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BÖSE SEELE
Ein Mann verblutet auf einem Feld vor den Toren Berlins. Er stirbt, weil ihm sein Mörder das Geschlechtsteil abgeschnitten und in den Rachen geschoben hat. Er wird nicht die einzige Leiche bleiben. Die Spuren führen zu Kommissar Martyn Becker, einem erfahrenen Ermittler, der sich selbst seinem Vorgesetzten in den Weg stellt, um einen Fall zu lösen. Seine Kollegin Milla Rostow ist davon überzeugt, dass Martyn etwas vor ihr verbirgt. Hat er etwas mit den Toten zu tun? Ist es Zufall, dass sein Vater – ein verurteilter Serienmörder – die Methoden des Täters zu kennen scheint? Trotz ihrer Zweifel steht Milla ihm loyal zur Seite. Doch dann taucht eine mysteriöse Frau auf, die alles auf den Kopf stellt.
Wer ist diese mysteriöse Frau? Was hat Martyn mit all dem zu tun? Und können er und Milla das tödliche Spiel beenden?
LÜGENTOD
Vor elf Jahren kehrte er seiner Heimat den Rücken und lebt heute als erfolgreicher Anwalt in Manhattan.
Der Tod seines Freundes aus Kindertagen führt ihn zurück vor die Tore Berlins. Hugo trifft nicht nur seine Jugendliebe Becca wieder, sondern wird mit jedem Schritt durch die auf den ersten Blick idyllischen Gassen der Kleinstadt Karlsdorf an seine früheren Sünden erinnert. Es gibt Gründe, warum er nie hatte zurückkehren wollen. Schlimme Dinge sind damals passiert und Hugo ist keinesfalls unschuldig. Die Last der Vergangenheit liegt schwer auf seinen Schultern.
Eine Schuld, die ihn bis heute verfolgt. Und die Frage ist, ob sie jemals beglichen werden kann.
Du kannst deiner Vergangenheit nicht entkommen.
TIEF UNTERM GRAB
Auf der irischen Halbinsel Beara legt der Regen die Leiche eines Mannes frei. Was seine Bergung offenbart, ist an Grausamkeit nicht zu überbieten: Zahlreiche Säuglinge wurden dort vor Jahren verscharrt. Die irische Polizei steht vor einem Rätsel.
Die Familie des Toten hüllt sich in geheimnisvolles Schweigen. Nur gegenüber der Berliner Anwältin Anna Schwarz wollen sie aussagen. Doch Anna hat sich geschworen, nie wieder einen Fuß auf die grüne Insel zu setzen.
Kann Anna bei der Lösung des Rätsels um den Toten helfen?
Und kann sie sich den Schatten ihrer eigenen Vergangenheit stellen, die die grüne Insel für sie bereithält?
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Ariana Lambert
Die Autorin:
Ariana Lambert hängte ihre Robe nach zwölf Jahren als Strafverteidigerin an den Nagel. Dennoch bleibt sie dem Verbrechen treu und schreibt heute Krimis und Thriller. Sie lebt in ihrer Lieblingsstadt Dublin und im Sommer in ihrer Heimat im Spreewald.
Ariana Lambert
Sammelband
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Oktober 2023
© Empire-Verlag 2023 Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Nicole Siemer, Marion Mergen – www.korrekt-getippt.de
Korrektorat: Rebekka Maria Peckary – www.federnote.at, Korrektorat: Jasmin Schulte – https://zeilenstark.de/
Covergestaltung: Chris Gilcher für Buchcoverdesign.de
https://buchcoverdesign.de
Illustrationen Band 1: Adobe Stock ID 25821026, Adobe Stock ID 107952422, Adobe Stock ID 133113092, Adobe Stock ID 121362074
Texturen Designed by Freepik.com
Illustrationen Band 2: Adobe Stock ID 256305726, Adobe Stock ID 256714157, Adobe Stock ID 300871085 und freepik.com und freepik.com
Illustrationen Band 3: Adobe Stock ID 443480882, Adobe Stock ID 549102946, Adobe Stock ID 140465072 und freepik.com
Ariana Lambert
Böse Seele
Thriler
Das Buch:
»Die Hölle, das sind die anderen.«
Jean-Paul Sartre
Ein Mann verblutet auf einem Feld vor den Toren Berlins. Er stirbt, weil ihm sein Mörder das Geschlechtsteil abgeschnitten und in den Rachen geschoben hat.
Er wird nicht die einzige Leiche bleiben.
Die Spuren führen zu Kommissar Martyn Becker, einem erfahrenen Ermittler, der sich selbst seinem Vorgesetzten in den Weg stellt, um einen Fall zu lösen.
Seine Kollegin Milla Rostow ist davon überzeugt, dass Martyn etwas vor ihr verbirgt. Hat er etwas mit den Toten zu tun? Ist es Zufall, dass sein Vater – ein verurteilter Serienmörder – die Methoden des Täters zu kennen scheint?
Trotz ihrer Zweifel steht Milla ihm zur Seite. Doch dann taucht eine mysteriöse Frau auf, die alles auf den Kopf stellt.
Wer ist diese mysteriöse Frau? Was hat Martyn mit all dem zu tun? Und können er und Milla das tödliche Spiel beenden?
Für meine Mama
Die beiden Liebenden hielten sich an den Händen und schauten mit Genugtuung auf den vor ihnen auf dem Boden sitzenden Mann, dessen Blut sich auf den Fliesen verteilte.
Er war tot.
Ganz sicher.
Bereits vor einigen Minuten war der zuvor munter sprudelnde Strom seines dunkelroten Lebenselixiers versiegt. Und doch standen sie immer noch bewegungslos in der großen Küche und hatten kein Wort gesprochen. Dort, wo einmal seine Genitalien gewesen waren, klaffte eine großflächige, fleischige Wunde. Ebenso an seinem Hals, seinen Handgelenken und im Gesicht. Nichts erinnerte daran, dass er ein Mann, dass er mal ein Mensch gewesen war. Sie löste sich von ihrem Liebhaber und schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln.
»Zufrieden?«, fragte er.
Sie nickte.
»Er hat bekommen, was er verdient hat.«
»Ich weiß«, bestätigte sie. »Dennoch. Irgendwie … habe ich es mir anders vorgestellt.«
»Was? Was hast du dir anders vorgestellt?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht. Das Gefühl. Die Befriedigung, wenn er endlich tot ist. Wenn er mir nichts mehr tun kann. Wenn er mich nicht mehr anfassen kann. Ich dachte … ich dachte, wenn ich ihm seinen dreckigen Schwanz abschneide, wenn ich das Messer durch seine Eier führe … ich dachte, es wäre befriedigender.«
»Er kann dir nichts mehr tun. Du selbst hast dafür gesorgt. Du bist frei. Das ist es doch, was zählt.«
Sie nickte erneut, ohne den Blick von dem Toten zu wenden. »Natürlich. Und trotzdem hätte ich etwas anderes erwartet.«
»Und was genau hast du erwartet?« Er sprach liebevoll, nahm wieder ihre Hand und führte sie an seine Lippen. Es störte ihn nicht, dass ihre Finger über und über mit Blut besudelt waren. »Es war kein schöner Tod. Zu verbluten, wenn einem das Leben aus dem Sack rinnt, während man keine Luft mehr bekommt, weil einem der eigene Schwanz in der Fresse steckt …« Er lachte. »Ich meine … ich meine, das ist schon echt übel.«
Sie ging nicht darauf ein, auch nicht auf sein Gekicher, das einem belustigten Glucksen gewichen war. »Du verstehst es nicht, oder?«
»Entschuldige. Nein. Offensichtlich tue ich das nicht. Wo liegt das Problem, Blanka? Er ist tot, er hat bezahlt. Für alles. Einen hohen Preis. Er hat gelitten, er ist gestorben. Er ist langsam gestorben und er hat erkannt, dass du es warst, die ihm das Leben genommen hat. Was willst du mehr?«
»Ich. Weiß. Es. Nicht.« Sie war laut geworden. »Keine Ahnung. Ich fühle … nichts. Keine Glücksgefühle. Oder Erleichterung. Irgendetwas in dieser Art hätte ich erwartet. Aber … da ist … nichts.«
Fassungslos schaute er sie an. Ihre Arme hingen schlaff herab. Einige schwarze Strähnen hatten sich aus ihrem obligatorischen Pferdeschwanz gelöst. Ihre großen, braunen Augen lagen tief in den Höhlen, dunkle Ränder schimmerten darunter. Sie sah erschöpft aus. Die letzten Stunden hatten ihr sämtliche Energien geraubt.
Ihrem Stiefvater das Rohypnol unterzujubeln, hatte kein Problem dargestellt. Sie hatten es gut geplant. Bereits nach der halben Flasche Bier war er in seinem Sessel fest eingeschlafen. Als er kurze Zeit später erwacht war und festgestellt hatte, dass er bewegungsunfähig und gefesselt war, hatten sie mit ihrem Werk begonnen.
Er legte seinen Arm um ihre Schultern und zog sie näher an sich heran. »Hör mal, ich weiß wirklich nicht, was du hast. Schau hin!« Mit der anderen Hand zeigte er in Richtung der Leiche. »Da liegt er. Der Mann, der dich vergewaltigt hat, der dich geschlagen, gedemütigt und missbraucht hat. Du hast ihm Einhalt geboten. Du hast ihn gequält und ihm sein Leben genommen. Du kannst stolz auf dich sein.«
Zaghaft wiegte sie den Kopf hin und her. »Du hast ja recht. Ich bin einfach enttäuscht. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft ich daran gedacht habe, ihm seinen widerlichen Pimmel abzuschneiden, wenn er keuchend und schwitzend auf mir lag. Und jetzt … jetzt habe ich ihm sein Ding in seinen Mund gesteckt und dieses Arschloch ist kläglich verreckt. Ich sollte etwas empfinden, oder? Aber da ist nichts.«
Tränen stiegen ihr in die Augen, bevor sie ihre Wangen hinunterliefen und sich als Tropfen an ihrem bebenden Kinn sammelten.
