelder sorgen sollte.

Sein Publikum blickte ihn erwartungsvoll an. Olaf wollte eben zum Schlusswort ansetzen, als drei der Zuhörer gleichzeitig die Köpfe hoben und über ihn hinwegschauten. Ihre Gesichter zeigten Erstaunen, einem fiel die Kinnlade herunter, ein anderer hob den Zeigefinger. Unruhe kam in die Gruppe, und Olaf begann zu frösteln.

Eine Nebelwand rollte aus der Dunkelheit direkt auf sie zu. »Norleke Schwalks« nannten die Insulaner sie. Nördliche Schwaden. An der Küste und auf den Inseln bildeten sie sich mitunter an warmen Tagen, seltener in Nächten. Sie umhüllten alles und jeden mit kühlen, feuchten Nebeltropfen, dass es einen schauderte. Die Nebelschleier verschwanden genauso schnell, wie sie kamen.

Glück muss man haben, dachte Olaf. Das Naturereignis kam ihm gerade recht. Da verstummten sogar die sarkastischen Kommentare der unzufriedenen Zicke.

Die Teilnehmer knöpften ihre Jacken zu, Kragen wurden hochgeschlagen. Er hörte Reißverschlüsse ratschen. Dann gab es einen Knall, und das Licht der Straßenlaterne erlosch. Vermutlich ein Kurzschluss wegen der Feuchtigkeit. Jemand kicherte, zwei oder drei stießen unisono ein »Huch« aus. Danach wurde heftig applaudiert.

»Das war’s für heute, meine Herrschaften. Ich hoffe, es hat allen gut gefallen und Sie empfehlen mich weiter. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht und gruselige Träume.«

Olaf machte die Runde, um sich von jedem Zuhörer mit Handschlag zu verabschieden. Die eine oder andere Münze, sogar ein Schein war dabei, wanderte in die Tasche unter seinem Umhang. Die Hand der jungen Frau mit den blonden Haaren hielt er ein wenig länger fest. Er überlegte kurz, ob er es wagen konnte, sie um ein Rendezvous zu bitten, ließ es aber bleiben. Er meinte, die vernichtenden Blicke der Nörgeltante in seinem Nacken zu spüren. Sie saß mit zwei anderen Personen, denen er noch die Hand schütteln wollte, auf der Mauer.

»Iiiih, was ist das denn?«, rief sie auf einmal und sprang auf die Füße. »Mein Rock ist ganz nass.« Sie griff sich an den Po, nahm die Hand nach vorn und betrachtete sie angewidert. »Ich schwöre, die Reinigung werden Sie mir bezahlen«, drohte sie und trat mit ausgestreckter Hand auf Olaf zu. Er griff nach der Laterne und beleuchtete ihre Finger. Sie waren blutverschmiert.

2

Was soll die Lüge, dachte die hübsche junge Frau mit den schulterlangen Haaren, natürlich gehört das Blut auf der Mauer zum Abendprogramm, wem will er das Gegenteil weismachen? Nur hat er vermutlich nicht damit gerechnet, dass sich jemand hineinsetzt und auch noch Schadenersatz verlangt. Hanni Busboom mochte darauf wetten, dass der Typ dahintersteckte, den sie während der Tour ein paarmal zwischen Dünen oder hinter Häuserwänden entdeckt hatte. Mit Sicherheit Olaf Kerns Kompagnon.

Zum ersten Mal hatte sie den Mann gesehen, als die komplette Truppe vor dem Kaap stand, den Rücken dem Nordstrand zugekehrt. Olaf Kern sprach von Deserteuren, die angeblich an dieser Stelle ihr Leben ließen. Genau in dem Moment hatte sie sich umgewandt und einen dunklen Haarschopf hinter einer Düne verschwinden sehen und beobachtet, wie die Person einen Bogen machte, vermutlich um die Gruppe zu überholen. Kurz kam ihr der Gedanke, dass der Mann bemerkt werden wollte, so auffällig unauffällig verhielt er sich, doch das passte schlecht zum Abendprogramm. Von dem Augenblick an hatte sie aufmerksam die Umgebung betrachtet. Als die Gruppe auf dem Drinkeldodenkarkhof stand, hockte er ganz eindeutig hinter einem Busch. Danach war er im Laufschritt und in großer Entfernung zur Gruppe im Dämmerlicht an ihnen vorbeigehuscht. Nachdem er am Kaap für den Knall und den brandigen Geruch gesorgt hatte, war sie gespannt gewesen, was noch alles folgen würde. Sie musste zugeben, der Kommentar der Frau in Sandalen hatte genau ins Schwarze getroffen. Was immer er angezündet hatte, es roch nach chinesischem Kramladen. Hanni hatte begonnen, sich zu amüsieren. Ob die beiden Männer genügend Phantasie besaßen und ausreichend Tricks in petto hatten, um den Leuten das Gruseln beizubringen?

