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»Wisset! Wir sind Gebärden-Priester und Gebärden-Richter. Wir wandeln unter euch auf dieser Erde, um die Macht der Gesten zu mehren und zu wahren. Schließt euch uns an!« Auf Achse mit Gebärden! Zwei Honken gehen auf Reisen mit Gesten, Schwüren und Bandwurm. Mit vollem Magen schwört es sich einfach auch viel besser! Und ihre Widersacher springen ins Abklingbecken. »Ein reudiges Meisterwerk!« Honkenolaf
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Seitenzahl: 518
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Auf Achse
Freitag, zehn Uhr, es geht los. Wir können uns kaum auf unseren Plätzen halten. Gerade fahren wir aus der Frankfurter City raus. Drei Wochen Ferien, Abenteuertour über den Balkan. Start in Slowenien. Wir schmeißen uns quer auf die Sitze. Die Sonne scheint, wie könnte unsere Reise besser beginnen? Vielleicht wenn wir schon was zu essen hätten? Hinter uns hockt ein Horst mit so einer Art Zahnstocher im Mund und lümmelt mit irgendeiner Flasche rum. Direkt ist unsere gute Laune geschmälert. Ist da einer im Bus, der cooler ist als wir?
Das kann kaum sein! Also hüpfen wir zu ihm rüber und quatschen ihn an. Schließlich sind wir jetzt Kollegen auf der Reise. Ein Honken ist das aber eher nicht. Honkentitel verpassen wir nur echt riemigen Kerlen, also solchen Leuten, die was auf dem Kasten haben. Wir stellen uns selber vor. Honkenwilli und Honkenolaf. Honkenwilli, das bin ich. Ein geiler Kerl, nur ein bisschen assi. Das sieht man vielleicht schon an dem Hut, den ich auf dem Kopf hab. Aber Vorsicht, ich selbst darf das sagen, andere lassen das besser. Als Assi bin ich wahrscheinlich leicht zu erkennen, wie ein Esel, schließlich stellt sich der Esel immer zuerst vor. Dann mein Kumpel: Honkenolaf. Der ist fast noch ranziger als ich, der läuft wie Butter durch den Bus auf den Burschen zu, schon sitzen wir daneben und hören uns sein Gesinge an. Feiner Kerl, besucht seine Familie in den Ferien, darauf klatschen wir ab. Wirklich nett. Aber so einen Zahnstocher wollen wir lieber nicht haben.
Erste Rast, Stuttgart Busbahnhof. Wir steigen kurz aus, um zu pinkeln. Und natürlich, um uns zu erleichtern. Und dann geht die wilde Reise weiter. Zum Lesen haben wir genug an Bord, da wird uns die Fahrt nicht langweilig. Ich hab auch was zum Lernen mitgenommen. Sogar für zwei, denn Olaf, die Trantüte, hat natürlich verpeilt, sich was Eigenes mitzunehmen. Und dabei hatte ich es ihm doch extra noch gesagt. Gestern im Buchladen. Na ja, mein Buch ist für uns beide dick genug, auch spannend, nur nicht gerade jetzt im Augenblick. Also pack ich unsere Reiselektüre weg. Dann gibt es natürlich gleich Gezänk, schließlich hat der Honkenolaf Lust, dasselbe zu lesen wie ich.
Olaf und ich, wir sind Trucker. Auf dem Bock haben wir auch unsere Truckernamen immer am Start. Honkenolaf und Honkenwilli. Da sieht jede und jeder gleich, dass wir echte Truckerkerle sind. Wenn wir mal des Nachts nicht durchfahren, dann kehren wir immer beim Food-Rocker ein. Das ist das Mekka für alle Trucker. Und auch für Truckerinnen! Pol Pot serviert den Kaffee und die freundlichsten Servicekräfte servieren die Milch graziös im Tetrapack. Da erholen wir uns vom Leben auf der Straße.
Die Straße ist unser Zuhause. Hier leben und arbeiten wir, hier lachen wir und weinen. Klar, dass wir auch in den Ferien nicht von der Straße wegbleiben können. Aber was echte Ferien für einen Trucker ausmachen, ist ja wohl offensichtlich: Er muss nicht selbst fahren. Das finden wir natürlich geil!
Also sag ich zum Olaf: »Komm, wir lernen von den Slowenen ihre Sprache!« Das sind auch so Bücher, die wir mithaben. Ein Wörterbuch und ein Sprachführer Slowenisch. Also hocken wir uns auf die Busschulbank und lernen vergnügt ein neues Idiom. Und schon nach wenigen Minuten schmettern wir ein freudiges ›Dober Tek‹ durch den Bus.
Wir haben keine besonderen slowenischen Vorkenntnisse, das ist aber nicht weiter schlimm. Auf der Überholspur spricht man auch im Osten nur mit der Lichthupe. Ganz selten steig ich hier mal vom Bock und bestell mir eine Bockwurst. Und dann tatsächlich nicht auf Slawisch, sondern mit der universalen Zeichensprache für Bockwurst. Und mit Gesten! Dagegen Honkenolaf, mein Kumpel von der Straße, der hat sich auf dem Beifahrersitz selbst einen Bockwurströster eingebaut. Der braucht gar nicht anzuhalten, außer er möchte zur Toilette. Und da hält er selbstverständlich, wenn und wo er muss. Ganz ohne Sprechen.
Nach unseren ersten Erfolgen sind wir schnell demotiviert. Eine Sprache, die so einfach ist, das ist ja keine echte Herausforderung. Wir sind leicht enttäuscht und stecken die Bücher weg. Wir beschließen, die ersten Stunden unserer Reise nach Ljubljana schlafend zu verbringen.
So ein Bus ist der ideale Ort zum Pennen. Also eigentlich nicht besonders. Aber so leer, wie auf dem Weg nach Slowenien, ist ein Bus besser als das schickste Wohnmobil. Jeder von uns schnappt sich eine Sitzreihe und haut sich lang hin. Über den ganzen Gang. Wehe, wenn jetzt einer vorbei will, austreten oder so. Wir sind von unseren Kajüten eigentlich mehr Komfort gewohnt, aber deswegen machen wir ja Ferien. Schließlich kann man nicht das ganze Leben auf dem Bock zubringen. Auch wenn das natürlich erstrebenswert wäre. Nun schauen wir mal, wie und wo andere Leute schlafen.
Bevor ich Olaf eine gute Nacht zunicke, werfe ich noch einen Blick zu unserem neuen Kumpel in der letzten Reihe. Der lümmelt sich ja schon seit Frankfurt-Niederrad auf der ganzen Bank rum, aber mittlerweile ist er eingepennt. Also wird es auch für uns Zeit, zwei Mützen voll Schlaf zu packen. Schließlich ist so eine lange Fahrt ganz schön nervenaufreibend. Wir Trucker gehören an das Steuer, sonst halten wir es nicht aus. Mit Mühe konnte mich Olaf davon abbringen, uns in die Reihe hinter dem Fahrer zu platzieren. »Honkenwilli«, hatte er gesagt, »denk doch mal nach, spätestens nachdem uns die ersten Prollkarossen überholt haben, wirst du doch ausrasten und dem Fahrer ins Lenkrad greifen.« So ein Depp, auf der Autobahn bringt das ja total viel, ich hätte einfach mit meinem eigenen Bein ein bisschen mehr Gas gegeben.
Aber das sag ich besser nicht, schließlich will ich mit meinem Kumpel Olaf ja keinen Streit. Also lach ich und ruf: »Mein Freund, du hast wie immer recht, los ab nach hinten, wir sind im Urlaub, da kann die Krücke selber fahren!« Der Olaf, der ist schon einer, wahrscheinlich einer von den drei geilsten Menschen dieser Welt. Auf jeden Fall steht eine seiner Grätschen in den Top Ten. Aber daran darf man vor dem Schlafengehen nicht denken. Seine Grätschen verfolgen dich sonst bis in die letzte Ecke deiner Träume. ›Grätschen on Elm Street‹ ist nicht umsonst sein Lieblingsfilm. Ich verdränge diese Gedanken aus meinem Hirn und zeige Olaf fette Gut-Schlaf-Gesten rüber.
Er erwidert den gestigen Gruß mit einem riemigen Nicken und ich weiß, dass auch ich gut schlafen soll. Beruhigt lege ich meinen Kopf zurück auf das Kissen, hausgemacht aus Pullovern und Zeitungen. Während Gevatter Schlaf mich mit seinen dürren Fingern sofort in seine Welt zerren will, denke ich über eine Sache nach, die nicht nur Slowenien noch lange außer Atem halten wird.
Der Traum
Zwei Gestalten kommen den Weg herauf auf uns zu.
Im sanften Licht des Mondes sieht die Szene friedlich aus. Es könnten zwei Wanderer auf dem Weg zu ihrem Gasthaus sein. Oder zwei Ritter auf einem Wachgang. Erst beim zweiten Hinsehen erkennt man, dass die beiden Gestalten sich in schwarze Mäntel hüllen und ihre Gesichter trotz des Mondlichtes nicht zu erkennen sind.