»Hey!« Er nahm sie in seine Arme. »Erwarte nicht zu viel!«
Eine gefühlte Ewigkeit standen die beiden neben den verstümmelten Überresten. Ihre Tränen versiegten irgendwann, nicht jedoch die Trauer. Die Enttäuschung über das Ausbleiben von Emotionen, die sie dringend brauchte, um abzuschließen, blieb. Für die Genugtuung, die sie so sehr ersehnte.
Er dagegen machte sich keine Gedanken über seine Gefühle. Er hatte Ekel empfunden und Abneigung gegenüber dem Winseln und Heulen des Kerls. Angewidert hatte es ihn, wie dieses Würstchen um Gnade und um sein Leben gebettelt hatte. Was für ihn allerdings zählte, war die Erkenntnis, dass er etwas Gutes getan hatte. Der Scheißkerl hatte den Tod verdient. Und er, ein neunzehnjähriger, über beide Ohren verknallter Junge, hatte Gerechtigkeit walten lassen.
»L’enfer, c’est les autres.« »Die Hölle, das sind die anderen.« Jean-Paul Sartre – Geschlossene Gesellschaft
»Danke«, sagte Martyn zu dem Wärter, der nickend den Raum verließ.
Die Kleidung des anderen Mannes war verschlissen und unbequem. Vermutlich kratzte der gestärkte Stoff auf der Haut. Eine weite Hose, deren ehemaliges Dunkelblau verwaschen und fleckig wirkte und ein zu großes, gestreiftes Shirt, das an ein Seemannshemd erinnerte. Doch trug Christoph wie alle Insassen die einheitliche Gefängniskleidung, individualisiert lediglich durch den Aufnäher auf der linken Brusttasche.
Verächtlich kratzend rückte Christoph ihm gegenüber den Stuhl zurück und ließ sich schwerfällig nieder. Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn.
Schon seit Tagen ächzten alle in der Hauptstadt unter der nicht enden wollenden Hitzewelle.
Martyn schaute nach oben. Weit über ihren Köpfen erhellte ein großes Fenster den Raum, der kleiner war als seine Gästetoilette. Es war gekippt, doch erreichte ihn von dort keine Erfrischung.
Die beiden Männer saßen an dem schmalen Tisch, den zahlreiche Gravierungen mit obszönen Worten und Gesten zierten. Eine anstößige Zeichnung, scheinbar mit einem schwarzen Edding gemalt, zeigte einen übergroßen Phallus. Martyn legte die Akte darauf, um das grässliche Bild nicht vor Augen zu haben. Ähnliche Verzierungen prangten an den weißgetünchten Wänden. Selbst der kleine silberne Knopf neben ihm, über welchen er den Wärter rufen würde, war verschmutzt und angekohlt.
»Was ist passiert?«, fragte ihn sein Gegenüber.
»Wie geht es dir?«, begann Martyn und verschob die Beantwortung der Frage.
Christoph zuckte die Schultern. »Wie immer.« Doch dann legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. »Aber ich freue mich über deinen Besuch, auch wenn ich weiß, dass etwas passiert sein muss.«
»Ich habe dein Verwahrkonto ein wenig aufgestockt«, erklärte Martyn. Er würde früh genug auf den wahren Grund seines Besuchs zu sprechen kommen. Ihm war das bisschen Smalltalk wichtig.
Es funktionierte.
»Wirklich?«
Martyn nickte.
»Das ist … sehr nett. Danke dafür. Dann gibt es mal wieder was zu rauchen am Wochenende. Wie viel?«
»Fünfzig.«
Ein Strahlen erhellte das sonst eher graue, düstere Gesicht. »Vielen Dank, Martyn.«
»Nicht dafür. Ich werde versuchen, beim nächsten Mal etwas mehr mitzubringen.« Sein Gehalt gestattete es ihm nicht, den großen Samariter zu mimen, doch ein wenig Anreiz konnte nicht schaden.
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme schon klar. Das Einzige, was mich seit einigen Tagen umtreibt, ist Hooks Entlassung. Er fehlt mir.«
»Ach, Hook ist entlassen worden? Schon?«
»Ja, er hat mehr als neun Jahre gesessen. Vier davon im Maßregelvollzug.«
»Das wusste ich gar nicht… Und glaubst du, er kommt zurecht? Draußen meine ich?«
Christoph wiegte den Kopf hin und her. Scheinbar hatte er Zweifel.
Berechtigte Zweifel würde Martyn sagen, ohne dass er Hook je persönlich kennengelernt hatte. Aber seiner Erfahrung nach würde jeder noch so Hartgesottene nach neun Jahren Haft Schwierigkeiten haben, in der Gesellschaft zurechtzukommen. Den meisten gelang es nicht, und sie saßen kurze Zeit später wieder ein. Den Makel eines Straftäters und in Hooks Falle den eines brutalen Vergewaltigers wurden die wenigsten endgültig los. Da konnte der Staat noch so ausgeklügelte Projekte, Hilfen und Therapien zur Verfügung stellen, um den Menschen auf die gesellschaftsfähigen Beine zu helfen. Am Ende fielen die meisten wieder über den Rand der sozialen Anerkennung, oder – wie in den häufigsten Fällen – sprangen sie mit Anlauf über die Klippe.
Denn was auch immer Hook vor mehr als neun Jahren bewogen haben mochte, den zahlreichen Frauen seinen Schwanz in alle möglichen Körperöffnungen mit einer solchen Gewalt zu stecken, dass bei einigen von ihnen intensive Operationen nötig gewesen waren, um sie zumindest physisch wiederherzustellen – wer konnte heute mit Gewissheit sagen, dass dieser Trieb vollständig verschwunden war?
»Was hatte man bei ihm diagnostiziert, dass er zunächst im Maßregelvollzug war?«, fragte Martyn. Er hatte keine große Hoffnung, eine Antwort zu erhalten. Denn die Insassen sprachen selten über ihre Taten und die Gründe der Inhaftierung. Nach Meinung der meisten saßen sie ohnehin unschuldig. Aber Martyn erinnerte sich, dass die beiden sich im Laufe der vergangenen Jahre angefreundet hatten. Jedenfalls hatte er den Namen Hook oft gehört und auch, dass sie sich gegenseitig beschützten, stärkten, aufbauten.
»Persönlichkeitsstörung«, sagte Christoph.
»Okay«, erwiderte Martyn. Diese Diagnose passte auf so ziemlich jeden, der im Maßregelvollzug Untergebrachten. »Aber scheinbar hat man ihm eine günstige Prognose erteilt, sonst wäre er nicht hierhergekommen.«
Christoph nickte. »Aber genug von Hook. Nun erzähl! Was gibt es?«
Martyn zog die Akte etwas zu sich. Die Spitze des gezeichneten Penis kam zum Vorschein. Doch er sah sie nicht mehr, hatte nur Augen für die Fotos, die sich gleich auf der ersten Seite auftaten.
»Soll ich mir das mal ansehen?«, fragte Christoph und streckte bereits die Hand nach der Akte aus.
»Das wäre toll. Ich hoffe, du kannst mir was sagen.«
»Erzähl mir was dazu!«, forderte er Martyn auf.
»Natürlich. Also bislang sind es vier Frauen. In den letzten zehn Wochen. Beängstigend, ich weiß. Die Presse steigt uns schon aufs Dach. Alle vier siehst du hier auf den Fotos. So wurden sie aufgefunden.« Martyn beugte sich etwas über den Tisch. Augenblicklich stieg ihm der unangenehme Schweißgeruch seines Gesprächspartners in die Nase, doch der störte ihn nicht. Zu wichtig war dieses Gespräch. »Alle in ihren Wohnungen, allesamt an ihr Bett gefesselt. Keine Spuren, keine Hinweise. Aber wir gehen davon aus, dass es derselbe Täter ist. Die letzten Stunden der Opfer in diversen Clubs und einige Details aus deren familiären Umständen, sprechen dafür. Zum Beispiel waren alle Frauen Singles. Ich denke, wir haben es hier mit einem Serienmörder zu tun. Mit einem, der weiß, was er tut. Aber wir finden nichts. Weder auf irgendwelchen Überwachungskameras, noch in den Wohnungen der Opfer. Allerdings …« Er zeigte auf eines der Fotos. »Allerdings haben wir in diesem Fall hier Spuren auf dem Teppichboden gefunden. Sechs Eindrücke im Teppich. Jeweils drei. Siehst du?«
Christoph schaute aufmerksam die Fotos durch.
»Unsere Theorie ist, dass der Täter Stative für Videokameras aufgestellt und seine Taten gefilmt hat. Jetzt frage ich mich, warum dann zwei? Gewöhnlich haben diese Dinger drei Füße. Hier sehen wir sechs Abdrücke, also zwei Ständer. Warum zwei? Wofür brauchte der Täter zwei Kameras?« Er lehnte sich wieder etwas zurück und atmete tief durch.
Eine gefühlte Ewigkeit schwiegen beide.
Der Gefangene blätterte in der Akte und fuhr mit den Fingerspitzen über die Fotos. Zwischendurch seufzte er. Schließlich blieb er an einem Foto hängen und betrachtete es lange. Es zeigte eine nackte Frau, blond und auf dem Bauch in ihrem Bett liegend. Ihre Arme und Beine waren an den Bettpfosten fixiert. Womit, war auf diesem Bild nicht zu erkennen.
»Hm …«, überlegte er.
