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Die Spur führt nach Afghanistan – Georg Denglers vierter und gefährlichster Auftrag »Suchen Sie meinen Mann«, sagt Sarah Singer und zieht verzweifelt an ihrer Zigarette, als wäre diese Kippe die letzte auf der Welt. »Mein Mann ist krank – und gefährlich.« Viel mehr hat sie zunächst nicht zu bieten. Georg Dengler, privater Ermittler aus Stuttgart und ehemaliger Zielfahnder des Bundeskriminalamtes, nimmt ihren Auftrag an. Er ist fasziniert von der blonden Frau. Und er glaubt, ihren vermissten Mann zu kennen. Sein Bild erinnert ihn an das große Drama seiner Kindheit, das ihn selbst beinahe getötet und seine Familie für immer ruiniert hätte. Sarah Singers Mann ist Berufssoldat. Nach geheimen Einsätzen ist er aus Afghanistan nach Deutschland zurückgekehrt, traumatisiert und zutiefst erschüttert. Nach kurzer Zeit verschwindet er spurlos. Und einige Morde geschehen. Als Georg Dengler sich an die Arbeit macht, erfährt er, dass Hans-Jörg Singer noch von ganz anderen Instanzen gesucht wird. Und plötzlich steht er mächtigen Interessen im Weg. »Einer der intelligentesten und authentischsten deutschen Politthriller« dpa über »Fremde Wasser« Alle Fälle von Georg Dengler als unabhängig lesbare Krimis: - Die blaue Liste - Das dunkle Schweigen - Fremde Wasser - Brennende Kälte - Das München-Komplott - Die letzte Flucht - Am zwölften Tag - Die schützende Hand - Der große Plan - Kreuzberg Blues - Black ForestDie Bücher erzählen eigenständige Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 320
Wolfgang Schorlau
Denglers vierter Fall
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Titelseite
Über Wolfgang Schorlau
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. 2006 wurde er mit dem Deutschen Krimipreis und 2012 mit dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet.
Näheres über den Autor und dieses Buch unter www.schorlau.de
zur Kurzübersicht
Florian Singer ist Berufssoldat. Nach einigen geheimen Einsätzen kehrt er aus Afghanistan zu seiner Familie nach Deutschland zurück, traumatisiert und zutiefst erschüttert. Plötzlich verschwindet er. Und einige Morde geschehen.
Seine Frau, Sarah Singer, bittet den Privatermittler Georg Dengler, ihren Mann zu suchen. »Mein Mann ist krank«, sagt sie, »und gefährlich.« Dengler macht sich – fasziniert von der schönen blonden Frau – auf die Suche, die ihn schließlich nicht nur zwischen die Fronten mächtiger Interessen führt, sondern auch in die eigene Vergangenheit. Ein Drama seiner Kindheit scheint sich zu wiederholen.
Und plötzlich steht er gefährlichen Gegnern im Weg.
Widmung
Motto
Prolog
Erster Teil
Stuttgart, das Ödland
Albtraum
Im besten Alter
Ein neuer Fall
Kalter August
Stuttgart, Marktplatz
Der Mord im Luftschutzbunker
Auf der Suche
Calw, Sarah Singers Wohnung
Sehnsucht
Olgas Rückkehr
Nichts verlernt
Wut
Blutsbrüder
Oktober 1999: Italien, Höhlen von Frasassi (1)
Auf dem Wipfel
Fußspuren
Beste Sicht
Tunnelblick
Jakob
Höllenfeuer
Selbstzweifel
Oktober 1999: Italien, Höhlen von Frasassi (2)
Namenspiele
Ein guter Mensch
Mannheim, Paradeplatz
Am Bärensee
Zweiter Teil
Erster Bericht: Elitetruppe
Internetrecherche
Marode Truppe
Zweiter Bericht: Der Ziegenhirte
Im Visier des BKA
Juli 2001: Erlangen, Katharina Petrys Wohnung
Calw, die Straße vor Sarah Singers Haus
Falscher Alarm
Dritter Bericht: Der Heckenschütze
Bei Susanne Dippler
Juli 2001: Erlangen, Katharina Petrys Büro
Erinnerungen
Hip-Hop
11. September 2001: Erlangen, Katharina Petrys Wohnung
Verfolgung
Vierter Bericht: Kandahar
Zweiter Angriff
Weihnachten 2001: Erlangen, Katharina Petrys Wohnung
Fünfter Bericht: Kanadier
Doublette
Ausgeschaltet
Reisepass
Sechster Bericht: Enttäuschung
Studium der Bankauszüge
In der Höhle
Die falsche Fährte
Fassungslos
Trauma
Eifersucht
Dritter Teil
Calw, am Abend
Abgehängt
Siebter Bericht: Mit Absicht
Alte Freunde
Achter Bericht: Action Jackson
Zweitausend Höhlen
Blutsbruder
Attacke
Letzter Bericht: Damals
Wodka mit Melone
Der Tod
Erfrischung
Epilog
Anhang
Nachwort
Informationen zum Buch
Leseprobe »Black Forest«
Meinem Bruder gewidmet
»In der Erinnerung eines jeden Menschen gibt es Dinge, die er nicht allen mitteilt, sondern höchstens seinen Freunden. Aber es gibt auch Dinge, die er nicht einmal den Freunden gesteht, sondern nur sich selbst, und auch das nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Schließlich aber gibt es auch noch Dinge, die der Mensch sogar sich selbst zu sagen fürchtet, und solcher Dinge sammelt sich bei jedem anständigen Menschen eine ganz beträchtliche Menge an.«
Fjodor Dostojewski, Aufzeichnungen aus dem Untergrund
»Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindukusch verteidigt.«
Peter Struck (SPD), Ex-Verteidigungsminister
Welche Farbe hat das Paradies? In seiner Erinnerung war es erdbraun und gelb und moosgrün. Es roch nach warmem Waldboden, nach Fichtennadeln und Tannenzapfen.
Nur wenige Meter oberhalb des alten Forstwegs lag ihr Versteck. In der Mitte eine riesige, über hundert Jahre alte Blautanne, umringt von einer Gruppe Fichten, die in einem respektvollen Radius von vier Metern wuchsen, gerade so, als wollten sie den ehrwürdigen Stamm vor fremden Blicken schützen. Und so umgab den großen Baum eine halbdunkle Höhle, die, so glaubten die beiden Jungs damals, ihr alleiniges Geheimnis sei.
