Bourbon Sins - J. R. Ward - E-Book
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Bourbon Sins E-Book

J. R. Ward

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Beschreibung

Liebe und Verrat, Lügen und Geheimnisse

Nach dem Tod des Familienoberhaupts hängt die Bourbon-Dynastie der Bradfords am seidenen Faden. Der Patriarch hat nicht nur das Unternehmen hoch verschuldet hinterlassen, nun entpuppt sich sein vermeintlicher Selbstmord auch noch als Mord. Unter Verdacht gerät der älteste Sohn Edward, den sein Vater um alles gebracht hat, was die Zukunft für ihn bereithielt. Während sein jüngerer Bruder Lane alles daran setzt, das Familienunternehmen zu retten, liegt das Schicksal der Bradford Bourbon Company nun ausgerechnet in den Händen ihrer größten Konkurrentin, der Frau, die Edward über alles liebt, aber unerreichbar für ihn scheint ...

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Seitenzahl: 614

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmungAnmerkung der AutorinPersonenverzeichnisAnzeigeEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigDanksagungDie AutorinDie Romane von J. R. WARD bei LYXImpressum

J. R. WARD

Bourbon Sins

Roman

Ins Deutsche übertragen von Marion Herbert und Katrin Kremmler

Zu diesem Buch

Nach dem Tod ihres Vaters stehen die Geschwister Lane, Edward und Ginny vor den Scherben ihrer Existenz. Als sich der Verdacht erhärtet, dass das Familienoberhaupt keinen Selbstmord begangen hat, sondern ermordet wurde, gerät jedes seiner Kinder unter Verdacht. Einen Grund, den Patriarchen zu töten, hatten alle: Ginny, die vom Vater in eine unglückliche Beziehung gezwungen wurde, während ihr Herz einem anderen gehört. Lane, dessen intrigante Noch-Ehefrau ein Kind von seinem Vater erwartet, und vor allem Edward, den er um alles betrogen hat, was die Zukunft für ihn bereithielt. Während jeder versucht, seine Unschuld zu beweisen, liegt das Schicksal der Bourbon-Dynastie in Lanes Händen, der alles riskieren muss, um das Familienerbe zu retten – nicht ahnend, dass längst jemand anders die Fäden zieht …

In Liebe fürLeElla Janine Scott

xxx

ANMERKUNG DER AUTORIN

Der »Engelsanteil« ist ein Begriff aus der Kunst der Bourbonherstellung. Der frisch gebrannte Bourbon wird in angekohlte Eichenfässer gefüllt, um bis zu zwölf Jahre zu reifen, manchmal sogar länger. Da die Fässer in nicht isolierten Gebäuden gelagert werden, sorgen die natürlichen Temperaturschwankungen während der vier Jahreszeiten in Kentucky dafür, dass das Holz sich bei Hitze und Kälte ausdehnt oder zusammenzieht und so mit dem Bourbon interagiert und ihm mehr Geschmack verleiht. In dieser Umgebung und unter Einwirkung von Zeit findet die finale Alchemie statt, durch die das unverkennbare, bekannteste und beliebteste Produkt des Staats entsteht. Dabei kommt es auch zu einer beträchtlichen Verdunstung und Absorption. Dieser Verlust, der jährlich etwa zwei Prozent des Originalvolumens betragen kann und unter anderem je nach Luftfeuchtigkeit, Temperaturschwankungen und Dauer der Reifung variiert, wird Engelsanteil genannt.

Obwohl dieser Schwund einen völlig einleuchtenden Grund hat, sozusagen eine logische Erklärung, gefällt mir die romantische Vorstellung, dass es in den Lagerhäusern dieser altehrwürdigen Destillerien in Kentucky Engel gibt, die auch gern ein Schlückchen trinken, wenn sie über die Erde flattern. Vielleicht einen Mint Julep während des Derbys, wenn es warm ist, und einen puren Bourbon in den kalten Wintermonaten. Vielleicht nutzen sie ihn auch für Pecan Pie oder Pralinen.

Die Einsatzmöglichkeiten für einen guten Bourbon sind, wie ich immer wieder feststelle, endlos.

Ich glaube, der Begriff kann auch den Einfluss der Witterung beschreiben, die uns alle im Lauf der Zeit verändert. Durch die Hitze oder Kälte unserer Erfahrungen und Lebenswege, die unsere Gefühle, Gedanken und Erinnerungen enger oder weiter machen, sind wir, wie edler Bourbon, am Ende ein anderes Produkt – und dafür müssen wir ein Opfer bringen. Wir bestehen aus denselben Kernelementen, aus denen wir zu Beginn zusammengesetzt wurden, aber wir sind später nie wieder dieselben. Wir verändern uns unablässig. Wenn wir Glück haben und klug sind und zur richtigen Zeit befreit werden, verbessern wir uns. Wenn wir zu lange lagern, sind wir für immer ruiniert.

Timing, genau wie Schicksal, ist alles.

PERSONENVERZEICHNIS

Virginia Elizabeth Bradford Baldwine, genannt »Little V. E.«: Witwe von William Baldwine, Mutter von Edward, Max, Lane und Gin Baldwine und direkte Nachkommin von Elijah Bradford, dem Begründer von Bradford Bourbon. Lebt völlig zurückgezogen und nur mithilfe ihrer Medikamente. Für ihre Tablettenabhängigkeit gibt es zahlreiche Gründe, von denen einige das Grundgerüst der Familie bedrohen.

William Wyatt Baldwine: Verstorbener Ehemann von Little V. E. und Vater ihrer Kinder Edward, Max, Lane und Gin Baldwine. Außerdem Vater eines ungeborenen Kindes von Chantal, der zukünftigen Exfrau seines Sohnes Lane. Zu Lebzeiten Chef der Bradford Bourbon Company. Ein Mann niederer Moral, hoher Ziele und geringer Skrupel, dessen Leiche kürzlich am Ohio-Wasserfall gefunden wurde.

Edward Westfork Bradford Baldwine: Ältester Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Rechtmäßiger Erbe der Bradford Bourbon Company. Nur noch ein Schatten seiner selbst infolge einer tragischen Entführung und Folterung, die sein eigener Vater veranlasst hatte. Hat seiner Familie den Rücken gekehrt und sich auf das Red-&-Black-Gestüt zurückgezogen.

Maxwell Prentiss Baldwine: Zweitältester Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Schwarzes Schaf der Familie. Seit Jahren fort von Easterly, dem historischen Anwesen der Bradfords in Charlemont, Kentucky. Sexy, schockierend und rebellisch. Seine Rückkehr bedeutet Probleme für eine Reihe von Leuten inner- und außerhalb der Familie.

Jonathan Tulane Baldwine, genannt »Lane«: Jüngster Sohn von Little V. E. und William Baldwine. Ehemaliger Playboy und großartiger Pokerspieler. Steckt mitten in der Scheidung von seiner ersten Frau. Da das Vermögen der Familie in Gefahr ist und immer gravierendere Veruntreuungen in der Bradford Bourbon Company ans Licht kommen, ist er gezwungen, die Rolle des Familienoberhaupts zu übernehmen. Muss sich nun mehr denn je auf seine große Liebe Lizzie King verlassen.

Virginia Elizabeth Baldwine, zukünftige Pford, genannt »Gin«: Jüngster Spross und einzige Tochter von Little V. E. und William Baldwine. Eine widerspenstige, aufmerksamkeitssüchtige Rebellin, die sich nie besonders um den Ruf ihrer Familie geschert hat, vor allem, als sie in ihren College-Jahren ein uneheliches Kind bekam und kaum ihren Abschluss schaffte. Steht kurz davor, Richard Pford zu heiraten, den Erben einer Spirituosen-Vertriebsgesellschaft und eines immensen Vermögens.

Amelia Franklin Baldwine: Tochter von Gin und Gins großer Liebe Samuel T. Lodge. Besucht die Hotchkiss School und steht ihrer Mutter in nichts nach.

Lizzie King: Gartenbauexpertin, die schon fast zehn Jahre auf Easterly arbeitet und dafür sorgt, dass die Gärten ihrer landesweiten Berühmtheit für seltene Pflanzen und Blumen gerecht werden. Liebt Lane Baldwine und würde für ihre Beziehung alles tun. Ist jedoch weniger begeistert von den Dramen der Familie.

Samuel Theodore Lodge III.: Anwalt, sexy Südstaaten-Gentleman und stets stilvoll gekleideter, privilegierter Bad Boy mit Stammbaum. Der einzige Mann, der je wirklich an Gin herankommen konnte. Hat keine Ahnung, dass Amelia seine Tochter ist.

Sutton Endicott Smythe: Frisch eingesetzte Chefin der Sutton Distillery Corporation, der größten Konkurrenz der Bradford Bourbon Company auf dem Markt. Seit Jahren in Edward verliebt. Hat es beruflich weit gebracht, aber ihr Privatleben auf Eis gelegt – hauptsächlich, weil niemand mit Edward vergleichbar ist.

Shelby Landis: Tochter einer Legende des Galopprennsports. Von ihrem Vater Jeb hat Edward sein Wissen über Pferde. Nun kümmert sich die fleißige, starke Frau um Edward – auch gegen seinen Willen.

Miss Aurora Toms: Seit Jahrzehnten Chefköchin von Easterly. Serviert mit starker Hand und warmem Herzen Soul Food ebenso wie Haute Cuisine. Leidet an Krebs im Endstadium. Mütterliche Kraft in Lanes, Edwards, Max’ und Gins Leben und der wahre moralische Kompass für die Kinder.