Martyn wartete geduldig. Ihm war klar, wenn er etwas in Erfahrung bringen wollte, musste er sich Zeit nehmen. »Hast du eine Idee?«, warf er dennoch ein.
»Eine Idee, mehr nicht.« Sein Gegenüber hob den Kopf und sah Martyn in die Augen. »Die Frauen wurden vergewaltigt, aber ihr habt keine Spuren gefunden?«
»Richtig. Keine DNA, kein Sperma.«
»Und die Frauen wurden erdrosselt.«
»Auch richtig.«
»Junge Frauen? Hübsch?«
»Ja.«
»Wo wurden die Abstriche genommen?«
Martyn schüttelte leicht den Kopf. »Was meinst du?«
»An welchen Stellen der Leichen?«
»Keine Ahnung. Das weiß ich nicht. Dazu müsste ich in das rechtsmedizinische Gutachten schauen. Aber ich denke, an den Genitalien, am Mund, den Händen. An den üblichen Stellen.«
»Schaut euch den Körper der Frauen mal im Ganzen an. Es könnte sein, dass ihr auf ihren Körpern etwas findet«, schlug Christoph vor.
Martyn lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. Er hatte gewusst, auf alle Fälle gehofft, dass er nicht mit leeren Händen hier rausgehen würde. Am liebsten würde er zufrieden lächeln, doch es kam ihm unpassend vor. »Was glaubst du, werden wir finden?«
Jetzt lehnte sich der andere Mann ebenfalls zurück und nahm die gleiche Position wie Martyn ein. Sie waren sich ähnlicher, als manch Außenstehender auf den ersten Blick vermuten würde.
»Also, wie gesagt, es ist nur ein Verdacht. Ich kenne einen Typen, er nannte sich … nein, falsch, alle nannten ihn Dolly, weil er ein Faible für Puppen hatte. Seinen richtigen Namen kenne ich nicht. Eine Schwuchtel, wenn du mich fragst, aber so genau habe ich das nicht mitbekommen. Dieser Kerl fällt mir gerade ein. Er ist vor etwa einem halben Jahr entlassen worden. Vielleicht weniger. Er saß offiziell wegen Urkundenfälschung, was natürlich nicht stimmte. Ein Kinderficker war er. Entschuldige die Wortwahl, aber das war er. Die haben natürlich seine Vollstreckungsunterlagen gefälscht, weil … na ja, du weißt warum.«
Martyn hatte das Gefühl, es rechtfertigen zu müssen, dass die Vollstreckungsunterlagen mancher Insassen geändert wurden. »Ja, das macht man zum Schutz der Gefangenen. Wir wissen, wie mit Vergewaltigern oder – schlimmer noch – Jugendstraftätern in der JVA umgegangen wird. Es sind schon viele gelyncht worden. Das will man vermeiden.« Daher stand nicht selten in den Unterlagen eines Sexualstraftäters eine Verurteilung wegen eines weniger Emotionen hervorrufenden Delikts. Nicht einmal, oder vor allem, die Wärter wussten dann den wahren Grund der Verurteilung.
»Jugendstraftäter, dass ich nicht lache. Das hört sich so an, als ob ein Minderjähriger auf die schiefe Bahn geraten ist, aber passt nicht so richtig zu diesem Abschaum.«
»Mag sein. Aber das Jugenddezernat bei der Staatsanwaltschaft und die Jugend- und Jugendschutzkammer bei Gericht behandeln nun mal sowohl die Verfahren gegen jugendliche Straftäter, als auch Verfahren mit jugendlichen Opfern.« In der entsprechenden Kammer des Landgerichts landeten demnach sowohl die Fälle, in denen der Angeklagte Jugendlicher war, als auch diese, bei denen die Opfer welche waren. »Egal, das müssen wir beide heute nicht erörtern. Erzähl mir mehr von diesem Dolly!«
»Du hast ja recht. Trotzdem … Dann sollten sich die Sesselfurzer in ihren Beamtenstuben etwas besseres ausdenken als Urkundenfälschung. Vor allem bei einem Typen wie Dolly. Selbst Rocco von den Hells Angels hat erkannt, dass da was nicht stimmt. Und Rocco hat schon so oft eine auf die Nase bekommen, dass er sich nicht mal merken kann, wie lange er noch abzusitzen hat. Wenn du verstehst, was ich meine.« Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Martyn nickte und fuhr sich mit der Hand über seinen Bart, der die Phase eines gepflegten Dreitagebartes lange überschritten hatte. Doch am Morgen hatte ihm die Zeit gefehlt, ihn zu stutzen, ebenso gestern. Heute Abend würde er es vermutlich auch nicht schaffen. Es wurde Zeit, dass er diesen Fall löste, sonst würde er in Kürze bald aussehen wie ein Waldschrat.
»Gut. Jeder wusste also, weshalb er saß.«
»Na ja, es wurde anfangs vermutet, aber dann fing Dolly an zu plappern. Machen einfach einige. Die meisten halten die Klappe. Geht keinen was an, warum man sitzt, aber einige plappern eben. Manche rühmen sich ihrer Taten, andere reden sich ihre Verzweiflung vom Leibe und gestehen allen Mist, den sie angestellt haben. Und Dolly … tja, Dolly fantasierte. Er sprach von jungen Frauen. Hübschen Frauen. Solchen, die aussehen, wie die Puppen, die auf den Postern in seiner Zelle an den Wänden hingen. Blond, große Augen, Schmollmund. Genau wie die Mädchen hier auf deinen Fotos aussehen.«
»Warte«, unterbrach Martyn, »du sagtest, er sei homosexuell.«
Der Mann lachte. »Nein, ich sagte, er sei eine Schwuchtel.«
»Na schön, eine Schwuchtel. Wo ist der Unterschied?«
»Keine Ahnung. Damit kenn ich mich nicht aus. Aber er verhielt sich eben wie eine. Dieses Gelaber von den Puppen, wie schön sie wären und wie man sie noch schöner machen könnte.« Er hob den Zeigefinger wie ein Lehrer, als wollte er sich Martyns ungeteilter Aufmerksamkeit versichern. »Wir nähern uns deinem Rätsel. Er redete davon, wie schön man die Puppen nackt ausziehen, ans Bett fesseln und mit Farbe bemalen könnte. Mit unsichtbarer Farbe, fluoreszierender Farbe. Solcher, die man mit Schwarzlicht anstrahlt und die dann schön leuchtet. Haargenau hat er gefachsimpelt, welche Farbe sich am besten eignet, und dass man das Schwarzlicht auf so ein Stativ stellen müsste. Zwei Stative bräuchte er also. Eines für seine Videokamera. Eines für das Schwarzlicht.« Er tippte auf das Foto, auf dem die Abdrücke in dem Teppich aufgenommen waren.
Martyns Augen wurden größer. Das wäre eine Erklärung. Zumindest ein Anhaltspunkt.
»Und«, fuhr Christoph fort, »wenn die Puppen dann da liegen und so schön angemalt sind, kann man ihnen alle möglichen Dinge in alle möglichen Öffnungen stecken, um das Bild perfekt zu machen … Schau mich nicht so an! Ich erzähle dir nur, was dieser Perversling erzählt hat. Um ehrlich zu sein: Irgendwann hat er nur noch mit sich selbst geredet, weil keiner mehr seinen Schwachsinn hören wollte. Warum bei dem nicht mal eine Sicherungsverwahrung geprüft worden ist, ist mir ein Rätsel. Aber er hatte seine Strafe abgesessen, also fünf von sieben oder so ähnlich. Und ist dann einfach entlassen worden. Egal, was wollte ich sagen? Genau. Ich habe mal gehört, als er Reinigungsdienst hatte und im Flur den Boden gekehrt hat, wie er zu sich sagte, dass dieser Besenstiel schön in das Arschloch einer Puppe passen würde. Einmal sagte er zu einem Wärter, dessen Schlagstock würde perfekt in die Muschi einer Puppe passen. So etwas, verstehst du?«
Martyn zog die Augenbrauen nach oben. »Scheiße. Ja, natürlich verstehe ich. Das würde erklären, warum es Verletzungen gibt, die auf eine Vergewaltigung schließen lassen, aber keine Spermaspuren. Weil er die Frauen mit Gegenständen penetrierte. Das wäre nicht der erste Fall dieser Art auf meinem Schreibtisch. Ich habe für meinen Geschmack schon mehr als genug Fotos gesehen, bei denen Gegenstände irgendwo drinsteckten.«
»Siehst du. Und wenn die Rechtsmedizin nur an den üblichen Stellen Abstriche genommen hat, um diese zu untersuchen … dafür nutzt ihr doch immer noch UV-Licht, oder?«
Martyn nickte.
»Tja, dann konntet ihr die Malerei oder zumindest deren Rückstände auf dem restlichen Körper natürlich nicht entdecken. Also … schaut euch den ganzen Körper mit Schwarzlicht an!«
»Das ist ein guter Hinweis. Dem werde ich gleich nachgehen. Es passt alles.«
Beide Männer lehnten sich in ihren Stühlen zurück und atmeten laut aus.
»Ich wünschte, ich könnte noch bleiben. Ich würde gern noch eine Weile plaudern. Aber ich muss los«, sagte Martyn und erhob sich.
»Das verstehe ich doch. Komm bald wieder mal vorbei und bring wieder einen Fuffi mit.«
»Das mache ich bestimmt. Lass es dir gut gehen und pass auf dich auf!« Martyn drückte den verkohlten Knopf an der Wand neben ihm, schnappte seine Akte und schlenderte zur Tür. In ein paar Sekunden würde der Wärter seine Tür öffnen und ihn hinausbegleiten.