Oft versteckte er sich allein in der Höhle. Die spätsommerliche Sonne wärmte seinen Rücken und ließ die am Boden liegenden Äste knacken. Manchmal saß er stundenlang in diesem Versteck und tat nichts. Saß einfach da und fühlte sich geborgen. Geborgen und sorglos. So ist es also, das Glück, dachte er damals. So ist es, keine Angst zu haben. Nicht vor den Geräuschen des Waldes und nicht vor den Menschen. Er schloss die Augen, fest, ganz fest, kniff die Lider zusammen und nahm sich vor, dieses Gefühl nie wieder zu vergessen. Es hing mit dem Geruch der Erde zusammen, der Wärme und wohl auch damit, dass er allein in diesem winzigen Paradies saß und sich ganz auf sich konzentrieren konnte. Nie, nie, nie, sagte er leise voll kindlicher Inbrunst, nie werde ich diesen Moment vergessen.
Und nun, mehr als drei Jahrzehnte später, hockte er in seinem blauen Toyota und starrte hinüber zum Eingang des Supermarktes. Um halb zehn Uhr abends. Draußen war es endlich finster. Der Sommerregen hatte ausgedehnte Pfützen auf dem Parkplatz hinterlassen, in denen sich das Licht der Reklame und des riesigen Schaufensters spiegelte. Seit einer Stunde saß er im Wagen und zählte die Kunden, die so spät noch schattengleich durch die Eingangstür huschten. Achtzehn zählte er. Achtzehn Kunden. An der Kasse würde keine lange Schlange stehen. Wenig Personal, dachte er, so spät am Abend. Er konnte es wagen. Verdammt noch mal, er konnte es wirklich wagen.
Und ich werde es schaffen.
Trotzdem blieb er sitzen. Vom Bauch her kroch eine unbestimmte Angst nach oben, nistete sich in seinem Solarplexus ein, seiner Angststelle, wie er sie nannte. Er spürte den Druck deutlich, wie er wuchs, nicht so stark wie damals, natürlich nicht, aber doch so, dass ihm das Atmen schwerer fiel.
Und, merkwürdig, genau in diesem Augenblick dachte er an das Versteck am alten Forstweg. Er fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, aber das Bild blieb. Er kniff die Augen zusammen, wie er es damals getan hatte, und er erinnerte sich genau an den Forstweg, der bergauf ging, an der Hütte vorbei, die die Verbindungsstudenten im Winter als Quartier für ihre Skiausflüge nutzten, dann kam das Haus mit dem kleinen Turm, das früher einmal eine Pelztierzucht gewesen war, und dahinter schließlich bog der alte Forstweg in den Wald ein. Nach fünfzig Metern schlug man sich rechts durch die jungen Fichten und war dann gleich an dem Versteck. Er erinnerte sich an den kleinen Jungen, der er einmal gewesen war, daran, wie er sich fest vorgenommen hatte, diesen Augenblick nie wieder zu vergessen. Nur das Gefühl, das ihn damals überwältigt hatte, das konnte er nicht mehr in sich wachrufen. Er hatte es verloren.
Aber all das durfte jetzt keine Rolle spielen.
Action Jackson, sagte eine innere Stimme. So hatte es der kleine verrückte Texaner vor jedem Einsatz gesagt. Action Jackson. Und dann war es losgegangen. Jetzt war Jackson tot.
Mit einem Griff löste er den Sicherheitsgurt, öffnete die Autotür, stieg aus. Er schloss nicht ab. Es widerstrebte ihm, den Wagen offen zu lassen, fast machte es ihn wütend, aber es musste sein. Dann ging er langsam und steif auf die Tür des Supermarktes zu. Der Druck in seinem Bauch wuchs.
Drinnen nahm er sich einen dieser metallenen Einkaufswagen, für den er ein Eurostück in eine Box stecken musste, die am Haltegriff angeschweißt war. Erst dann löste sich der Wagen von den anderen. Er zog ihn am Haltegriff aus der Reihe und schob ihn langsam durch die Abteilung mit dem Frischgemüse, dann in die erste Regalreihe.
Kein Mensch zu sehen.
In dem Regal lagen Salzstangen, Nüsse, Käsegebäck und Kekse.
Vorsichtig nahm er eine Tüte mit Kartoffelchips aus dem untersten Regal. Der Plastikbeutel knisterte so laut, als er ihn in den Wagen warf, dass er sich umsah. Niemand schien etwas gehört zu haben.
Jetzt war er ganz wach.
Adrenalin schoss durch seinen Körper. Er kannte das. Das Gefühl, hellwach zu sein, genau zu sehen, alles zu hören.
Nichts blieb einem verborgen.
Entschlossen schob er den Wagen durch den Gang mit den Konserven. Mein Gott, hatte er die Konserven gehasst. Jeden Tag. Ravioli, Leberwurst, Pumpernickel, Erbsensuppe.
Konservenfraß hatten sie bekommen. Jeden Tag Konservenfraß.
Er schob den Wagen schneller. Italienische Nudeln. Barilla, Spaghetti, Makkaroni, Tagliatelle, Fusilli. Dann ein Regal mit Gewürzen, Pfeffer schwarz, Pfeffer weiß, Curry, Rosmarin, Thymian. Schließlich die erste Kühltheke: Milch, Südmilch, Bergbauernmilch, Sahne, Crème fraîche.
Er schnappte einen Karton Vollmilch aus dem Regal und warf ihn in den Wagen. Der Karton platzte am Kopfende. Ein Tropfen Milch platschte auf den Boden. Dann noch einer.
Er wendete den Wagen.
Platsch.
Jetzt schnell zur Kasse.
Platsch.
Noch ein Tropfen Milch.
Vorbei an Mehl, Gebäckmischungen, Fleischtheke, Käsetheke.
Ein Mann stand vor den Spirituosen, eine Flasche Fernet in der Hand. Studierte das Etikett.
Er rempelte ihn mit dem Wagen an.
Der Mann fluchte.
Er fuhr weiter. Rechts der Eingang zum Getränkemarkt.
Da waren die Kassen.
Endlich.
Eine war besetzt.
Nur zwei Kunden standen davor.
Erleichterung.
Das schaffte er.
Da war er sich sicher.
Das schaffte er.