Beinahe wäre er auch von anderen Teilnehmern der Führung bemerkt worden. Am Drinkeldodenkarkhof hatte die ständig nörgelnde Teilnehmerin zum Busch hinübergeschaut, hinter dem er hockte. Hanni gelang es, sie anzustoßen, sonst hätte sie den Mann entdeckt. Beim »Aua« sah Hanni den dunkelhaarigen Mann, dessen Gesicht im Mondlicht kurz aufblitzte, im Dunkel verschwinden. Sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte dreißig.

Ab dem Zeitpunkt war das Helferlein des Geisterführers unsichtbar geblieben. Sosehr Hanni sich auch anstrengte, sein nächstes Versteck auszumachen, sie konnte ihn nirgends mehr entdecken. An der Grundschule hatte sie den Eindruck gehabt, dass Olaf Kern auf etwas wartete. Vielleicht war an dieser Stelle eine Aktion geplant gewesen, die dann nicht stattfand. Womöglich hatte Olafs Partner mitbekommen, dass sie ihn bemerkt hatte, und sich zurückgehalten, um nicht komplett aufzufliegen. Doch wozu das Blut auf der Mauer, wenn dann keine passende Geschichte dazu vom Geisterführer kam?

Mit dem Gedanken ging Hanni nach Hause.

Als sie am Morgen aufwachte, sprang sie gut gelaunt aus dem Bett, zog die gleichen Kleider wie gestern an, machte Katzenwäsche und verließ die Ferienwohnung, um frische Brötchen zu holen. Wenige Schritte vor der Bäckerei blieb sie stehen. Der Unbekannte von gestern Nacht kam eben aus dem Geschäft. Er bemerkte sie nicht. Hanni musste nicht lange überlegen. Die »Stutjes«, wie die Borkumer zu Brötchen sagten, konnte sie auch später kaufen. Sie folgte ihm, bis er in der Fußgängerzone ein Ladengeschäft betrat. Unschlüssig wartete sie ein paar Minuten, aber er kam nicht wieder heraus, also sah sie durchs Schaufenster hinein. Der Verkaufsraum war leer. Er musste in einem Hinterzimmer verschwunden sein. Demnach war das entweder sein Laden, oder er war hier angestellt. Hanni trat einen Schritt zurück und las den Namen: »Fachgeschäft für Magie«.

»Dinge, die die Welt nicht braucht«, murmelte sie beim Anblick der Auslagen. Fremdartig wirkende Karten- und Brettspiele, Steine in allen Farben und Größen, Kerzen, Räuchertöpfe, Tonfiguren, Heftchen und Bücher, die alle Magie zum Thema hatten.

Nach kurzer Wartezeit wurde ihr klar, dass er vermutlich nur nach vorn in den Laden zurückkommen würde, wenn Kundschaft auftauchte. Weil sie diese Kundin auf keinen Fall sein wollte und weil ihr Magen knurrte, entschied sie sich, endlich die Brötchen zu kaufen.

Sie würde wiederkommen, ihr Interesse war geweckt. Ist sicher spannend, dachte Hanni, einen Mann, der ein Faible für Übersinnliches hat, kennenzulernen.

»Wie war es gestern Abend?«, fragte Hannis Mutter und nahm ihr die Stutjes ab.

»Ja, erzähl«, forderte auch Wiebke, Hannis jüngere Schwester.

Beim Decken des Tisches berichtete Hanni von der Geisterwanderung.

»Cool, da wäre ich gern dabei gewesen«, sagte Wiebke.

»Blut auf der Mauer?«, fragte Gesche Busboom. »Und dieser Olaf bestand darauf, dass es nicht zum Programm gehörte? Sag bloß kein Wort davon deinem Vater.«

»Du meinst, er wittert sofort ein Verbrechen?«

»Natürlich tut Papa das«, sagte Wiebke. »Schade, dass man dem Blut nicht ansehen kann, ob es menschliches ist.«

»Sonst würdest du auf der Stelle nachsehen, Wiebke, stimmt’s?« Hanni winkte ab. »Lass es sein. Ist vermutlich von einem Tier, das ein Raubvogel erlegt hat.«

»Dann wären Überreste zu sehen gewesen«, sagte Gesche Busboom nachdenklich. »Hast du welche gesehen?«

»Keine Federn, kein Fell, keine Knochen«, versicherte Hanni.