Christoph blieb sitzen. Er wartete, bis Martyn durch die Schleuse nach vorn in den Besucherraum geleitet wurde und anschließend aus der gegenüberliegenden Tür heraus und zurück in seine Zelle.
Schritte ertönten und Martyn drehte sich noch einmal um. »Danke, Papa.«
Martyn hatte gedacht, außerhalb der Gefängnismauern wieder freier atmen zu können, wurde nun eines Besseren belehrt.
Kaum trat er einen Schritt aus der Schleuse heraus, schlugen ihm vierzig Grad Hitze entgegen. Innerhalb der Justizvollzugsanstalt hatten ihm die Enge und Beklemmungen die Luft genommen.
Moabit war ein Gefängnis, wie es sich jeder in seinen düstersten Träumen vorstellte. Das Gebäude war uralt. In seinem Inneren war die Zeit stehengeblieben. Seit hundert Jahren waren keine Renovierungen vorgenommen worden. Die Farbe an den Wänden blätterte großflächig ab, einige der Neonröhren flackerten, und das klirrende Geräusch einer jeden stählernen Tür, die geschlossen wurde, hallte in den meterlangen Gängen wider.
Doch wenigstens hatte es dort eine Klimaanlage gegeben. Die Luft war kalt gewesen. Das Verlies hatte Martyn aus einer Röhre heraus und in die Hitze gespuckt.
Hochsommer und Berlin Mitte.
Die Luft flimmerte, der Asphalt schien zu schlingern und die Abgase der vorbeifahrenden Autos verschluckten das letzte bisschen Sauerstoff, das noch vorhanden war.
Martyn lockerte seine Krawatte und öffnete die beiden oberen Knöpfe seines Hemdes. Dann schulterte er seine Ledertasche und krempelte auf dem Weg zu seinem Wagen die Ärmel hoch.
Er startete den Motor und bedauerte, dass sein alter Polo nicht über eine Klimaanlage verfügte. Also kurbelte er sein Fenster herunter und fuhr los. Er genoss den Fahrtwind, der sein Haar verwehte und ihm die Ahnung einer Erfrischung gewährte. Als er sich wenig später in den nachmittäglichen Verkehr schlängelte, der um die Siegessäule herum mehr schleichend als zügig voranging, zündete er sich eine Zigarette an. Der Rauch vermischte sich in seinen Lungen mit dem Dreck und Smog der Hauptstadt und manifestierte sich in einem Klopfen hinter seiner Stirn, das sicher jeden Moment in handfeste Kopfschmerzen übergehen würde. Martyn wusste, es wäre besser, die Kippe auszumachen, aber er rauchte dennoch weiter. Er konnte es nicht lassen. Dies war sein Laster. Unzählige gute Vorsätze, damit aufzuhören, hatte er schon unternommen. Unzählige Male hatte er sie über den Haufen geworfen.
In der Hoffnung, ausreichend Flüssigkeit würde dem Schmerz hinter seinem Stirnlappen Einhalt gebieten, angelte er nach der Flasche auf dem Rücksitz und leerte sie in einem Zug. Erst als er sie absetzte, bemerkte er den abgestandenen Geschmack. Mineralwasser ohne Kohlensäure und von der Temperatur eines leicht abgekühlten Tees.
Gut, am besten ablenken. Das half oft zuverlässig. Martyn drückte den Knopf auf seinem Telefon, das in einer ausgeklügelten Konstruktion aus Gummibändern und einer ausrangierten Tabakdose an den Ritzen der Lüftung hing, und rief seine Kollegin an.
»Rostow«, meldete sie sich bereits nach dem ersten Klingeln.
»Milla, hallo. Ich bin auf dem Weg. Und ich habe vielleicht eine Spur.«
Er hörte sie laut atmen.
»Martyn, du warst wieder bei deinem Vater, stimmt’s?«
Er vollführte mit der rechten Hand eine wischende Geste. »Lass es gut sein! Darüber können wir später reden. Versuch doch bitte etwas über einen vor wenigen Monaten aus Moabit entlassenen Häftling herauszufinden. Er saß wegen Sexualdelikten, offiziell aber wegen Urkundenfälschung. In der JVA wurde er Dolly genannt.«
»Dolly?«
»Genau. Vielleicht weiß die Anstaltsleitung damit schon was anzufangen.«
»Mach ich. Und du meinst, er könnte es sein?«
»Es sieht vielversprechend aus. Bis gleich.« Er wartete keine Erwiderung seiner Kollegin ab, sondern drückte auf den roten Button.
Dann schaltete er in den ersten Gang und fuhr ein Stück. Sicher zehn Meter waren es dieses Mal. Zehn Meter näher an der Ampel, die nach einer Grünphase von nicht mehr als zwanzig Sekunden schon wieder Rot zeigte. Er kuppelte aus und scrollte auf dem Display, bis er die gesuchte Nummer gefunden hatte.
Er wählte und wartete ein mehrfaches Klingeln ab, bis sich eine tiefe Männerstimme meldete. »Kaltenberg.«
»Herr Kaltenberg, guten Tag. Martyn Becker hier. Ich grüße Sie. Ich rufe an wegen der jungen Frau unlängst. Sylvia Müller. Darf ich Sie etwas fragen?«
»Martyn, natürlich. Sie dürfen mich alles fragen.« Die beiden kannten sich eine Weile und verstanden sich blendend. Der Rechtsmediziner hatte Martyn schon bei mehr als einer Gelegenheit das Du angeboten, aber Martyn war es nicht möglich, über seinen Schatten zu springen und anzunehmen. Für ihn war Kaltenberg der Inbegriff eines Akademikers. Übermäßig intelligent, klug, ein wenig verwirrt, und er sah aus wie ein Teddybär. Mit wuscheligem, gelocktem Haar, einer großen Knollnase und kleinen, immer zufrieden dreinschauenden Knopfaugen. Kaltenberg war schon vor langer Zeit dazu übergegangen, beim Sie zu bleiben und Martyn beim Vornamen zu nennen. Mit diesem Arrangement kamen beide klar, und sie waren dabei geblieben.
»Ich habe in der Akte gelesen, die Frau sei vergewaltigt worden, aber Sie haben keine Spuren gefunden.«
»Richtig. Die vaginalen und analen Verletzungen haben auf unfreiwillige Penetrationen gedeutet. Doch wir fanden weder Sperma- noch andere Spuren.«
Martyn wiegte nachdenklich den Kopf und fuhr wieder ein Stück. Dieses Mal nicht mehr als fünf Meter. Kaltenberg hatte meist jedes Detail seiner Untersuchungen im Gedächtnis und konnte alles dem richtigen Opfer zuordnen. Dabei musste er täglich mindestens eine andere Leiche auf seinem Tisch liegen haben.
Dieser Mann faszinierte Martyn.
»Die Suche nach den Spermaspuren funktioniert doch mit einem Abstrich, richtig?«
»Ja, wir haben vaginale und anale Abstriche vorgenommen und untersucht, aber nichts gefunden.«
»Nur per Abstrich?«
Einen Augenblick war es still am anderen Ende. Dann fragte Kaltenberg: »Worauf wollen Sie hinaus?«
Martyn schaltete und schaffte es bei dieser Grünphase endlich über die Kreuzung. Dahinter ging es zügiger voran. Er beschloss, seinen Verdacht konkret mitzuteilen. »Wenn die Frau an ihrem Körper mit einer fluoreszierenden Farbe bemalt wurde, hätten Sie es entdeckt?«
Wieder herrschte Stille.
»Kaltenberg?«, fragte Martyn nach wenigen Sekunden.
»Ja. Ja, bin noch da. Ich überlege gerade. Wir haben Abstriche genommen, diese untersucht und den Körper der Frau einer äußeren Begutachtung unterzogen. Letzteres jedoch nicht unter Benutzung von technischen Geräten, weil es dafür keinerlei Anhaltspunkte gab. Mir fällt im Moment auch nicht ein, was darauf hindeuten könnte, dass der Körper bemalt worden sein soll.«
»Ist sie noch bei Ihnen? Können Sie das noch nachholen?«
»Ja, natürlich ist sie noch hier. Die zweite Leichenschau steht ja noch an.«
Am liebsten hätte Martyn die Erleichterung laut ausgepustet. Stattdessen begnügte er sich damit, den Rauch seiner Zigarette geräuschvoller als nötig aus dem offenen Fenster zu stoßen. »Sehr schön. Bitte tun Sie mir den Gefallen und untersuchen sie noch einmal unter diesem Gesichtspunkt. Ich habe wirklich den großen Verdacht, dass Sie etwas finden könnten. Ich gehe davon aus, dass der Täter sie mit UV-Farbe angemalt hat. Ich weiß nicht, ob er die Farbe abgewischt hat. Aber selbst wenn, sollten unter der Lampe noch Rückstände zu finden sein.«
Wieder trat eine kurze Pause ein. Martyn konnte erahnen, wie der Mediziner seine Termine für den Tag ordnete, verschob und überlegte, wie er dem Wunsch gerecht werden konnte.
»Ich mache mich sofort daran und melde mich dann.«
»Herr Kaltenberg, das wäre wundervoll. Vielen, vielen Dank.«
»Kein Problem. Dann wollen wir mal schauen, ob wir was finden, was Ihre Theorie untermauert. Bis später.«
Martyn fuhr soeben auf den Parkplatz der Polizeidirektion. Für eine Strecke von wenigen Kilometern hatte er über eine halbe Stunde gebraucht.
Der Verkehr in Berlin kostete ihn Unmengen an Lebenszeit und Nerven. Allein an den letzten beiden Kreuzungen hatte er sein gesamtes Arsenal an Schimpfwörtern von sich gegeben. Egoistische Fußgänger, die meinten, schnell die Straße überqueren zu müssen, obwohl Martyns Ampel Grün gezeigt hatte, Radfahrer, die es nicht für nötig hielten, den Radfahrweg zu benutzen. Mehr als einmal war er geneigt gewesen, seinen Ausweis zu zücken und für Recht und Ordnung zu sorgen. Doch hatte er sich um andere Dinge zu kümmern.