Edwin »Mack« MacAllan: Master Distiller der Bradford Bourbon Company. Züchtet neuen Hefestamm, kämpft gegen die Zeit und begrenzte Ressourcen, um die Destillierapparate weiterlaufen zu lassen. Hatte lange keine Liebesbeziehung mit einer Frau, vielleicht nie. Verheiratet mit seinem Job.

Chantal Blair Stowe Baldwine: Lanes zukünftige Exfrau. Schwanger mit William Baldwines unehelichem Kind. Die Schönheitskönigin mit dem Tiefgang einer Untertasse droht, die Vaterschaft ihres ungeborenen Babys öffentlich zu machen, um im Scheidungsprozess mehr Geld von Lane zu erpressen.

Rosalinda Freeland: Frühere Rechnungsprüferin auf dem Bradford Family Estate. Beging mit einer Dosis Schierling Selbstmord in ihrem Büro in der Villa. Mutter des achtzehnjährigen Randolph Damion Freeland.

CHARLEMONT COURIER JOURNAL

TODESANZEIGEN

WILLIAM W. BALDWINE

Vor zwei Tagen ist Mr William Wyatt Baldwine ins Reich seines Herrn und Erlösers eingegangen. Der weltbekannte Geschäftsmann, Wohltäter und engagierte Bürger war sechsunddreißig Jahre lang Chef der Bradford Bourbon Company. Als solcher läutete er für den Bourbon eine neue Erfolgsära ein und verhalf dem Unternehmen zu einem Jahreseinkommen von über einer Milliarde Dollar.

Der liebevolle Familienvater hinterlässt seine ihm treu ergebene Ehefrau Virginia Elizabeth Bradford Baldwine, seine geliebten Kinder Edward Westfork Bradford Baldwine, Maxwell Prentiss Baldwine, Jonathan Tulane Baldwine und Virginia Elizabeth Baldwine sowie seine geliebte Enkelin Amelia Franklin Baldwine.

Totenwache und Trauerfeier auf Einladung der Familie. Anstelle von Blumen sind Spenden in Mr Baldwines Namen an die University of Charlemont erbeten.

EINS

Big-Five-BrückeCharlemont, Kentucky

Jonathan Tulane Baldwine lehnte sich über das Geländer der neuen Brücke, die Charlemont in Kentucky mit seinem nächsten Nachbarn New Jefferson in Indiana verband. Fünfzehn Meter unter ihm in den schlammigen Fluten des Ohio spiegelten sich die bunten Lichter, die die fünf Brückenbögen schmückten. Als Lane sich auf die Spitzen seiner Slipper stellte, hatte er fast das Gefühl zu fallen.

Er stellte sich vor, wie sein Vater von genau diesem Rand in den Tod gesprungen war.

William Baldwines Leiche war vor genau zwei Tagen unterhalb des Ohio-Wasserfalls gefunden worden. Nach all seinen geschäftlichen Leistungen, nach all seinen hochfliegenden Zielen zu Lebzeiten hatte dieser Mann sein irdisches Dasein selbst verstümmelt und entstellt an einem armseligen Bootsliegeplatz beendet. Direkt neben einem alten Fischfangschiff. Das einen Wiederverkaufswert von zweihundert Dollar hatte. Dreihundert, höchstens.

Welch eine Schande.

Wie hatte es sich wohl angefühlt zu fallen? William musste eine scharfe Brise im Gesicht gespürt haben, als ihn die Schwerkraft erfasst und zum Wasser hinuntergezogen hatte. Seine Kleider mussten wie Fahnen geflattert und ihm gegen den Oberkörper und die Beine geklatscht sein. Die Augen mussten ihm getränt haben vom Wind – oder vielleicht sogar vor Gefühlen?

Nein, ganz sicher Ersteres.

Der Aufprall hatte bestimmt wehgetan. Und was dann? Ein schockiertes Einatmen, bei dem er das schmutzige Flusswasser eingesogen hatte? Ein würgendes Gefühl des Erstickens? Oder hatte er durch einen Knock-out gnädigerweise nichts mehr wahrgenommen? Oder … vielleicht hatte durch den Adrenalinüberschuss beim Absturz auch alles mit einem Herzinfarkt geendet, mit einem stechenden Schmerz in der Mitte der Brust, der in den linken Arm ausstrahlte und so einen lebensrettenden Schwimmzug verhinderte. War er noch bei Bewusstsein gewesen, als er gegen den Kohlekahn stieß und die Schiffsschraube ihn erfasste? Als er den Wasserfall hinunterstürzte, war er höchstwahrscheinlich schon tot.

Lane wünschte, er wüsste sicher, dass der Mann gelitten hatte.

Zu wissen, dass er Schmerzen gehabt hatte, fürchterliche, qualvolle Schmerzen, und auch Angst, eine durchdringende, überwältigende Angst, wäre eine mächtige Erleichterung gewesen, eine Besänftigung des Gefühlsstrudels, in den das Ertrinken seines Vaters ihn hineinzog, obwohl er auf trockenem Boden stand.

»Über achtundsechzig Millionen Dollar hast du gestohlen«, sprach Lane in den gefühllosen Wind, den gleichgültigen Abgrund, den gelangweilten Strom unter ihm. »Und das Unternehmen hat sogar noch mehr Schulden. Was zur Hölle hast du mit dem Geld gemacht? Wo ist es hingekommen?«

Natürlich bekam er keine Antwort. Und das wäre auch nicht anders gewesen, wenn der Mann noch gelebt und Lane ihn persönlich zur Rede gestellt hätte.

»Und meine Frau«, donnerte er. »Du hast meine Frau gevögelt. Unter dem Dach, das du mit meiner Mutter geteilt hast – und du hast Chantal geschwängert.«

Wobei Lanes Ehe mit Chantal, einer geborenen Blair Stowe, nichts weiter gewesen war als eine Heiratsurkunde, die er gegen seinen Willen unterschrieben hatte. Aber wenigstens stand er zu diesem Fehler und kümmerte sich darum, ihn auszumerzen.

»Kein Wunder, dass Mutter tablettenabhängig ist. Kein Wunder, dass sie sich versteckt. Sie muss von den anderen Frauen gewusst haben, muss gewusst haben, wer und was du warst, du Bastard.«

Als Lane die Augen schloss, sah er eine Leiche vor sich – aber nicht die aufgedunsenen, verdreckten Überreste seines Vaters auf dem Seziertisch, die er im Leichenschauhaus identifiziert hatte. Nein, er sah eine Frau, die aufrecht in ihrem Büro in der Familienvilla saß. Ihr professionelles, schlichtes Kostüm war perfekt zurechtgerückt, ihr zu einem Bob geschnittenes Haar nur leicht zerzaust, und an den Füßen trug sie grasbefleckte Turnschuhe statt ihrer üblichen Ballerinas.

Ihr Gesicht war eine entsetzliche Grimasse gewesen. Das irre Grinsen des Jokers.

Von der Dosis Schierling, die sie genommen hatte.

Zwei Tage bevor sein Vater gesprungen war, hatte Lane ihre Leiche gefunden.

»Du bist schuld, dass Rosalinda tot ist, du Dreckskerl. Sie hat dreißig Jahre lang in unserem Haus für dich gearbeitet, und du hättest sie genauso gut selbst umbringen können.«

Ihr war es zu verdanken, dass Lane von dem fehlenden Geld erfahren hatte. Die frühere Rechnungsprüferin der Haushaltskonten der Familie hatte eine Art Abschiedsbrief hinterlassen, einen USB-Stick mit Excel-Tabellen, die die alarmierenden Abbuchungen und Überweisungen an WWB Holdings enthielten.

William Wyatt Baldwine Holdings.

Es gab gut achtundsechzig Millionen Gründe, warum sie sich vergiftet hatte. Die alle darauf zurückzuführen waren, dass Lanes Vater sie zu Rechtsverstößen gezwungen hatte, bis ihr Anstandsgefühl sie zerstörte.

»Und ich weiß, was du Edward angetan hast. Ich weiß, dass du auch daran schuld warst. Du hast deinem eigenenSohn in Südamerika eine Falle gestellt. Sie haben ihn deinetwegen gekidnappt, und du hast dich geweigert, das Lösegeld zu zahlen, damit sie ihn töten. Ein Konkurrent weniger, während du als der trauernde Vater dastehen kannst. Oder hast du es getan, weil auch er den Verdacht hatte, dass du stiehlst?«

Edward hatte überlebt, aber Lanes älterer Bruder war jetzt nur noch ein Wrack, nicht mehr der Unternehmenserbe, der Thronfolger, der Kronprinz.

William Baldwine hatte so viele Verbrechen begangen.

Und das waren nur die Dinge, von denen Lane wusste. Was hatte er wohl sonst noch getan?

Was sollte Lane nun tun? Was konnte er tun?

Er hatte das Gefühl, am Steuer eines großen Schiffs zu stehen, das auf eine felsige Küste zufuhr – kurz bevor das Ruder abbrach.

Er stemmte sich kraftvoll hoch und schwang die Beine über das robuste Stahlgeländer, bis seine Slipper auf dem fünfzehn Zentimeter breiten äußeren Brückenrand aufkamen. Sein Herz hämmerte, seine Hände und Füße wurden taub, sein Mund trocknete aus, sodass er kaum noch schlucken konnte, während er sich hinter den Hüften festhielt und sich noch weiter über den Abgrund beugte.

Wie hatte es sich angefühlt?

Er könnte springen – oder einfach einen Schritt nach vorne gehen … und fallen, fallen, fallen, bis er sicher wusste, was sein Vater durchgemacht hatte. Würde er am selben Bootsliegeplatz ankommen? Würde sein Körper auch in der Schiffsschraube eines Kohlekahns landen und im schmutzigen Wasser des Ohio zerstückelt werden?

