Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Im November 1966 neigen sich die Berliner Jahre des Regierenden Bürgermeisters Willy Brandt dem Ende zu. Der bei den West-Berlinern ungemein beliebte Politiker, der ein Jahr zuvor als SPD-Kanzlerkandidat gescheitert ist, will einen zweiten Versuch in der Bundespolitik wagen. Unterdessen reisen Rechtsextremisten nach Berlin ein, und Mitglieder der ehemaligen antikommunistischen „Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit“ scheinen wieder aktiv zu werden. Den Revisionisten ist die Politik des Berliner Senats gegenüber der DDR-Regierung zu moderat. Der Kölner Verfassungsschützer Voißel ist alarmiert und informiert die West-Berliner Polizei über Hinweise auf einen möglichen Anschlag. Noch ist aber unklar, gegen wen oder was sich dieser richten soll. So wird Kriminaloberkommissar Otto Kappe eine ganz besondere Aufgabe zugewiesen: Er soll diesen Entwicklungen auf den Grund gehen. Für den politisch nicht sonderlich interessierten Kappe stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Zudem ist sein Handlungsspielraum eingeschränkt, denn auch der US-Geheimdienst mischt sich ein. Kaum hat Kappe erste Ermittlungen angestellt, wird eine wichtige Informantin tot aufgefunden … Inspiriert von historischen Vorgängen rund um den Beginn der bundespolitischen Karriere von Willy Brandt, hat Klaus Vater einen spannenden politischen Krimi geschrieben.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 239
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Klaus Vater
Brandt-Gefahr
Der 29. Kappe-Fall
Kriminalroman
Jaron Verlag
Klaus Vater, geboren 1946, studierte Politische Wissenschaften, bevor er ab 1972 als Redakteur arbeitete. Ab 2000 war er Pressesprecher zunächst des Bundesarbeitsministeriums, später des Bundesgesundheitsministeriums, schließlich stellvertretender Sprecher der Bundesregierung. Vater schrieb diverse Sachbücher zum Arbeitsmarkt und zum wirtschaftlichen Strukturwandel. Für seinen Jugendkriminalroman «Sohn eines Dealers» erhielt er 1992 den Jugendbuchpreis «Emil». In der Reihe «Es geschah in Berlin» erschien von ihm bereits «Am Abgrund» (2011). Er schreibt regelmäßig für den Blog «Carta», das Magazin «Cicero» und die Zeitschrift «Berliner Republik».
Originalausgabe
1. Auflage 2017
© 2017 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
www.jaron-verlag.de
Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin
Satz: Prill Partners|producing, Barcelona
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017
ISBN 978-3-95552-028-1
Cover
Titel
Impressum
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
NACHBEMERKUNG
Es geschah in Berlin …
Mittwoch, 16. November 1966
AM MORGEN sah es nach Regen aus. Daher zog der Berliner Kriminaloberkommissar Otto Kappe einen hellen Popelinemantel über seinen dunkelblauen Anzug, nahm seinen schwarzen Stockschirm zur Hand, setzte eine Tweedmütze auf, schlug den Mantelkragen hoch und ließ sich von seiner Frau Gertrud begutachten. Im Flur schaute er kurz in den Wandspiegel. Er sah ein schmales Gesicht mit kaltem Blick, einer geraden Nase und zusammengekniffenen Lippen. Der Mann, den er vor sich hatte, wirkte abweisend. Das störte ihn aber nicht weiter. Schließlich gab er Gertrud einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sagte, dass er noch nicht wisse, wann er am Abend nach Hause komme. Otto rügte sich im Stillen wegen dieses nichtssagenden Abschiedsrituals, zog deshalb seine Frau an sich, drückte sie fest und atmete ihren Duft ein. Er küsste sie erneut, nahm ihr Gesicht in beide Hände und betrachtete sie einen Augenblick, bevor er die gemeinsame Wohnung im Horstweg verließ und zum Sophie-Charlotte-Platz ging.
Er stieg in die U 1, um bis zum Nollendorfplatz zu fahren. Dort wollte er in die U 4 wechseln, um am Bayerischen Platz auszusteigen. Er suchte sich einen freien Platz, setzte sich hin und klemmte den Stockschirm zwischen die Knie.
Neben ihm unterhielten sich zwei ältere Frauen über den heutigen Buß- und Bettag: «Die Nazis haben ’34 daraus einen Feiertag für alle gemacht, ihn aber ’39 praktisch wieder abgeschafft …»
Otto Kappe machte sich nichts aus diesem kirchlichen Feiertag, er war nicht religiös. Dennoch war er davon überzeugt, dass es irgendetwas da oben geben müsse – etwas, das Ordnung geschaffen hatte. Denn an Zufälle glaubte er weder im Beruf noch im Hinblick auf Natur und Kosmos.