Eines davon meldete sich sogleich, als sein Telefon klingelte.
»Hey«, begrüßte ihn eine weibliche Stimme.
»Hey«, antwortete er und legte so viel Gelassenheit in seine Worte, wie es ihm möglich war. In Wirklichkeit schlug sein Herz sofort einen Takt schneller.
»Sehen wir uns heute?«
Er atmete tief ein, um etwas Zeit zu gewinnen und nach einer geeigneten Antwort zu suchen.
Doch Louisa kam ihm zuvor. »Du musst arbeiten, stimmt’s?«
»Ich versuche es. Ich werde es versuchen. Ich würde dich wirklich gern sehen. O Gott, ich würde dich wirklich gern sehen.«
Louisa schwieg einen Moment. »Ich wünschte, du würdest es schaffen. Versuch es, Martyn, okay? Ich bin bestimmt bis elf wach.«
»Okay. Ich gebe mein Bestes.«
Als er aufgelegt hatte, schloss er einen Moment die Augen und erinnerte sich an Louisas Haar, das in der gleichen Farbe wie der Roggen auf den weiten Feldern vor den Toren Berlins strahlte.
Martyn erinnerte sich daran, wie er ihr vor wenigen Monaten auf dem alljährlichen Neujahrsempfang der Polizei begegnet war. Die jüdische Gemeinde hatte in den imposanten Saal der NeuenSynagoge geladen, und Louisa war als Leiterin einer gemeindeinternen Stiftung einer der Ehrengäste gewesen. Sie war ihm sofort aufgefallen. Sie gehörte zu den Menschen, die durch ihre bloße Anwesenheit auffielen, allein mit der Art und Weise, wie sie den Raum durchschritt und sich eine der blonden Locken hinter das Ohr strich. Martyn hatte seinen Blick nicht von ihr wenden können, was wiederum ihr aufgefallen war.
Sie ließen es langsam angehen, trafen sich regelmäßig, aber selten. Louisa hatte viel Verständnis für sein Arbeitspensum, und er verbrachte, jede freie Zeit mit ihr. Sie war klug, selbstbewusst und unglaublich schön. Der Sex war eine Wucht, und in Situationen wie diesen beschlich ihn die kalte Angst, er könnte es vermasseln. Wieder einmal. Wie alle seine Beziehungen bislang. Er arbeitete zu viel. Das kam bei den meisten Frauen auf Dauer nicht gut an. Glücklicherweise gehörte Louisa ebenfalls zu den Workaholics, die um jeden Preis Karriere machen wollten. Vielleicht passten sie doch zusammen.
Das Klingeln seines Telefons unterbrach erneut Martyns Grübeleien.
»Wo bleibst du?«, fragte Milla ohne Begrüßung.
»Bin schon auf dem Hof. Was bist du denn so ungeduldig?«
»Martyn, bitte beeil dich. Der Rechtsmediziner hat gerade angerufen.«
Oh, das ging schnell. »Warum hat er mich nicht direkt angerufen?«
»Bei dir war besetzt und Kaltenberg wollte nicht warten. Er sagte, es sei dringend. Aber, Martyn nicht am Telefon. Mach mal lack, beweg deinen Arsch hierher!«
»Bin unterwegs.« Damit nahm er die Beine in die Hand und eilte über den Parkplatz.
Im Hintergrund lief leise Jazzmusik. Nicht diese nervige Art von Jazz, bei der die Töne wahllos aneinandergereiht waren. Johanna hasste die Musik, bei der ein jeder Ton in ihren Ohren quietschte.
Melodische, sinnliche Klaviermusik erfüllte den Raum.
Sie saß an der Bar und schlug die Beine übereinander. Wohlwissend, dass ihr ohnehin schon kurzer Rock höher rutschte. Stefan sollte etwas geboten bekommen. Wenn alles nach Plan lief, würde es heute das letzte Mal sein. Lieferte er ihr die gewünschten Informationen, gab es keinen Grund mehr, ihn weiterhin zu treffen.
Ein wenig bedauerte sie es, ihre Liaison zu beenden. Anfangs war es um ein geschäftliches Arrangement gegangen. Stefan sollte seine Augen und Ohren in der Justizvollzugsanstalt offenhalten und ihr mitteilen, was sie wissen wollte. Doch Geld als Bezahlung kam für ihn nicht infrage, was Johanna zunächst überrascht hatte. War die Bestechung eines Gefängniswärters nicht ungewöhnlich. Und vor allem nicht schwer. Immerhin wurden sie für einen beschissenen Job beschissen bezahlt. Arbeiteten tagaus, tagein hinter Gefängnismauern mit dem Abschaum der Gesellschaft – mit Mördern, Vergewaltigern und Räubern – und das für einen Lohn, der ein Übermaß an Loyalität und Unbestechlichkeit nicht rechtfertigte.
Stefan jedoch wollte kein Geld. Warum auch immer. Sie hatte es nicht hinterfragt. Er hatte etwas anderes gewollt. Stefan wollte sie.
Darüber hatte Johanna nicht lange nachdenken müssen. Zu wichtig war ihr Anliegen. Und dann hatte sich ihr Arrangement in mehr als einer Hinsicht als Glücksfall erwiesen. Bislang hatte er sie nicht enttäuscht, ihr wertvolle Neuigkeiten übermittelt und heute am Telefon angekündigt, essentielle Informationen zu haben.
Der nette Nebeneffekt ihres Geschäfts wurde ihr in dem Augenblick wieder bewusst, als sie ihn durch die Drehtür die Bar betreten sah.
Er trug eine ausgewaschene Jeans, ein kariertes Hemd und ein Cordjackett darüber. Nichts Besonderes, nichts Hochwertiges. Doch gerade deswegen stand es ihm hervorragend. Stefan war gut zehn Jahre jünger als sie. Es schmeichelte ihr, dass er verrückt nach ihr war. Und sie genoss die Stunden mit ihm.
»Du siehst fantastisch aus«, raunte er ihr ins Ohr und gab ihr einen scheuen Kuss auf die Wange.
»Ich weiß. Möchtest du noch was trinken?« Auffordernd nahm sie einen Schluck aus ihrem Weinglas und fuhr sich mit der Zunge über ihre Lippe.
Er verfolgte die Geste interessiert. Seine Augen überkreuzten sich dabei. »Noch?«
Sie lachte und strich sich in einer beiläufig wirkenden Geste über die Lippen. »Noch schnell. Bevor wir hochgehen.«
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Du hast ein Zimmer gebucht?«
»Mhm.« Sie wollte ihm wirklich einen netten Abschied bereiten. Nicht zum ersten Mal hatte sie hier ein Zimmer reserviert, doch sie hatten sich auch schon auf eine schnelle Nummer in ihrem Wagen, sogar auf der Toilette eines Cafés getroffen. Nicht jedoch heute.
Einen Moment überlegte Stefan. Seine Augen suchten in ihrem Gesicht nach einer Antwort. »Ich trinke gern noch ein Glas mit dir. Sicher willst du erst mal hören, was ich dir zu sagen habe.«
Mit einem Fingerzeig wies sie den Barkeeper an, ein weiteres Glas zu bringen.
»Er war heute zu Besuch. Die beiden haben mehr als eine Stunde geredet. Es ging um einen Fall und offenbar war das Gespräch erfolgreich. Ich konnte nicht alles verstehen, aber doch soviel, als dass er zufrieden wieder ging.«
Johanna beugte sich aufmerksam nach vorn und stützte das Kinn in ihre Hand. »Welchen Fall?«
Stefan lehnte sich ebenfalls vor und ignorierte das Glas, das ihm auf den Tresen gestellt wurde. Mit einem scheuen Blick nach unten, legte er seine Hand federleicht auf ihr Bein. »Wie gesagt, ich konnte es nicht genau verstehen. Ich glaube, es geht um diesen Serienkiller, der diese vier Frauen umgebracht hat. Du hast es sicherlich mitbekommen.«
Johanna nickte. »Und? Weiter.«
»Du meinst, ob er helfen konnte?« Seine Hand schob sich zielsicher zwischen ihre übereinandergeschlagenen Schenkel und wanderte langsam höher. »Ich denke, ja. Offenbar kannte Kutter jemanden, auf den das Profil des Killers passen könnte. Wir werden es sicher mitbekommen, ob die Polizei endlich Fortschritte erzielt und den Täter fasst. Sollten die Nachrichten in Kürze so etwas vermelden, dann kannst du sicher sein, dass es an den Informationen lag, die Kutter ihm gegeben hat.«
Einen Moment lang schloss Johanna die Augen und genoss die Wärme von Stefans Hand. Er streckte seinen Finger aus und berührte zart den Saum ihres Höschens.
Im Grunde hatte sie alles, was sie hören wollte. Damit war der Grundstein gelegt für ihren Plan, für das, was kommen würde.
Für ihre Rache.
Im Grunde konnte sie sich jetzt verabschieden. Aber Johanna hatte gelernt, weitsichtig zu planen, mit allem zu rechnen und vor allem, auf alles vorbereitet zu sein. Nichts, absolut gar nichts würde sie je wieder dem Zufall überlassen. Also war es besser, Stefan nicht zu vergraulen. Auch wenn sie für den Moment die notwendigen Informationen hatte, wusste sie nicht, wann sie ein weiteres Mal ein Ohr in der Justizvollzugsanstalt brauchen würde, und dann könnte Stefan hilfreich werden.