»Das konntest du im Dunkeln erkennen?« Wiebke kniff lauernd die Augen zusammen, und Hanni lachte auf.

»Du klingst schon genauso wie Papa, wenn er Übles wittert.«

»Wer wittert was?«, fragte Focko Busboom, betrat die Küche und gab seinen Töchtern einen Kuss auf die Wange.

»Du den Kaffee«, sagte Gesche. »Du kommst genau richtig, das Frühstück ist fertig.« Sie wechselte einen Blick mit ihren Mädchen. Wir sind uns einig, bedeutete er, kein Wort zu Papa. Wir machen hier Urlaub, also erwähnt niemand das Blut auf der Mauer.

***

»Erst verpasst Vittorio den Einsatz hinter der Grundschule, und dann versaut er auch noch einer Kundin die Klamotten.« Olaf nahm die Scheibe Brot entgegen, die seine Mutter ihm geschmiert hatte. »Ich wüsste gern, warum er Blut auf die Mauer geschmiert hat.«

»Warum lässt du dich auf diesen Typen ein? Ich habe dir gleich gesagt, der Kerl taugt nichts.« Therese Kern verzog abschätzig den Mund.

Seine Mutter hatte recht. Seit Vittorio sich in die Geistergeschäfte reindrängte, entwickelte sich für Olaf alles zum Nachteil. In finanzieller Hinsicht stand er vorher besser da, weil alles, was er bei den Geisterwanderungen einnahm, in seine eigene Tasche geflossen war.

»Bleib allein in deinem Geschäft. Was tut der schon für dich? Er sagt, er hilft dir bei den Geisterwanderungen. Pah. Nur Ärger macht er. Sieh zu, dass du ihn loswirst.«

Olaf nickte und senkte den Kopf, doch seiner Mutter konnte er selten etwas vormachen.

»Was?«, fragte sie. »Mischt der etwa auch bei den geführten Wanderungen zu den Seehundsbänken mit?«

»Nein, Mama.«

»Dann bei den Strandgutwanderungen?«

Olaf schüttelte den Kopf. Die Führungen mit den Touristen am Wellensaum entlang, bei denen er den Leuten erklärte, was das Meer so alles anspülte, interessierten Vittorio nicht. Ebenso wenig wie die gelegentlich durchgeführten Wattwanderungen. Die bot Olaf an, obwohl er dafür keine Zulassung besaß. Die Prüfung bei einer staatlichen Behörde, deren Bestehen erforderlich war, um Menschen ins Watt begleiten zu dürfen, hatte er nie abgelegt. Olaf vertrat die Meinung, das sei nur Geldschneiderei der Ämter. Er konnte auch ohne öffentlich anerkanntes Zertifikat Leute ins Watt führen. Schließlich kannte er sich in der Gegend bestens aus und wusste, wo die lebensgefährlichen Stellen waren.

»Na, dann ist ja gut.« Therese Kern ging zum Kühlschrank und stellte die Tupperdose mit dem Käse hinein. »Sieh zu, dass du den Kerl loswirst«, wiederholte sie. »Der bringt nur Unglück.«

Olaf nickte.

»Und halt deine Phantasie im Zaum. Es ist schlecht fürs Geschäft, wenn du dir die Gruselgeschichten ausdenkst. Bleib bei der Wahrheit.« Sie lachte. Beide wussten, dass die Wahrheit langweilig war, es sei denn, man bog sie ein wenig zurecht.

»Mach ich, versprochen. Obwohl…«

»Ja?«

»Für die Stammgäste ist es interessanter. Die wollen nicht immer die gleichen Geschichten hören.«

»Wollen sie wohl, sonst würden sie kaum wiederkommen.«

Da hatte sie auch wieder recht.

»Du kennst die Gefahr?«

»Welche?«, fragte Olaf, obwohl er ahnte, was sie meinte.

»Je öfter du eine Lüge erzählst, umso eher glaubst du selbst an das, was du dir ausgedacht hast.«

»Aber die Menschen möchten an Gespenster glauben.«

Genau das hatte auch Vittorio Garanca vor einigen Monaten zu ihm gesagt und festgestellt: »Mein Gewerbe ist ähnlich wie deines, wir sollten uns zusammentun.«

»Ich weiß nicht«, hatte Olaf erwidert, sich dann aber überreden lassen, weil Vittorio ihm so vieles versprochen hatte.