Plötzlich blieb er stehen.
Das Geräusch. Was war das für ein Geräusch? Rotierend. Schleifend. Mahlend. Er kannte das. An was erinnerte ihn das Geräusch?
Es kam aus dem Getränkemarkt.
Er riss heftig am Wagen. Der Karton mit der Milch machte einen Sprung.
Tropfte.
Im Getränkemarkt sah er den Mann. Er saß auf einer kleinen Maschine, die wie ein umgebauter Rasenmäher aussah. Zwischen den Rädern drehte sich eine große Scheibe.
Sie bohnern hier nur den Boden, sagte die Vernunft, es ist bloß die Polierscheibe. Es ist nur ein Reinigungsgerät.
Sie bohnern nur.
Gleich ist nämlich Feierabend, hörst du, sagte die Vernunft, und sie bohnern. Mehr nicht.
Die Scheibe drehte sich.
Sie rotierte.
Rotierte.
Wie die großen Tandemrotoren eines MH-47-Chinook-Helikopters.
Er konnte den Hubschrauber hören.
Er sah die Rotoren.
Wie damals.
Es war tatsächlich ein Chinook. Sie rannten geduckt auf die geöffnete Eingangstür zu, sprangen hinein, alle Mann hintereinander, Gerald verrammelte die Tür, die Kiste legte sich zur Seite und hob ab. Gewann Höhe. Über ihm die Rotoren. Er sah die Polierscheibe. Über sich die Rotoren. Der kleine Texaner kotzte zuerst. Action Jackson. Immer kotzten die Amis vor dem Einsatz. Platsch, die Milch tropfte. Platsch, noch einmal. Der Texaner kotzte. Der Helikopter stieg. Action Jackson. Auch ihm selbst war schlecht.
Die Vernunft sagte, dass er noch eine Chance hatte: Wenn du sofort gehst.
Lass den Einkaufswagen stehen, sagte die Vernunft, geh einfach raus. An der Kasse vorbei und auf die Straße. Steig in den Toyota und fahr nach Hause. Das war’s dann, sagte die Vernunft.
Aber erst mussten sie raus. Sie flogen wieder ins verfickte Shah-e-Kot-Tal. Ewig lang war das Tal. Operation Anaconda. Gestern hatte man ihnen Schulbücher gezeigt. In dieser beschissenen Sprache. Mit diesen beschissenen arabischen Zeichen. Es verschwamm vor seinen Augen. Dieser Abschnitt lehrt arabische Grammatik, hatte man ihnen gesagt. Und dieser andere lehrt: Wie man eine Rohrbombe baut. Und der nächste: Wie man einen Militärkonvoi überfällt. Wie man Amerikaner killt. Und Europäer. Das lernen hier die Kinder. Elfjährige sind genauso gefährlich wie ihre Väter. Deshalb die Tageslosung: Tötet jeden, den ihr seht. Der Helikopter ging tiefer. Fertig machen zum Absitzen. Action Jackson. Er hatte jetzt Angst. Sie knetete seinen Mageneingang mit knöchernen Fingern. Seine Hände verkrampften sich um den Griff des Einkaufswagens. Dann mussten sie raus. Er sprang. Er wendete den Einkaufswagen. Gelände sichern. Er sprang nach links. Die Waffe im Anschlag. Ein Hindernis. Er trat dagegen. Er rammte den Einkaufswagen dagegen. Stand in einem Regen von Rasierschaum, Haargel, Shampoo. Es regnete auf ihn herunter. Geschosse schlugen rechts und links ein. Vor ihm ein Gesicht. Ein erstauntes Gesicht. Ein Gesicht mit Brille. Ein schreiendes Gesicht. Er hob die Waffe. Feuerstoß. Action Jackson. Noch jemand tauchte neben ihm auf. Er schlug zu. Auf die Nase. Ah, das knirscht. Dem ist das Nasenbein ins Gehirn gefahren. Wird er nicht überleben. Gelernt ist gelernt. Ein Regal fiel um. Dosen trafen seinen Kopf. Erbsen, dachte er verwundert. Dann traf ihn noch etwas am Kopf. Er hatte so schreckliche Angst. Inmitten einer verheerenden Verwüstung ging er zu Boden.
»Großartig«, sagte Nolte.
Mit einer ausholenden Armbewegung deutete er auf ein gelbbraunes Ödland, das vor ihnen lag wie ein schmutziges Meer. Der Sommerregen hatte auf dem Gelände mehrere Lachen in der Größe von Dorfweihern hinterlassen, die dunkel in der Sonne glänzten. Zwischen zerplatzten Bodenplatten kämpfte sich hellgrünes Unkraut erbittert durch bereits Verrottendes ans Licht. In der Ferne zog ein ICE vorbei, klein wie eine Modelleisenbahn. Das geordnete Chaos eines vielgleisigen Schienennetzes sah man dahinter und dann den Bahnhof. Rechts wurde der Blick von misslungener Architektur eingerahmt, einem Ensemble aus grauen, riesenhaft fabrikartigen Gebäuden, in denen zwei Banken untergebracht waren.
Sie standen am Rand einer Schnellstraße und schauten hinunter auf das Gelände.
»Großartig«, sagte Nolte. »Beste Lage. Mitten in der Stadt.«
Er zeigte auf das riesige Brachland.
»Drei Milliarden werden hier in den nächsten zehn Jahren vergraben. Milliarden, nicht Millionen.«
»Und da wird auch für uns einiges zu holen sein«, sagte er.
Und grinste.
Die Stadt war unter die Räuber gefallen. Eine große Koalition von Politikern hatte das Zentrum endgültig einer Bande von Immobilien- und Finanzhaien zum Fraß vorgeworfen. Sie planten, den Bahnhof der Stadt unter die Erde zu verlegen, um in dem oberirdisch gewonnenen Territorium einen neuen Stadtteil zu bauen. Vor allem Büros. Der historische Kopfbahnhof würde einem unterirdischen Durchgangsbahnhof weichen, und in Zukunft würden die Fahrgäste unter der Erde in die Züge ein- und aussteigen. Von den jetzt noch vorhandenen sechzehn Gleisen würden dann nur noch acht übrig bleiben, und damit würde das Warten auf verspätete Züge vorbei sein. Die Stadt würde zwölf Jahre lang die größte Baustelle Europas sein, und das Leben in Stuttgart würde unerträglich werden.