Langsam nähern sie sich dem Zentrum eines Platzes, beide gehen sie ohne Eile, aber offensichtlich zielstrebig. Sie schauen nicht nach rechts und nicht nach links, es scheint sie nicht zu kümmern, wer Zeuge ihres Erscheinens werden könnte. Als sie die Mitte des Platzes erreichen, bleiben sie stehen. Sie sind erschienen, um eine Nachricht zu überbringen. Aber noch warten sie, noch scheint der rechte Moment nicht gekommen zu sein. Der Mond steht hoch, vielleicht zu hoch. Nichts erscheint mehr sicher. Die Zeit dehnt sich, fast wie Kaugummi. Die beiden Gestalten, möglicherweise sind es Pilger, stehen unbeweglich. Man könnte meinen, sie wären versteinert. Weswegen sind sie gekommen?
Auf einmal reißt der Erste die Arme und Hände nach oben und überkreuzt sie vor seinem Oberkörper. »SPACKEN!« Worauf auch der Zweite aus der Erstarrung erwacht und wie als Antwort seine Arme erst in gleicher Weise kreuzt und sie dann von sich streckt. »SPACKEN RETOUR!«
Nun kommen die beiden näher und übergeben die Gabe der Gesten an die Auserwählten. »Lange sind wir gewandert, jetzt übertragen wir unser Amt und unsere Aufgabe an euch. Von nun an seid ihr beiden Gebärdenrichter und Gebärdenpriester. Ziehet durch diese Welt, verbreitet die Kunde der Gebärden und Gesten und sammelt und erhaltet dieses Wissen. Rekrutiert eine Gefolgschaft und errichtet einen Wallfahrtsort, an dem alle freundlich Gesinnten an ihren Gebärden erkannt werden können und ihre Taten an Gebärden gemessen werden sollen.
Wo Gesten am Start sind, da kann dich nichts gefährden, denn böse Menschen kennen keine Gebärden!«
So sprechen sie und verschwinden dann. Sie drehen sich um und laufen die Straße zurück, von der sie gekommen waren.
Noch immer unfähig, diese Begegnung zu verarbeiten, versucht einer der Ausgewählten, ihnen zu folgen. Da er sich nicht bewegen kann, beginnt er, nach seinem Kumpan zu rufen.
»Willi, Willi, wo bist du denn, Willi, ich...« Olafs Stimme schreckt mich aus meinem Traum. »Ja, schon gut, ich bin ja da. Hast du wieder geträumt?« Weil Olaf nicht gleich richtig wach wird, gieße ich ihm erst mal ein bisschen Milch ins Ohr. Da springt der Typ hoch. Das wirkt doch immer!
»Sag mal, Alter, du Honken, hast du schon wieder irgendwelchen Quatsch geträumt?« Olaf wischt sich durchs Ohr und leckt dann seine Finger ab. »Milch! Wo hast du die denn her?« Erst danach erwidert er »Du ahnst es nicht, ich hatte unseren Traum, mal wieder.« Ich seufze. »Oh Gott, was das wohl zu bedeuten hat?«
Das fragen wir uns, seit wir den Traum zum ersten Mal hatten. Und wir glauben und hoffen, die Antwort auf dieser Reise finden zu können. So gesehen sind wir wohl auch auf Pilgerfahrt zu unserer Bestimmung. Aber zunächst mal sind wir beiden im Urlaub, und wenn es nur Gesten sind, na das können wir!
»Spacken geimpft!«
»Spacken wiedergeboren!«
»Fetten Respekt!«
Safari
So eine Fahrt kann ganz schön auf den Magen schlagen. Je länger wir fahren, desto größer wird unser Hunger. Und desto kleiner wird die Erinnerung an unseren Traum. Wir spielen unser altes Spiel. Wer zuerst zugibt, dass er Hunger hat, hat verloren. Mein Magen knurrt vor sich hin, Olaf knabbert an den Gardinen. In Gedanken schäle ich dreizehn Eier auf einmal. Olaf macht Gebärdenessen. Da halte ich es nicht mehr aus. »Hunger!«, schreie ich. Die Erlösung, mein Kumpel hat die Runde gewonnen, Assi-Abklatschen und dann ran an den Proviant.
Wir haben uns am Morgen schöne, fette Brote geschmiert. Derbe Stullen, dick geschnitten. Mit einem Fingerbreit Butter, Käse und Schinken und allem, was man sonst noch gerne auf seinen Schnitten finden möchte. Ich verspeise fünf Eier, Olaf sieben, ich fünf Brote, Olaf gleich acht davon. Gegen den kommst du nicht an, sein Hunger ist legendär. Eine dieser Legenden besagt, dass er von einer Reise ins raue Truckerland der Ukraine einen Bandwurm mitgebracht hat, der ihm jetzt im Darm zu Diensten ist. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Was die Leute sich nicht alles so erzählen. Aber eigentlich müsste der Kerl schon lange satt sein! Wir essen eh nie allein aus Hunger, sondern immer auch aus Lust. Das ist natürlich nur ein Witz! Aber jetzt vielleicht auch ein bisschen, um die Zeit totzuschlagen. Wie bereits gesagt, so eine Fahrt ist das Spannendste nicht. Wie wir die nächsten beiden Stunden rumkriegen, wissen wir aber schon. Irgendwann bald machen wir einen Halt in München. Dort wird zugestiegen und es gibt eine halbe Stunde Pause. Dann vergessen wir, dass wir im Urlaub sind und begeben uns auf Safari.
Leider kann ich von der Safari nur erzählen, gefilmt haben wir alles mit unserer imaginären Kamera. Also, ganz entspannt zurücklehnen und dann auf eine andere Piste, aber eh, wir sind Trucker, auf allen Pisten der Welt zuhause und mit allen Wassern gewaschen. Film ab!
Olaf und ich schleichen uns auf Zehenspitzen aus dem Bus, bloß keinen Laut verursachen, wir wollen die Herde nicht aufschrecken. Schon erspähen wir das letzte Tier. Es lahmt. Wie erwartet zieht die Herde dem langsamen Tier laut blökend davon. Was sollen wir nun tun? Eine Safari über ein lahmendes, lockiges Tier filmen? Wir lehnen ab. Olaf versucht dem Getier was dranzuschwören, aber er ist nicht in Form. Da bleibt nur die altmodische Methode. Wir verkleiden uns als Büsche und Bäume und überholen das lahme Vieh. Jetzt wird es ernst. Wir holen auf und sehen bereits die Nachhut der Herde. Das Alpha-Tier ist jedoch bereits verschwunden. Das war klar. Es hat sich abgesetzt und jagt auf eigene Faust. Ich will ihm nach, aber Olaf hält mich zurück. »Willi, das hat die Fährte schon gewittert, das ist uns entwischt. Wir könnten ihm nachjagen und es stellen. Oder wir verfolgen die restliche Herde und dokumentieren deren Verhalten.«
Ab und zu verwirrt mich Olaf. Und zwar dann, wenn er so ordentlich spricht. Er kann halt nicht verhehlen, dass er auf einer richtigen Schule war. Ich bin wie gelähmt, so verstehe ich ihn nicht. Zwei, drei Sekunden bin ich wie in Trance. Da holt er mich zurück: »Hey Willi, los, an en Start, Safari ist kurz vorm Höhepunkt, halt dich ran!« Joh! Das ist Olaf. »Du hast Recht. Halt die Kamera drauf! Das muss jetzt alles in den Kasten. Und dann werden wir veröffentlicht. Auf dem Discovery Channel!«
Ich will mit drei Sätzen am Stück sicher nicht angeben, aber ich war auch auf der Schule. Das liegt jedoch lange vor meiner Truckerzeit. Das davor, das waren andere Zeiten. »Willi, träum nicht, es geht los!« Und da passiert es, die Herde setzt an, um seine Beute zu erlegen. Und stürmt an den Bierschrank. Das Alpha-Tier steht bereits am Brett, natürlich raucht es, und hat schon die halbe Flasche auf. Unter lautem Gegröle schiebt sich die Meute heran, wogt an den Tresen. Einstimmig wird auf Bier erkannt. Wenn das keine Aufnahmen sind! Die Herde hat 30 Minuten Zeit, eine Tränke zu finden, möglichst viel zu trinken und dann auch alles retour zu geben. Die Doku über das Latrinenverhalten zeigen wir aber ein anderes Mal.
Im Abspann, sanfte Musik, leichtes Entkorken, leise gemurmelte Trinksprüche. Da kommt durch den Text das lahme Tier, schleppt sich zum Kühlschrank und sieht, dass nur Cola und Wasser übrig sind. Es blökt und trabt davon.