In Gedanken hörte er ganz deutlich seine Momma in ihrem tiefen Südstaatenakzent sagen: Gott bürdet uns nicht mehr auf, als wir tragen können.

Miss Auroras Glaube hatte ihr zweifellos über mehr Schicksalsschläge hinweggeholfen, als die meisten Normalsterblichen verkraften konnten. Sie war in den Fünfzigern als Afroamerikanerin in den Südstaaten aufgewachsen und hatte Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten erlebt, die er sich gar nicht vorstellen konnte. Und doch hatte Miss Aurora das alles nicht nur ertragen, sondern auch mit Auszeichnung die Kochschule abgeschlossen und die Gourmetküche auf Easterly geführt wie ein französischer Sternekoch oder sogar besser – und gleichzeitig war sie für ihn und seine Geschwister eine Mutter gewesen wie niemand sonst, die Seele von Easterly, die moralische Instanz für so viele.

Der Leuchtturm, der für ihn das einzige Licht am Horizont gewesen war, bis er Lizzie kennengelernt hatte.

Lane wünschte sich, er könnte glauben wie seine Momma. Und Miss Aurora vertraute sogar auf ihn, vertraute darauf, dass er alles zum Guten wenden, die Familie retten und der Mann werden würde, den sie in ihm sah.

Der Mann, der sein Vater niemals gewesen war, trotz all seines äußerlichen Reichtums und Erfolges.

Springen, er könnte einfach springen. Und es wäre vorbei.

Waren das die Gedanken seines Vaters gewesen? War William, nachdem die Lügen und Veruntreuungen aufgeflogen waren, nachdem Rosalindas Tod das Ende der Heimlichkeiten angekündigt hatte, hierhergekommen, weil nur er das wahre Ausmaß seiner Taten und die Tiefe seiner Schuld kannte? Hatte er begriffen, dass das Spiel aus war, dass seine Zeit abgelaufen war und dass er, selbst bei all seinem finanziellen Geschick, das von ihm verursachte Problem nicht lösen konnte?

Oder hatte er beschlossen, seinen eigenen Tod vorzutäuschen – und war dabei versehentlich umgekommen?

Lag vielleicht alles, was abgezweigt worden war, irgendwo da draußen auf einem Schwarzgeldkonto oder in einem Tresorraum in der Schweiz – unter seinem oder einem anderen Namen?

So viele Fragen. Und die fehlenden Antworten, zusammen mit dem Druck, das alles wieder in Ordnung bringen zu müssen, konnten einen in den Wahnsinn treiben.

Lane konzentrierte sich wieder auf das Wasser. Aus dieser Höhe konnte er es kaum sehen. Eigentlich sah er nichts als Schwärze und ein schwaches Schimmern.

Es hatte in der Tat etwas Verlockendes, einen feigen Abgang zu machen, stellte er fest. Etwas zog ihn wie die Schwerkraft zu einem Ende hin, das er unter Kontrolle hatte: Ein einziger harter Aufprall, und alles wäre aus und vorbei, die Todesfälle, der Betrug, die Schulden. Er wäre frei von alldem, müsste sich keine Sorgen mehr machen über die eiternde Infektion, die sich ausbreiten und sich bald nicht mehr vor der Öffentlichkeit verstecken lassen würde.

Hatte sein Vater schlaflose Nächte gehabt? Reuegefühle? Hatte William wohl, als er hier stand, gezweifelt, ob er ein paar Augenblicke lang fallen und mit dem schrecklichen Unheil abschließen sollte, das er angerichtet hatte? Hatte der Mann auch nur ein einziges Mal an die Folgen seiner Taten gedacht, während er ein zweihundert Jahre altes Vermögen nicht innerhalb einer Generation, sondern in nur ein, zwei Jahren vernichtete?

Der Wind pfiff Lane in den Ohren wie ein Lockruf.

Edward, sein ältester, früher einmal perfekter Bruder, würde nicht alles wieder in Ordnung bringen. Gin, seine einzige Schwester, war unfähig, an irgendwas anderes als an sich selbst zu denken. Maxwell, sein anderer Bruder, hatte nun schon seit drei Jahren nichts mehr von sich hören lassen.

Seine Mutter war bettlägerig und betäubt von ihren Medikamenten.

Also lag alles in den Händen eines Pokerspielers und ehemaligen Womanizers ohne finanztechnische, betriebswirtschaftliche oder sonstige nötige Erfahrungen.

Letztendlich hatte er nichts als die Liebe einer wunderbaren Frau.

Aber in dieser grausamen Realität würde nicht einmal das ihm helfen.

Toyota-Trucks sollten keine hundertzwanzig Stundenkilometer fahren. Erst recht nicht, wenn sie zehn Jahre alt waren.

Aber wenigstens war die Fahrerin hellwach, obwohl es vier Uhr morgens war.

Lizzie King umklammerte das Lenkrad mit eisernem Griff und hatte das Gaspedal ganz durchgetreten, während sie auf eine Steigung im Highway zufuhr.

Sie war in ihrem Farmhaus allein im Bett aufgewacht. Lange Zeit wäre das nichts Besonderes gewesen, aber das hatte sich geändert, seit Lane in ihr Leben zurückgekehrt war. Der reiche Playboy und die Gärtnerin des Anwesens hatten endlich zueinandergefunden, und die Liebe verband das ungleiche Paar enger und fester als die Moleküle eines Diamanten.

Und sie würde bei ihm bleiben, egal was die Zukunft bringen sollte.

Schließlich war es so viel leichter, einen unglaublichen Reichtum aufzugeben, wenn man ihn nie gekannt, nie erstrebt hatte – und erst recht, wenn man die traurige, öde Wüste hinter seinem glitzernden Vorhang von Glamour und Luxus gesehen hatte.

Gott, auf Lane lastete wirklich ein unheimlicher Druck.

Also war sie aus dem Bett aufgestanden. War die knarrenden Stufen hinuntergelaufen. Und hatte das ganze Erdgeschoss ihres kleinen Hauses abgesucht.

Dann hatte Lizzie hinausgeschaut und festgestellt, dass sein Auto nicht da war. Sein Porsche, den er immer neben dem Ahornbaum vor der Veranda parkte, war nirgends zu sehen. Und mit der Überlegung, warum er wohl weggefahren war, ohne etwas zu sagen, hatte sie angefangen, sich Sorgen zu machen.

Erst wenige Nächte zuvor hatte sein Vater sich umgebracht, erst zwei Tage zuvor war William Baldwines Leiche am Ohio-Wasserfall gefunden worden. Und seither hatte Lane immer einen abwesenden Gesichtsausdruck gehabt, hatten sich seine Gedanken ständig um das fehlende Geld gedreht, um seine Scheidung von der habgierigen Chantal, die unbezahlten Haushaltsrechnungen, die unsichere Zukunft der Bradford Bourbon Company, den erschreckenden Gesundheitszustand seines Bruders Edward, Miss Auroras Krankheit.

Aber er hatte über all das kein Wort verloren. Seine Schlaflosigkeit war das einzige Anzeichen der Belastung gewesen, und genau das machte ihr Angst. Lane gab sich immer Mühe, in ihrer Gegenwart ruhig zu bleiben, fragte sie nach ihrer Arbeit in den Gärten von Easterly, massierte ihr die schmerzende Schulter, kochte ihr ein Abendessen – wobei er nicht sehr talentiert war, aber wen kümmerte das schon. Nachdem die beiden sich ausgesprochen und sich wieder ganz auf die Beziehung eingelassen hatten, war er sozusagen bei ihr eingezogen – und obwohl sie es genoss, ihn bei sich zu haben, hatte sie doch die ganze Zeit auf eine Explosion gewartet.

Es wäre fast leichter gewesen, wenn er vor Wut ausgerastet wäre.

Und nun fürchtete sie, dass es passiert war – und irgendein sechster Sinn ließ sie erschaudern, während sie überlegte, wohin er gefahren sein könnte. Easterly, das Bradford Family Estate, war der erste Ort, der ihr einfiel. Oder vielleicht die alte Brennerei, wo der Bourbon seiner Familie immer noch hergestellt und gelagert wurde? Oder sogar Miss Auroras baptistische Kirche?

Ja, Lizzie hatte versucht, ihn auf dem Handy zu erreichen. Und als es auf dem Nachttisch an seiner Seite des Betts klingelte, hatte sie nicht länger gewartet. Anziehen. Schlüssel. Raus zum Auto.

Niemand sonst war auf der I-64 unterwegs, als Lizzie auf die Brücke zufuhr, um den Fluss zu überqueren, und sie trat weiter aufs Gas, auch als sie die Hügelspitze erreichte und zum Flussufer, das noch zu Indiana gehörte, hinunterrollte. Ihre alte Kiste wurde dabei nicht nur immer schneller, sondern verfiel auch in ein Todesröcheln, sodass das Lenkrad und der Sitz bebten, aber der verdammte Toyota durfte jetzt nicht den Geist aufgeben, denn sie brauchte ihn.

»Lane … wo bist du?«

Gott, wie oft hatte sie ihn gefragt, wie es ihm gehe, und er hatte »gut« geantwortet. Wie oft hatte er die Gelegenheit verstreichen lassen, mit ihr zu reden. Wie oft hatte sie ihn beobachtet, ohne dass er es merkte, hatte nach Zeichen für Anspannung oder Druck gesucht. Und doch hatte er kaum Gefühle gezeigt nach jenem gemeinsamen Moment im Garten, jenem unvergesslichen Moment, der nur ihnen beiden gehörte, als sie ihn unter den blühenden Obstbäumen gefunden und ihm gesagt hatte, sie habe ihn missverstanden, habe ihn falsch eingeschätzt und sei bereit, ihm das Einzige zu schenken, was sie hatte: die Besitzurkunde ihres Farmhauses – damit er es verkaufen konnte, um die Anwälte zu bezahlen, wenn er darum kämpfte, seine Familie zu retten.