Vor allem aber – das gab sie widerwillig zu, obwohl es genauer gesagt eine glückliche Fügung war – genoss sie die Zeit mit ihm. Er liebte sie zügellos, wild und präzise. Jede seiner Bewegungen, seiner Berührungen führte er mit einer Akribie aus, als ginge es darum, ein perfektes Bild zu malen. Das gefiel ihr. Er hatte ihr grandiose Orgasmen beschert, und es gab keinen Grund, warum sie einige von denen nicht heute noch mitnehmen sollte.
Sie nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas. Er tat es ihr gleich. Dann schlenderten sie, sich wie zwei Teenager an den Händen haltend, zum Aufzug und fuhren in die fünfte Etage.
Johanna fühlte sich Jahrzehnte zurückversetzt. Stefan begehrte sie. Sie spürte seine Erregung. Lange war sie verheiratet gewesen, hatte das Bett ausschließlich mit ihrem Mann geteilt. Vor diesem nur mit …
Schnell verdrängte sie diesen Gedanken, denn für den Augenblick tat er nichts zur Sache.
Vorerst nicht.
Doch das hier war etwas anderes. Mit Stefan erlebte sie eine neue Stufe der Leidenschaft, eines tabulosen Verlangens und einer grenzenlosen Gier. Sie genoss es in vollen Zügen. Sie gab sich ihm hin, ebenso wie sie ihm eine schwerelose Ekstase schenkte.
In den frühen Morgenstunden schlich Johanna sich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer, warf einen letzten Blick über die Schulter auf Stefan. Auf seinen nackten Brustkorb, der sich gleichmäßig hob und senkte, auf seine ebenmäßigen Züge mit dem dunklen Bartschatten über dem kantigen Kinn. Dann verließ sie das Zimmer. Unwissend, ob sie sich wieder begegnen würden, nicht sicher, ob sie seiner Hilfe ein weiteres Mal bedürfte, oder ob alles planmäßig verlaufen würde. Nur von einer Sache war sie überzeugt: dass er ihr nutzvolle Dienste geleistet hatte; in der einen und der anderen Hinsicht. Und dass sie es hätte schlechter treffen können. Stefan war ein Glücksfall gewesen.
Ob das Glück ihr weiterhin hold sein würde, lag nicht zuletzt an ihr selbst. Sie musste sich an ihren Plan halten, sorgfältig arbeiten. Dann würde alles gut werden. Dann würde sie wieder schlafen können.
Dann würde sie ihre Rache bekommen.
»Er hat mit der UV-Lampe nur einen Blick auf den Körper der Leiche geworfen und sofort die Zeichnungen entdeckt. Grobe Zeichnungen von Blumen, der Sonne und Puppengesichtern auf ihrem Oberkörper, dem Gesäß und den Oberschenkeln«, erklärte Milla. Sie hatte ihren Kollegen gleich auf der Treppe abgefangen, um ihm die neuesten Nachrichten persönlich mitzuteilen.
Ihr Blick glitt über den Ankömmling. Unwillentlich zog sie eine Augenbraue hoch und lächelte süffisant. Nur mit Mühe konnte sie ihre Hand davon abhalten, ihm in den verwuschelten Haarschopf zu greifen, um die wild nach allen Seiten abstehenden Strähnen zu bändigen. Gleiches galt für das aufgeknöpfte Hemd. Milla bewunderte ihren Kollegen für seine Weitsicht, Klugheit und seinen nicht enden wollenden Arbeitseifer. Er arbeitete länger als alle anderen, hatte für jeden ein offenes Ohr und einen beachtenswerten Spürsinn. Anerkennend musste sie zugeben, dass Martyn dieses besondere Etwas hatte, diesen Sinn für das Wesentliche. Worüber er leider absolut nicht verfügte, war ein Gespür für sein Äußeres. Oft wirkte er schmuddelig und nachlässig. Darüber schüttelte sie oft den Kopf, obwohl sie davon überzeugt war, dass es ihm eine gewisse Lässigkeit verlieh. Milla war der Meinung, dass Martyn bewusst Klamotten wählte, die auch aus einer Altkleidersammlung stammen könnten. Sicher wollte er unachtsam und gleichgültig wirken, um auf diese Weise weniger ernst genommen zu werden. In einer Vernehmung leistete ihm diese Art der Tarnung nicht selten erfolgreiche Dienste, wenn sein Gegenüber ihn unterschätzte.
Nebeneinander eilten sie den langen Gang entlang, an dessen Ende ihr Büro lag. Milla hatte Schwierigkeiten, mit Martyn Schritt zu halten.
»Die Zeichnungen sind an solchen Stellen platziert, dass er es bei einer üblichen Leichenschau nicht hätte entdecken können. Kaltenberg hat sie, also das Opfer, in den Kopierraum bringen lassen, weil er als einziger dunkel genug ist, um mit der Lampe die Zeichnungen erkennen zu können.«
»Scheiße. Und so was gehört nicht zu der üblichen Leichenschau?«
Milla zuckte die Schultern und bemühte sich um größere Schritte. »Offenbar nicht. Jedenfalls nicht am Torso und den Oberschenkeln. An den Genitalien, dem Mund, den Händen … da schon. Aber nicht an diesen Stellen. Das ist zu viel Aufwand. Jedenfalls bei solchen Fällen, bei denen es keine Anhaltspunkte gibt.«
»Was ist mit dem Häftling, mit diesem Dolly?« Martyn blieb kurz stehen, damit Milla aufholen konnte. Sie bogen nach links in einen geräumigen Raum ab. Zwei junge Männer saßen an sich gegenüberliegenden Schreibtischen, die Augen starr auf die flimmernden Bildschirme gerichtet. Sie beachteten die Ankömmlinge nicht.
Milla nickte in die Richtung des größeren der beiden. »Bridge ist gerade dran.«
John Bridgerton, den seine Kollegen der Einfachheit halber Bridge nannten, hob den Kopf. Er verdrehte die Augen, ging auf seinen Spitznamen aber nicht ein. »Ich bekomme gleich einen Rückruf. Könnte sein, dass ich was habe.«
Martyn nickte ihm zu. »Gib mir sofort Bescheid! Dann sieh bitte auch gleich zu, dass wir das Urteil und das Vollstreckungsheft dazu bekommen. Damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Dieses Dolly-Geschwafel klingt ziemlich abstrus.«
Umständlich entledigte Martyn sich seiner Tasche. Er hielt in der Bewegung inne, als eine tiefe Stimme nach ihm rief: »Becker, wo sind Sie?«
Martyn verdrehte die Augen und Milla lachte über seine Grimasse.
»Was gibt es denn, Herr Hartinger?«, fragte sie, trat einen Schritt aus der Tür und bat den großen Mann mit einer Geste herein.
Dieser beachtete sie nicht, sondern baute sich in dem engen Büro vor ihnen auf. Er stemmte die Hände in seine Hüften und rümpfte die Nase. Milla vermutete, dass sein buschiger Schnauzer ihn kitzelte. Ein leidiger Umstand, den er mit einem Besuch bei einem Barbier oder mit einem Langhaarschneider beheben könnte. Doch stellte Milla sich vor, dass der Kriminalrat keine Gedanken an solche Nebensächlichkeiten verschwenden wollte.
»Becker, Sie stecken tief in der Scheiße«, brüllte er.
Milla und Martyn wechselten einen Blick. Sie kannten die regelmäßigen cholerischen Ausbrüche ihres Chefs. Martyn fuhr sich mit beiden Händen durch das Haar und strich es nach hinten. »Was ist passiert?«
Hartinger hob eine Pranke und streckte einen seiner Wurstfinger in Martyns Richtung. »Becker, was haben Sie schon wieder in Moabit zu schaffen gehabt? Sie waren schon wieder bei diesem Gefangenen, richtig?«
Kurz verengten sich Martyns Augenbrauen, dann schnellte sein Blick zu Milla. Sie schüttelte den Kopf. Woher konnte Hartinger davon wissen? Woher konnte er wissen, dass Martyn seinen Vater besucht hatte? Nur sie wusste davon.
»Verflucht noch mal, Becker!« Hartinger holte sie aus ihren Überlegungen und Martyn aus seiner Anklage. »Sie können doch nicht einfach irgendwen befragen. Ohne Ladung. Ohne Belehrung sicherlich auch. Ohne Protokoll. Was sollen wir denn mit dieser Aussage von Ihrer ominösen Quelle anfangen?«
Martyn war wenig beeindruckt und fuhr fort, seine Tasche auszuräumen. »Es gibt keinen Grund zur Sorge, Herr Kriminalrat. Ich bin nur einer Spur nachgegangen. Einer vielversprechenden Spur im Übrigen.«
»Eine Spur? Wollen Sie mich verarschen? Wo kommen wir denn hin, wenn wir einfach irgendwelchen Spuren folgen? Herrgott, Becker, es gibt Vorschriften. Sie können nicht einfach losstiefeln und mit irgendwelchen Knastis sprechen.« Hartingers Speicheltröpfchen tanzten im hereinfallenden Sonnenlicht zwischen den beiden Männern, die sich mittlerweile wie zwei Kampfhähne gegenüberstanden.
Martyn war geduldig, das wusste Milla. Und er war loyal. Aber es gab selbst bei ihm einen Punkt, an dem er nicht mehr bereit war, Beleidigungen und Beschimpfungen entgegenzunehmen.
»Herr … Kriminalrat … Hartinger«, begann er und betonte jedes einzelne Wort. »Ich verstehe Ihren Auftritt nicht. Ich bin soeben erst aus Moabit zurückgekommen und habe noch keine Möglichkeit gehabt, einen Aktenvermerk anzulegen. Doch Sie können versichert sein, dass ich die Spur, der ich gefolgt bin, protokollieren werde … Und wenn Sie mich jetzt nicht länger von der Arbeit abhalten, dann kann ich meinen Job tun und einen Serienmörder fangen.« Demonstrativ knallte Martyn die Akte auf den Tisch und stemmte beide Handflächen darauf.