Wir sehen der Herde zu, wie sie gemächlich zum Bus zurückkehrt. Eben waren alle Tiere Leithammel und jetzt geht es wieder in Reih und Glied in den Viehtransporter. Vielleicht könnten Olaf und ich auch noch Cowboys werden. Cowboys für ein Reiseunternehmen. Mit einem Lasso packen wir uns einfach aus den großen Herden ein paar Menschen raus, setzen die in einen Bus und dann ab mit denen, wohin der Bus gerade fährt. Aber nein, das wäre zwar sicherlich ein lockerer Job, allerdings sind wir nun mal schon vollbeschäftigt. Ist ja nicht so, dass wir nur aus Spaß jetzt Urlaub machen würden.
Da fällt mir gerade das letzte Mal ein, als wir uns nach einem Nebenjob umgeschaut haben. Die Geschichte könnte ich ja hier mal zum Besten geben. Einen Moment. Der Busfahrer ist auch wieder eingestiegen, er zählt durch, na ja, er tut so, wer weiß, wie weit der überhaupt zählen kann. Für einen Bus braucht man ja nicht mal einen Schulabschluss. Und schon gar kein feines Studium oder sogar eine Truckerlehre. Ich lasse ihn also weiterzählen, schaue rüber zu Olaf, der weiß als Trucker, was Zählen bedeutet, dann lehne ich mich zurück. Unser nächster Halt wird erst in Österreich sein. Das ist noch eine ganz schöne Strecke. Und ich habe Zeit, davon zu erzählen wie Olaf und ich uns mal um einen Job als Pizza-Flitzer beworben haben.
Pizza am Start!
Olaf ist auf dieses Thema nicht so gut zu sprechen. Es begann eines Abends beim Essenfassen in unserem Lieblingslokal. Hier ist hoffentlich allen klar, welches das ist. Wenn nicht, dann ist das jetzt die letzte Chance, das zu begreifen. Da bin ich deutlich! Wir belieben zu speisen im Walhalla der Feinschmecker, im Paradies der Nachteulen, im Mekka der Truckenden. Das Food-Rockers!
Dieser Tempel der Genüsse ist die Zentrale eines weltweiten Imperiums von fetten Lokalitäten. Auf der ganzen Welt gibt es davon nur noch drei weitere. Aber keiner weiß wo. Rausrücken tun die nämlich nicht mit der Sprache. Überall soll die Speisekarte glücklicherweise gleich sein. Mir läuft allein schon bei dem Gedanken daran das Wasser im Mund zusammen. Mmh… lecker! So, jetzt bin ich im Geiste fast bei Pommes und Currywurst angekommen, Hunger haben wir immer! Aber heute geht es mal nicht um die vielsternigen Köstlichkeiten. Sondern um unseren Gourmet-Tempel selber.
Eines Abends kommen wir dort zum Essen vorgefahren. Und zwar zusammen. Das passiert selten, muss man sagen. Olaf und ich sind harte Arbeiter, nicht häufig daheim und mit dem Truck immer auf Achse. Aber wie es das Schicksal so will, sind wir an diesem Abend beide am Start und haben natürlich mal wieder beide Hunger. Gut, das mit dem Hunger ist kein wirklich großer Zufall. Olaf ist so ziemlich immer hungrig und ich würde auch nie einen leckeren Teller von der Tischkante schubsen. Also brezeln wir uns auf und ziehen los, um zu dinieren wie die Adeligen.
Ich muss zugeben, da mach ich mich dann auch immer extrafein, da wird man schließlich von seinen Kollegen beäugt. Sehen und gesehen werden. Und außerdem haben die Herren Food und Rockers auch ein paar sehr gediegene Bedienungen an ihre Tresen gestellt. Wenn man mir aus dem Tetrapack die Milch in den Kaffee gießt oder mit fettigen Fritteusenfingern den Kaffee umrührt, da klopft selbst einem heftigen Kerl wie mir das Herz wie verrückt. Olaf lässt das eher kalt. Den kann man so leicht nicht becircen. Der hat ein dickes Fell. Und was ihm gar nicht gefällt, ist, wenn jemand zu aufdringlich wird. Da wird schon mal die Grätsche ausgepackt.
Ich mach mich also fein und fesch. Such mir aus dem Schrank (von Olaf) eine riemige Lederjacke, orangebraun, so eine wie von Matthias Reim, dann noch nen feisten Hut auf. Wie ein Cowboy. Und zur Krönung eine blaue Sonnenbrille. Das ist ein Kerl! Aber wie gesagt, da sind wir unter uns. Olaf hat sich ebenso schick herausgeputzt. Weil wir echt was zum Feiern haben, nehmen wir keinen Truck, sondern von Honkenolaf seine feine Limousine. Olaf fährt privat einen Fiat Punto. Schwarz. Modell Gewinner. Hat noch nie Scherereien gemacht. Edle italienische Markenware. Wenn wir es schaffen, dann machen wir irgendwann einen Abstecher zu seiner Geburtsstätte und legen dort einen Kranz nieder. Am Fiat-Denkmal! Die ganze Familie von Olaf wurde von Fiat geprägt. Astreine Karren. Fast wie ein Corsa A. Damit sind Olaf und ich in unserer Jugend rumgefahren, damals, bevor wir Trucker waren.
Wir fahren also an dem besagten Abend aufgetakelt wie die Pfauen in dem Schwarzen Blitz vor. Schon beim Einparken spüren wir die Blicke der anderen Gäste. Olaf parkt direkt auf unserem Premium-Parkplatz. Wir schnippen die Türen auf und entsteigen der Kutsche. Wow! Ist das ein Wunder der Technik! Jetzt in diesem Moment läuft es mir schon wieder schaurig über den Rücken. Wie viele Jahre stand im Guinness-Buch der Rekorde, dass kein einziger Fiat auf der ganzen Welt jemals in eine Werkstatt musste? Siebzehn? Einundzwanzig? Das kann ich Olaf nicht verraten. Dann schnappt der voll über und macht sich goldene Rallye-Streifen an seine Mühle.
Man kann sich wohl leicht vorstellen, welchen Eindruck zwei reudige Kerle wie wir machen. Oberaufgetakelt und dann auch noch mit so einem Auto! Wir lassen den anderen keine Chance. Nicht einmal eine Sekunde, unseren Anblick zu verdauen. Wir kommen zur Tür rein und sehen uns lässig um. Ein kurzer Blick verrät uns, dass wir natürlich auch heute Abend die heftigsten Trucker sind! Das müssen die anderen Gäste schnell einsehen. Endlich verarbeiten deren Gehirne unseren Anblick. Manche essen weiter, den meisten ist aber der Appetit vergangen. Andere gehen. Uns egal. Wir richten die strengen Blicke auf unseren Stammtisch. Schwupp sind die beiden Nasen von dem Tisch verschwunden und wir könnten an unserem Lieblingsplatz Platz nehmen. Aber im Moment wollen wir erst mal an die Theke. Direkt ans Brett. Da ist die Welt nämlich noch in Ordnung, wie mein guter Olaf zu sagen pflegt.
Da machen wir es uns also bequem und Olaf säuselt dann der Bedienung freundlich zu: »Zwei Kaffee, bitte.« Der Kaffee hier ist nämlich der Hammer. Nicht aus Brasilien und nicht aus Mittelamerika, nicht von Eduscho und bestimmt nicht aus Italien (da reicht uns der Fiat). Sondern aus Kambodscha. Im Andenken an den großen Kaffeekocher aber historisch problematischen Herrn Pol Pot wurde der Hauskaffee im Food-Rockers nämlich Kaffee Pot getauft. Manche munkeln, dass der alte Pol selbst die Mischung des Hauses erfunden hat. Was diesen Kaffee auszeichnet, ist nicht das Aroma und es sind nicht die Bohnen. Auch nicht die Zubereitung in der Mikrowelle. Nein, wir lieben einfach die Milch dazu. Nach unserer Bestellung dauert es ein paar Minuten, bis wir das vertraute ›Pling‹ vernehmen, dann bringen sie uns den Kaffee. Olaf trompetet lieblich: »Könnten wir bitte auch viel Milch haben?« Die Bedienung strahlt: »Aber gerne, wartet.« Sie durchquert ihr Revier mit drei anmutigen Schritten, öffnet den Kühlschrank, entnimmt ihm einen Tetrapack voll Milch, haut ihn auf unser Tablett und spricht: »Milch, hier!« Die rituelle Antwort darauf könnt ihr euch wahrscheinlich denken.
Mit dem Tablett machen wir rüber zu unserem Stammtisch, nippen an unserem Heißgetränk und während wir uns reichlich Milch nachschenken und langsam Kaffee Pot an den Start bringen, da kommt uns eine Idee. Und wir sind endlich bei der Geschichte angekommen, die ich erzählen wollte.