Lane hatte sie in die Arme geschlossen und ihr gesagt, dass er sie liebe – und ihr Geschenk abgelehnt. Er wollte alles allein wieder in Ordnung bringen, er würde irgendwie das gestohlene Geld wiederfinden, die gigantische Schuld zurückzahlen, das Unternehmen sanieren und das Vermögen seiner Familie zurückgewinnen.

Und sie hatte ihm geglaubt.

Sie glaubte ihm immer noch.

Aber seither? Seither war er so warm und verschlossen gewesen wie ein Heizofen, körperlich anwesend und gleichzeitig völlig unbeteiligt.

Lizzie machte ihm nicht die geringsten Vorwürfe.

Trotzdem war es auf eine seltsame Art beängstigend.

In der Ferne, jenseits des Flusses, strahlte und glitzerte das Geschäftsviertel von Charlemont, die schöne Lüge eines irdischen Sternenhimmels, und die Brücke zwischen den beiden Ufern war zur Feier des Derbys noch in Frühlingsgrün und Hellrosa beleuchtet, fast wie ein Regenbogen in jenes gelobte Land. Zum Glück gab es keinen Verkehr, sodass Lizzie auf der anderen Seite direkt vom Highway auf die River Road abbiegen und nach Norden zum Hügel von Easterly fahren könnte, um zu sehen, ob Lanes Wagen vor der Villa parkte.

Was sie dann tun würde, wusste sie noch nicht.

Die neu gebaute Brücke hatte je drei Spuren in beide Richtungen und in der Mitte aus Sicherheitsgründen eine breite hohe Betonmauer. Parallel dazu strahlten Reihen von weißen Lichtern, und alles glänzte nicht nur von der Beleuchtung, sondern auch, weil das Wetter der Brücke noch nicht zugesetzt hatte. Der Bau war erst im März abgeschlossen geworden, und die ersten Autos hatten sie Anfang April überquert, sodass es nun weniger Stau während der Stoßzeiten gab …

Vor ihr, eigentlich auf der »Kriechspur«, parkte ein Fahrzeug, das ihr Gehirn erkannte, noch bevor sie die Augen bewusst darauf richtete.

Lanes Porsche.

Lizzie trat noch heftiger auf die Bremse als zuvor aufs Gas, und ihr Wagen begann den Übergang von »volle Kraft voraus« zu absolutem Stillstand so anmutig wie ein Sofa, das aus einem Fenster im ersten Stock fällt: Alles vibrierte und zitterte, als würde er gleich auseinanderbrechen, schlimmer noch, die Geschwindigkeit änderte sich kaum, als hätte sich der Toyota beim Beschleunigen zu sehr angestrengt, um den Schwung nun kampflos aufzugeben.

Da war eine Gestalt am Rand der Brücke. Ganz am äußersten Rand. An der Kante über dem tödlichen Abgrund.

»Lane«, schrie Lizzie. »Lane!«

Ihr Wagen drehte sich, vollführte eine solche Pirouette, dass sie sich den Hals verrenken musste, um Lane im Blick zu behalten. Dann sprang sie hinaus, noch bevor der Toyota ganz zum Stehen kam, und ließ den Schalthebel auf Neutral, den Motor laufen und die Tür offen.

»Lane. Nein. Lane!«

Lizzie rannte über die Fahrbahn und stieg über Absperrgitter, die ihr mangelhaft erschienen, zu schwach in Anbetracht der Entfernung bis hinunter zum Fluss.

Lane drehte ruckartig den Kopf – und verlor mit einer Hand den Halt am Geländer hinter ihm.

Während seine andere Hand abrutschte, drückte sein Gesicht Schrecken aus, ein kurzes Aufblitzen von Überraschung, die sofort blankem Entsetzen wich – als er einfach ins Nichts hinunterstürzte.

Lizzie konnte den Mund gar nicht weit genug aufreißen, um zu schreien.

ZWEI

Poker.

Als Lane plötzlich nichts mehr zwischen seinen Füßen und dem Ohio hatte, als sein Körper in den freien Fall stürzte, als ein heftiger Adrenalinschub – zu spät – durch seine Adern schoss, musste er an ein Pokerspiel denken, das er vor sieben Jahren im Bellagio in Las Vegas gespielt hatte.

Gut, dass er den Sturz wie in Zeitlupe erlebte.

Sie hatten zu zehnt um den High-Stakes-Tisch gesessen, und das Startkapital hatte fünfundzwanzigtausend betragen. Zwei waren Raucher gewesen, acht Bourbon-Trinker, drei hatten Sonnenbrillen getragen, einer einen Bart, zwei Baseballmützen und ein sogenannter Prediger einen merkwürdig geschnittenen weißen Seidenanzug, den Elvis in den Achtzigern hätte anziehen können – wenn der King noch mehr Erdnussbutter-Bananen-Sandwiches gegessen und lang genug gelebt hätte, um die Entstehung des Punk mitzubekommen.

Noch wichtiger, wie sich nun herausstellte, war jedoch die Anwesenheit eines ehemaligen Navy-Offiziers gewesen. Er hatte zwei Plätze von Lane entfernt gesessen, und nachdem immer mehr Leute ausgestiegen waren, spielten die beiden schließlich nur noch gegeneinander. Der frühere Soldat hatte ein echtes Pokerface, was vermutlich daran lag, dass er sich seinen Lebensunterhalt in weit bedrohlicheren Situationen verdient hatte, als auf einem gepolsterten Hocker an einem grünen Filztisch zu sitzen. Außerdem hatte er sonderbare hellgrüne Augen und ein täuschend bescheidenes Auftreten gehabt.

Und es war merkwürdig, dass dieser Typ, den Lane schließlich mit zwei Königen gegen ein Ass besiegt hatte, die letzte Person war, an die er dachte.

Na ja, die vorletzte.

Lizzie. Oh Gott, er hatte nicht damit gerechnet, dass Lizzie ihn hier draußen finden würde, und die Überraschung hatte ihn einen fatalen Fehler machen lassen.

Oh Gott, Lizzie …

Zurück zum Pokerspieler. Der Typ hatte von seinen Erfahrungen auf einem Flugzeugträger draußen auf dem Ozean erzählt. Wie man ihnen beigebracht hatte, aus neun, zwölf, fünfzehn Metern Höhe ins Wasser zu springen. Wie man, wenn man das überleben wollte, seinen Körper in eine bestimmte Position bringen musste, bevor man auf der Oberfläche aufkam.

Das Entscheidende war der Widerstandsbeiwert. Der sollte so nah wie möglich an der Null liegen.

Mit den Füßen zuerst aufzutreffen war ein Vorteil, die Knöchel zu kreuzen eine Notwendigkeit – wobei Letzteres besonders wichtig war, damit die Beine nicht auseinandergerissen werden konnten wie das Gabelbein eines Truthahns an Thanksgiving. Außerdem sollte man einen Arm vor den Oberkörper legen und mit der Hand den Ellbogen gegenüber festhalten. Der andere Arm sollte in der Mitte der Brust nach oben gehen und die Handfläche Mund und Nase bedecken. Der Kopf musste mit dem oberen Ende der Wirbelsäule eine Linie bilden, sonst riskierte man eine Gehirnerschütterung oder ein Schleudertrauma.

Man tauchte ein wie ein Messer.

Ansonsten hatte Wasser, wenn man mit hoher Geschwindigkeit darauf aufkam, mehr mit Zement gemeinsam als mit einer Flüssigkeit.

Man musste so starr sein wie möglich.

Wie ein Klippenspringer.

Und hoffen, dass die inneren Organe in einem Tempo abgebremst wurden, das irgendwie mit ihrer Verankerung im Skelett kompatibel war. Denn sonst, hatte der Navy-Typ gesagt, würden sich die Eingeweide im Brustkorb verteilen wie ein Käse-Omelett, das man in die Pfanne goss.

Lane spannte seinen Körper an, nutzte jeden Muskel, um sich in dünnen starken Stahl zu verwandeln wie eine Messerklinge. Der Wind, Gott, der Wind rauschte in seinen Ohren wie das Grollen eines Tornados. Da war kein Flattern, zumindest bemerkte er keins. Der Sturz fühlte sich eigentlich eher an wie eine Sandstrahlerbehandlung, als würden Wellen winziger Teilchen über ihn hinwegbrausen.

Und die Zeit stand still.

Er hatte den Eindruck, endlos in dem Nimmerland zwischen seinem letzten festen Halt und dem nassen Grab zu schweben, das ihn erwartete – genau wie auch schon seinen Vater.

»Ich liebe dich!«

Zumindest hatte er das sagen wollen. Was aus seinem Mund kam, bevor er aufprallte? Keine Ahnung.

Er spürte den Aufschlag in den Hüften, in den Hüften und Knien, als seine Beine in den Oberkörper gerammt wurden. Und dann war da nur noch Kälte. Der Schmerz durchzuckte sein Inneres, und alles wurde kalt, kalt, kalt.

Der Fluss verschluckte seine Brust und seinen Kopf wie ein Leichensack, dessen Reißverschluss zugezogen wird. Die schwarze Hülle schloss sich, sperrte frische Luft, Licht und Geräusche aus.

Dumpf. Düster. Erstickt.

Schwimmen, dachte er. Schwimmen.

Die Arme gehorchten ihm nicht, aber als er langsamer wurde, trat er mit den Beinen um sich, und dann, ja, dann drückte er mit den Händen das nun weiche Wasser weg. Er öffnete die Augen, vielleicht hatte er sie auch gar nicht geschlossen gehabt – aber er fühlte plötzlich ein Stechen, ein Brennen an den Pupillen.