»Wir müssen zusehen, dass wir unser Stück vom Kuchen abbekommen«, sagte Richard Nolte, der Eigentümer von Security Services Nolte & Partners, der größten Stuttgarter Detektei.
Er klopfte Dengler auf die Schulter und schob ihn in die Mercedeslimousine zurück, die am Straßenrand wartete. In dem Wagen roch es nach frischem Leder. Der Boden sah aus, als habe eben erst jemand mit dem Staubsauger die Fußmatten gereinigt. Kein Staubfaden zu sehen.
Eine halbe Stunde später saßen sie in Noltes Büro. Eine Sekretärin stellte italienisches Mineralwasser, Kaffee und einige belegte Laugenbrötchen auf den Tisch. Dann zog sie sich zurück.
Alles an Nolte war perfekt. Sein Anzug war perfekt, sein Auto war perfekt, sein Büro war perfekt, seine Sekretärin, eine selten anzutreffende Kombination von Eleganz und Tüchtigkeit, war perfekt. Der Kaffee war perfekt, und sogar die Laugenbrötchen – frisch und perfekt. Die Art des Mannes zu sprechen, dieses überdeutliche Honoratioren-Schwäbisch, diese vollkommene Höflichkeit mit dem richtig dosierten Schuss Vertraulichkeit – perfekt. Georg Dengler hasste alles, was so vollkommen war. Viel zu oft hatte er erfahren müssen, dass alles Makellose nur Fassade war, und mehr noch: Seine Lebenserfahrung sagte ihm, dass die Abgründe, das Giftige, das Verbrechen umso gefährlicher waren, je fehlerfreier die Fassaden davor gemauert waren. Dengler hatte Perfektion noch nie gemocht. Und er mochte diesen Mann nicht.
»Wir brauchen in einer prekären Sache Ihre Hilfe«, sagte Nolte und führte elegant ein Lachsbrötchen an den Mund.
»Sie haben ja beste Referenzen«, sagte er.
Dengler runzelte die Stirn. Von welchen Referenzen sprach der Mann? Er hatte früher einmal für Nolte gearbeitet. Aber das war einige Jahre her.
»Sie sind genau der Mann, den wir brauchen.«
Dengler hoffte, Nolte würde nun langsam zur Sache kommen. Seit drei Stunden führte er ihn schon durch die Stadt, und Dengler wusste immer noch nicht, was er von ihm wollte.
»Es gibt da gewisse Probleme. Sie wissen das vielleicht.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Nichts gehört von diesen …?«
»Von was?«
»Tja.« Nolte sprang auf. In vier Schritten stand er am Fenster.
»Es gibt da gewisse Leute, die machen uns Probleme.«
»Konkurrenz?«
»Quatsch, bei dem Projekt sind wir doch alle in einem Boot.«
Er grinste dreckig. Wie im Film. Selbst wenn er den Gangster gab, gab er ihn perfekt.
»Allerdings gibt es in der Stadt eine Gruppe von Leuten, die das Projekt ablehnen.«
Dengler kannte niemanden in der Stadt, der das Projekt unterstützte. Es hatte sich eine Bürgerinitiative gebildet, die einen Bürgerentscheid über das Projekt forderte. Martin Klein, Georg Denglers Freund und Nachbar, hatte sich der Initiative angeschlossen. Auch Dengler hatte unterschrieben, Klein hatte ihm noch gestern Abend erzählt, dass die Bürger eine Abstimmung gegen die Baupläne erzwingen könnten. Die Aussichten dafür seien gut.
Daher wehte also der Wind.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Dengler vorsichtig.
»Wir brauchen einen guten Ermittler, einen guten privaten Ermittler«, sagte der Mann. »Die PR-Kampagne der Betreiber ist auf Jahre geplant. Wir wollen die Baustelle als Ereignis verkaufen. Schauplatz statt Bauplatz und so weiter. Aber wir wissen nicht, was diese Leute vorhaben. Sie wollen unsere Kampagne unterlaufen, aber wir wissen nicht, wie.«
Er drehte sich vom Fenster weg und sah Dengler an.
»Wir zahlen Spitzenhonorare«, sagte er, als er Denglers skeptisches Gesicht sah.
»Vielleicht haben Sie hinterher ausgesorgt – zumindest für eine Weile.«
Ausgesorgt – das klang wie ein Zauberwort in Denglers Ohren. Er wäre froh, wenn er seine Geldsorgen los wäre.
»Sie wollen, dass ich die Bürgerinitiativen ausspioniere?«, hörte er sich sagen.
»Ausspionieren? Herr Dengler, das ist kein gutes Wort für den Auftrag, den wir Ihnen geben wollen.«
Er schüttelte besorgt den Kopf und ging hinter seinen Schreibtisch zurück.
»Waffengleichheit. Informationsgleichstand. Darum geht’s. Wir müssen nur wissen, was diese Brüder planen. Zeitnah müssen wir das wissen. Wir müssen gewappnet sein. Die Polizei einsetzen, einstweilige Verfügungen erwirken. Aber ohne Informationen … Ich meine, wie soll das gehen?«
Dengler erhob sich.
»Ich denke darüber nach. Ich rufe Sie an.«
Er verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken.
Lasse ich mich vor den Karren dieser Leute spannen, fragte er sich. Doch als er unten auf der Königstraße stand, kamen ihm Zweifel, ob er sich eben klug verhalten hatte. Vielleicht war er zu schroff gewesen. Ausgesorgt war ein interessantes Wort. Ein sehr interessantes Wort. Es meinte: keine Sorgen mehr haben. Leicht sein. Frei sein. Und so hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Es war spät geworden. Langsam überquerte er den Schlossplatz und ging zurück in sein Büro. Er war müde.
Ich bin tot, dachte Georg Dengler.
Wie ein herrenloses Schiff trieb er zwischen Traum und Wirklichkeit, und selbst jetzt, da er darüber nachdachte, ob er noch träume, verwarf er diesen Gedanken sofort wieder. Nein, das, was er durchlebt hatte, war bekannt und real. Eben war er gestorben.
Also bin ich tot.
Merkwürdigerweise löste dieser Gedanke keinen Schrecken in ihm aus. Er löste gar nichts aus. Ich bin tot – das war eine leidenschaftslose, eine sachliche Feststellung. Nicht weiter tragisch.