Man kann es sich ja denken. Da sitzen wir derben Kerls in der feschen Bude und es ist fast klar, dass wir auf verrückte Ideen kommen. Spätestens als irgend so ein Verlierer, also Nicht-Trucker, die nächste Ausliefertour vom Food-Rocker fahren will, mussten wir ja fast explodieren. Olaf und ich kucken uns an. Zwei Männer, ein Gedanke. Das können wir ja wohl viel besser! Wir werden Pizza-Flitzer! Aber keine normalen. Nee. Sondern ganz heftige. Immer im Duett, den Punto am Start und die Pizza warm ins Haus. Voilà! Das haben wir beschlossen, nur, wer könnte uns den Job geben wollen? Die Gäste? Wohl kaum, die haben ja schon Essen, die brauchen ja nichts mehr geliefert bekommen. (Die wissen aber wahrscheinlich auch nicht, dass wir hoch zu Ross mit dem Punto kommen würden). Die tranigen Bedienungen hinter der Theke haben mit dem Ausschank von Kaffee schon genug zu tun, die sind keine große Hilfe. Also müssen wir uns selber helfen!
Olaf grübelt vor sich hin und auch ich zermartere mir mein Gehirn. Da springt Olaf auf: »Willi, du ahnst es nicht, es ist ja wohl sonnenklar, was wir machen müssen!« Er jubelt und ist ganz außer sich. »Du Angeber, was sollen wir denn tun?«, frag ich ihn ungeduldig. »Ist doch klar, wir geben einfach eine Bewerbung ab!« Ich muss sagen, ab und zu steckt in meinem Kumpel wirklich echt mehr, als man denkt und von außen sieht. Dumm wie Bohnenklee wirkt er auf mich manchmal, und dann kommt wieder so ein Ding. »Alter!«, rufe ich, »Du hast natürlich Recht! Wir brauchen eine reudige, unablehnbare Bewerbung.«
Auf Schreiben haben wir beide nicht so viel Lust, wir haben aber den Punto in der Hinterhand. Und der spricht ja wohl für sich! Also gehen wir auf den Parkplatz, posieren ein bisschen vor dem Punto rum und bekommen so die exzellentesten Fotos der Pizza-Flitzer-Geschichte.
Das Problem ist nur: Haben wir Zeit und Bock, in unserer Freizeit Pizza an kochfaule Nichttrucker auszuliefern? Wohl kaum! Uns reichte die Genugtuung, sicher und ohne weitere Fragen angenommen worden zu sein. Wer will schon Pizzen ausfahren? Ich meine, anstatt sie zu essen? Wir absolut nicht! Also schnappen wir uns lieber den Königsjob, der uns offensichtlich wie auf den Leib geschneidert ist. Mit dem Truck sieht man uns seitdem oft bei den Food-Rockern. Wir sind nämlich die offiziellen Food-Rocker Anlieferer!
Was nun unser Lieblingsessen in dem kulinarischen Tempel ist? Das erzähle ich vielleicht ein anderes Mal, wir sind ja schließlich im Urlaub und ich will mich noch mal ein bisschen im Bus hinpacken.
Die Grenze
Mitten in der Nacht wache ich aus meinem Schlaf auf. Der Bus steht. Alle sind unruhig. Die werden doch wohl nicht schon wieder nüchtern?! Lieber Himmel, bloß das nicht. So lange sie pennen, ist die Reise angenehm. Dann lassen die einen nämlich selber schlafen. Aber als ich mich im Bus umschaue, sehe ich, dass ein paar der Reisenden wirklich schon wach sind. Ich schau zu Olaf rüber und sein Sitz ist leer. Da höre ich ihn weiter vorn im Bus rufen: »Meier!« Ich denke: ›Oh mein Gott, will der die anderen mit Trinkspielen besoffen machen?‹ Wo sind wir eigentlich?
Verschlafen schlurfe ich über den Mittelgang und reibe mir die Augen. »Olaf, was geht denn?« »Ziemlich viel. Ich füll die Nasen ab, dann können wir in Ruhe pennen.« Er lacht, eher freundlich als fies. »Weißt du denn, wo wir sind?«, frage ich ihn. Er meint, wir wären an der Grenze. »Aber wir sind doch schon lange in Bayern«, sage ich. »Das stimmt, aber ich meine natürlich die Grenze zu Österreich, du Depp!« Was soll ich sagen, klar hatte ich Geographie in der Schule, aber Bayern gehört halt nicht so richtig dazu, wenn es die Ösis wollen, dann tauschen wir gerne.
Es knirscht in der Luft, eine Durchsage. »Alle mal aufgepasst! Passkontrolle. Bitte die Ausweise bereithalten.« Der Busfahrer sagt an, was los ist. Wir kehren zu unseren Plätzen zurück und suchen unsere Pässe. Da kommt auch schon der Zöllner. »Die Ausweise, bitte.« Olaf und ich haben natürlich unsere aufgemotzten internationalen Truckerausweise dabei. Mit eingebautem Visum für jedes Land und Vortritt an jeder Grenze. Und natürlich mit Rabattkarte an jeder Tankstelle für unsere Böcke!
Ein Zeitsprung
Hinter der Grenze sitzen Olaf und ich noch kurz am Fenster und winken dem Grenzposten zum Abschied zu. Dann drehen wir uns auf den Plätzen wieder nach vorne. Los geht’s, endlich im Land der Österreicher. Leider fahren wir nicht über Wien. Dort soll es ganz schön sein. Haben wir gehört. Sind aber bedauerlicherweise noch nie da gewesen. Echte Trucker meiden Österreich natürlich, wo sie nur können. Solange man die Würstchen aus deutschen Landen fährt, könnte man aber schon mal einen Abstecher nach Wien riskieren. Mit gutem Gewissen. Schließlich ist Wien dann kein richtiges Ausland. Wir kennen doch wahrlich alle die Macht der Werbung. Wenn im Fernsehen kommt, dass Wien in deutschen Landen liegt, werde ich dem kaum widersprechen. Oder Olaf. »Honkenolaf«, sag ich zu ihm, »wenn im Fernsehen die Fleckenzwerge was aufs Maul kriegen, dann ist das im echten Leben auch so!«
Das Einzige, worauf wir nicht reinfallen, ist die Zigarettenwerbung. Ich bin da völlig immun, bei Olaf bin ich mir nicht immer so sicher. Eine ganze Zeit lang, nachdem Vorwärts Bremen gegen Spüli Den Haag den Amateurpokal im Badminton gewonnen hat, hat er Kippen fast gut gefunden. Ich hab ab und zu mal ein Kippchen mitgeraucht, aber ganz deutlich gesagt, das finde ich uncool! Für Trucker vor allem. Von Rauchen halten wir beide genau gar nichts. Und das könnte dann auch eine Aufgabe auf unserer Reise sein. Die slowenische Jugend vor den Zigaretten zu bewahren. Schließlich sind wir echte Trucker keine faulen Touris und Herumlieger!
Aber eigentlich soll unser Urlaub gerne ein bisschen Tarnung sein. Der Traum steckt uns immer noch in den Knochen und noch sind wir überwältigt von der Macht von Gesten. Auch wenn wir in erster Linie Trucker sind und bleiben, so liegen uns die Gebärden doch im Blut und am Herzen. Wir verstehen zwar nicht ganz genau, wie und warum gerade wir auserkoren wurden, um Gebärdenrichter und Gebärdenpriester zu sein. Trotzdem wollen und werden wir diese Aufgabe doch verantwortungsvoll und auch geschmeidig annehmen!
Mit den Gedanken an Gebärden blicke ich verträumt aus dem Fenster und betrachte die endlose Autobahn. Am Steuer ist das irgendwie geiler. Selbst dösen macht hinter dem Lenkrad mehr Spaß. Und immer die rechte Spur schockt auch nicht wirklich.
Auf der Straße bin ich jederzeit gerne unterwegs, aber vom langweiligen Busfahren habe ich nun langsam die Nase voll. »Olaf!«, rufe ich meinem Kumpel zu. »Lass uns einen Trick machen, ich hab keinen Bock mehr zu warten. Wir machen einen Zeitsprung!« Olaf ist begeistert. Ich zeige an und wir bereiten uns vor. Schön zurück in die Sitze lehnen und die Äuglein zu. Und dann, eins zwei drei vier, sind wir eingeschlafen.
Und wachen hoffentlich bis Ljubljana nicht mehr auf.
Letzte Rast vor Ljubljana
Irgendwann erwache ich aus dem Schlaf. Kurz bin ich verwirrt. Es ruckelt hin und her, das ist sicher nicht mein Schlafzimmer. ›Ach stimmt ja, der Bus‹, kommt es mir langsam wieder zu Bewusstsein. Ich schau zu meinem Kumpel, aber Honkenolaf schläft noch tief und fest. Eigentlich schläft er wie immer. Der Schweiß perlt an seinem Gesicht herunter und sammelt sich im Kragen. Bevor der Kragen voll ist und überläuft, könnte ich eine Durchsage machen, dass Olaf gerade schwitzenderweise leckeren Slibowitz destilliert. Und man könnte ihm mal den Kragen für fünf Mark abschlecken. Wegen mir könnten sie ihm auch übers ganze Gesicht schlecken. Wem es schmeckt...