Nicht atmen. Obwohl er am liebsten seinem Instinkt gefolgt wäre und nach dem Schock tief ausgeatmet hätte, bewahrte er sich den kostbaren Sauerstoff.

Treten. Wegdrücken.

Er kämpfte.

Um sein Leben.

Damit er zu der Frau zurückkehren konnte, die er beim ersten Mal schon nicht hatte verlassen wollen – und die er auch diesmal nicht verlassen wollte.

Damit er beweisen konnte, dass er anders war als sein Vater.

Und damit er den bevorstehenden Bankrott abwenden konnte, der seine Familie in den Ruin zu treiben drohte.

Als Lane von der Brücke fiel, war Lizzies erster Gedanke, ihm zu folgen. Sie wollte sich schon über das Geländer schwingen und selbst in den Fluss springen.

Doch sie hielt inne, denn auf diese Weise konnte sie ihm nicht helfen. Verdammt, womöglich würde sie sogar auf ihm landen, wenn er gerade hochkam, um nach Luft zu schnappen. Vorausgesetzt, er kam hoch. Oh Gott …

In die Tasche greifen. Handy. Handy, sie brauchte ihr …

Sie hörte das Quietschen der Reifen direkt neben ihr kaum. Und sie sah denjenigen, der da angehalten hatte, nur an, weil ihr das Handy aus der Hand rutschte und in seine Richtung flog.

»Ist er gesprungen?« schrie der Mann. »Ist er gesprungen?«

»Gefallen …« Sie fing das Handy gerade noch auf, bevor es auf dem Asphalt landete. »Er ist gefallen!«

»Mein Bruder ist Polizist …«

»Neun-eins-eins.«

Sie wählten beide gleichzeitig, und Lizzie drehte sich weg, stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte übers Geländer. Sie konnte dort unten nichts sehen wegen all der Lichter um sie herum und der Tränen, die sie wegblinzelte. Ihr Herz raste und setzte immer wieder aus, und sie nahm vage wahr, dass ihre Hände und Füße allmählich taub wurden. Heiß, ihr Körper war heiß wie an einem Hochsommertag, und der Schweiß rann ihr in Strömen über die Haut.

Es klingelte dreimal. Was, wenn niemand ranging …?

Als sie sich wieder umdrehte, stand der Mann vor ihr, der von seinem Auto herbeigeeilt war – und sie hatte das seltsame Gefühl, dass sie sich noch ihr Leben lang an diesen Augenblick erinnern würde. Er vielleicht auch.

»Hallo!« rief sie. »Ich bin auf der Brücke, der Big-Five-Brücke. Jemand ist …«

»Hallo!« sagte der Mann. »Ja, wir haben einen Springer …«

»Er ist nicht gesprungen! Er ist gefallen – was? Wen interessiert denn mein Name? Schicken Sie jemanden – nicht zur Brücke. Weiter nach unten – am Fluss entlang …«

»… der sich gerade von der neuen Brücke gestürzt hat. Ich weiß, dass du im Dienst bist – du bist unter der Brücke? Kannst du jemanden …«

»… um ihn rauszuholen. Nein, ich weiß nicht, ob er überlebt hat!« Dann hielt Lizzie sogar trotz ihrer Panik inne und wiederholte die Frage, die man ihr gestellt hatte. »Wer es war?«

Auch noch in diesem Schreckensmoment zögerte sie, den Namen preiszugeben. Alles, was die Bradfords betraf, kam in die Schlagzeilen, nicht nur in Charlemont, sondern landesweit, und diesen Sprung – Sturz, verdammt noch mal – würde Lane bestimmt nicht in den Nachrichten haben wollen. Vorausgesetzt, er überlebte …

Egal. Es ging hier um Leben und Tod.

»Sein Name ist Lane Bradford – er ist mein Freund. Ich bin hergekommen, weil …«

Sie redete wirr drauflos und drehte sich zurück zum Abgrund. Und dann beugte sie sich wieder übers Geländer und hoffte, sie würde seinen Kopf auf der Wasseroberfläche entdecken. Gott, sie sah überhaupt nichts!

Nachdem Lizzie ihren Namen, ihre Nummer und alles angegeben hatte, was sie wusste, legte sie auf. Inzwischen hatte der Mann seinen Anruf ebenfalls beendet und redete auf sie ein, sagte ihr, dass sein Bruder oder sein Cousin oder auch der Weihnachtsmann kommen würde. Lizzie hörte nicht zu. Ihr einziger Gedanke war, dass sie zu Lane musste, sie musste …

Sie blickte zu ihrer Klapperkiste.

Und dann zu Lanes 911-Turbo-Cabrio.

Einen Sekundenbruchteil später saß sie am Steuer des Porsches. Zum Glück hatte Lane den Schlüssel stecken lassen, und der Motor sprang an, sobald sie die Kupplung trat und die Pferdchen herumriss. Gas zu geben war etwas völlig anderes als bei ihrem alten Toyota. Sie drehte den Sportwagen mit schlitternden Reifen um die eigene Achse und brauste davon – in die falsche Richtung.

Na und? Sollten die Cops sie doch festnehmen. Wenigstens würden sie ihr dann hinunter ans Wasser folgen.

Ein entgegenkommendes Scheinwerferpaar zwang sie, mit dem Porsche nach rechts auszuweichen, und die Hupe des anderen Fahrzeugs dröhnte in ihrem Kopf wie ein Schrei, der sie möglicherweise aus der Bahn geworfen hätte, wenn sie nicht so hundertprozentig darauf konzentriert gewesen wäre, zu Lane zu gelangen.

Lizzie nahm die Ausfahrt mit knapp hundertdreißig Stundenkilometern, und wie durch ein Wunder fuhr gerade niemand herauf auf den Highway. Unten wendete sie noch einmal ordnungswidrig, sodass sie nun in die richtige Richtung unterwegs war, brach aber weitere Verkehrsregeln, indem sie über den Bordstein fuhr und einen Grünstreifen überquerte, bevor sie eine zweispurige Straße erreichte, die hinunter zum Fluss führte.

Lizzie beschleunigte den Porsche auf fast hundertsechzig Stundenkilometer.

Und machte dann eine Vollbremsung.

Am Ufer, in einem viktorianischen Haus mit Geschichte, befand sich eine der beliebtesten Eisdielen der Region – und dort konnte man sich nicht nur erfrischen, sondern auch Fahrräder ausleihen – und Boote.

Sie parkte den 911 nicht richtig, sondern ließ ihn einfach schief auf dem Rasen am Straßenrand stehen, sodass die eingeschalteten Scheinwerfer aufs Wasser gerichtet waren. Dann sprang sie über einen Zaun und rannte über eine flache Liegewiese zu den Schwimmdocks. Dort fand sie einige Motorboote, in denen natürlich keine Schlüssel steckten, und einen schäbigen, wackeligen Kahn mit Außenbordmotor und Seilzugstarter.

Der glücklicherweise nicht an den Pfosten angekettet war.

Lizzie sprang hinein und startete den Motor mit zwei kräftigen Rucks. Dann löste sie die Leinen und fuhr auf den Fluss hinaus, wobei der Blechkahn gegen die Wellen klatschte und ihr die Gischt ins Gesicht spritzte. In dem schwachen Licht konnte sie nur wenig erkennen – und ihre größte Sorge war, Lane zu überfahren.

Sie war erst etwa hundert Meter weit auf den Fluss gefahren – der ihr groß wie ein Ozean erschien –, als sie etwas Wunderbares am Horizont erblickte.

Ein Wunder.

Es war ein Wunder.

DREI

Der Ohio war viel kälter, als Lane es sich je hätte vorstellen können. Und das Ufer war so weit weg, als wollte er den Ärmelkanal durchschwimmen. Sein Körper war so schwer, als hätte er Zementblöcke an den Füßen. Und seine Lungen würden nicht mehr lange mitmachen.

Die Strömung riss ihn mit, aber das war nur hilfreich, wenn er den Wasserfall hinunterstürzen wollte wie sein Vater. Und wie das Glück so spielte, zerrte ihn ein erbarmungsloser Sog in die Mitte des Flusses, noch weiter weg vom Festland, und er musste dagegen ankämpfen, wenn er irgendeine Chance haben wollte zu …

Als ein greller Lichtstrahl hinter ihm auftauchte, dachte er für einen Sekundenbruchteil, der Glaube seiner Momma wäre Wirklichkeit geworden und ihr Jesus wäre erschienen, um ihn zum Himmelstor zu bringen.

»Ich hab ihn! Ich hab ihn!«

Okay, diese Stimme klang viel zu ruppig für einen Heiligen – und der Südstaatenakzent deutete darauf hin, dass es wahrscheinlich ein Sterblicher und nicht Gott war.

Lane spuckte Wasser aus, drehte sich auf den Rücken und musste sich mit einem Arm die Augen abschirmen, weil der Scheinwerfer ihn blendete.

»Er lebt!«

Das Boot, das neben ihm hielt, war zehn Meter lang und hatte eine Kajüte. Der Motor wurde abgeschaltet, als sich das Heck zu ihm drehte.

Ein Greifarm mit einem Netz packte ihn, und dann kletterte er aus dem Fluss und auf die Plattform über den Schiffsschrauben. Dort ließ er sich auf den Rücken fallen und blickte hinauf in die Nacht. Er sah keine Sterne. Die Stadt strahlte zu hell. Oder vielleicht war sein Blick zu getrübt.