Am Abend zuvor hatten Gertrud und er seine Eltern beköstigt. Gertrud hatte eine Ausnahme gemacht. Da sie selbst berufstätig war, kochte sie meist nur am Wochenende warm. Es hatte hausgemachte Buletten, grüne Bohnen und Salzkartoffeln und als krönenden Abschluss Eiscreme mit Kirschsirup gegeben – Letzteres auf besonderen Wunsch von Ottos Vater Oskar. Der hatte während des Essens angekündigt, man werde am Buß- und Bettag einen Gottesdienst in der Zwölf-Apostel-Kirchengemeinde besuchen, denn er sei nun in dem Alter, in dem man bereits die Landebahn vor sich habe, wie eine DC 6, die in Tempelhof einschwebe. Er müsse sich langsam darauf einstellen, dass sein Leben sich dem Ende zuneige, und deshalb sei Beten nicht der schlechteste Rat.
«Was meinst du damit?», hatte Gertrud erschrocken gefragt.
Oskar, mittlerweile achtzig Jahre alt, hatte geantwortet: «Ich habe den Eindruck, dass einiges den Bach runtergeht. Die Nazis ziehen wieder in die Parlamente ein, und die Stadt ist zu einem Schieber- und Gaunerparadies geworden. Für die kleinen Leute wird zu wenig getan. Wie sich das alles weiterentwickeln wird, weiß niemand.» Der alte Herr war ganz aufgeregt gewesen. «Der Churchill hat mal gesagt, die Deutschen habe man entweder zu den Füßen oder an der Kehle. Da hat der alte Knabe wohl recht gehabt.»
«Und du meinst, beten hilft?», hatte Otto entgegnet.
«Werd ich ja bald sehen.»
Der Sohn hatte nur den Kopf geschüttelt und gerätselt, ob sein Vater auf seine letzten Tage noch wunderlich werde.
Ottos Mutter Frieda, genannt Friedel, hatte der Unterhaltung mit wachsendem Unbehagen gelauscht. Bevor ihr Mann fortfahren konnte, hatte sie eingeworfen: «Oskar regt sich immer so fürchterlich auf, wenn er Rundfunk hört. Neulich hat ein …»
Otto hatte das Interesse am weiteren Verlauf des Gesprächs verloren. Ihn hatte vielmehr der Gedanke beschäftigt, was es zu bedeuten habe, dass der Berliner Kripochef am Buß- und Bettag eine Unterrichtung angesetzt hatte.
Diese Frage ließ Otto Kappe auch jetzt, in der U-Bahn, nicht los. Fast hätte er vergessen, am Bahnhof Nollendorfplatz auszusteigen. Er sprang wie von der Tarantel gestochen auf, rannte zur Schiebetür, stemmte sie auf und fluchte leise vor sich hin. Das hätte ihm heute noch gefehlt, zu spät beim Dienst zu erscheinen! Er möge bitte pünktlich sein, hatte Frieda Kessel, seine Sekretärin, nachdrücklich hinzugefügt, als sie ihm gestern kurz vor Dienstende mitgeteilt hatte, dass der Direktor der Berliner Kripo, Günther Niederzier, ihn heute um neun Uhr zu einer Besprechung mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz erwarte.
Worum konnte es bloß gehen? War irgendetwas passiert, das ihm bisher entgangen war? Hat einer seiner Kollegen etwas derart versiebt, dass der Verfassungsschutz auf den Plan gerufen wurde? Unwahrscheinlich. Er ging noch einmal alle aktuellen Fälle durch, aber keine der laufenden Ermittlungen bot viel Zündstoff. Das Einschalten der Verfassungsschützer machte Kappe jedenfalls misstrauisch. Der riesige Apparat der West-Berliner Polizei glich einem Labyrinth, in dem man leicht den Überblick verlor. Überzeugte Sozialdemokraten und alte Nationalsozialisten fochten ihre Kämpfe aus. Außerdem wusste niemand, wie viele Spitzel Ost-Berlins und Moskaus in den drei Westsektoren aktiv waren, denn bis zum Mauerbau 1961 hatten diese ungehinderten Zutritt zum Westen gehabt. Viele hatten sich als Flüchtlinge registrieren lassen, um auf die Chance zu warten, dem kapitalistischen Klassenfeind Schaden zufügen zu können. Niemand konnte sagen, wer diese Spitzel waren, wo sie steckten oder mit wem sie in Kontakt standen. Otto Kappe war sich sicher, dass die Polizei des freien Teils der Stadt Ulbrichts Spitzel anlockte wie Tannenhonig die Braunbären.
Auch er selbst wurde von manchen Kollegen mit Argwohn betrachtet – schon deshalb, weil sein Cousin Hartmut höherer Offizier bei der Kripo in Ost-Berlin war. Hinzu kam, dass die West-Berliner Kriminalpolizei an Ansehensverlust litt, seitdem ihr im Sommer des Jahres 1966, das sich nun dem Ende zuneigte, ein fataler Misserfolg beschieden war. In Spandau war die elfjährige Christa John missbraucht und ermordet worden. Der Fall hatte die ganze Stadt beschäftigt, und die Polizei hatte unter einem enormen öffentlichen Druck gestanden. Erst Wochen später war der Täter, ein zur Tatzeit sechzehnjähriger Lehrling, gefasst worden. Die Zeitungen hatten kübelweise Hohn und Spott über die tollpatschige Kripo ausgeschüttet. Zum Glück war Otto Kappe nicht an den Ermittlungen beteiligt gewesen.