Von meinen fiesen Gedanken wird mir erstens selber übel und zweitens scheint Olaf bis in seinen Traum zu spüren, dass irgendwas nicht stimmt. Er öffnet seine Augen. »Alles klar?«, frage ich und tätschel ihm das Gesicht. »Du schwitzt wie eine Sau!« Ja, ich weiß, die Höflichkeit habe ich sicher nicht erfunden. »Ich hab geträumt, dass ich Strafrunden drehen muss, bis der Geißbock endlich Nationalspieler wird!« Was für ein Alptraum, da ist der Ironman nichts gegen. »Da kannst du ewig laufen. Dafür spielt der Geißbock einfach nicht im richtigen Verein. Aber renn bitte erst im nächsten Traum weiter und werd jetzt wach, irgendwas ist los.«
Dabei kann ich gar nicht genau sagen, was eigentlich los ist. Seit dem Traum, in dem uns die Gabe der Gebärden in die Hände gelegt wurde, habe ich solch ein Gefühl nicht mehr verspürt. »Es gibt ein Erbeben der Macht«, sagt Olaf. »Außerdem, der Geißbock hat schon einmal fast den Pfosten getroffen!« Ich hab Böcke, ihm eine Schelle zu geben. »Verarschen kann ich mich selber. Selbst wenn ich bis nach Belgrad schlafe, hat der Geißbock seine Schuhe noch nicht mal an.«
»Was ist denn jetzt hier los?« Ich hab keinen Schimmer und kann nur mit den Schultern zucken. Olaf probiert es beim Sitznachbarn vor uns. »Was ist los?«, fragt er übertrieben freundlich. Das scheint sich der Typ vor uns auch zu fragen. Er rafft nicht eine Spur von dem, was wir ihm sagen. Kein Wunder, schließlich haben wir nach ›Dober tek‹ und ›Dober dan‹ und ›Hvalla‹ auch aufgehört zu lernen. Der Nachbar versteht also ungefähr gar nichts. Olaf kuckt mich an. Ich nicke ihm zu. Und er legt mit der Gestensprache los. Seine Arme zucken und die Geste knallt dem Typen in sein Bewusstsein hinein. ›WAS IST LOS?!‹ Sein Körper zuckt ein paar Mal, als sein Geist gegen den Willen des Mannes in der Gebärdensprache antwortet. Olaf raunt mir zu: »Das ist die größte Macht auf Erden. Wer die Gebärden beherrscht, herrscht über die Welt.« Ich seufze. »Ja Olaf, alles klar, aber was hat dir der Kerl jetzt gesagt?« »Dass wir hier halten, um Rast zu machen. Die letzte Rast vor Ljubljana!«
Pornojochen
Wir halten also noch mal. Kein Problem, der Bus ist ja jetzt fast angekommen. Mittlerweile sind wir komplett wach und beginnen, unsere Schuhe anzuziehen. Kleine Pinkelpause. Trotzdem: Ich habe immer noch diese komische Vorahnung. Irgendwas ist anders als sonst. Und das Gefühl wird stärker.
Ich schaue zu Olaf rüber und merke, dass auch er etwas spürt. Was ist denn hier los? Ich überlege kurz, ob ich eine Jacke überziehen soll, aber dann entscheide ich mich dagegen. Schuhe anziehen war schon anstrengend genug. Jetzt wollen wir erst mal raus aus dem Bus. Langsam schieben wir uns in der Schlange dem Ausgang entgegen. Aber scheinbar werden auch die anderen Mitreisenden von Unruhe ergriffen. Was haben die denn bloß?
»Hey Willi, ich glaub die rasten gleich voll aus!« Schlaumeier! »Das merke ich! Aber warum denn nur?« Honkenolaf schlägt sich vor den Kopf. »Natürlich! Hier ist ein Stopp ohne Tanke oder Laden. Die Leute sind sauer, dass sie sich hier nichts kaufen können.« Ah, das kapiere ich. Wir Armen! Und es dauert noch mindestens eine Stunde, bis wir uns am Bahnhof von Ljubljana was Leckeres reinhauen und dann lustig zwischen den Gleisen schlafen können.
Mittlerweile sind auch wir zwei aus dem Bus gekommen. Draußen ist es halbdunkel, wir haben auf einem Rastplatz an der Autobahn angehalten. Olaf und ich kennen die zur Genüge. Schließlich sind wir ja auf der Straße zuhause. Trotzdem ist dieser Rastplatz anders. Und jetzt begreifen wir auch warum. Dort stehen ein paar Typen. Alle in grauen Anzügen oder Kitteln oder so. Von denen geht unser Unbehagen aus. Vorsichtig nähern wir uns der Gruppe. Der erste von ihnen dreht sich zu uns um und lüftet seine Kapuze. BUMM! Da wird uns so einiges klar. Wir haben sie schon länger gespürt, diese Macht, diese Vibration, alles dunkel und trüb.
Vor uns steht der Pornojochen, einer der Spacken des Grau. Wir wussten, dass wir ihn treffen würden, ja, ihm sogar unvermeidbar entgegentreten müssten. Aber wir hätten nicht damit gerechnet, dass es so schnell geschehen würde. Die Spacken des Grau lehnen die Macht der Gebärden ab und versuchen, alle Gebärden der Welt vergessen zu machen. Bei den normalen Menschen gelingt es ihnen immer öfter, doch gibt es einige, die Widerstand leisten. Und wir zwei sind ihre direkten Gegenspieler! Wir wollen die Macht der Gebärden mehren und benutzen ihre unfassbare Kraft.
Der Pornojochen richtet seinen Blick auf uns. Wir schlucken. Er gehört zu den mächtigsten Spacken und sein böser Ruf ist legendär. Wahrscheinlich ist er geschickt worden, um uns direkt abzufangen, bevor wir damit beginnen können, den Balkan zu bekehren. Er spricht nicht, sondern starrt uns aus seinen eisigen Äuglein nur fies an.
Ich bin gefangen von diesem Blick, kann mich nicht bewegen. Das Einzige, was mir gelingt, ist ihn ein wenig näher zu betrachten. Er hat einen Bauch, fiese fettige Pornohaare und eine Gebärdenkette um seinen Hals. Wahrscheinlich steht jeder Stein seiner Kette für eine ausgelöschte Gebärde.
Sein Blick wird intensiver. Ich versuche, mich zu wehren, aber er ist zu stark. Ich kann meine Arme nicht bewegen, kann keine Gebärde formen. Oh Gott, und er wird immer stärker.
»SPACKEN!!!«
Der Pornojochen taumelt zurück!
Ich spüre, wie mein Atem zurückkommt.
Langsam hebe ich meine Augen.
Pornojochen starrt mich immer noch an, aber das Eis ist aus seinem Blick verschwunden. Er sieht überrascht aus, seine Pornomähne klebt an seinem Kopf und allmählich löst sich sein Blick von mir und wandert über mich hinweg.
Da begreife ich. Pornojochen hat mich attackiert, ohne auf meinen Kumpel Olaf zu achten. Und der hat den pornohaften Jochen mit ner fetten Geste wieder in seine Schranken geschworen.
Ich hätte den Pornojochen als einen Großmeister der Spacken eigentlich stärker eingeschätzt. Und während er jetzt seine Augen auf Olaf richtet, verpasse ich ihm eine Breitseite.
»Spackiger Jochen! Retour!«
Er taumelt zurück. Jetzt liegt Angst in seinen Augen. Das Fett tropft aus seinen Haaren. Sein Bäuchlein hüpft. Ich gehe Olaf aus dem Weg, damit er den Jochen mit einer finalen Gebärde vom Planeten haut. Doch Olaf hat nicht mal einen Schwur für die arme Sau übrig. Während ich auf eine mächtige Geste warte, rutscht Olaf dem Pornojochen mit Anlauf und quer über den dunklen Asphalt gegen die Beine. Eine Grätsche! Wahnsinn!
Der Pornofürst geht zu Boden, seine Haxen könnten von der heftigen Grätsche gebrochen sein. Brechen tut er jetzt auch. Wahrscheinlich ist er auch besoffen. Ich springe los, um ihn mit der Handkante auszuschalten, aber mein Kumpel hält mich zurück.
»Lass ihn! Der ist doch gar nicht in unserer Liga. Der muss erst mal eine Nacht ins Abklingbecken.« Und dann hockt sich Olaf zu dem sich am Boden windenden, ekelhaften Jochen. »Beim nächsten Mal, wenn du dich uns in den Weg stellst, dann komm nüchtern und bessser vorbereitet. Das nächste Mal halte ich meinen Kumpel Willi nämlich nicht mehr zurück.« Hier ergreift er demonstrativ meine Handkante. »Und wir wollen einen richtigen Endkampf. Sag deinen Leuten, dass Gebärdenrichter und Gebärdenpriester wieder auf dieser Welt wandeln!« Olaf schaut ihn halb spöttisch an. Ist die andere Hälfte vielleicht Mitleid? »Und jetzt hau ab! Du stinkst!«
Pornojochen rappelt sich vom Boden auf, aus der Dunkelheit kommen zwei Gestalten, stützen ihn und gehen mit ihm fort. Innerhalb weniger Sekunden hat die Düsternis sie verschluckt.