»Pass auf den Garanca auf«, warnte ihn seine Mutter erneut. »Ich habe den Verdacht, dass er dich betrügen will.«

»Meinst du!«, widersprach Olaf lahm.

»Natürlich. Wo bleiben denn all die neuen Geschäftsvorschläge, mit denen er dich geködert hat?«

»Da wären zum Beispiel die Geisterbeschwörungen. Die bringen das ganz große Geld, sagt Vittorio.« Die ebenfalls geplanten schwarzen Messen verschwieg er seiner Mutter lieber.

»Mag sein. Aber erstens habt ihr noch keine gemacht, und zweitens hast du mit Beschwörungen nichts am Hut. Das kann gefährlich werden. Also lass es bleiben.«

Olaf schwieg.

»Ich möchte wetten, dass Vittorios Chefin keine Ahnung hat. Die weiß garantiert nicht, dass ihr Angestellter anfängt, ihr Konkurrenz zu machen. Womöglich sollte ich mal mit der Dame reden.«

Gar kein schlechter Gedanke. Sollte Madame Jasmin, die Besitzerin des »Hokuspokusladens«, wie seine Mutter das Fachgeschäft für Magie immer nannte, davon erfahren, würde sie es bestimmt verbieten, und er wäre Vittorio los.

»Lass die Finger von den Beschwörungen«, wiederholte Therese Kern. »Davon hast du keine Ahnung. Nun mach nicht so ein Gesicht, mein Schatz. Ja, wenn es um den Klabautermann geht, da kannst du mitreden. Der passt zu uns und zu Borkum. Das hat Atmosphäre. Oder die wunderbar blutrünstigen Legenden vom Schwarzen Rolf. Wie er beim Entern der Schiffe schon auf der Reling stehend dem ersten Mann den Kopf abschlägt. Das erzählst du so gut, da laufen selbst mir Schauer über den Rücken. Aber echte Geister wirklich und wahrhaftig heraufbeschwören! Nein, mein Junge, das lass bleiben. Viel zu gefährlich.«

Olaf schwieg. »Das kannst du alles lernen«, hatte Vittorio gesagt. Aber das erzählte er seiner Mutter nicht. Ebenso wenig erwähnte er Vittorios Versicherung: »Was dein Geschäft braucht, ist Aktion. Die Leute sind bereit, für mehr Grusel auch viel mehr Geld auszugeben. Ihnen sollen die Haare zu Berge stehen. Sie müssen eine Gänsehaut bekommen und sich vor Angst in die Hose pinkeln. Und wenn sie sich nass machen«, Vittorio hatte breit gegrinst, »hast du gewonnen. Verstanden?«

Olaf starrte seine Mutter an.

»Was ist?«, fragte sie. »Du siehst aus, als hättest du eines deiner Gespenster gesehen.« Sie lachte so laut, dass Olafs jüngere Geschwister angelaufen kamen.

»Wir wollen mitlachen«, forderten sie. Doch Olaf war anders zumute.

»Was ist, wenn das Blut auf der Mauer von ihm stammt?«

»Du erwähntest schon, dass du glaubst, er hätte es dorthin geschmiert.« Therese Kern wischte sich mit dem Handrücken eine Lachträne aus dem Gesicht.

»Nein, Mama. Ich meine, was, wenn es sein eigenes ist.«

»Dann bist du ihn los.«

Seine Mutter dachte eben immer praktisch.

3

»Hast du dir was Hübsches gekauft?« Gesche Busboom deutete auf Hannis Einkaufstüte.

Hanni fühlte sich, als wäre sie bei etwas Verbotenem erwischt worden. Vor ihrer Mutter war kein Geheimnis sicher. Zu Gesches Verteidigung musste Hanni zugeben, dass diese die Heimlichkeiten ihrer Töchter stets vertraulich behandelte. Hanni ließ die Schultern sinken und schenkte ihrer Mutter ein halbherziges Lächeln. Sie zog einen Karton aus der Plastiktüte heraus.