Er sah sich nach der Fledermaus um, die ihn begleitet hatte. Er fand sie nicht. Aber er erinnerte sich an den Tunnel, durch den er gelaufen war. In völliger Dunkelheit. Er hatte gespürt, wie das Wasser stieg, und da war er umgekehrt. Das Wasser stieg, erst bis zu den Knöcheln, dann zu den Waden, dann zu den Knien. Er war schneller gelaufen. Schließlich gerannt, so gut er es im Wasser konnte. Aber das Wasser stieg weiter. Als es seinen Bauch erreicht hatte, merkte er, dass er nicht vom Fleck kam. Er rannte, aber er bewegte sich nicht. Und das Wasser stieg ihm über die Brust bis zum Kinn. Er schrie, und endlich sah er das Licht am Ende des Tunnels. Da bemerkte er den feinen Maschendraht, der im Tunnel gespannt war. Er würde es nicht schaffen. Das Wasser stieg weiter und schwappte über seinen Mund. Er schluckte. Es kroch in die Nase. Stieg über die Augen. Dann war er völlig unter Wasser. Er riss an dem Maschendraht, aber der gab nicht nach. Nicht einen Millimeter. Er schrie, er strampelte. Das Licht wurde tausendfach vom Wasser gebrochen.
Und nun bin ich tot, dachte er.
Tot bei lebendigem Leib.
Mit unendlicher Anstrengung wand er sich aus den Fängen des Albtraumes und schlug die Augen auf.
Er fühlte keine Freude über die Rettung.
Georg Dengler lag auf dem Rücken. Die Hände auf der Brust verschränkt. Sein Haaransatz war nass vom Schweiß, als wäre er eben tatsächlich in der schwarzen Röhre ertrunken.
Natürlich kannte er diesen Traum. Er hatte ihm Kindheit und Jugend zur Hölle gemacht. Aber lange schon hatte er ihn nicht mehr geträumt. So lange, dass er bereits gedacht hatte, er könne ihn für immer vergessen. Sein Blick wanderte die Decke entlang. Dann wandte er langsam den Kopf nach rechts und fixierte den kleinen schwarzen Punkt neben der Nachttischlampe und fragte sich, ob das eine Mücke war. Auf dem kleinen Podest an der Wand stand die Marienstatue aus Kirschholz. Früher hatte ihr Mantel tiefblauen Lack getragen. Es sah aus, als sei die Maria aus Lapislazuli. Doch die Zeit hatte vieles verbleichen lassen. Nicht nur den Mantel der Mutter Gottes.
Es war bereits halb acht.
Er hatte keine Lust auf die allmorgendlichen Liegestütze.
Als er noch beim Bundeskriminalamt war, stand er jeden morgen um sechs auf. Falsch, dachte er, ich sprang aus dem Bett, spätestens um halb sieben.
Dann Liegestütze. Hundert, wenn es sein musste.
Aber er war kein Polizist mehr.
Und er hatte keine Lust auf Liegestütze.
Wie lange das alles her war? Gerade mal drei, vier Jahre, und trotzdem kam es ihm vor, als sei das alles in einem anderen Leben gewesen.
Ich bin ein Mann in den mittleren Jahren, kam ihm plötzlich in den Sinn.
Warum denke ich nicht: Ich bin ein Mann in den besten Jahren? In den mittleren Jahren, das klingt nach Kurz-vorm-Alt-werden, nach: Von nun an geht’s bergab.
Ich bin ein Mann in den besten Jahren, dachte er, aber dieser Gedanke hob seine Stimmung auch nicht.
Ich bin ein ehemaliger Polizist. Aber auch das rief kein Echo in ihm hervor.
Ich war ein erfolgreicher Zielfahnder.
Lange her.
Kein Echo.
Nur Stille.
Er dachte an seine Zeit als Polizist, aber es war, als erinnere er sich dabei an das Leben eines anderen, eines Fremden, den er gekannt hatte, dessen Geschick ihn aber nun nichts mehr anging.
Mein früheres Leben ist mir fremd geworden.
Ich muss meine Mutter anrufen, schoss es ihm durch den Kopf.
Sie würde ihm Vorwürfe machen, weil er sich seit drei Wochen nicht mehr gemeldet hatte. Noch immer hatte er ihr nicht gesagt, dass er den Job beim BKA gekündigt hatte und nun privater Ermittler war.
Ich bin ein Mann in den mittleren Jahren, mit Albträumen, der beim Aufwachen an seine Mutter denkt.
Keine erfreuliche Vorstellung. Dann doch lieber Liegestütze.
Er warf die Decke zurück, stieg aus dem Bett, legte sich bäuchlings auf den Baumwollläufer und stemmte sich mit beiden Armen in die Höhe.
Vierzig Minuten später zog er die Wohnungstür hinter sich zu und klingelte an Olgas Tür. Das tat er immer, obwohl Olga ihm einen Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben hatte. Auch sie besaß einen Schlüssel zu seiner Wohnung, den sie nur selten benutzte. Sie klopfte stets an, wenn sie zu ihm hinunterkam. Wenn einer von ihnen verreist war, ging der andere nicht in dessen Wohnung. Sie hatten das nie so abgesprochen, aber es hatte sich so ergeben.
Georg und Olga wohnten im Stuttgarter Bohnenviertel über dem Basta, einem beliebten Restaurant mit Bar, abgelegen, aber doch im Zentrum der Stadt. Als sie ein Paar wurden, hatten beide ihre Wohnungen behalten, Olga ihre im Dachgeschoss und Georg Dengler seine einen Stock tiefer. Erstaunlicherweise hatten sie noch nie darüber gesprochen, ihre beiden Wohnungen gegen eine gemeinsame, vielleicht größere einzutauschen. Es wurde zur Gewohnheit, dass Georg Dengler deutlich öfter bei Olga schlief als sie bei ihm. Häufig aber übernachtete er alleine in seiner Wohnung, wenn er länger arbeitete, las oder einfach allein sein wollte. Das große, zwei mal zwei Meter breite Bett mit dem schwarzen Metallrahmen, das er sich gekauft hatte, war die einzige Anschaffung, die sich direkt aus ihrer Verbindung ergab. Sonst blieb alles so, wie es war. Seine Bücher, CDs und Bilder blieben weiter in seiner Wohnung im ersten Stock, und sogar seine Zahnbürste brachte Georg jedes Mal mit, wenn er über Nacht bei Olga blieb.