»Ich werde die Aktenführung überprüfen. Und bis dahin, Becker sind Sie raus. Ich werde diese Unordnung nicht dulden.«
Gleichzeitig fielen den beiden Kommissaren die Kinnladen nach unten.
»Sie haben recht gehört. Rostow, Sie übernehmen den Fall. Und Sie, Becker, machen jetzt Feierabend und melden sich morgen bei mir. Bis dahin werde ich eine Lösung gefunden haben.«
»Hartinger, das kann nicht Ihr Ernst …«
Der Angesprochene brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das ist es. Überlegen Sie sich Ihre Prioritäten, nehmen Sie sich noch mal die gängigen Polizeidienstvorschriften zur Hand und blättern in den nächsten Stunden darin rum. Schreiben Sie sich ein für allemal hinter die Ohren: Der Zweck heiligt nicht immer die Mittel. Nicht hier, nicht bei uns und nicht unter meiner Leitung.«
»So ein Unsinn, Hartinger«, sagte Martyn.
»Vorsicht, mein Freund, Vorsicht. Sie sind mir der Liebste, Becker.« Er hob ergeben die Arme und wiegte den Kopf hin und her. »Ja, das meine ich ernst, ich mag Sie. Sie machen einen großartigen Job. Ihre Aufklärungsrate ist wirklich gut.«
Milla entging nicht, wie Martyn mehrfach die Augen verdrehte. Auch ihr lag ein »Jetzt komm endlich zur Sache!« auf den Lippen.
»Aber, mein Junge, Sie können nicht einfach Ihr Ding durchziehen. Ich sagte ja bereits, es gibt Vorschriften.« Das letzte Wort zog er unnatürlich in die Länge. »Es gibt Regeln, an die wir alle uns halten müssen. Auch Sie.« Er stemmte erneut die Hände in die Hüften und atmete tief durch. »Ich will doch nur Ihr Bestes. Und wenn das bedeutet, dass ich Sie für ein paar Tage in den Hausarrest schicken muss, damit Sie wieder in die Spur finden, dann schicke ich Sie in den Hausarrest.«
Bevor Martyn etwas erwidern konnte, stürmte sein Vorgesetzter zur Tür hinaus.
Milla lehnte sich in ihrem Bürosessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was?«, fragte Martyn. Er verzog den Mund, sodass sich zwei Grübchen neben den Mundwinkeln bildeten.
Eine Weile schwiegen sie.
»Du bringst dich immer wieder in Schwierigkeiten. Und nur fürs Protokoll: Von mir hat er es nicht.«
»Du hast nichts gesagt? Zu niemandem?«, fragte er nach.
»Martyn, ich habe ganz sicher zu niemandem etwas gesagt. Wirklich nicht.«
»Hm«, erwiderte er.
»Von wem könnte er es haben? Vor allem so schnell. Ich meine, du bist schließlich gerade erst zurück. Wenn du sonst keinem gesagt hast, wo du hingehst …«
»Nein, das habe ich nicht.« Die Hände weiterhin auf den Tisch gestemmt, beugte er sich darüber und flüsterte: »Nur zu dir.«
Eine Weile starrten die beiden sich an. Dann beugte auch Milla sich vor. »Mach einfach, was er sagt! Nimm dir ’ne Auszeit. Wir schaffen das. Du kriegst von mir alle Neuigkeiten. Geh nach Hause! Leg dich aufs Ohr! Und morgen sehen wir weiter. Ich schreibe dir, wenn Bridge was von diesem Dolly hört, und ich leite dir Kaltenbergs Bericht weiter, sobald er hier ist.«
In Martyns Gesicht tobte ein Sturm aus Wut und Empörung. Seine Kiefer mahlten aufeinander, seine Muskeln zuckten. Doch sie erkannte auch Vertrauen und Zuversicht. Er sollte wissen, dass er sich auf sie verlassen konnte. Er sollte wissen, dass er die Arbeit in ihre fähigen Hände legen konnte, bis sich der Sturm in Hartingers Gemüt gelegt hätte. Denn eines war sicher: Martyn würde an seiner Arbeitsweise nichts ändern. Er war schließlich nur deshalb erfolgreich, weil er nicht den geradlinigen, den vorgeschriebenen Weg ging. Weil er nicht selten einfach nur das Richtige tat. Das, was aus seiner Sicht das Richtige war. Das musste nicht jedes Mal mit dem übereinstimmen, was die Polizeiweisungen vorgaben oder Hartinger gern im Protokoll stehen hatte.
Natürlich hatte ihr Chef recht, wenn er sagte, dass der Zweck nicht immer die Mittel heiligte. Schließlich war er es, der sich mit dem Staatsanwalt auseinandersetzen musste, weil dieser die Beweisbarkeit von Martyns Ermittlungen infrage stellte. Es wäre nicht das erste Mal, dass Hartinger die Akten etwas aufhübschen musste, bevor sie an die Staatsanwaltschaft gingen. Nicht, dass er Tatsachen fälschte. Aber hier und da eine geänderte Formulierung und schon erschien eine Ermittlung in einem anderen, einem regelkonformen Licht.
Und wenn Hartingers Sturm sich gelegt hätte, wenn Martyn Verständnis heuchelte und gelobte, sich künftig an die Weisungen zu halten, würden sie weitermachen wie bisher. Und sie würden diesen Scheißkerl von Serienkiller finden und dingfest machen. Und das nur, weil Martyn eben war, wie er war. Weil er seinen Weg ging.
Punkt.
Der Wagen polterte über das Kopfsteinpflaster. Die Straßen waren schmal, die Parkplätze rar. Hohe und uralte Eichen und Platanen säumten sie.
Trotzdem oder gerade deswegen gehörte dieses Viertel zu den beliebtesten in Potsdam. Ein wunderschönes Gründerzeithaus reihte sich an das nächste. Mit Stuck verzierte Fensterrahmen, geschwungene Balustraden an marmornen Treppen und in voller Blüte stehende Hortensien neben den Eingängen. In zehn Minuten gelangte man zu Fuß zum weltberühmten Schloss Sanssouci und in der gleichen Zeit ans Havelufer. Viele junge Familien lebten hier, sofern sie sich die horrenden Mieten leisten konnten.
Louisa hatte das von außen eher schlicht wirkende, weiße Haus vor Jahren geerbt. Im Erdgeschoss hatte sie ein Atelier eingerichtet, in dem sie ihrem Hobby frönte. Zahlreiche Gemälde hatte Martyn schon betrachtet, konnte ihrem Sinn für Kubismus und Moderne nicht viel abgewinnen. Die Räume waren gemütlich möbliert und sie konnte sich darin voll entfalten, hatte sie ihm berichtet. Von dort führte eine gerade Treppe ins oberste Geschoss. Große Malereien aus ihrer Hand zierten den Treppenaufgang. Und oben in der geöffneten Tür stand sie – Louisa.
Martyn legte den Kopf in den Nacken und blieb kurz an der ersten Stufe stehen. Sie sah atemberaubend schön aus. Die linke Hand stemmte sie gegen den Türrahmen und mit der rechten strich sie sich eine Strähne hinter das Ohr. Sie lief barfuß und trug ein luftiges, aber elegantes Kleid, schwarz – wie immer.
»Hey«, begrüßte sie ihn mit einem verführerischen Lächeln. »Du hast es geschafft.«
»Ich bin suspendiert«, erklärte er tonlos und stieg die Stufen nach oben.
»Du bist was? Du meine Güte. Komm rein! Aber ich freu mich, dass du da bist.« Sie gab ihm einen intensiven Kuss auf den Mund.
Sie schmeckte einladend. Nach Himbeeren. Martyn legte einen Arm um ihre Hüfte und zog sie dicht an sich. Fast wäre er geneigt, Hartinger zu danken. Andernfalls hätte er sie heute vermutlich nicht gesehen und gerochen und geschmeckt. Er würde den Abend mit Louisa genießen, er würde sie lieben. Den Abend und die ganze Nacht lang.
»Du stinkst«, holte sie ihn aus seinen romantischen Überlegungen.
Er lachte. »Was für eine Begrüßung.« Doch vermutlich hatte sie recht. Er war verschwitzt, er hatte geraucht, war im Gefängnis gewesen, im Auto im Stau. Wahrscheinlich roch er wirklich nicht gut.
»Geh duschen! Hast du Hunger? Ich wollte gerade einen Fisch in den Ofen schieben.« Louisa ging den langen Flur entlang. Die späte Nachmittagssonne schien durch die großen Fenster. Staubteilchen flirrten umher.
Martyn roch Knoblauch und Kräuter und folgte ihr. »Es riecht toll. Ich habe einen Bärenhunger.« Er ergriff ihr Handgelenk und zog sie zu sich. »Aber zuerst gehe ich unter die Dusche.« Langsam senkte er seinen Kopf und küsste ihren Hals. »Und du kommst mit«, hauchte er ihr ins Ohr.
Sie kicherte wie ein Schulmädchen. »Und was ist mit dem Fisch?«
»Der kann warten.«
»Dann komm!« Sie ergriff seine Hand und zog ihn mit sich. Im Laufen streifte er seine Tasche von der Schulter, ebenso sein Jackett und die Schuhe. Mit fahrigen Fingern knöpfte er sein Hemd auf. Sie half ihm dabei, als sie das große Badezimmer erreicht hatten. Martyn beobachtete ihre geschickten Hände und zog seinerseits den Reißverschluss ihres Kleides nach unten.