Das Gesicht eines Mannes erschien über ihm. Grauer Bart. Struppiges Haar. »Wir haben dich springen sehen. Zum Glück waren wir gerade unter …«

»Da kommt jemand von Steuerbord.«

Lane wusste, ohne hinzuschauen, wer es war. Er wusste es einfach. Und tatsächlich sah er, sobald der Scheinwerfer in jene Richtung gedreht wurde, seine Lizzie in einem Kahn herankommen. Das schwache Metallding schaukelte auf dem Wasser, während sie neben dem Außenbordmotor kauerte und das schrille Heulen der überstrapazierten kleinen Maschine den perfekten Soundtrack für ihren panischen Gesichtsausdruck abgab.

»Lane!«

»Lizzie!« Er setzte sich auf und hielt sich die triefenden Hände an den Mund. »Mir geht’s gut. Ich hab’s geschafft.«

Sie fuhr profimäßig bis direkt ans Heck heran, und obwohl er nasse Kleider hatte und fror bis auf die Knochen, stürzte er sich auf sie. Oder vielleicht stürzte sie sich auf ihn. Wahrscheinlich beides.

Er drückte sie fest an sich, und sie drückte ihn. Und dann riss sie sich los und boxte ihn so kräftig in den Oberarm, dass sie ihn fast wieder in den Fluss gestoßen hätte.

»Aua!«

»Was zur Hölle hast du da oben gemacht …?«

»Ich wollte nicht …«

»Bist du wahnsinnig …?«

»Ich hab nicht …«

»Du hättest dich fast umgebracht!«

»Lizzie, ich …«

»Ich bin total wütend auf dich!«

Der Blechkahn schwankte, als Lane zu Lizzie hinübersprang und sie sich schließlich gegenüberstanden. Er nahm vage wahr, dass drei Fischer vom größeren Boot aus zuschauten wie im Kino.

»Ich könnte dich echt ohrfeigen!«

»Okay, wenn du dich dann besser fühlst …«

»Nein!«, erwiderte Lizzie. »Werd ich nicht … Ich dachte, du bist tot.«

Als sie anfing zu weinen, fluchte er. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

Er zog sie wieder an sich und hielt sie fest, streichelte ihr über den Rücken und murmelte irgendwas, woran er sich später nicht erinnern würde, obwohl der Augenblick selbst unvergesslich war.

»Es tut mir so leid … Es tut mir so leid …«

Doch Lizzie brauchte wie immer nicht lange, bis sie sich zusammenriss und zu ihm aufsah. »Ich würde dir echt am liebsten noch eine reinhauen.«

Lane rieb sich den Oberarm. »Und ich würde es immer noch verdienen.«

»Alles in Ordnung bei euch?« rief einer der Fischer und warf ihnen ein ausgebleichtes Handtuch zu, das nach Fischköder roch. »Braucht ihr einen Rettungsdienst? Einer von euch?«

»Haben wir schon angerufen«, antwortete Lizzie.

Und genau jetzt blitzten oben auf der Brücke rote und blaue Lichter auf und schossen auch auf der Seite, die zu Indiana gehörte, zum Flussufer herunter.

Na großartig, dachte Lane, als er sich in das Handtuch hüllte. Wirklich verdammt großartig.

»Uns geht’s gut.« Lane streckte dem Fischer die Hand entgegen. »Danke.«

Der Mann mit dem grauen Bart schüttelte ihm die Hand. »Ich bin froh, dass niemand verletzt ist. Wisst ihr, die Leute springen von da oben. Erst letzte Woche ist wieder einer gesprungen und hat sich umgebracht. Sie haben ihn unter dem Wasserfall gefunden. An einem Bootsliegeplatz.«

Ja, das war mein Vater, dachte Lane.

»Ach wirklich?«, log er. »Es stand gar nichts in der Zeitung.«

»Der Bootsliegeplatz gehört meinem Cousin. Der Kerl war wohl ein hohes Tier oder so. Da wird nicht drüber geredet.«

»Üble Sache. Tut mir leid für seine Familie, wer auch immer das ist.«

»Danke«, sagte Lizzie zu den Männern. »Vielen Dank, dass Sie ihn rausgeholt haben.«

Es folgte noch ein kurzes Gespräch, von dem Lane jedoch nicht viel mitbekam – nur dass er das Handtuch behalten sollte. Er dankte ihnen, setzte sich dann auf die Mittelbank und schlang die Arme um seinen Brustkorb, um möglichst viel Körperwärme zu speichern. Währenddessen startete Lizzie mit ein paar kräftigen Zügen den Außenbordmotor erneut und steuerte vom Fischerboot weg. Der süßliche Geruch von Benzin und Öl lag in der Luft und erinnerte Lane an die Sommer seiner Kindheit. Als Lizzie den Kahn wendete, blickte er zurück zum größeren Boot.

Und dann lachte er.

»Was ist?«, fragte sie.

»Der Name des Boots.« Er deutete auf den Schriftzug am Heck. »Unglaublich.«

Aurora stand dort in goldenen Buchstaben.

Jepp, auch wenn sie nicht da war, wurde er immer irgendwie von seiner Momma beschützt, gerettet, unterstützt.

»Das ist unheimlich«, sagte Lizzie, während sie Gas gab und sie zurück zum Ufer schaukelten.

Jedes Mal, wenn Lane blinzelte, sah er wieder den Abgrund unter der Brücke und erlebte noch einmal den Augenblick, als er hinunterstürzte. Obwohl er nun mit der Frau, die er liebte, aufs Festland zufuhr, fühlte er sich, als wäre er wieder in jenem Niemandsland, ohne jede Sicherheit, mit nichts als Luft zwischen sich und einem harten, harten Aufprall, der ihn ziemlich sicher umbringen würde.

Er konzentrierte sich auf Lizzie, betrachtete ihre entschlossenen Gesichtszüge, ihre wachsamen Augen, ihr blondes Haar, das in der Brise wehte. Sie hatte sich nicht darum gekümmert, dass sie nass wurde, als sie einander umarmt hatten.

»Ich liebe dich«, sagte er.

»Was?«

Er schüttelte nur den Kopf und lächelte vor sich hin. Der Name seiner Momma auf jenem Bootsheck … seine Liebste hier am Steuer …

»Hast du dieses Boot geklaut?«, rief er lauter.

»Ja«, schrie sie zurück. »Mir war alles egal. Ich musste zu dir.«

Als sie an den Anlegesteg zurückkamen, manövrierte sie das Boot ganz ohne Probleme, lenkte den Außenborder, indem sie mit dem Griff entgegen der Richtung steuerte, in der sie den Bug haben wollte, und fuhr dann so geschickt rückwärts, dass die metallene Nussschale die Pflöcke trotz der Strömung nur ganz sanft berührte.

Lane band den Bug mit einer Leine fest, Lizzie sicherte das Heck, und dann streckte er ihr die Hand entgegen, um ihr auf den Steg zu helfen. Doch sie kam nicht zu ihm, sondern steckte eine Hand in die Tasche ihrer leichten Jacke. Dann nahm sie etwas heraus und klemmte es an den Tankdeckel.

Als sie ohne Hilfe auf den Anlegesteg sprang, fragte er: »Was war das?«

»Ein Fünf-Dollar-Schein. Ich hab Benzin verbraucht.«

Einen Augenblick lang stand Lane einfach vor ihr, obwohl er immer noch fror bis auf die Knochen und sie sich auf einem fremden Grundstück befanden und er soeben ein Bad im Ohio genommen hatte.

Ach, und dann waren da noch die Cops, die gerade ankamen.

Und dieser kleine Vorfall mit dem Sturz und der Quasi-Nahtoderfahrung.

Im Licht der Scheinwerfer umfing er ihr schönes Gesicht mit beiden Händen. Lizzie war alles, was seine Familie nicht war. Und zwar in vielerlei Hinsicht.

Das war einer der vielen Gründe, warum er sie liebte. Und es war seltsam, aber er hatte plötzlich das Bedürfnis, mit ihr eine Verbindung für die Ewigkeit einzugehen.

»Was ist?«, flüsterte sie.

Er begann, auf ein Knie zu sinken. »Lizzie …«

»Oh nein, wirst du ohnmächtig?« Sie zog ihn wieder hoch und rieb ihm über die Arme. »Du wirst ohnmächtig. Komm, lass uns einen Krankenwagen rufen …«

»Hände hoch«, befahl jemand. »Auf der Stelle!«

Lane sah zu all den Lichtern und fluchte. Es gab geeignete Momente, um einer Frau einen Heiratsantrag zu machen. Im Fadenkreuz der Charlemont Metro Police, mit Dreckwasser durchtränkt und zwei Minuten nach einem beinahe tödlichen Sturz in den Ohio?

Wohl eher nicht.

»Hey«, sagte einer der Cops. »Den kenne ich. Das ist Lane Bradford.«

»Halt die Klappe«, zischte jemand.

»Es gab doch diesen Artikel über ihn …«

»Hicks, sei still.«

Als Hicks schwieg, hob Lane beide Arme und blickte in die grellen Lampen. Er konnte nichts von dem sehen, was vor ihm war. Eigentlich ganz passend.

»Kann ich verhaftet werden, weil ich das Boot genommen habe?«, flüsterte Lizzie und hob ebenfalls die Hände.

»Ich kümmere mich darum«, sagte Lane leise. »Mach dir keine Sorgen.«

Shit.

VIER

Easterly, das Bradford Family Estate

»Ich hasse dich!«

Gin Baldwine, zukünftige Pford, die jüngste der noch lebenden Virginia Elizabeths der Familie Bradford, stürzte sich auf eine Lampe, erreichte sie aber nicht. Wahrscheinlich besser so. Sie bestand aus einer Imari-Vase, die Gin eigentlich immer gemocht hatte, und der seidene Schirm war handgearbeitet und trug ihre mit echtem Goldfaden eingestickten Initialen.