Gegen halb acht erreichte seine U-Bahn den Bayerischen Platz. Er stieg aus, spazierte, während er seine Gedanken schweifen ließ, gemächlich ein Stück die Grunewaldstraße entlang, um dann in die Gothaer Straße einzubiegen, an deren Ecke das Gebäude der Berliner Kripo stand. Der mächtige Bau mit imposanter Fassade und Walmdach hätte ebenso gut ein Theater oder ein Gymnasium beherbergen können. Nun arbeitete Otto Kappe als Kripobeamter mit Pensionsanspruch bereits seit zehn Jahren in diesem Gebäude.
Sein Kollege Hans-Gert Galgenberg war nicht an seinem Arbeitsplatz.
«Der ist noch nicht da», erklärte seine Sekretärin.
Otto Kappe verzog das Gesicht, sagte aber nur: «Da kann man nüscht machen.» Schließlich ergänzte er ein wenig stockend: «Sie sehen heute übrigens hinreißend aus, Frau Kessel!»
Frieda Kessel lachte. Sie kannte den Kommissar und dessen mitunter etwas ungelenke Art. Keine Allüren, zurückhaltend, stets korrekt und nie aufbrausend ihr gegenüber. Seit Jahren arbeitete sie für ihn und war nie ungerecht von ihm behandelt worden. Ein Kompliment wie dieses wertete sie als Zeichen des Respekts. Es gab Sekretärinnen in der Kripo, die sie beneideten. Denn sie war für einen Mann tätig, der in seinem Beruf zweifellos tüchtig war, der ungeschliffenes Verhalten nicht zuließ und der für Fehler selbst geradestand, statt mit dem Finger auf andere zu zeigen.
Frieda Kessel war ein Jahr jünger als der im Jahr 1911 geborene Otto Kappe und kleidete sich seit einiger Zeit wieder flott, benutzte Lippenstift und zeigte Bein. Ihre kleine private Welt war aus den Fugen geraten, als ihr Ehemann sie vor Jahren wegen einer jüngeren Frau verlassen hatte.
«Wenn Herr Galgenberg erscheint, fragen Sie ihn bitte, ob er sich um eine Kneipe für morgen Abend gekümmert hat», sagte Otto Kappe. «Wenn nicht, soll er sich auf die Socken machen!»
«Mach ich», antwortete Frieda Kessel. «Gleich beginnt die Besprechung mit Kripochef Niederzier», fügte sie an. «Sie möchten bitte in den Besprechungsraum im zweiten Stock kommen.»
«Was denn?», knurrte Kappe. «In dieses Loch? Warum denn dorthin?»
«Weil Herr Direktor den Gästen vorführen möchte, dass die Berliner Kripo über Gebühr knappgehalten wird.»
«Aha … Dann mache ich mich mal auf den Weg.»
Der Besprechungsraum sah auf den ersten Blick wie ein Klassenzimmer aus, die Einrichtung wirkte wie zusammengewürfelt. Zur Straße hin befanden sich hohe, bogenförmige Fenster, die einer Reinigung bedurften. An einer Breitseite hing eine leere grüne Tafel mit Schwamm und Kreide, an der anderen eine riesige Karte, auf der Deutschland in den Grenzen von 1937 abgebildet war. Allerdings waren die ehemals deutschen Gebiete östlich der Oder mit einem breiten gelben Rand versehen, sowohl die unter sowjetischer Verwaltung im östlichen Teil des früheren Ostpreußen als auch die unter polnischer Verwaltung. Die sowjetisch besetzte Zone, die SBZ, war grün, die englische Besatzungszone rot, die US-amerikanische blau und die Zone der Franzosen lila umrandet. Berlin war wie ein Fremdkörper vom Gebiet der SBZ umschlossen.
Die Wände des Raums trugen einen ins Gelbliche changierenden, ursprünglich weißen Anstrich. In der Mitte des Zimmers befand sich ein großer, offenbar fabrikneuer Tisch mit blauer Resopalauflage. Um diesen Tisch herum standen mehr oder weniger zerkratzte Holzstühle. An der den Fenstern gegenüberliegenden Längsseite hingen Fotos von den Männern, die seit 1951 das Amt des Berliner Innensenators bekleidet hatten: von Werner Müller, Hermann Fischer, Joachim Lipschitz, schließlich dem aktuellen Amtsinhaber Heinrich Albertz. Daneben war ein Bild des Bundespräsidenten Heinrich Lübke aufgehängt.
In der Mitte des Raums stand der Befehlshaber über 1700 Berliner Kriminalpolizisten, Kriminaldirektor Günther Niederzier. Wie immer war er in einen eleganten Anzug gekleidet. Er rückte seine Brille zurecht, strich sich über das Haar und schaute Kappe aus müden Augen an.