Wenn Georg über Olga und sich nachdachte, fiel ihm auf, dass er kein zufriedenstellendes, kein treffendes Wort für ihre Verbindung fand. Beziehung lehnte er ab, da dieser Begriff nach seinem Geschmack eher zu Paaren passte, die langjährig, unverheiratet, aber bereits sexlos zusammenlebten. Affäre war viel zu wenig. Freundschaft war bei ihm reserviert für gleichgeschlechtliche Freundschaften, Freundschaft war für ihn immer Männerfreundschaft. Und es war auch mehr als reine Freundschaft. Denn, keine Frage, er liebte sie.
Olga lachte, wenn er wieder einmal nach einem Begriff für sie beide suchte. Ihr war es völlig gleichgültig, ob er einen Begriff fand oder nicht, aber für Georg hatte diese Namenlosigkeit etwas Beunruhigendes, etwas, was ihn antrieb und immer wieder beschäftigte, als gäbe das treffende Wort ihnen eine Art höhere Weihe, gewissermaßen das Sakrament, das einen Makel oder etwas Unvollkommenes beseitigen könne.
Und noch etwas anderes beschäftigte ihn. Aber darüber sprach er nicht. Nicht mit ihr. Und auch nicht mit seinen Freunden. Er gestand es sich selbst kaum ein.
Seit drei Jahren, seit seinem zweiten Fall, waren Olga und er ein Paar. Ein glückliches Paar, dachte er. Und doch … Es gab da einen Schatten, den er meist übersah, von dem er aber spürte, dass er wuchs.
Ihre Nächte waren von inniglicher Intimität. Meist schlief Olga auf der linken Seite, und Dengler robbte an sie heran und umschlang sie mit den Armen, schmiegte seinen Bauch an ihren Rücken und seine Beine an die ihren. Wenn er sich nachts umdrehte, kroch sie ihm schlafend nach und wand sich um ihn. Immer noch schlafend, legte sie ihre Arme um ihn, und nun war sie es, die sich zärtlich an ihn drückte. Diese Augenblicke ihrer verschlafenen Verschmelzung verzückten Dengler.
Er entwarf eine Typologie ihrer Wärme. Es gab da ihre Alltagswärme, in die er eintauchte, wenn sie auf ihrer Couch lagen und gemeinsam sonntagabends den Tatort sahen. Manchmal brachte er, nur um sie ein wenig zu ärgern, fachliche Einwände vor. Dieser Mordfall würde eine Sonderkommission erfordern – und die beiden Kommissare lösen das ganz alleine, sagte er dann, oder: Kein Polizist würde ständig seine Familienprobleme mit in das Kommissariat schleppen und dort diskutieren. Das hat bei der Polizeiarbeit draußen zu bleiben. Er hasste es auch, wenn die Fernsehkommissare ihre Waffen erst unmittelbar vor dem Einsatz durchluden. Alles nur Show, sagte er dann zu Olga, kein echter Polizist würde mit nicht durchgeladener Waffe in einen gefährlichen Einsatz gehen. Sie hielt ihm dann den Mund zu, denn sie wollte der Geschichte folgen. Nach der Hälfte des Films wusste sie meist schon, wer der Täter war. Dengler war es ein Rätsel, wie sie das herausfand. Mit seinen Tipps lag er meist völlig verkehrt. Er versuchte, sie zu küssen, doch sie schob sein Gesicht weg und wandte sich wieder dem Film zu. Er lachte und war glücklich.
Und doch …
In den ersten beiden Jahren hatten sie andere Nächte gefeiert. Wie ein Besessener befühlte, betastete, küsste er jeden Quadratzentimeter ihres Körpers, griff mal fest, mal zärtlich in ihr Fleisch, untersuchte rasend vor Begierde ihren Leib. Manchmal kam es ihm vor, als sei ihr beider Fleisch flüssig, von der gleichen Substanz zwar, aber von anderer Farbe, und wenn sie sich mischten, umeinander und ineinander, schufen sie ganz neue, nie erlebte Kompositionen. Sie liebten sich oft ganze Tage und Nächte, trieben es im Freien und an Orten, die sie sich später nur kichernd wieder ins Gedächtnis rufen konnten.
Und nun?
Nun war es anders, und er wusste nicht, ob es besser war. Aber warum wurde es anders? Lag es an ihm?
Weil er alt war?
Weil er in den mittleren Jahren war?
Wohin ist dein Begehren verschwunden?
In irgendeiner Zeitung hatte er einmal gelesen, dass die Manneskraft mit Mitte vierzig deutlich nachließe.
Ich bin ein Mann im besten Alter.
Trotzdem. Eine Welle voll Wärme erfasste ihn. Er wollte Olga sehen. Jetzt gleich.
Und er wollte sie nicht verlieren. Nie wieder.
Daran dachte Georg Dengler, als er vor ihrer Tür stand und klingelte.
Sie fehlte ihm.
Er klingelte gerade erneut, als sie die Tür öffnete.
»Sehnsucht?«
»Hunger.«
Er sah sie an.
»Sehnsucht und Hunger«, korrigierte er sich und küsste sie.
Später saßen sie ein paar Häuser weiter im Bistro Brenner. Georg Dengler bestellte Weißwürste für beide.
»Ich werde für einige Tage ins Ausland verreisen«, sagte Olga nach einer Weile.
Mit wem? – Nur eine Zehntelsekunde erlaubte er sich diesen Gedanken. Doch er schien ihm ins Gesicht geschrieben zu sein, denn sie legte ihre Hand auf die seine.
»Du – du musst das nicht tun«, sagte Dengler leise, »ich verdiene gerade ganz gut. Ich …«
Er stockte. Darüber hatten sie oft genug gesprochen.
Wenn er wirklich ausgesorgt hätte, müsste sie diese Reisen nicht auf sich nehmen.
»Ich passe auf mich auf«, sagte sie. »Ich fliege nach Moskau. Ich kenne mich dort gut aus.«
Und dann: »Komm doch einfach mit. Du bleibst in der Nähe oder sitzt in einem Café, während ich, nun ja … arbeite.«
Das hatte sie ihm noch nie angeboten. Und noch nie hatte sie ihm das Ziel ihrer Reisen verraten. Gerade, als er ihr zusagen wollte, fiel ihm jedoch ein: »Verdammt! Mein Reisepass ist abgelaufen.«
Er verfluchte sich innerlich.