›Scheiße!‹, denke ich, ›was werden jetzt die ganzen Mitfahrenden zu uns sagen?‹ Aber als wir uns umdrehen, sehe ich, dass keiner auf uns achtet. Ist denn wirklich das passiert, was ich gerade vor mir gesehen habe? Vielleicht habe ich ja Halluzinationen? Aber dann sehe ich Olaf ins Gesicht und weiß, dass wir den Pornojochen und seine Spacken wahrhaftig und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal getroffen haben.
»Warum haben wir den Typen nicht ausgelöscht?«, frage ich Olaf. »Einer weniger gegen uns wäre gut gewesen!« »Das stimmt«, sagt Olaf, »aber so haben wir uns direkt den nötigen Respekt verschafft. Außerdem will ich den Kerl in einem richtigen Kampf ausschalten. Der war doch heute total dicht.« Ich nicke, dieser Sieg wäre zwar verdient, aber irgendwie auch unbefriedigend gewesen.
Endlich in Ljubljana
Den Rest des Weges nach Ljubljana legen wir schweigend zurück.
Es ist Nacht und die meisten Reisenden schlafen oder dösen in ihren Sitzen. Olaf und ich haben es uns auf einem Zweiersitz bequem gemacht. Leider ist der Luxus der ersten Stunden vergangen. Wir können uns nicht weiter über mehrere Reihen ausbreiten. An jeder Haltestelle sind zunehmend Leute eingestiegen. Und jetzt reisen wir wie die Sardinen, eingequetscht. Gott sei Dank pennt Olaf nicht und schwitzt dabei. Aber eigentlich ist mir nach Witzen gerade nicht zumute. Wir hatten uns für diese Reise Erholung erhofft und nicht damit gerechnet, dass wir schon vor der Ankunft mit unserer Gabe der Gesten konfrontiert werden würden. Ich begreife langsam, dass wir eine große Verantwortung übernommen haben und dass nicht alle auf unserer Seite stehen werden.
Ich schaue rüber zu Olaf. Er ist wach, er schaut vor sich hin, mal aus dem Fenster, dann wieder auf seine Beine. Irgendetwas beschäftigt ihn. Ich beschließe, dass es besser ist, meinen Kumpel jetzt in Ruhe zu lassen und ihn später darauf anzusprechen. Die letzten Kilometer schließe ich die Augen.
Es ist kalt in Ljubljana, als wir aus dem Bus steigen. Ungefähr drei Uhr in der Nacht und die ganze Stadt scheint tief zu schlafen. Mit uns bleiben nur wenige Leute in Slowenien, die meisten wollen weiter nach Kroatien. Wir steigen aus, laden unser Gepäck ab und der Bus verschwindet.
Wir haben Glück: Es fängt auch noch an zu regnen. Wir suchen Unterschlupf. Wo können wir hingehen? Der Regen wird stärker. Dort ist eine alte Bushaltestelle. Vielleicht stellen wir uns da unter? Wie sollen wir aber die lange Zeit bis zum Morgengrauen überstehen? Der Bahnhof ist zu unserem Unmut verschlossen, dort schläft es sich bekanntlich immer gut. Wir haben es bis zur Haltestelle geschafft. Leider sind wir nicht die Einzigen. Auch der Regen hat sich wohl gedacht, dass er hier mit Freude reinregnet, wenn das Dach schon kaputt ist. Wir sind müde, langsam werden wir ungehalten. Und dazu auch noch der Hunger. Wir frieren und würden uns gern setzen, vielleicht sogar hinlegen. Aber das ist hier sicher nicht möglich.
Da sehen wir hinter dem Bahnhof ein Licht leuchten. Ist da womöglich was offen? Wir nicken uns zu, schultern die Rucksäcke und machen uns auf den Weg. Wir hoffen und wir beten. Natürlich haben wir nicht mit dem Food-Rockers gerechnet, aber hoffnungsvoll nähern wir uns der Tür und es scheint wahrhaftig eine Art Imbissbude zu sein.
Bei den mächtigen Gebärden! Wir sind gerettet. Schon spüre ich meinen Magen knurren. Wir postieren uns neben der Tür und sehen uns kurz an. Seit dem Halt haben wir beide kein Wort mehr gesagt. »Herein!«, gebieten wir uns gegenseitig, drücken die Klinke und ziehen an der Tür.
Ein nächtlicher Schmaus
Die Tür öffnet sich und uns strömt warme Luft entgegen. Ich lasse Olaf vor und betrete den Laden hinter ihm. Ein bisschen vorsichtig bin ich schon. Wer weiß, was die Einheimischen um diese Zeit hier so veranstalten. Drinnen ist es hell und warm. Und außerdem trocken. Das merke ich, als sich die Tür hinter mir schließt. Olaf und ich werfen Blicke in die Runde. Alles ruhig, aber auch etwas beliebig. Es wirkt ein bisschen wie die wenig schmackhafte internationale Imbisskette mit dem fürchterlichen Clown. Fast habe ich Lust, gleich wieder raus zu gehen. Ich schaue mich sicherheitshalber noch mal um, aber es scheint wirklich keine für die Ex-Kommunisten angepasste Version der bekannten Fresskette zu sein.
Nachdem uns das essende Volk durch ängstliche Blicke genügend Respekt gezollt hat, streben wir in die Ecke des Lokals und besetzen den letzten freien Tisch. Unsere Rucksäcke stellen wir ab und schälen uns aus den nassen Klamotten. Anschließend machen wir es uns bequem. Schließlich sind es noch gut vier oder fünf Stunden bis zum Frühstück. Erst dann können der Urlaub und unsere Mission so richtig beginnen. Bis dahin ruhen wir uns zunächst mal gediegen aus. Wir haben Hunger und Durst und als Trucker Gott sei Dank keine Geldsorgen.
Bevor wir uns aus dem Menü das Beste für eine nasse Nacht aussuchen, treibt es mich erst einmal zur Toilette. Ich verlasse meinen Truckerkumpel und suche das Klo. Das ist eigentlich nicht schwer zu finden. Es gibt nämlich nur eine Tür. Dort komme ich rein und da steht schon ein Typ am einzigen Urinal, das hier hängt. Man glaubt es nicht! Ich schaue ihn zwei, drei Sekunden richtig mies an und unterstreiche meine unfreundliche Aufforderung noch mit einer derben Geste. Fast tut es mir leid, eigentlich bin ich gar nicht so. Aber wenn ich müde bin und dringend muss, dann werde ich echt fies. Er torkelt unter meinem Blick schnell weg. Leider ist er damit noch nicht ganz verschwunden. Als ich fertig bin, steht der Bengel am Waschbecken und ich soll wohl schon wieder warten. Nun wird es mir zu bunt. Ein weiteres Mal anstehen werde ich nicht! Ich gehe auf den Typen zu und mit einem Bodycheck schicke ich ihn zu Boden. Nachdem das geklärt ist, kann ich mir endlich die Hände waschen.
Olaf lümmelt am Tisch rum, er kann’s natürlich nicht abwarten, bis es was zu essen gibt. »Eh Willi, wo warst du denn so lange?« Er quengelt wie ein Kleinkind. »Du warst ja ewig weg! Ich warte und warte und warte, dann kommt irgend so ein Typ aus dem Klo gehumpelt, der muss sich wohl böse den Kopf angeschlagen haben. Hast du den getroffen?« »Sogar volle Kanone! Muss wohl betrunken gewesen sein.« Ich bin auch von Olaf angenervt. »Du sitzt hier rum, quengelst, dass du Hunger hast und meckerst deinen guten Willi an…«
Ich nehme mich zurück, vielleicht bin ich einfach zu müde oder zu aufgedreht. Wahrscheinlich muss ich noch verarbeiten, dass wir Pornojochen eben nicht kaltgemacht haben. Außerdem, wenn der honkige Olaf solchen Hunger hat, dann soll er doch bitte was zu Essen bestellen! Oder muss ich ihm da aussuchen helfen? Ist ja auch nicht so schwer. Alles halt! Olaf hat nämlich wirklich einen Parasiten als Haustier: einen süßen Bandwurm. Der hat eigentlich keinen Namen, man kann ihn nennen, wie man möchte. Ich will ihm, also Olaf, nicht dem Bandwurm, gerade an den Kragen, da kommen gleich drei Bedienungen und bringen auf vielen Tellern allerhand östische Leckereien.