Otto Kappe trat auf ihn zu. «Guten Morgen, Herr Niederzier!» Er reichte ihm die Hand und nickte, um dann wieder einen Schritt zurückzutreten. Er kannte den Kriminaldirektor seit Langem und schätzte ihn, weil er kein sturer Traditionalist, sondern für Neues aufgeschlossen war. Niederzier nutzte Zeitungen wie den Tagesspiegel, um die Öffentlichkeit über Verbrechensursachen und die Arbeit der Polizei zu informieren. Er achtete auf eine kollegiale Zusammenarbeit innerhalb der Kripo. Kappe dachte ähnlich wie er. Beide respektierten sich. Nur vor zwei Jahren hatte ihn der Direktor mal zur Brust genommen, weil er im Fall eines Pharmaunternehmers, der mit Gas vergiftet worden war, nicht so recht weitergekommen war. Seitdem hatte Kappe aber wieder mit seiner Arbeit überzeugen können.
«Guten Morgen, Herr Kappe!», erwiderte Niederzier. «Geht es Ihnen gut? Haben Sie zurzeit einen besonders aufwendigen Fall, der Sie stark beansprucht?», fragte er.
«Danke der Nachfrage. Im Augenblick sind wir eher mit Routinefällen beschäftigt.»
«Sie könnten also noch eine weitere Aufgabe übernehmen?»
«Ja, das ließe sich wohl machen …», antwortete Otto Kappe zögerlich und wandte sich nach rechts, um den Kriminalrat Friedhelm Keunitz, den Leiter der Unterabteilung 1 der Kriminalinspektion, zu grüßen, seinen unmittelbaren Vorgesetzten. Kappe wusste, dass Keunitz es nicht verknusen konnte, wenn er nicht beachtet wurde. Dienstvorschriften gäbe es nicht aus Jux und Tollerei, lautete dessen Credo.
Hinter Keunitz entdeckte er den Kommissar Eduard Strattmann. Der war Personalrat, allerdings nicht freigestellt. Er gehörte der einflussreichen «Keulenriege» in der Berliner SPD an, also dem rechten Flügel der Partei, der vor Jahren Willy Brandt in harten Auseinandersetzungen mit der Parteilinken als Landesvorsitzenden der SPD durchgedrückt hatte. Strattmann war ein bulliger Kerl und ein sturer Hund. Im Dienst galt er als ziemlich humorlos. Er war im Ruhrgebiet aufgewachsen und nach dem Krieg in Berlin hängengeblieben, der Liebe wegen. Nun wohnte er mit seiner Familie in einer bequemen Vierzimmerwohnung in Wilmersdorf. Er war ein hartgesottener Antikommunist, dem nachgesagt wurde, dass er mit Blick auf die Sowjetunion nur eines genießen könne: Russische Eier, jene mit unechtem Kaviar und Remoulade bekrönten Sattmacher.
Otto Kappe hatte bisher nicht mit Strattmann zusammengearbeitet. Man kannte sich natürlich von Besprechungen sowie von Feiern. Und von Polizeiparaden in den Fünfzigern, auf denen sie nebeneinander marschiert waren, der Sozi Eduard Strattmann und der Adenauer-Bewunderer Otto Kappe, während Gertrud und Strattmanns Betty am Straßenrand miteinander gequasselt, zu der Blechmusik des Polizeiorchesters geschunkelt und ihren Männern zugewinkt hatten.
Kappe und Strattmann achteten einander. Beide wussten gute Kriminalarbeit zu schätzen, und beide waren sehr engagiert. Daher begegnete das Reviergewächs Strattmann, das die Parteitraditionen der SPD verinnerlicht hatte, der Berliner Pflanze Kappe mit Vertrauen. Daran änderte auch nichts, dass Kappe davon überzeugt war, dass weder der verstorbene SPD-Chef Kurt Schumacher noch der gegenwärtige SPD-Vorsitzende, der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, den West-Berlinern die Freiheit gesichert hatten, sondern der CDU-Kanzler Konrad Adenauer gemeinsam mit den Soldaten der USA und Großbritanniens. Ohne die, so meinte Kappe, würden auf dem Kudamm längst Fahnen mit Hammer und Sichel wehen. Es machte ihn misstrauisch, dass sich manche Sozialdemokraten – Brandt freilich gehörte nicht zu ihnen – mit Ulbrichts Gefolgsleuten in West-Berlin zusammentun wollten.
Am Tisch standen einige jüngere Männer zusammen. Sie waren allesamt in dunkle Anzüge und weiße Hemden mit gestreiften Krawatten gekleidet und hatten exakt gescheitelte Haare. Otto Kappe hatte keinen von ihnen schon mal gesehen.
Ein paar Schritte von ihnen entfernt unterhielten sich zwei Männer. Den Jüngeren kannte Kappe flüchtig – der war vom Staatsschutz. Plötzlich war Kappe hellwach. Der Staatsschutz war also auch dabei. Der gehörte zwar zur Kripo, war aber nicht dem Kripodirektor Niederzier unterstellt, sondern direkt dem Polizeipräsidenten Duensing. Wie Terrier, die sich für die Fuchsjagd trainieren lassen, war der Staatsschutz auf Kommunisten dressiert. Manche nannten die Staatsschützer spöttisch die «hochgeheimen Eichkatzen». Kappe und seine Kollegen wussten, dass alles, was der Staatsschutz trieb, sofort bei den Geheimdiensten der Alliierten oder beim deutschen Bundesnachrichtendienst landete. Die beiden Männer schauten Kappe an. Er nickte ihnen wortlos zu.