Das Wasser der Dusche fühlte sich trotz der Wärme erfrischend und wohltuend an. Vielmehr jedoch genoss Martyn Louisas Nähe, ihre Berührungen und ihre Küsse. Sie liebten sich lange, verwöhnten einander und weideten sich in ihrer Leidenschaft.
Die Nacht war stockdunkel, als sie später auf der Terrasse saßen, jeder ein Glas eisgekühlten Weißweines in der Hand. Die Lichtverschmutzung war hier nicht so fortgeschritten wie in Berlin, und der Sternenhimmel schenkte ihnen einen atemberaubenden Blick.
»Jetzt erzähl mal, was passiert ist«, sagte Louisa. Sie hatten das Thema während des Essens bewusst vermieden. Der Fisch war lecker gewesen. Louisa hatte ein Händchen dafür, simple Dinge mit wenigen Handgriffen zu einem schmackhaften Dinner zu zaubern. Auch an diesem Tag war es nur eine Dorade, gefüllt mit Zitronen, gewesen, die sie in reichlich Butter scharf angebraten und danach im Ofen zu Ende gegart hatte. Einfach, schnell, aber deliziös.
Martyn seufzte und zog seine Freundin näher an sich. Sie saß zwischen seinen Beinen auf einer geräumigen Liege, er hatte die Arme um sie gelegt. »Ich war bei meinem Vater.«
»Bei deinem Vater? Ich dachte, dein Vater sei tot.«
»Nun, nicht dieser Vater.«
Schmunzelnd drehte sie den Kopf und gab ihm einen Kuss auf das kleine Grübchen neben seinem Mundwinkel. »Was erzählst du da? Du hast mir gesagt, dein Vater sei vor einigen Jahren an einem Herzinfarkt gestorben.«
»Das war mein Pflegevater.«
»Dein Pflegevater? Er war nicht dein richtiger Vater?«
»Na ja, er war schon mein richtiger Vater. Nur eben nicht mein biologischer Vater. Aber er hat mich großgezogen. Seit meinem dreizehnten Lebensjahr. Doch bis dahin hatte ich einen anderen Vater.«
Louisa nahm seine Hand, küsste sie und befreite sich dann aus der Umarmung. »Was? Ist das dein Ernst?«
Martyn strich sich mit der Rechten über seinen Bart und anschließend seinen Nacken. »Hör zu, Louisa, ich habe das noch nie jemandem erzählt. Na ja, außer Milla, aber die zählt nicht. Das ist auch nicht die schönste Geschichte aus meinem Leben. Aber mein Vater, mein leiblicher Vater, war ein … ist ein Mörder. Er ist ins Gefängnis gekommen, als ich dreizehn war. Ich bin in ein Heim gesteckt und dann von meinen Eltern aufgenommen worden. Meinen jetzigen Eltern.«
Louisa zog die Beine näher an sich heran. »Du meinst, Charlotte … deine Mutter … die nette Frau, die in diesem atemberaubenden Schloss in Grunewald wohnt … diese Frau ist nicht deine Mutter? Nicht deine leibliche Mutter?«
Martyn schüttelte den Kopf. »Nein.« Es war nur ein Flüstern. »Und es ist kein Schloss. Die Villa ist schon seit Generationen in den Händen der Familie Becker.«
»Was ist mit deiner leiblichen Mutter?«
»Sie ist gestorben. Lange her.« Martyn fasste sich kurz. Dieses Thema behagte ihm ganz und gar nicht. Glücklicherweise begriff es Louisa und beließ es dabei.
»Also gut … Und heute warst du bei deinem Vater?«, fragte sie stattdessen.
»Ja.«
»Im Gefängnis?«
»Ja.«
»Warum?«
Martyn zuckte die Schultern. »Ich besuche ihn manchmal. Ich bringe ihm etwas Geld, rede mit ihm, frage ihn, ob es ihm gut geht. So etwas. Nichts Besonderes.«
»Willst du mir von ihm erzählen?«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht unbedingt.«
Eine Weile sagten sie kein Wort und Martyn überlegte, ob ihr diese Erklärungen genügen würden. Er war nicht bereit, ihr alles zu erzählen. Nicht einmal, sich selbst die ganze Wahrheit einzugestehen. Es gab Tage, an denen er nicht sicher war, ob alles nur ein Traum oder die Erinnerung an einen schlechten Film gewesen waren.
Wie könnte er der Frau, die er noch kein Jahr kannte, alles erzählen? Irgendwann vielleicht, doch nicht heute.
Schließlich fuhr Louisa mit beiden Händen über ihr Gesicht. »Und was hat dein Besuch bei deinem Vater im Gefängnis mit deiner Suspendierung zu tun?«
Du hast es so gewollt, Kumpel, stellte Martyn belustigt fest und nahm einen großen Schluck aus seinem Glas. Der Wein war immer noch kühl und tat seinem aufgewühlten Inneren gut.
Es fiel ihm nicht leicht, Louisas Fragen zu beantworten. Er dankte ihr insgeheim für ihre Vorsicht und Zurückhaltung. In ihrem Kopf wirbelten sicher weitaus mehr Fragen, doch sie wählte sie sorgsam aus und überforderte ihn nicht.
»Wie ich schon sagte, habe ich dies nur Milla erzählt. Ergo weiß sonst niemand im Präsidium davon, dass der Mann in der JVA mein Vater ist. Und mein Chef mag es nicht sonderlich, wenn ich hinter seinem Rücken privaten Angelegenheiten nachgehe. Heute ist unser Streit eskaliert, und er hat mich nach Hause geschickt.« Nach Martyns Dafürhalten war diese Erklärung dicht genug an der Wahrheit, dass er es guten Gewissens vertreten konnte.
»Warum hast du es denn getan?«, fragte sie.
»Weil ich oft genug Überstunden mache. Du weißt selbst zu gut, wie wenig Freizeit ich habe.« Auch das entsprach ausreichend der Wahrheit.
Seine Erklärungen schienen sie zufrieden zu stellen. Ihre Augen wanderten noch ein paar Male über sein Gesicht.
»Komm, lass uns ins Bett gehen!«, sagte sie, erhob sich, ohne seine Hand loszulassen, und zog ihn mit sich. »Lass uns deine Freizeit nutzen, so gut es geht!«
Bereitwillig folgte er ihr ins Schlafzimmer, schloss die Tür und brachte sich selbst und seine Freundin auf andere Gedanken.
»Was ist mit seinem Gesicht?«, fragte Milla den Kollegen neben sich.
»Mit seinem Gesicht ist nichts, glaube ich. Aber das da in seinem Mund ist wohl sein …« Er stockte.
Milla drehte sich zu ihm. Matkow stand auf seinem Namensschild auf der Brust. Polizeiobermeister, davon zeugten die Sterne auf seiner Schulterklappe, aber seiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen, noch nicht lange im Dienst.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte sie ehrlich besorgt.
Er nickte und schluckte hart.
»Also? Sein?«, hakte Milla nach. Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert.
Er schluckte erneut. »Sein Schwanz«, spie er hervor, drehte sich schlagartig um und erbrach sich in die Büsche.
»Hey, verunreinigen Sie nicht meinen Tatort«, rief der Rechtsmediziner. Der ältere Mann beugte sich gerade über die Leiche. Neben ihm blickten noch ein halbes Dutzend anderer Leute der Spurensicherung von ihrer Arbeit auf, die herumwuselten, wie es eben an einem Tatort üblich war.
Milla bewegte sich nicht vom Fleck. Sicher war der Anblick des Toten nicht schön. Sein Gesicht war entstellt, was aber eher daran lag, dass sein Mund und das Gebiet drumherum blutig waren. Nahm man die heruntergeschobene Hose und das völlig zerstörte Areal hinzu, das dort klaffte, wo einmal seine Genitalien gewesen sein mochten, konnte die Annahme des immer noch kotzenden Kollegen stimmen.
»Geht’s wieder?«, fragte Milla über die Schulter. Für ihren Geschmack waren die würgenden Laute hinter ihr ekelhafter als das Bild vor ihr.
Statt einer Antwort kam ein erneutes spuckendes und jammerndes Geräusch.
Gut, dann würde sie sich zunächst dem Rechtsmediziner widmen, der schon damit beschäftigt war, allerlei Utensilien in einen metallenen Koffer zu werfen. »Stimmt das? Was der Kollege sagte? Ist das in seinem Mund sein Schwanz?«
Kaltenberg richtete sich auf und drückte den Rücken durch. Er hatte sein Sakko ausgezogen und trug lediglich ein weißes Hemd, das verschwitzt und zerknittert wirkte. Die schwarzen Schuhe waren von einer staubigen Schicht überzogen. »Ich bin zu alt dafür. Aber heute Morgen war ich der einzig Verfügbare. Was ist eigentlich gerade los in Berlin? Stechen sich die Leute wegen der unerträglichen Hitze gegenseitig ab? Na schön, Frau Rostow. Ja, es stimmt. Das, was da in seinem Mund steckt, waren mal seine Genitalien. Der Penis und ein Großteil des Skrotums, würde ich sagen.«
»Was ist die Todesursache?« Milla überlegte, woran man starb, wenn man den eigenen Schwanz in den Mund gesteckt bekam. Ob man verblutete oder vorher erstickte, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen.
»Sie stellen interessante Fragen, Frau Rostow. Jeder andere hätte mich vermutlich zunächst gefragt, ob der arme Tropf schon tot war, als der Täter ihn um seine Kronjuwelen erleichterte. Denn diese Prozedur ist bei vollem Bewusstsein des Opfers eine außerordentlich schmerzhafte Angelegenheit sein. Gemessen an der Menge Blut, die aus der Wunde geflossen ist, ist er verblutet. Fünf Minuten höchstens. Eher drei.«