»Dann kommst du eben das nächste Mal mit«, sagte sie leicht dahin.
Und dann, betont locker: »Und was machst du? Wie sieht dein Plan für den heutigen Tag aus?«
Dengler stocherte missmutig in seiner Weißwurst.
»Ich treffe eine neue Klientin«, sagte er. »Offenbar ist ihr Mann verschwunden.«
Sie zog an der Zigarette, als hinge ihr Leben davon ab. Und als sie sprach, verharrte sie nach jedem Satz, als müsse sie neu überlegen.
»Zitternd saß er in einer Ecke des Supermarktes, als Polizei und Krankenwagen eintrafen«, sagte sie.
»Wie Espenlaub.«
»Er starrte vor sich hin, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen«, sagte sie.
»Blutunterlaufene Augen«, sagte sie.
»Trauten sich nicht, ihn anzufassen.«
»Eine halbe Stunde später war ich da. Um ihn herum standen sie im Halbkreis. Ließen ihn nicht aus den Augen. Mit ihren Waffen zielten sie auf seinen Kopf.«
Noch einmal zog sie kräftig an der Zigarette. Dann drückte sie die Kippe mit einer beiläufigen Bewegung aus.
»Er sah mich an – aber ich glaube, er erkannte mich nicht«, sagte sie.
»Inmitten eines unvorstellbaren Chaos saß er. Zwei Regale waren umgerissen, und den Leiter des Supermarktes hatte er zusammengeschlagen. Ein Krankenwagen hatte den Mann schon in die Notaufnahme des Katharinenhospitals gebracht.«
»Ich setzte mich neben ihn und nahm ihn in den Arm.«
»Am ganzen Leib zitterte er«, sagte sie.
»Überraschend war das nicht. Weiß Gott. Überraschend war das wirklich nicht.«
Ihre Unterlippe zitterte.
»Sie nahmen ihn mit«, sagte sie und zündete sich eine neue Zigarette an, »und brachten ihn nach Hamburg.«
»In die Militärpsychiatrie. Habe ich schon gesagt, dass er Soldat ist?«
»Zwei Monate blieb er dort.«
»Und vor zwei Wochen ist er abgehauen.«
Sie zog erneut an dem Glimmstängel, als wäre es der letzte auf der Welt.
»Bitte finden Sie ihn«, sagte sie.
»Bevor es zu spät ist.«
Erneut betrachtete Georg Dengler ihre Unterlippe. Sie zitterte immer noch ein wenig. Ihre Zungenspitze fuhr über ihre Lippen und hinterließ einen dünnen feuchten Film.
Sarah Singer richtete sich auf, und Dengler sah, wie sie das Kreuz durchdrückte, als wolle sie sich für das Kommende wappnen. Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Langsam legte sie ihre Hand auf die seine. Sie war warm, und Georg Dengler fand die Berührung angenehm.
»Finden Sie ihn«, wiederholte sie und beugte sich zu ihm über den Tisch.
Eine attraktive Frau.
Lösch diesen Gedanken sofort, sagte eine innere Stimme, diese Frau hat andere Sorgen.
Er versuchte es.
Es gelang ihm nicht.
Sie zündete sich mit einer fahrigen Bewegung eine neue Zigarette an. Eine Haarsträhne fiel ihr dabei ins Gesicht. Blond.
Schulterlanges blondes Haar, notierte er innerlich. Anfang dreißig. Graue Augen. Pupillen geweitet. Gerade Nase. Voller Mund. Kein Schmuck. Aber zwei Löcher in jedem Ohrläppchen.
Sitzt vornübergebeugt, wie unter einer schweren Last. Weißes Sweatshirt. Dünne schwarze Lederjacke. Dunkelblaue Jeans von Joop. Männerjeans. Die Brüste nicht sehr groß.
Einen kurzen Moment versuchte er, sie sich nackt vorzustellen. Eine erregende Vorstellung. Sofort meldete sich die innere Stimme. Diese Frau hat massive Probleme – und du geilst dich an ihr auf, sagte sie. Ich mache nur meine Arbeit, antwortete er sich selbst. Personenbeschreibung. Wie ich’s als Polizist gelernt habe.
Sehr witzig, sagte die innere Stimme. Mir brauchst du nichts vorzumachen.
»O. k. Ich brauche dann Ihre Daten«, sagte er. »Wir werden uns noch öfter sehen.«
Sie nickte und drückte die Zigarette aus.
»Ich weiß«, sagte sie.
Er zog das schwarze Notizbuch aus der Innentasche seines Jacketts.
»Bitte geben Sie mir Ihre Adresse mit Telefon, E-Mail, Fax, falls Sie eines haben«, sagte er.
»Sarah Singer«, sagte sie. »Wir wohnen in einem Vorort von Calw. Mein Mann ist dort stationiert.«
Sie nannte ihre Telefonnummer, ihre Handynummer und ihre E-Mail-Adresse.
»Ein Bild von Florian habe ich auch dabei«, sagte sie.
Sie hob eine hellbraune Wildledertasche, die sie auf dem Boden neben ihrem Stuhl abgesetzt hatte, auf ihren Schoß, öffnete den Reißverschluss mit einer einzigen energischen Bewegung und durchwühlte sie hektisch mit beiden Händen. Dann zog sie ein gerahmtes Foto heraus und schob es zu ihm über den Tisch.
Es war eine Aufnahme im Freien geschossen. Sarah Singer stand mit ihrem Mann in einem Garten. Beide lehnten sich an einen breiten Holztisch, der hinter ihnen stand, darauf Kaffeegeschirr und eine Vase mit Wiesenblumen. Ihr Mann trug Jeans, schwarzen Gürtel und ein gelbes Polohemd. Kurze Haare. Sein Blick war auf einen Punkt irgendwo rechts außerhalb des Bildrandes gerichtet. Schmales Gesicht. Längliches Gesicht. Leicht abstehende Ohren.
Eine Erinnerung kroch in Dengler herauf, eine Erinnerung von weit her. Kaum mehr als ein Nebel. Singer – er kramte in seinem Gedächtnis, ging blitzschnell die früheren Kollegen vom BKA durch.