Niederzier hatte offenbar nur darauf gewartet, dass Otto Kappe eintreffen würde, denn jetzt ergriff er das Wort. «Meine Herren, ich freue mich, Sie hier begrüßen zu können. Ich möchte Sie mit Oberregierungsrat Hans Josef Voißel bekannt machen. Er ist Gruppenleiter im Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz. Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein hochrangiger Vertreter des Verfassungsschutzes die Berliner Kripo persönlich informiert. Was er uns mitzuteilen hat, ist für unsere Arbeit sehr wichtig. Ich bitte deshalb um höchste Aufmerksamkeit.» Niederzier blickte in die Runde und fuhr fort. «Außerdem begrüße ich zwei Kollegen vom Staatsschutz: Herrn Edgar Maischonnek und Herrn Rudolf Schiltken.»
Maischonnek war ein dünner, blasser Mann. Er trug eine dunkle Wollhose und ein helles Sakko mit Salz-und-Pfeffer-Muster, dazu ein weißes Hemd und eine hellblaue Krawatte. Otto Kappe schätzte ihn auf Mitte vierzig. Er war ihm hin und wieder begegnet. Schiltken hingegen hatte er noch nie gesehen, obwohl der in seinem Alter sein musste. Er trug einen unauffälligen dunklen Anzug, ein weißes Hemd und eine dunkle Krawatte. Kappe fiel auf, dass ein Ordensband Schiltkens linkes Revers schmückte. So etwas hatte es, als Johannes Stumm noch Berliner Polizeipräsident gewesen war, nicht gegeben. Jeder farbige Streifen des Abzeichens stand für einen Orden. Einer war tiefblau. Kappe wusste, was das zu bedeuten hatte: Der Träger musste mindestens zwölf Jahre in Hitlers Wehrmacht gedient haben. Bis Kriegsende 1945 hatte ein Hakenkreuz im Eichenkranz den blauen Streifen verziert, nun fehlte es. So einer ist der also, dachte Kappe bei sich.
«Meine Herren, Herr Voißel hat das Wort!», sagte der Kriminaldirektor.
Der Vertreter des Bundesamtes für Verfassungsschutz hatte einen stahlblauen Anzug mit breitem Kragenaufschlag und eine rote Krawatte an. Er wirkte gedrungen. Kappe hatte seine wachsamen Augen bemerkt, denen nichts im Raum zu entgehen schien. Während Strattmann geredet hatte, hatte Voißel jeden Anwesenden gemustert. Nun nickte Strattmann Voißel freundlich zu. Kappe schloss daraus, dass sich die beiden aus der SPD kannten.
«Guten Morgen! Ich bitte sehr herzlich um absolute Diskretion.» Voißels Blick wanderte durch die Reihen. «Wir haben Anlass zu der Vermutung, dass in Berlin ein politisch motiviertes Verbrechen vorbereitet wird.»
Im Raum war es totenstill. Günther Niederzier hatte den Blick gesenkt. Friedhelm Keunitz fixierte Voißel. Otto Kappe registrierte die entsetzten Gesichter seiner Kollegen.
«Lassen Sie mich darlegen, worauf sich diese Vermutung stützt», fuhr Voißel fort. «Sie werden sich vielleicht daran erinnern, dass im Sommer in einigen Zeitungen zu lesen war, dass dem Sonderbeauftragten des Bundeskanzlers für Berlin Ernst Lemmer, dem Abgeordneten Herbert Wehner und dem amerikanischen Botschafter George C. McGhee Briefe in ihre Bonner Büros zugestellt wurden, die tödliches Gift enthielten. Zwei Sekretärinnen erlitten Verbrennungen, als sie die Briefe öffneten. In den Zeitungsberichten war über die näheren Umstände dieser Anschläge nichts zu lesen, weil wir nicht wollten, dass zu viel bekannt wurde. Wir haben glaubhaft den Eindruck erweckt, dass der Täter geistesgestört wäre. Tatsächlich aber stand hinter den Taten offenbar ein politisches Kalkül. Sie wurden von einem ehemaligen Mitglied der Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit verübt, die bekanntlich in West-Berlin ihre Zentrale hatte. Der Mann agierte unter dem Namen Bruhn und lebt mittlerweile in Schweden, unsere Justiz hat deshalb keinen Zugriff auf ihn. Warum er diese Giftbriefe versendet hat, wissen wir letztendlich nicht genau. Doch es liegt die Vermutung nahe, dass er politische Rechnungen begleichen wollte. Kennt jemand den Mann zufällig?»
Niemand meldete sich zu Wort. Voißel blätterte in seinen Papieren, seine Zuhörerschaft war still. Kappe fröstelte.