»Ein Spiel?«, fragte Gesche Busboom. »Ouija? Noch nie davon gehört.«

»Man spricht es ›Uiedscha‹ aus. Wie das französische ›Oui‹ für ›Ja‹, gefolgt von einem ›Dscha‹. Auf Deutsch heißt es Hexenbrett.«

»Ach, das kenne ich. Das ist das Spiel mit den kleinen schwarzen Plastikhütchen und den Würfeln.«

Hanni erkannte, dass sie auf den Arm genommen wurde, und lachte. »Mama, das ist kein ›Fang den Hut‹. Ouija ist was für Erwachsene.«

»Ich weiß, mein Schatz. Warum hast du es gekauft?«

»Das möchte ich zu Hause mit meinen Freundinnen ausprobieren.«

»Aha. Angeblich kann man dadurch mit Verstorbenen reden.«

»Mag sein.«

»Klingt gefährlich. Mit wem, in Gottes Namen, willst du überhaupt sprechen? So viele Menschen, die jetzt tot sind, kennst du doch gar nicht.«

»Mit Oma zum Beispiel.« Hanni knüllte die Plastiktüte zusammen und wollte sie Gesche geben. Die nahm stattdessen den Karton.

»Darf ich es anschauen?«

Ehe Hanni antworten konnte, ging sie schon mit dem Spiel unter dem Arm in die Küche und setzte sich an den Tisch.

»Okay, meinetwegen. Mach es auf«, sagte Hanni.

Wie sich die Zeiten doch änderten. Noch vor wenigen Jahren war sie diejenige gewesen, die alles als Erste auspacken wollte.

Gesche Busboom löste die Folie von der Pappschachtel, zerknüllte sie und warf sie achtlos in den Mülleimer. Dann hob sie den Deckel vom Spielekarton, legte ihn zur Seite und griff hinein. Fast andächtig nahm sie ein zusammengeklapptes Pappbrett und ein weißes, herzförmiges Plastikteil mit einem Loch in der Spitze heraus. Sie faltete das Spielbrett auseinander, legte es auf den Tisch und strich mit den Händen darüber, als wollte sie Bügelfalten aus dem dicken Papier herausstreichen. In der linken oberen Ecke war eine Sonne zu sehen, in der rechten ein Halbmond. Neben der Sonne prangte ein »Yes«, beim Mond ein »No«. Dazwischen waren unter dem in Großbuchstaben geschriebenen Namen »OUIJA« in zwei leicht gebogenen Reihen die Buchstaben des Alphabets abgedruckt. Auf der anderen Seite, am unteren Spielbrettrand, waren die Zahlen von Eins bis Null zu lesen. Darunter stand »Goodbye«.

»Wo gibt es denn so etwas?«

»Im Fachgeschäft für Magie in der Fußgängerzone«, sagte Hanni.

Gesches linke Augenbraue ruckte in die Höhe, ein Zeichen dafür, dass etwas sie amüsierte. »Und wieso warst du da? Hat dich der gestrige Abend auf den Geschmack gebracht?«

Hanni schnaufte und schwieg.

»Raus mit der Sprache, oder geht es mich nichts an?«

»Heute Morgen beim Bäcker habe ich den Mann von gestern wiedergesehen, den, der für Olaf Kern die Tricks gemacht hat, und bin ihm bis zu dem Laden gefolgt. Er ging rein, ist aber nicht mehr herausgekommen. Also bin ich gerade eben noch mal hingegangen.«

Gesche nickte. »Dann arbeitet er in dem Geschäft?«

»Keine Ahnung, ich vermute schon. Es war nur eine Frau da.«

»Du wirst es herausbekommen.« Sie nahm das herzförmige Plastikteil und legte es in die Mitte des Brettes. »Was nun?«

Hanni wusste, das Thema »geheimnisvoller Mann« war vorerst abgeschlossen. Sie war ihrer Mutter dankbar, dass sie sie nicht nach dem Grund für ihr Nachspionieren fragte. Sie hatte selbst keine Erklärung dafür.

»Du musst leicht die Zeige- und Mittelfinger darauflegen.«

Gesche tat wie befohlen, Hanni setzte sich und legte ihre Finger daneben.

»Und nun?«

»Nun sollte es in Bewegung kommen. Aber vorher muss man eine Frage stellen, erst dann kann es losgehen. Eine dritte Person muss die Zahlen und Buchstaben, über denen das Plastikteil stehen bleibt, aufschreiben. Wiebke!«, rief Hanni.

»Sie wollte in den Reitstall.«

»Na toll, dann stinkt nachher wieder die ganze Wohnung nach Pferd. Seit wann interessiert sie sich für Sport?«

Gesche ließ die Frage unbeantwortet. Sie beugte sich vor und schaute durch das Loch. »Du hast recht.«

»Womit? Dass es nach Gaul riecht?«

»Nein, dass mehrere Personen mitmachen sollten.«

»Lass uns einfach abwarten, was geschieht.«

So saßen die beiden gut eine Minute schweigend da und starrten auf das Brett.

