Brief in der Nacht - Chaja Polak - E-Book

Brief in der Nacht E-Book

Chaja Polak

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Beschreibung

Verständigung und Frieden jenseits von Gewalt: ein humanistischer Blick auf den Konflikt zwischen Israel und Gaza Die Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel und der Krieg in Gaza erschüttern die Welt. Chaja Polak, eine der herausragenden Stimmen der niederländischen Literatur, blickt mit Empathie und tiefem Verständnis für die Opfer auf den Nahostkonflikt, seine Geschichte und Verästelungen. Ihr Essay widmet sich dem komplexen und emotional aufgeladenen Geschehen und fordert auf, über die Grenzen von Schwarz und Weiß hinauszudenken. Mit bemerkenswertem Einfühlungsvermögen blickt die 1942 geborene Holocaust-Überlebende Chaja Polak auf die menschlichen Geschichten und Schicksale, die hinter den Schlagzeilen verborgen sind. Sie zeigt uns, dass Trauer und Verzweiflung keine Seiten kennen – und dass wahre Lösungen jenseits von Gewalt gefunden werden müssen. Ihr Buch ist mehr als eine Essay, es ist ein Aufruf zum Dialog, zur Reflexion und zum Handeln. Polak argumentiert leidenschaftlich für eine Zukunft, in der Empathie und Verständigung die Grundlagen für einen dauerhaften Frieden bilden. Für Leser*innen, die - sich für die Hintergründe des israelisch-palästinensischen Konflikts interessieren - nach tiefgreifenden, humanistischen Perspektiven suchen - glauben, dass in der heutigen Welt Nuancen und Empathie mehr denn je benötigt werden Chaja Polak schaut aus einer essenziellen, besonderen Perspektive auf den Nahostkonflikt. Dieses Buch vertieft das Verständnis für eine der kompliziertesten geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit. 

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Seitenzahl: 66

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Chaja Polak

Brief in der Nacht

Gedanken über Israel und Gaza

Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Chaja Polak hat den Holocaust überlebt. Die Nationalsozialisten ermordeten fast ihre ganze Familie, nur ihre Mutter und ihr Onkel überlebten. Fast 80 Jahre nach Kriegsende in Europa richtet sie sich an die Konfliktparteien in Israel und Palästina und ruft dazu auf, das Leid der anderen zu sehen. Wer, so Chaja Polak, wenn nicht Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt sollten Mitleid mit den Palästinensern haben? Das ist es, was Chaja Polaks Mutter ihrer Tochter nach der Deportation, den Konzentrationslagern und den Todesmärschen mitgab: dass menschliches Leid verhindert werden muss, egal welchem Volk oder welcher Religion der andere angehört. Polaks Essay ist ein in seiner radikalen Menschlichkeit und historischen Tiefe aufrüttelnder Text.

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Widmung

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

Intermezzo

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

Intermezzo

XVI

XVII

XVIII

XIX

XX

XXI

»Car nous voulons la Nuance encor,

Pas la Couleur, rien que la nuance!«

 