«Für uns im Kölner Bundesamt waren die Anschläge Anlass, uns das Umfeld des Täters genau anzuschauen. Dabei stellten wir fest, dass mehrere jüngere Anhänger der vor zwei Jahren gegründeten Nationaldemokratischen Partei Deutschlands aus dem Westen nach Berlin reisten, um sich hier niederzulassen. Sie sind untergetaucht, aber höchstwahrscheinlich noch in West-Berlin. Es handelt sich hierbei um Hilfsarbeiter, die bewaffnet sind und wir als höchst gefährlich einstufen. Ob sie direkt aus der Führungsebene der NPD gelenkt werden, wissen wir nicht. Es ist aber möglich. Im achtzehnköpfigen Vorstand dieser Partei, die unlängst in Hessen fast acht Prozent der Wählerstimmen erhielt, sind zwölf Personen, die schon zu Hitlers Zeiten aktiv waren, ehemalige SS-Leute, Gauredner, frühere Kreisvorsitzende der NSDAP und so weiter.» Voißel dachte einen Augenblick nach. «Wir wissen nicht, mit welchem Auftrag sie nach Berlin geschickt wurden. Es kann sein, dass sie sich eine Zeit lang ruhig verhalten, um auf eine günstige Gelegenheit für einen Anschlag zu warten. Alarmierend ist die Übersiedlung nach Berlin allemal.»
Friedhelm Keunitz ergriff das Wort. «Die Geschichte mit den Briefen war mir bekannt. Aber ich dachte, es habe sich nur um Drohbriefe gehandelt. Dass ein Ehemaliger der Kampfgruppe dahintersteckt, klingt in der Tat bedrohlich. Eine akute Gefahr kann ich dennoch nicht erkennen. Die Berliner Bevölkerung hat die Nase gestrichen voll von den Nazis, diese neue Partei dürfte sich kaum Hoffnungen machen, durch einen Anschlag erneut Massen mobilisieren zu können.»
Voißel blickte Keunitz nachdenklich an. «Vor wenigen Wochen sind Albert Speer und Baldur von Schirach aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Spandau entlassen worden. Das hat manche Nationalsozialisten elektrisiert. Und vor ein paar Monaten ist der Generalinspekteur der Bundeswehr Heinz Trettner zurückgetreten. Der war für viele alte Nazis eine Identifikationsfigur. Trettner gehörte als Generalmajor schließlich zu denen, die Hitler bis Mai 1945 unterstützt hatten. Und am heutigen Tag wird der frühere SS-Arzt Horst Schumann von der Regierung Ghanas an die Bundesrepublik ausgeliefert, damit ihm hier der Prozess wegen seiner Gräueltaten während der NS-Zeit gemacht werden kann. Schumann war nach Afrika geflüchtet, weil ihm bei uns die Justiz auf den Fersen war. Er wurde in Ghana von höchsten Stellen des Staates geschützt. Erst nach einem Machtwechsel in diesem Land kam seine Auslieferung ins Rollen. Können Sie mir folgen?» Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Voißel fort: «Auch dieser feine Herr ist für viele alte und neue Nazis ein Idol.»
Kriminalrat Keunitz warf ein: «Entschuldigen Sie, Herr Kollege, aber wollen Sie uns glauben machen, die Auslieferung eines früheren SS-Arztes würde Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie dazu bringen, Attentate zu verüben? Das kann ich mir nicht vorstellen.»
«Ich möchte Ihnen nur deutlich machen», erwiderte Voißel, «dass die Rechtsextremen wieder an Zuspruch gewinnen und es ihnen gelingt, Vorgänge wie die um Trettner oder Schumann zu nutzen, um neue Anhänger zu gewinnen. Millionen derer, die bis 1945 Hitler zujubelten, sind doch noch unter uns! Und die NPD versucht, sie dazu zu bringen, wieder aus der Deckung zu kommen. Vermutlich denken die Nazis, ein politischer Anschlag könnte das forcieren.»
Einige zündeten sich Zigaretten an. Strattmann hatte sich mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck in seinem Stuhl zurückgelehnt. Der Kripochef schaute nachdenklich auf Kappe.
Schließlich nahm Voißel den Faden wieder auf. «Ein besonderes Faktum bereitet uns in Köln die größte Sorge. Nach unseren Informationen sind zwei Männer nach West-Berlin eingereist, von denen höchste Gefahr ausgehen könnte. Den einen kann man als berufsmäßigen Mörder bezeichnen. Der andere war in den letzten Jahren als eine Art Reisemarschall der Nationalsozialisten tätig. Wir vermuten, dass sie mit den NPD-Leuten zusammenarbeiten.»
«Verdammt!», knurrte Niederzier. «Was braut sich da zusammen?»
«Damit ist das Problem aber noch nicht vollständig umrissen», entgegnete Voißel.
«Sie machen mir Spaß!», fauchte Keunitz. «Was kommt denn noch?»