Es wäre schade gewesen, etwas so Schönes zu zerstören – denn es würden gewiss nur Scherben und Fetzen übrigbleiben, wenn sie sie einmal durch den Raum geworfen hatte.

Was sie davon abhielt, war die Hand ihres Verlobten, der sie an den Haaren packte und sie von ihren Stilettos schleuderte. Nach einem kurzen Augenblick der Schwerelosigkeit, der sogar ganz nett war, folgte eine harte Landung, bei der ihre Schulterblätter aufprallten, ihre Zähne aufeinanderschlugen und ihr wieder bewusst wurde, dass das Steißbein eigentlich ein sehr überflüssiger Körperteil war.

Und der pochende Schmerz dort unten erinnerte sie daran, wie ihr Vater ihr als Kind mit einem seiner Ledergürtel den Hintern versohlt hatte.

Selbstverständlich hatte sie sich strikt geweigert, aus jenen Erziehungsmaßnahmen irgendwas zu lernen oder ihr Verhalten in irgendeiner Weise zu ändern. Schon allein um zu beweisen, dass er keine Kontrolle über ihr Leben hatte.

Und seither war ja alles so wunderbar gelaufen.

Richard Pfords schmales, kantiges Gesicht erschien über ihrem Kopf. »Du kannst mich hassen, so viel du willst, aber du wirst dich nicht noch mal so respektlos verhalten. Ist das klar?«

Er zog sie immer noch an den Haaren, sodass sie seiner Kraft mit dem Hals und der Wirbelsäule standhalten musste, damit er ihr nicht den Kopf abriss.

»Was ich tue oder nicht«, fauchte sie, »wird nichts daran ändern, was andere über dich denken. Und daran hat sich auch nie irgendwas geändert.«

Sie funkelte ihn an und lächelte. Ein Blick in seine Rattenaugen verriet ihr, dass er sich gerade an die alten Zeiten erinnerte und sein niedriges Selbstwertgefühl die Liste der Beleidigungen durchging, die er hatte einstecken müssen, als sie Klassenkameraden an der Charlemont Country Day gewesen waren. Gin hatte zu den Lautesten gehört, eine richtige Rotzgöre, die die anderen angeführt hatte. Richard hingegen war ein dürrer, pickeliger Junge mit einer Stimme wie Donald Duck gewesen, der sich eindeutig für etwas Besseres hielt. Nicht mal der außerordentliche Reichtum seiner Familie hatte ihn beliebter machen können – auch nicht bei den Mädchen.

Und hatte die Jugendsprache der Neunziger nicht großartige Ausdrücke hervorgebracht? Loser, Weichei, Lusche, Warmduscher, Memme.

Richard schüttelte sich und konzentrierte sich wieder auf sie. »Ich will, dass meine Frau zu Hause auf mich wartet, wenn ich einen Geschäftstermin habe, bei dem sie nicht erwünscht ist.« Er zerrte sie an den Haaren. »Ich will nicht, dass sie in einem Jet nach Chicago sitzt …«

»Du wohnst in meinem Haus …«

Richard packte sie wieder fester, als würde er einen Hund mit einem Würgehalsband abrichten. »Erst recht nicht, nachdem ich ihr gesagt habe, dass sie keins von meinen Flugzeugen benutzen darf.«

»Aber wenn ich ein Bradford-Flugzeug genommen hätte, wie hätte ich dann sicher sein können, dass du davon erfährst?«

Sein verwirrter Gesichtsausdruck war alles wert, was passierte – und was nun folgen würde.

Gin riss sich los und stand wieder auf. Ihr Gucci-Kleid war ganz verrutscht, und sie überlegte, ob sie es so lassen oder zurechtziehen sollte.

So lassen, beschloss sie.

»Die Party war himmlisch«, hauchte sie. »Genau wie die beiden Piloten. Du hast wirklich ein Händchen dafür, die richtigen Männer einzustellen.«

Als Richard wutentbrannt eine Hand über seine Schulter hob, lachte sie. »Sei vorsichtig mit meinem Gesicht. Meine Visagistin ist gut, aber Concealer haben auch ihre Grenzen.«

In ihrem Kopf und ihrem ganzen Körper sang der Wahnsinn wie ein Chor am Altar der Zügellosigkeit. Und für einen Sekundenbruchteil musste sie an ihre Mutter denken, die am anderen Ende des Flurs in ihrem Bett lag, so hilflos wie irgendeine obdachlose Drogenabhängige auf der Straße.

Aber wenn eine Bradford von Beruhigungsmitteln abhängig wurde, bekam sie sie von ihrem Leibarzt. Sie schlief in Porthault-Bettwäsche statt auf Pappkarton und wurde von Privatpflegerinnen statt in einer Notunterkunft betreut. Sie nahm »Medikamente« statt »Drogen«.

Doch wie man es auch nennen wollte – dass es besser und leichter sein konnte als die Realität, leuchtete ein.

»Du brauchst mich«, zischte Richard. »Und wenn ich etwas kaufe, erwarte ich, dass es ordnungsgemäß funktioniert. Sonst werfe ich es weg.«

»Wer einmal Gouverneur von Kentucky werden will, sollte wissen, dass seine Frau zu schlagen ganz miese PR ist.«

»Du wirst dich noch wundern. Ich bin Republikaner, vergiss das nicht.«

Der ovale Spiegel über einer ihrer zwei italienischen Kommoden im Stil Ludwig XV. aus dem achtzehnten Jahrhundert zeigte ihr hinter Richards Schulter ein perfekt eingerahmtes Bild von ihnen beiden: sie mit verschmiertem Lippenstift wie Blut am Kinn, das blaue Kleid bis zu den Spitzensäumen ihrer halterlosen Strümpfe hochgeschoben, ihr braunes Haar in unordentlichen Wellen wie der Heiligenschein der Hure, die sie war; er in seinem altmodischen Nachthemd, dazu ein Wall-Street-Seitenscheitel im Stil der Achtzigerjahre, sein Ichabod-Crane-Körper bis in die letzte Faser angespannt. Und um sie herum? Üppige Seidenvorhänge vor deckenhohen Fenstern, Antiquitäten wie aus dem Victoria and Albert Museum, ein Bett von der Größe einer Empfangshalle, mit monogrammbestickten Bezügen.

Richard und sie in ihrer nachlässigen Kleidung, mit ihrer Missachtung höflicher Umgangsformen, waren der falsche Ton in einer Sonate, der Riss in der Mitte eines Vermeer-Gemäldes, die Reifenpanne bei einem Phantom Drophead.

Oh ja, Gin liebte es, nicht ins Bild zu passen. Richard und sie zusammen zu sehen, beide zitternd am Rand des Wahnsinns, verschaffte ihr eine gewisse Befriedigung.

Doch sie hatten beide recht. Aufgrund der plötzlich völlig geänderten finanziellen Situation ihrer Familie und seiner Ambitionen auf das Gouverneursamt profitierten sie gegenseitig voneinander. Sie waren gefangen in einer explosiven Beziehung, die auf seiner jahrzehntelangen Schwärmerei für die begehrteste Debütantin von Charlemont und ihrer unerwarteten materiellen Notlage beruhte.

Aber Ehen waren auch schon aus viel nichtigeren Gründen geschlossen worden. Zum Beispiel der Illusion von Liebe, der Lüge von Treue, dem giftigen Glauben an das »Schicksal«.

Auf einmal wurde sie müde.

»Ich gehe ins Bett«, verkündete sie und drehte sich weg, um sich in ihr Bad zu begeben. »Dieses Gespräch langweilt mich.«

Er packte sie wieder, doch diesmal nicht an den Haaren. »Aber ich bin noch nicht fertig mit dir.«

Als er sie herumdrehte und an sich zog, gähnte sie ihm ins Gesicht. »Aber beeil dich. Ach, bei dir geht es ja immer schnell – das ist das Einzige, was gut ist am Sex mit dir.«

FÜNF

Lizzies FarmhausMadisonville, Indiana

»Du hast doch nicht im Ernst gedacht, ich wäre dort gewesen, um zu springen, oder?«

Als der Mann, den Lizzie liebte, am anderen Ende ihres Sofas zu sprechen begann, versuchte sie, sich zusammenzureißen. Da ihr das nicht gelang, strich sie stattdessen über den handgenähten Quilt, den sie sich über die Beine gezogen hatte. Ihr kleines Wohnzimmer lag an der Vorderseite des Farmhauses und hatte ein großes sechsteiliges Fenster zur Veranda, dem Vorgarten und der unbefestigten Einfahrt. Die Einrichtung war rustikal und gemütlich: An den Wänden hing ihre Sammlung altertümlicher Landwirtschaftsgeräte, gegenüber stand ihr altmodisches Klavier und davor lagen bunte geflochtene Teppiche, um die Farbe der Holzböden zur Geltung zu bringen.

Normalerweise gab ihr diese Umgebung immer Ruhe. Doch an diesem Morgen war das schwierig.

Was für eine Nacht. Sie hatten etwa zwei Stunden gebraucht, um der Polizei zu erklären, was passiert war, sich zu entschuldigen, beide Autos zu holen und zurückzufahren.

Ohne Lanes Freund, den Deputy Sheriff Mitchell Ramsey, wären sie wohl immer noch draußen am Flussufer bei der viktorianischen Eisdiele – oder vielleicht auf der Polizeiwache. In Handschellen. Für eine Leibesvisitation.

Mitch Ramsey hatte ein Händchen für schwierige Situationen.