»Das ist doch Humbug«, sagte Gesche, und ihre Augen weiteten sich, da in diesem Moment das Ding über das Brett rutschte.

»Vorsicht, Mama, du drückst zu fest. Du machst das aufgeklebte Papier kaputt. Die Frau im Laden sagte, wenn sich das Papier wellt oder knickt, werden sich die Geister erschrecken und nicht wiederkommen.«

Gesches Finger zuckten hoch. »Das…« Sie bewegte drohend den Zeigefinger und verstummte.

»Was?«

»Ist gefährlich.«

»Das hat die Frau im Laden auch gesagt. Geister sollte man niemals leichtsinnig herbeirufen.«

»Und das tut man, falls das Papier knittert?«

»Keine Ahnung.« Hanni grinste. »Das heißt aber für dich, liebe Mama Hasenfuß, dass du es lieber bleiben lässt.«

»Pah.« Gesche knuffte Hanni leicht an den Oberarm. »Und was sagt die Dame noch?«

»Man soll den Geistern sagen, dass man nur mit ihnen sprechen will. Niemals sollte man die Seelen der Toten darum bitten, dass sie zu einem kommen.«

»Würde mir im Traum nicht einfallen.« Gesche Busboom steckte die Hände in die Hosentaschen, als wollte sie sich so von einem unbedarften Wunsch an die Geister abhalten. »Und dir besser auch nicht.«

»Zumindest Laien sollten das keinesfalls tun.«

»Aha. Und du bist jetzt Experte?«

»Noch nicht. Aber wenn ich Fragen zum Brett habe, darf ich in den Laden zurückkommen.«

»Scheint ja ziemlich kompliziert zu sein.« Gesche schnaufte und stand auf. »Warum in aller Welt verkauft sie dir so ein Teufelszeug, wenn die Nutzung für Laien gefährlich ist?«

»Ich habe behauptet, mich auszukennen. ›Wenn man nach einem Zeichen fragt‹, habe ich gesagt, ›öffnet man eine Tür zwischen der jenseitigen und der diesseitigen Welt und gewährt den Geistern Einlass.‹«

»Wo hast du denn den Quatsch her?«

»Habe ich irgendwo gehört.« Hanni meinte, etwas im Gesicht ihrer Mutter zu erkennen, was selten darin zu sehen war. Gesche wirkte, als habe sie Angst um ihre Tochter und würde gleich mit einem Handstreich das Spiel vom Tisch fegen. »Mama, das ist alles harmlos. Es gibt selbstverständlich keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, dass das, was das Hexenbrett schreibt, von den Geistern kommt. Es ist wohl eher das Unterbewusstsein der Benutzer, durch das das Geisterhafte entsteht.«

»Oder man schiebt das Teil absichtlich auf bestimmte Zahlen und Buchstaben, um die Mitspieler zu täuschen. Pack es ein.«

Ein Befehl, dem Hanni sofort folgte.

»Ich hoffe, der Quatsch hat keine Unsummen gekostet.«

»Vierundzwanzig fünfzig. Ein Schnäppchen, wenn man bedenkt, dass es einem auch die Zukunft vorhersagen kann.« Hanni versuchte, fröhlich zu klingen.

Nur gut, dass sie nichts von ihren Plänen für heute Abend erwähnt hatte. Sie verspürte keine Lust auf weitere Warnungen. Die erste Übungsstunde mit dem Pendel wollte sie ungestört genießen.

4

Bernhard Kutschbauer umrundete die Hausecke und blieb überrascht stehen. Fast wäre ihm ein »Ach du Schreck« herausgeflutscht. Im Garten seiner Tanten stand eine nackte Person. Sie war offensichtlich weiblich und von Kopf bis Fuß mit brauner Farbe angemalt. Weiße Striche im Gesicht und Kreise auf Armen und Beinen hoben sich leuchtend von dem erdfarbenen Untergrund ab. Unter all der Farbe erkannte Bernhard Kutschbauer einen ihm vertrauten Menschen.

»Moin, Tante Dini«, grüßte er. »Heute ist es für so viel Freizügigkeit aber etwas zu kalt. Wo ist deine Unterwäsche?«

»Junge, du bist immer so verklemmt. Abstreiten hilft nichts, ich höre es an deiner Stimme. Als ob du noch nie eine nackte Frau gesehen hättest.«