Der Gute, ich nehme alles zurück, er hat ja doch schon bestellt. Bester Olaf! Aber was hat er denn da für Mengen geholt?! Ich frage ihn: »Sag mal, ist Brunhilde aufgewacht?« »Scheint so! Halt keine Reden und setz dich hin. Wir essen. Und wenn du nicht willst, dann speisen wir halt. Wir.« Olaf, das muss man wissen, ist nur beim Essen adelig. Da kann man ihn ruhig in der Mehrzahl ansprechen, er speist nämlich wie eine mittlere Großfamilie. Außerdem mag er adeliges Essen. Und zwar nicht nur vom Feinsten oder von gestern. Sondern auch von allen Tellern und von allen Leuten am Tisch. Beim Essen macht Olaf keiner was vor. Das muss man ihm lassen. ›Der kann was am Buffet‹, wird in seiner Anwesenheit nicht selten geraunt. Und schnell ist er auch. Deswegen überlege ich kurz, ob ich weiter sauer rumstehen und auf irgendeinen Gottverlassenen warten soll, der es wagt, mich anzurempeln. Aber mit jeder Minute, ja, mit jeder Sekunde, die ich ihn mit dem Essen alleine am Tisch lasse, schmelzen die Berge auf unseren Tellern zusammen. Da will ich nicht fehlen. Schwupps sitz ich am Tisch, esse und bin wieder zufrieden.
Die nächsten zwanzig Minuten dinieren wir schweigend.
Ab und zu hört man das Knacken eines Knochens. Truckerzähne.
Die Geschichte vom Pornojochen
Gleich mal vorweg, ich habe in der Überschrift geschummelt. Jetzt kommt nämlich nicht die Geschichte vom Pornojochen, sondern von einem Jochen, der ihm ähnlich sieht. Pornojochens Geschichte können wir erst später erzählen – nämlich dann, wenn wir sie selber wissen! Wollte man ehrlich sein, dann folgt jetzt noch nicht mal die Geschichte von dem Typen, der dem Pornojochen ähnlich sieht. Und wenn man ganz genau hinsieht, dann kommt für lange Zeit erst mal gar nichts von uns.
Wenn wir essen, sind wir zufrieden, und wenn wir genug bekommen haben, dann sitzen und dösen wir oft einfach vor uns hin. Und gerade heute Nacht haben wir nichts Großes mehr vor. Also rücken wir unsere vollen Bäuche auf den Stühlen zurecht, die wirklich nicht besonders bequem sind. Ich weiß nicht, ob zahlreiche Trucker das hier lesen, wahrscheinlich nicht so sehr viele, die anderen können es ja auch nicht besser wissen. Aber wenn man glaubt, dass so ein Fressbudenstuhl sonderlich bequem ist, dann hat man sich echt voll geschnitten.
In meinem Truck zum Beispiel (ich verrate aber nicht, wie meine Maschine heißt), da sind die Sitze bequem wie zwei Sofas. Sonst würd ich’s auch wohl kaum 36 Stunden und länger am Stück auf dem Bock aushalten. Diese Neumodischen, die machen immer Rast und wollen dann aussteigen, weil deren Brummer so furchtbar unbequem sind. Aber wir, der Olaf und ich, als echte, und ich meine wirklich echte Trucker, wir haben unsere Böcke aufgerüstet und gemütlich gemacht.
Die Weicheierbären fühlen sich heute dann auch noch bestätigt, man darf ja vom Gesetz her nicht mehr als soundso viele Stunden am Stück fahren. Das kommt den Würsten entgegen, dann haben sie eher Feierabend und können immer wieder Pausen machen. Wir, das kann ich sicher sagen, könnten die ganze Zeit und durchgehend fahren. Deswegen brettern wir auch so gern ins Ausland, da stört es keinen, wie lange einer auf dem Bock sitzt. Ich hab euch ja schon erzählt, dass mein Kumpel Olaf sich eine Bockwurstschleuder auf den Beifahrersitz gebaut hat. Der braucht jetzt noch weniger Pausen. Und in Deutschland, da haben wir die Fahrtenschreiber, oder wie die Dinger heißen, sowieso schon angezapft, die zeigen an, was wir wollen. Also Bundesligaergebnisse zum Beispiel.
Aber das wollte ich ja eigentlich alles gar nicht erzählen. Wie kam ich noch drauf? Richtig, unsere Verdauung. Olaf und ich haben es uns also mit vollen Bäuchen bequem gemacht und das Essen und die Nacht passieren lassen. Ich kann mich nicht genau erinnern, aber ich glaube fast, dass wir uns mehr als zwei Stunden lang überhaupt nicht bewegt haben. Wir schlafen dann auch nicht, wir dösen. Das heißt, wir lassen eine Gehirnhälfte schlafen und die andere bleibt wach.
Draußen regnet es weiter vor sich hin, aber Donner und Blitze haben schon nachgelassen und es klart langsam auf. Die anderen Gäste haben unseren Fresstempel bereits verlassen, aber anscheinend lassen sie ihre Bude durchgehend für uns offen. Das beruhigt mich, denn Olaf kann es nicht leiden, wenn er sich mit vollem Bauch aufregen muss. Und hätten die uns jetzt auf die Straße schmeißen wollen, morgens um fünf im Regen von Ljubljana, dann wäre er sicher ausgeflippt. Und ich kann bezeugen: Nass und müde und unzufrieden ist er nur schwer zu beruhigen!
Ich bin dagegen ein ziemlich entspannter Typ, was ich da eben auf dem Pott gemacht habe, passiert echt nur, wenn ich dringend muss oder wenn ich Hunger habe. Ansonsten bin ich recht gutartig. Während wir also so dahinschlummern und auf den Tag warten, da frag ich mich, ob und wann wir unsere Rechnung eigentlich beglichen haben. »Honkenolaf, sag mal, hast du unseren Ritt über die Speisekarte überhaupt bezahlt?« Halb schlafend, den Kopf unter seinem dümmlichen blauen Hut versteckt, braucht er eine Weile, bis er ein Wort hervorbringt. »Jo, natürlich, ich habe es erst mit ner fetten Fünfzigmark-Geste versucht, aber das haben die nicht gerafft. War aber zu müde, um mich aufzuregen. Also hab ich die Kohle rausgerückt.«
Er rülpst herzhaft. »War doch ein feines Mahl, wenn auch kleine Portionen, oder was meinst du, Willi?« Ich resigniere. Welche Portionen für ihn wohl jemals groß genug wären? Ein ganzes Wildschwein am Spieß? Vorspeise! Zehn Cheeseburger? Nur wenn er alle auf einmal in den Mund nehmen darf! Die Trauben in den letzten Sekunden des alten Jahres an Silvester? Mit einem Biss hat er die weggezogen! Mit Stiel und Kernen. Da fällt mir ein, er könnte dieses spanische Spiel auch mit zehn feinen Bockwürsten machen. Kurz lasse ich mich von dieser Phantasie verführen und produziere erhabene Geräusche.
Mit weiteren Lauten der Verdauung holt Olaf mich ins profane Diesseits zurück. Ich seufze und schaue auf die Uhr. »Was meinst du denn, du Honken, wie lange wollen wir noch hier abhängen?«, frage ich ihn. Er hat mich durchschaut. »Ist dir etwa langweilig, Willi?«, macht er sich lustig. Und er hat Recht, ja, mir ist langweilig. Draußen wird es immer heller und eigentlich könnten wir was unternehmen. Zur Not auf einen Rastplatz gehen und den Slowenen ihre Laster abchecken. Aber auch Olaf ist wach geworden, er schiebt sich den Hut aus dem Gesicht und schaut mich an. »Willi, schmier dir mal die Mayo von der Wange, wir gehen unter die Leute!« Jawoll, auf meiner Backe ist noch Mayonnaise, für schlechte Zeiten, also für jetzt, ich leck sie mir ab und dann machen wir uns beide zum Aufbruch bereit.
Trotzdem dauert es noch eine gute Stunde, bis wir uns aufraffen, die Ausrüstung gepackt haben und dann wirklich in der Lage sind, das Lokal zu verlassen. Kein Food-Rocker, das natürlich nicht, aber für den Auftakt unserer Reise nicht schlecht. Die Bedienungen schauen uns verschreckt nach und wir sehen noch, wie sie mit Schüppe und Besen losstürmen, um unsere Plätze von den Resten des üppigen Mahls zu reinigen.
Nur um das klarzustellen, keine Essensreste, sondern ausschließlich das verfluchte Einwegverpackungsmaterial. Das können Olaf und ich überhaupt nicht ab. Was wir mögen, sind richtige Teller. Oder aber Essgeschirr zum Mitessen. Da ist es Olaf schon passiert, dass er seine Gabel und Messer längst aufhatte, bevor unsere Bestellung kam, dann musste er mit den Händen essen. Und ganz kurz war er davor, sich auch noch in seine eigenen Finger zu beißen.
Am Bahnhof I
Direkt gegenüber von der Haltestelle, wo uns heute Nacht der Bus rausgekickt hatte, finden wir den Bahnhof dieser schönen Stadt. Für Züge haben Olaf und ich irgendwie ein Faible, ich kann nicht mal genau sagen, warum.