Und jetzt saßen sie also hier auf ihrer Couch, Lane geduscht und in seinem Lieblings-Sweatshirt von der Uni, sie in einem seiner Button-down-Hemden und einer Leggings. Aber obwohl es ein Maimorgen im Süden war, fror sie bis auf die Knochen. Was im Prinzip Lanes Frage beantwortete.

»Lizzie? Dachtest du, ich wollte springen?«

»Natürlich nicht.«

Gott, sie würde niemals das Bild von ihm an der Außenseite des Geländers vergessen, wie er sich zu ihr umdrehte … den Halt verlor … ins Dunkel stürzte …

»Lizzie.«

Sie griff sich an den Kopf und versuchte, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. Vergeblich. »Wenn du nicht springen wolltest, was zur Hölle hast du da gemacht? Du hast dich über den Abgrund gebeugt, Lane. Du hast …«

»Ich wollte wissen, wie es sich anfühlt.«

»Weil du dich umbringen wolltest«, schloss sie mit zugeschnürter Kehle.

»Nein, weil ich ihn verstehen wollte.«

Lizzie runzelte die Stirn. »Wen? Deinen Vater?« Wen denn sonst? »Lane, es gibt da wirklich andere Möglichkeiten, diese Sache zu verarbeiten.«

Er könnte zum Beispiel zu einem Psychotherapeuten gehen und sich auf eine andere Couch als diese hier setzen. Das würde die Gefahr, dass er in den Tod stürzte, während er versuchte, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen, gleich bedeutend verringern.

Und es hätte den Vorteil, dass sie sich dann keine Sorgen machen müsste, wegen Missachtens der Wasserstraßenverordnung bestraft zu werden.

Ob der Fünf-Dollar-Schein wohl noch an dem Tankdeckel steckt?, überlegte sie.

Lane streckte einen Arm, als wäre er steif geworden, und fluchte, als sein Ellbogen, oder auch die Schulter, dabei knackte. »Weißt du, jetzt, wo Vater tot ist, werde ich nie mehr Antworten bekommen. Ich sitze hier fest und muss sein verfluchtes Chaos in Ordnung bringen, und ich bin total wütend und kapiere es einfach nicht. Jeder kann sagen, dass er ein Dreckskerl war, und das stimmt, aber das ist keine Erklärung für das Wie und Warum. Und ich konnte nicht schlafen, habe immer nur an deine Zimmerdecke gestarrt, bis ich es nicht mehr ausgehalten habe. Ich bin zur Brücke gefahren und über das Geländer geklettert, um da zu stehen, wo er gestanden hat, weil ich sehen wollte, was er gesehen hat, als er dort war. Ich wollte eine Ahnung davon bekommen, was er gefühlt hat. Ich wollte Antworten. Woanders werde ich sie nicht finden – und nein, ich war nicht dort, um mich umzubringen. Das schwöre ich bei Miss Auroras Seele.«

Ein Augenblick verging, dann beugte sich Lizzie vor und nahm seine Hand. »Es tut mir leid. Ich dachte nur – na ja, ich hab nun mal gesehen, was ich gesehen habe, und du hast mir nichts von alldem gesagt.«

»Was hätte ich denn sagen sollen? In meinem Kopf dreht sich alles, sodass ich schreien könnte.«

»Aber dann wüsste ich wenigstens, was in dir vorgeht. Dein Schweigen macht mir Angst. Deine Gedanken drehen sich im Kreis? Tja, meine auch.«

»Es tut mir leid.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich werde kämpfen. Für meine Familie. Für uns. Und glaub mir, wenn ich Selbstmord begehen würde, dann würde ich mein Leben ganz sicher nicht auf die gleiche Weise beenden wie er. Ich will mit dem Mann nichts gemeinsam haben. Seine DNA hab ich schon, da kann ich nichts machen. Aber ich werde bestimmt nicht für weitere Ähnlichkeiten sorgen.«

Lizzie holte tief Luft. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Wenn du etwas tun könntest, würde ich es dir sagen. Versprochen. Aber jetzt gerade muss ich mich selbst um alles kümmern. Ich muss das fehlende Geld finden, die Schulden an Prospect Trust zurückzahlen und hoffen, dass ich das Geschäft am Laufen halten kann. Bradford Bourbon gibt es schon über zweihundert Jahre – das kann jetzt nicht aufhören. Das geht einfach nicht.«

Als Lane den Kopf drehte, um durch das große Fenster hinauszuschauen, betrachtete sie sein Gesicht. Er war, wie ihre Großmutter gesagt hätte, wirklich eine Augenweide. Klassisch schön, mit blauen Augen in der Farbe eines klaren Herbsthimmels, dunklem Haar, das sich zwischen ihren Fingern dick anfühlte, und einem Körper, der garantiert in jedem Raum alle Blicke auf sich zog.

Aber bei ihr war es keine Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ganz und gar nicht. Der aufsässige jüngste Sohn der Familie Bradford war ihr viel zu oberflächlich erschienen – doch in Wahrheit hatte sich hinter ihrer Geringschätzung eine leidenschaftliche Anziehung verborgen, und sie hatte mit aller Kraft versucht, ihre Gefühle zu ignorieren. Und dann waren sie zusammengekommen … und sie hatte sich in ihn verliebt, genau wie in »Sabrina«.

Na ja, nur in ihrem Fall war die »Bedienstete« eine Gartenbauexpertin mit einem Master in Landschaftsarchitektur der Cornell University.

Aber dann hatte Chantal vier Wochen später in der Presse verkündet, sie sei mit Lane verlobt und erwarte ein Kind von ihm. Damit war die Sache für Lizzie beendet gewesen, und Lane hatte die Frau geheiratet.

Nur um kurz darauf in den Norden zu verschwinden.

Schrecklich. Was für eine schreckliche Zeit das gewesen war. Nach der Trennung hatte Lizzie ihr Bestes getan, um weiter auf Easterly arbeiten zu können und sich nicht aus der Bahn werfen zu lassen. Aber alle bekamen es mit, als Chantal plötzlich nicht mehr schwanger war.

Später stellte sich heraus, dass sie das Baby nicht »verloren« hatte. Sie hatte sich in einer Privatklinik oben in Cincinnati »darum gekümmert«.

Unglaublich. Gott sei Dank ließ Lane sich nun von ihr scheiden.

Und Gott sei Dank hatte Lizzie schließlich die Wahrheit erkannt und sich überwunden, dem Mann selbst zu glauben, nicht seinem Ruf. Auch wenn es sie einiges gekostet hatte.

»Die Sonne geht auf«, murmelte Lane. »Ein neuer Tag fängt an.«

Er streichelte von ihrem nackten Fuß hinauf zum Knöchel und ließ dann die Hand auf ihrer Haut liegen, aber Lizzie war nicht sicher, ob er das überhaupt merkte. Das machte er oft; er berührte sie unbewusst, wenn seine Gedanken abschweiften, als spürte er einen Drang, die geistige Entfernung durch körperliche Nähe auszugleichen.

»Ich bin so gerne hier draußen.« Er lächelte in das goldene Licht, das lange Schatten auf ihren Rasen und über die frisch bestellten Felder zeichnete. »Es ist so still.«

Das stimmte. Zwischen dem Anwesen seiner Familie und Lizzies Farmhaus mit dem zugehörigen Grundstück und den entfernten Nachbarn lagen Welten. Die einzigen Störungen hier draußen waren ferne Ackergeräusche und ab und zu mal eine ausgerissene Kuh.

Auf Easterly herrschte niemals Ruhe, selbst wenn es in den Zimmern still war. Besonders jetzt.

Die Schulden. Die Todesfälle. Das Chaos.

»Ich wollte nur wissen, was er gefühlt hat, als er gestorben ist«, sagte Lane leise. »Ich will, dass es wehgetan hat. Ich will, dass es ihm … wehgetan hat.«

Lizzie streckte die Zehen, um ihm über den Unterarm zu streichen. »Du musst dich deswegen nicht schlecht fühlen. Deine Wut ist ganz natürlich.«

»Miss Aurora würde sagen, ich soll stattdessen für ihn beten. Für seine Seele beten.«

»Weil deine Momma ein Engel ist.«

»Genau.«

Lizzie lächelte und dachte an die Afroamerikanerin, die viel mehr Lanes Mutter war als die Frau, die ihn geboren hatte. Gott sei Dank hatte er Miss Aurora. In dem riesigen historischen Haus, in dem er aufgewachsen war, gab es so wenige sichere Orte, aber jene Küche voller Soul Food und französischer Feinkost war für Lane eine Zufluchtsstätte.

»Ich dachte wirklich, du wolltest springen«, platzte sie heraus.

Er sah ihr in die Augen. »Ich habe zu viel, wofür es sich zu leben lohnt. Ich habe uns.«

»Ich liebe dich auch«, flüsterte sie.

Gott, er wirkte so viel älter als erst vor einer Woche, als er mit einem Privatjet aus seinem Versteck in Manhattan zurückgekehrt war. Er hatte Easterly besucht, weil Miss Aurora zusammengebrochen war und er sich vergewissern musste, dass es ihr gut ging. Und dann war er geblieben, weil kurz darauf so viel passiert war: Seine Familie war mit einem Eisberg zusammengestoßen, der im Fluss der Vorsehung versteckt gewesen war, und das scheinbar unzerstörbare Schiff der zweihundertjährigen Geschichte der Bradfords, ihrer außerordentlichen finanziellen und gesellschaftlichen Position, hatte einen so tiefen Riss bekommen, dass eine erneute Wende des Schicksals zurück zum Guten nun … unmöglich schien.

»Wir können fortgehen.« Lizzie bog ihren Fuß wieder. »Wir können dieses Haus verkaufen und mit dem Geld weit weg von alldem hier ein schönes Leben führen.«