– Paul Verlaine, »Art poétique«1

Für Rens, Anne-Sara, Jikke und Chajale

I

Nun, da ich die ersten Sätze dieses Essays schreibe, fallen Bomben auf Gaza, Raketen auf Israel, liegt der 7. Oktober, als die Welt aus den Fugen geriet, schon wieder Monate hinter uns, und brennen in meinem Zimmer vier arglose Chanukka-Lichter, fleht meine Familie in Israel um ein Wunder und denke ich ständig an einen Artikel in Ha’aretz – einer von nur fünf Prozent der Bevölkerung gelesenen progressiven israelischen Zeitung –, denke ich ständig an einen Artikel, der mich nicht loslässt. An die Geschichte von zwei Journalisten, Yuval Abraham, einem israelischen Journalisten, und Ahmed Alnaouq, einem Journalisten aus Gaza. Zwei junge Männer, erst in den Zwanzigern. Beide davon überzeugt, dass die Kenntnis des »Feindes«, die Kenntnis »des Anderen« einen Frieden näherbringen könnten. 2019 lancierten sie den Plan, Gazaner dazu einzuladen, über ihr tägliches Leben zu schreiben, über ihre Sorgen und Kümmernisse, ihre Sehnsüchte. Die digitalen Briefe sollten unter dem Namen Across the Wall auf einer israelischen Website platziert werden, bestimmt für israelische Augen. Und Herzen. Unmittelbar nach der Bekanntmachung dieses Projekts via Facebook boten hundertfünfzig Israeli an, die digitalen Briefe aus dem Arabischen ins Hebräische zu übersetzen. Und so geschah es. Es war ein bescheidenes Projekt, aber es war eines. Die Briefe öffneten einen Spalt im tiefen Dunkel dieses unbekannten überbevölkerten Streifchens Land, brachten etwas Licht und Luft hinein.

Es waren nicht nur alltägliche Sorgen, über die geschrieben wurde, Armut und Diktatur herrschten überall in diesem schmalen Handtuch von einem Land, und doch zeigte sich in diesem Lichtspalt, geschaffen aus Wörtern und Sätzen – aus Sprache –, dass dort gewöhnliche Menschen wohnten, Menschen, die an ihren freien Tagen auch gern mit Verwandten und Freunden nach draußen gingen, ans Meer, in den Park. Menschen, die Geburtstage feierten, sich über die schulischen Leistungen ihrer Kinder Sorgen machten oder gerade stolz darauf waren. Menschen, die sich verliebten, heirateten, Essen kochten und ihre Kinder zu Bett brachten. Die Briefe verwandelten die Bewohner von Gaza, in den Augen der Israelis, von feindlichen, hinter hohen Zäunen und hohen Mauern verborgenen Nachbarn in wiedererkennbare Menschen.

Sie waren einander begegnet, die beiden Journalisten. Ich stelle mir vor, irgendwo in Europa, vielleicht während einer Konferenz. Sie sind miteinander ins Gespräch gekommen, zufällig standen sie am selben Tisch mit Flugblättern und Büchern oder warteten zur selben Zeit an der Garderobe. So kann es gelaufen sein. Sie kamen miteinander ins Gespräch, schon bald überrascht von wiedererkennbaren Sorgen, überrascht von geteilten Träumen. Sie zogen ihre Mäntel an und beschlossen, das Gespräch in einem Café fortzusetzen. Ich stelle mir vor, wie sie sich an einem braunen hölzernen Tischchen gegenübersitzen, sie trinken schwarzen Kaffee, viel schwarzen Kaffee mit viel Zucker, und während sie reden, bewegen sich ihre schmalen, erhitzten Gesichter über dem Tisch aufeinander zu. Unter dem Eindruck ihrer Einmütigkeit und des Wiedererkennens von Hoffnung und Engagement. Es ist noch lange vor dem 7. Oktober 2023, vier Jahre davor. Die jungen Männer gleichen sich, ihre Ähnlichkeit ist für die Gäste des Cafés mehr als deutlich. Beide haben dunkles Haar, dunkle Augen unter dunklen Augenbrauen, einer von ihnen hat einen ein paar Tage alten Bart. Ihre Kleidung ist verwaschen, ihre Stimmen flüstern heiser. Das müssen Brüder sein, denken die Gäste. Oder Cousins.

In meiner Vorstellung wird dort in dem Café der Plan der Hoffnung geboren.

Eine Reihe von Jahren wird Across the Wall, von Israelis übersetzt, gelesen werden. Manchmal mit offenem Blick, manchmal reserviert, aber es wird gelesen, und vorsichtig beteiligen sich immer mehr Menschen aus beiden Ländern an dem Projekt. Und dann kommt der 7. Oktober, der Tag des sadistischen Blutbads durch die Hamas. Mit mehr als eintausendzweihundert Toten und über zweihundertdreißig Geiseln. Vornehmlich jungen progressiven Friedensaktivisten.