»Singer«, wiederholte er gedehnt. »War Ihr Mann früher einmal Polizist?«
»Nein.«
Florian Singer. Was sagte ihm der Name? Er sah noch einmal auf das Foto. Etwas regte sich, irgendwo in seinem Hinterkopf, aber es wollte nicht ans Tageslicht.
Florian Singer.
»Stabsfeldwebel«, sagte sie.
»Ich habe zwei Kinder«, sagte sie, »aber nicht von ihm. Aus meiner ersten Ehe.«
»Darf ich das Foto vorerst behalten?«
»Sicher.«
»Ich brauche auch die Handynummer und die E-Mail-Adresse Ihres Mannes.«
»Natürlich.«
Dengler notierte sich ihre Angaben. Die Handy-Ortung war möglicherweise der schnellste Weg, den Mann zu finden. Außerdem bedeutete dies wenig Aufwand. Das ginge in ein paar Minuten.
»Und nun noch einmal: Was geschah in dem Supermarkt?«
Sie zögerte.
»Mein Mann ist krank«, sagte sie. »Ich glaube, mein Mann ist sehr krank. Und sehr gefährlich. Er drehte durch. Er drehte einfach durch. In einem normalen Supermarkt.«
Wieder strich sie eine Strähne aus dem Gesicht. Sie setzte sich aufrecht, und Dengler sah, dass ihre Brüste größer waren, als er anfangs vermutet hatte.
»Ich werde Ihnen helfen«, sagte er. »Ich werde Ihren Mann finden.«
Sie sah auf ihre Uhr und stand abrupt auf. »Ich muss los. Ich muss die Kinder aus der Schule abholen. Rufen Sie mich an?«
Dengler nickte.
Der Sommer des Jahres 2007 war tatsächlich nicht mehr als ein grün angestrichener Winter. Im April hatten hochsommerliche Temperaturen das Land überrascht und eine erregte Diskussion über die nahende Klimakatastrophe ausgelöst. Doch dafür revanchierte sich der Wettergott, indem er für den Rest des Jahres wechselndes Aprilwetter schickte. Nun war es August, und Dengler fror.
Er legte eine Junior-Wells-CD auf und wünschte, Olga wäre da.
If you ever loved a woman
You have to love her with a thrill.
Er vermisste sie.
Er sehnte sich nach ihr, ihrer Wärme und ihrem Lachen, ihren ungezielten Bewegungen, mit denen sie seine Nähe suchte.
Er stellte sich vor, wie sie ineinander verknäult auf seinem alten Sofa liegen würden, jeder ein Buch lesend.
Schwer stand er auf, ging in die Küche und öffnete eine Flasche Brunello.
Junior Wells’ Blues folgte ihm.
Chicago, dachte er. Ich werde mit ihr für ein paar Tage nach Chicago fahren. Ihr diese wunderbare Stadt zeigen. Und die Blues-Clubs.
Er musste seinen Reisepass verlängern.
Als er auf dem Sofa saß, griff er wieder nach dem neuen Roman von Heinrich Steinfest. Doch er konnte sich nicht konzentrieren.
Florian Singer, dachte er plötzlich.
Singer. Der Name sagte ihm nichts. Aber er war sich sicher, das Gesicht schon einmal gesehen zu haben. In Gedanken ging er seine früheren Kollegen vom BKA durch.
Florian Singer.
Etwas war da, aber er konnte sich nicht erinnern.
Josef Keller strahlte. Er war zufrieden mit dem heutigen Tag. Fast alle Zucchini verkauft. Die Tomaten aus seinem eigenen Bauerngarten – alle weg. Von den neuen Kartoffeln hatte er noch drei Stiegen, aber die würde er heute nicht mehr los. Er sah auf die Uhr. Halb zwei Uhr mittags. Zeit, Schluss zu machen. Doch noch immer drängten sich die Kunden an den Marktständen vorbei, junge Pärchen, die gemeinsam einkauften, gewiefte schwäbische Hausfrauen, die misstrauisch jede Tomate einzeln prüften, und, viel seltener, einzelne Männer, die heute Abend Gäste erwarteten und ein größeres Essen zubereiten wollten.
»Wir machen Schluss«, sagte er zu seiner Frau und begann, die Salatkisten aufeinanderzustapeln. Dann lud er sie in seinen alten Ford.
Merkwürdig. Heute Morgen, als er den Stand aufgebaut hatte, waren zwei Beamte des Liegenschaftsamtes in einem städtischen VW-Bus vorgefahren und hatten die beiden Betonplatten vor seinem Stand aus dem Boden gestemmt und den nun freigelegten Treppeneingang mit zwei rot-weißen Kegeln abgesichert. Dann waren sie die Treppenstufen hinabgestiegen – und seither nicht mehr aufgetaucht.
Keller wunderte sich. Er hatte schon öfter beobachtet, wie die beiden städtischen Angestellten den ehemaligen Bunker unter dem Marktplatz geöffnet und betreten hatten. Aber noch nie hatte ihre Inspektion so lange gedauert wie heute, der Eingang war jetzt seit Stunden offen. Meist hatten sie ihn wieder geschlossen, bevor die ersten Kunden auf dem Markt erschienen. Und noch nie hatten sie den VW-Bus so lange mit geöffneter Seitentür unbewacht hier stehen lassen.
Warum heute?
Er hatte in einem Buch, das ihm sein Sohn zum Geburtstag geschenkt hatte, gelesen, dass die Nazis 1940 innerhalb von nur vier Monaten den Stuttgarter Marktplatz unterbunkert und aus den Katakomben einen Luftschutzbunker gemacht hatten, in dem während des Krieges bis zu dreitausend Personen Schutz vor den alliierten Fliegerangriffen gesucht hatten. Nach dem Krieg eröffnete die Familie Zeller unter der zwei Meter dicken Stahlbetondecke ein Hotel. Es gab neunzig Zimmer zu günstigen Preisen. Da die Alliierten alle anderen Hotels beschlagnahmt hatten, war das Bunkerhotel für die Deutschen eine der wenigen Übernachtungsmöglichkeiten. In den Fünfzigerjahren wurde es gerne von Nachtschwärmern aufgesucht, da die Übernachtung im Bunker billiger war als das Taxi nach Hause. Erst 1985 wurde das Hotel wegen zu hoher Renovierungskosten geschlossen.