«Weiterhin ist uns zu Ohren gekommen», fuhr der Verfassungsschützer fort, «dass in Ihrer Stadt frühere Mitglieder der 1959 aufgelösten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit wieder aktiv geworden sind. Es gibt Anzeichen dafür, dass Verbindungen zwischen ihnen und den beiden Männern bestehen, die jüngst nach Berlin gekommen sind. Sie kennen die Geschichte dieser Kampfgruppe besser als ich, nehme ich an. Das sind ja teils sehr anständige Leute gewesen, die sich von ihrer Wut über die Verbrechen der Kommunisten zu Verbrechen haben leiten lassen. Zu Anfang war diese Kampfgruppe aber auch ein Sammelbecken von alten Nazis. Die neue Politik des Senats gegenüber den Kommunisten scheint einige von denen zur Raserei zu bringen. Wer mit Ulbrichts Leuten Vereinbarungen schließt, wie der Senat das im März des Jahres getan hat, ist für die ein Vaterlandsverräter. Ihr Staatsschutz wird mehr darüber wissen.» Er schaute Maischonnek und Schiltken an.
Die beiden Staatsschützer reagierten mit keiner Silbe, sondern fixierten schweigend den Oberregierungsrat aus Köln.
Kappe fiel auf, dass sich Keunitz’ Gesicht gerötet hatte. Wie er ihn kannte, war das ein Zeichen seines Ärgers über die beiden Staatsschützer. Niederzier hatte den Blick auf seine Hände geheftet, so als betrachtete er seine Fingernägel. Er wirkte grimmig.
Statt Keunitz oder Niederzier ergriff Eduard Strattmann das Wort. «Sie können nicht einfach stumme Zuhörer spielen, wenn es um Ihre Angelegenheiten geht!»
«Du wirst verstehen, dass wir uns hierzu nicht äußern können, wir brauchen dazu die Erlaubnis von oben», meldete Schiltken sich zu Wort. «Das ist bei uns etwas anders geregelt, und das hat seinen guten Grund.»
«Ich habe Ihnen nicht gestattet, mich zu duzen!», schnauzte Strattmann ihn an.
Alle schwiegen. Es entstand eine Pause, die Otto Kappe als peinlich empfand. Daher sagte er: «Sie schildern uns eine Bedrohungslage, die es in sich hat. Professionelle Kriminelle in Zusammenarbeit mit alten Kameraden – das klingt nach echten Problemen.»
«Ich kann mir schon vorstellen, was das für die Berliner Kripo bedeutet», erklärte Hans Josef Voißel.
«Das glaube ich nicht», sagte Niederzier. Er lehnte sich zurück und schaute in die Runde. «Es gibt hier in West-Berlin Hunderte von Objekten, die sich für einen Anschlag anbieten, zivile wie militärische.»
«Von gefährdeten Personen ganz zu schweigen», ergänzte Keunitz.
Unruhe breitete sich unter den Zuhörern aus. Einige unterhielten sich halblaut miteinander.
«Gibt es weitere Anmerkungen oder Fragen?», erkundigte sich Kriminaldirektor Niederzier mit heiserer Stimme. Er wartete einige Sekunden, aber offenbar war jeder in der Runde mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. «Nein? Dann bedanke ich mich bei Herrn Voißel. Ich erinnere Sie alle noch einmal daran, dass wir Verschwiegenheit verabredet haben. Kommen Sie noch auf einen Kaffee in mein Büro, Herr Voißel?»
Während sich der Raum leerte, winkte Niederzier Kappe zu sich. «Ich muss mit Ihnen sprechen. Bitte gehen Sie schon vor in mein Büro!»
Kriminaloberkommissar Otto Kappe hatte sich gerade in einem der Sessel im Zimmer des Kriminaldirektors niedergelassen, als Günther Niederzier mit Keunitz, Voißel und – zu Kappes Verblüffung – Strattmann den Raum betrat. Die Männer suchten sich schweigend einen Platz und setzten sich. Niederziers Sekretärin servierte unaufgefordert Kaffee.
«Fahren Sie bitte fort!», sagte der oberste Kripobeamte zu Hans Josef Voißel.
Der griff in seine Aktentasche, holte einen grünen Ordner hervor, schlug ihn bedächtig auf und entnahm ihm zwei Fotografien, die er den anderen zeigte. «Der eine hier, der auf dem linken Bild, das ist August Pretzky. 45 Jahre alt, in Königsberg geboren und im Alter von neunzehn Jahren in die Wehrmacht eingetreten. Er war Soldat im Sonderverband Brandenburg, einer Einheit, die hinter den feindlichen Linien operierte. Immer wieder sind Vorwürfe erhoben worden, dass dieser Verband an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sei. Pretzky wurde nach dem Krieg in einem französischen Gefangenenlager festgehalten. Ab 1948 war er in Berlin wohnhaft. Ich schätze, aus dieser Zeit resultieren Kontakte zu den Mitgliedern der Kampfgruppe. Von 1953 bis 1957 war er in der Fremdenlegion. Nach Recherchen des Bundesnachrichtendienstes war er anschließend als Söldner in afrikanischen Ländern wie dem Kongo tätig. 1960 tauchte er wieder in Deutschland auf, wenig später wurde er in Berlin gesehen.»