Und die Welt gerät aus den Fugen.

Und das Briefprojekt schwebt über Israel und Gaza, verloren zwischen den Bomben und Raketen, hoch im digitalen Äther.

Und es schmerzt zu wissen, dass, wie Foreign Affairs (eine  amerikanische Zeitschrift für Tiefenanalysen und Debatten über internationale Beziehungen) am 25. Oktober 2023 schreibt, die große Mehrheit der Gazaner kurz vor dieser Attacke von der Hamas-Führung frustriert war und die meisten nicht hinter ihrer Ideologie standen.

 

An diesem 7. Oktober und den Wochen danach befindet sich Ahmed Alnaouq, der gazanische Journalist, irgendwo in England. Ich nehme an in London. Er kann nicht zurück. Tödlich beunruhigt durch die alarmierenden Berichte aus seinem Heimatland, will er nichts sehnsüchtiger als zu seiner Familie. Aber die Grenzen sind für ihn geschlossen. Dann erhält Ahmed Alnaouq die Nachricht, dass seine ganze Familie, dreiundzwanzig Menschen, unter dem Schutt ihres Hauses begraben liegen. Das Friedensprojekt der zwei engagierten Männer findet ein abruptes Ende. Und vielleicht ist es auch ein Ende der Freundschaft zwischen ihnen.

 

Ich sehe den jungen Palästinenser aus Gaza durch die Straßen Londons irren, der Abend bricht herein, die Nacht bricht herein, er läuft und läuft. Er versucht den Tod seiner Familie zu sich durchdringen zu lassen. Ich bin allein, wiederholt er bei jedem Schritt, allein. Meine Eltern gibt es nicht mehr, meine Großeltern gibt es nicht mehr, meine Geschwister und ihre jungen Familien, sie gibt es nicht mehr, ich bin allein.

Es wird wieder hell, der Tag bricht an, und er läuft und läuft.

II

Wie sehr ich dieses Entwurzeltsein kenne. Ich verlebte glückliche Jahre mit meinem zweiten Mann, dessen Familie im Krieg ermordet wurde. Er hatte keine Großeltern mehr, keine Eltern mehr, alle vier Brüder seines Vaters mit ihren jungen Familien wurden ermordet. Und er, mein Mann Nol van Dijk, musste sein Leben weiterleben, nachdem die Nazis besiegt und der Friede unterzeichnet war. Ein Kind von gerade mal vierzehn Jahren. Nur seine kleine Schwester und der jüngste Bruder seiner Mutter waren »zurückgekommen«. Von der großen Van-Dijk-Familie und der kleineren Mouwes-Familie waren noch drei Splitter übrig.

 

Der vierzehnjährige Junge barg seinen Kummer in einem kleinen, aber stabilen Kistchen, er barg ihn unter seiner Haut, irgendwo auf Magenhöhe. So sprach er davon. Er sagte, er habe den Deckel mit einem Schlag zugeklappt. Kummer verstaut und weg. Seine Eltern darin, auch sie weg. Obwohl er schon elf Jahre alt war, als seine Mutter den Judenstern von seiner Weste abtrennte, und den von der Weste seiner kleinen Schwester, und beide Kinder an der Hand fremder »Onkeln« sternlos ihre Straße hinunterliefen, hatte er sie »vergessen«. Die kleine Schwester hat sich noch umgeschaut und gewinkt. Doch der Junge schaute sich nicht um, winkte seinem Vater und seiner Mutter nicht zu, die, halb verborgen hinter dem Vorhang vor dem Fenster, ihre Kinder die Straße hinunterlaufen, um die Ecke biegen und für immer aus ihrem Blickfeld verschwinden sahen.