»Olaf, sag mal, weshalb finden wir eigentlich Züge so riemig?«, frage ich meinen Kumpel, weil ich echt nicht mehr drauf komme. Er kuckt mich sparsam an und wiegt seinen Kopf hin und her. »Ja sag mal, bist du denn bescheuert geworden?« Olaf ist direkt, der muss nicht ewig um den heißen Brei reden. »Ist doch klar, weil die Zugmenschen auch so lange auf dem Bock stehen wie wir. Zumindest ab und zu. Das ist zwar nicht wirklich dasselbe, aber es könnten, sagen wir, Cousinen von uns sein.« Ah! »Klar, war nur ein Test!«, versuche ich, mich zu retten. Aber direkt fange ich mir eine. »Und außerdem, Züge finde ich gar nicht so riemig.« Er schaut mich wieder schief an. »Und du auch nicht!« Noch mal ›Ah!‹
Dann weiß ich Bescheid. Züge schätzen wir gar nicht besonders. Nur die Zugführenden. Während mich Olaf immer noch kritisch ansieht und sicher denkt, ich wäre der dümmste Trucker aller Autobahnen, habe ich mir schon gemerkt, dass er zwei seiner Aussagesätze in Folge mit ›und‹ begonnen hat. Die Grammatikwurst. Innerlich lache ich mir ins Fäustchen, aber ich lasse mir nichts anmerken. Langsam beruhigt sich Olaf wieder. Er nimmt seinen durchdringenden Blick von mir und wir gehen weiter zum Bahnhof.
Eigentlich wissen wir gar nicht genau, wo wir hin wollen. Wir müssen der Spur der Gebärden folgen und sollen einen weisen Gestenmann treffen, von dem wir eine seltene Gebärde erhalten werden. Ansonsten wissen wir nicht viel über unseren ersten Auftrag. »Weißt du was, Olaf, ich mag so geheimnisvolle Träume nicht, da weiß man nie genau, was man machen soll.« Dieses Mal braust Olaf nicht auf, er pflichtet mir sogar bei. »Ich würde eigentlich auch gern wissen, wohin es weitergeht!« Nicht, dass man jetzt denkt, dass wir ein bisschen hilflos wären, im Gegenteil, es ist nur früh und wir wollen unsere Gehirnhälften weiter ausruhen lassen. Außerdem wissen wir ja zumindest, wie es weitergeht: Wir gehen zum Bahnhof und wenn wir die Fahrpläne sehen, dann finden wir schon heraus, wohin die Reise geht. Die Kraft der Gesten verleiht uns Intuition!
Der Bahnhof selber ist nicht so schick, was soll‘s, er ist ja nicht unserer, und wir gehen weiter. An einem Pfeiler finden wir einen Fahrplan. Olaf und ich schauen wie gebannt auf die Bezeichnungen der Orte – da schießt auf einmal der Finger vom Honkenolaf los und spießt sich in einen Namen. Velenje steht da. »Und was soll dort sein?«, frage ich ihn. Er zischt mich an. »Das ist doch nicht irgendein Velenje, sondern das Velenje von Tito, Tito Velenje nämlich!« Ah, schon zum dritten Mal an diesem Morgen hat Olaf Recht. Mit dem Tito muss es was auf sich haben. »Vielleicht ist er es, der uns die Geste beibringen soll!« Das leuchtet mir ein. Er lebt zwar nicht mehr, aber das tun ja viele. Nicht mehr leben, meine ich. Wir Trucker wissen jedoch Bescheid. Tito, der ist da, wo man ihn am wenigsten vermutet. In Tito Velenje eben. Nicht blöd der Mann. Bin Laden hat es ihm später nachgemacht. Versteckt sich im Laden, da würde ihn niemand suchen. Auch keiner von den Dummen. Jedoch derbe unsympathisch. Aber vielleicht lebt er ja auch schon nicht mehr, genauso wenig wie so viele andere.
Nach Velenje geht die Reise also, wir ziehen rüber zum Schalter und lösen zwei Tickets. Alles kein Problem, tolles Land, sogar unseren Truckerausweis erkennen sie an. Wahrscheinlich finden die Zugmenschen uns Trucker auch riemig! Nur eine kleine Unannehmlichkeit gibt es. Der nächste Zug fährt erst in fünf Stunden. Ja toll, da können wir uns weiter die Zeit vertreiben. Aber dafür werden wir dann genau passend zum Mittagessen in Velenje ankommen.
Das Spiel der Trucker
Was sollen wir also machen, all die langen Stunden, bis uns die Kollegen von der slowenischen Bahn endlich nach Velenje bringen wollen? Kurz überlegen wir, einfach per Anhalter zu fahren, die slowenischen Trucker werden uns schon als Kumpels und Kollegen erkennen. Trucker grüßen und verstehen sich! Aber dann haben wir uns ausgemalt, wie wir bei denen auf den Beifahrersitzen rumlümmeln. Ich kenn das. Da sitzt du dort und die fahren so, wie sie wollen, und schon nach fünf Minuten willst du den Amateurtruckern lieber selber ins Steuer greifen. Das gibt immer nur Ärger. Und dann kann man sich ja vorstellen, alle paar Kilometer Pause und die andauernde Anbetung vom Fahrtenschreiber, nein danke, außerdem sind wir ja im Urlaub!
Nach kurzer Beratung mit Olaf und der Uhr beschließen wir, uns nochmal in der Stadt umzusehen. Wir wollen herauszufinden, ob hier im Osten das Spiel der Trucker zu bekommen ist. Wahrscheinlich weiß jetzt erst mal wieder niemand, was ich meine, das Spiel der Trucker ist nicht überall bekannt. Und wer schon mal davon gehört hat, weiß oft nicht, worum es geht, geschweige denn, wie man es spielt.
Manche behaupten, was selbstredend Blödsinn ist, dass es das Spiel der Trucker schon seit über tausend Jahren gibt. Unter anderem Namen und natürlich ohne Trucks. So ein Scheiß, dann würde es ja wohl heute kaum ›Spiel der Trucker‹ heißen, oder? Olaf, das muss man zugeben, spielt das Spiel ziemlich gut. Er ist einer der Besten, die ich kenne. Ja, mein Honkenolaf, der hat echt was auf dem Kasten. Einer der wenigen, die ihn schlagen können, bin natürlich ich. Wir liefern uns oft böse und harte Gefechte, aber zuletzt konnte ich ihn wieder öfter in seine Schranken weisen. Beschreiben kann man das Spiel schlecht, vielleicht lasse ich später mal über meine Schulter schauen. Das heißt, falls wir hier in Slowenien so ein Meisterwerk finden können. Ich glaub aber schon, denn Trucker gibt es überall!
Wir ziehen also durch die Innenstadt und sehen uns kurz die großen Plätze an. Ganz nett, aber nicht das, was Trucker sich vom Leben wünschen. Da gefällt mir persönlich der neue Rastplatz an der A45 besser. Also verplempern wir nicht viel Zeit und nehmen Kurs auf einen großen Supermarkt. Und wie das Schicksal so spielt, sofort finden wir, was wir suchen. Das Spiel der Trucker! Zwar nicht die Ausgabe für echte und wirkliche Trucker, aber ganz in Ordnung, halt aus Plastik. Eher was für Leute mit Bullis, wie Olaf treffend bemerkt. Wir jubeln und klatschen ab. Ab zur Kasse und dann mit unserem Neuerwerb zurück zum Bahnhof.
Dort gibt es natürlich keine Sitze oder gar Tische, und im Stehen spielen wir ungern. Also, auch weil das Wetter bei den Slowenen immer schön sonnig ist, hauen wir uns draußen zwischen die Gleise und legen los. Olaf ist heiß wie Frittenfett, er will Revanche, also hat er das Brett aufgebaut, bevor ich wirklich Luft holen kann. Schon steht alles bereit. Olaf fängt an, er hat sich selber die Dreiachser gegeben. Wie immer, meiner Meinung nach bekloppt, zieht er den Gabelstapler zuerst. Da kann ich kontern. Ich werde einen Sattelschlepper opfern. So geht’s hin und her, und während wir spielen, baut sich immer mehr Publikum um uns auf. Als Olaf mir meinen Laster nimmt, da jubelt ihm eine ganze Horde Schulkinder zu. Ja, besten Dank ihr kleinen Biester, die wollen sich wohl bei Olaf einschleimen.
Ich bin sauer, zieh mir meinen Assihut tief ins Gesicht und dreh ein paar Runden auf dem Bahnhof. Obwohl Olaf wirklich einen reudigen Zug hingelegt hat, mir da mit dem Tempolimit den Sattelschlepper zu nehmen, werde ich das Gefühl nicht los, dass die Kinder wegen was anderem grölen. Ich kneife ein Auge zu und beobachte meinen Kumpel Olaf genau. Der sieht auch echt zum Schießen aus mit diesem Hut. Aber von den Blagen nehme ich mir nichts an, nicht viel auf jeden Fall, trotzdem verliere ich die erste Runde. Bin ich froh, als endlich unser Zug fährt. Drinnen machen wir, was Trucker immer tun, wenn sie nichts zu essen haben und müde sind: Wir schlafen.
Velenje