Die Fotografie zeigte ein schmales Gesicht mit Geheimratsecken, dunklen zurückgekämmten Haaren, einer langen Nase, die so aussah, als wäre sie einmal gebrochen gewesen und schief wieder zusammengewachsen, spöttisch funkelnden Augen, einem kleinen Mund und einem spitzen Kinn.
«Es wäre interessant zu erfahren, wo solche Leute untertauchen», erklärte Niederzier.
Voißel kramte in seiner Tasche und fischte einen Zettel heraus. «Seine alte Adresse in Berlin steht hier.» Er las vor: «Waldemarstraße, Ecke Adalbertstraße. Bei Schubert.»
Niederzier hob den Kopf. «Ist das nicht unmittelbar an der Grenze?»
Kappe nickte und sagte: «Stimmt. Ziemlich verlassene Gegend. Wann wurde dieses Foto aufgenommen?»
«Nach unseren Recherchen leider bereits Ende der Vierziger-, Anfang der Fünfzigerjahre.» Der Verfassungsschützer blickte in die Runde. «Kann ich fortfahren?» Er wies auf die zweite Fotografie. «Der da hat gleich mehrere Namen. Gegenwärtig nennt er sich Eberhard Wagner. Sein richtiger Name lautet Paul Stecher. 46 Jahre alt, gebürtiger Treptower. Eine klassische Nazi-Karriere. Ebenfalls ab 1939 in der Wehrmacht. Kurz zuvor mit neunzehn Jahren in die NSDAP eingetreten. Fünfeinhalb Jahre Soldat. Letzter Dienstgrad Oberleutnant. Kennt einer von Ihnen diesen Mann? Nein? Schade, denn es geht das Gerücht um, dass Wagner in Berlin kein Unbekannter ist. Das würde mich interessieren.»
«Wenn wir etwas über den haben, kriegen Sie das», erwiderte Eduard Strattmann.
Auf dem Bild war ein unauffällig wirkender Mann zu sehen, dessen Gesicht halb im Schatten lag. Er trug einen Hut und ein helles Hemd, die Krawatte hing ihm lose um den Hals.
«Das Foto habe ich auf dem kleinen Dienstweg von einem BND-Mann erhalten. Es müsste um das Jahr 1960 gemacht worden sein, möglicherweise in Ägypten oder in Syrien. Es gibt ebenfalls nicht viel her.» Voißel drehte das Foto herum, um selbst einen Blick darauf zu werfen. «Wagner war im Krieg einer von Hitlers Horchern. Hörte in der Einheit ‹Fremde Heere Ost› von General Gehlen, dem heutigen BND-Präsidenten, Feinde ab. Er spricht bestens Englisch, fließend die französische Sprache, recht gut Russisch und Spanisch. Was er in der Zeit zwischen ’45 und ’47 gemacht hat, wissen wir nicht genau. Danach war er als Übersetzer für den Bundesnachrichtendienst tätig. 1951 ging er in den Osten. 1957 verließ er die Zone wieder. Die nächsten Jahre wohnte er in West-Berlin. Und dann geschah etwas Erstaunliches: Ab ’59 reiste er durch die Weltgeschichte. Er flog nach Ägypten, hielt sich in Syrien auf, verbrachte einige Zeit in Somalia, das 1960 unabhängig geworden war, und besuchte Argentinien. Wir glauben, dass er auf diesen Reisen Kontakte zwischen deutschen Nazis und Faschisten in diesen Ländern knüpfte oder intensivierte.»
Voißel trank seinen Kaffee aus, schließlich sagte er: «Beide sind in West-Berlin. Ob unsere amerikanischen oder britischen Freunde etwas darüber wissen, kann ich nicht sagen. Es ist aber anzunehmen. Beide Männer haben unseres Wissens keinerlei Skrupel zu töten.» Er drehte sich zur Seite, um Niederzier ins Gesicht zu schauen, und fragte: «Wie werden wichtige Personen hier in Berlin geschützt? Auf die Nullachtfuffzehn-Tour? Oder gibt es besondere Maßnahmen?»
Niederzier wurde schmallippig. «Bisher wurde jedem Senatsmitglied ein sogenannter Pistolenmüller zur Seite gestellt, also ein körperlich leistungsfähiger Polizist mit guten Ergebnissen auf dem Schießstand. Das meinen Sie wahrscheinlich mit Nullachtfuffzehn-Tour.»
Friedhelm Keunitz wandte sich an Strattmann. «Sie waren mal Pistolenmüller, nicht wahr?»
«Das stimmt», bestätigte der. «Von ’55 bis ’57. Während der ersten Jahre von Joachim Lipschitz als Innensenator. Außer mir war niemand von uns für den Senator zuständig, obwohl der eine Reihe fanatischer Feinde hatte. Ich habe manchmal Blut und Wasser geschwitzt. Die Nazis haben Lipschitz gehasst wie die Pest. Aber manchmal hatte ich Unterstützung von den Amis, da sie der Meinung waren, Lipschitz müsse besser geschützt werden. Planen ließ sich das aber nicht. Mal waren die dabei, mal waren sie abwesend. Die dachten überhaupt nicht daran, mich in ihre Vorhaben einzuweihen.»