Briefe aus dem Krieg - Ann-Katrin Fett - E-Book

Briefe aus dem Krieg E-Book

Ann-Katrin Fett

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Beschreibung

It=s difficult for us today to imagine the inhuman conditions in which soldiers fought on the various sections of the front during the First World War & historical sources such as newspaper articles, reports from the front and official announcements provide a distorted picture of the situation at the front in many respects. On the one hand, these descriptions were usually written by people who had only limited knowledge of the horrors of trench warfare. On the other, strict censorship was applied during the war in order to keep up morale among the general population. Reporting of the mood among the troops was therefore quite systematically embellished. But how did ordinary soldiers actually feel? How did their mood develop during the years of war? What did people at the front think about the decisions being taken by the government and general staff? Did the initial war euphoria last, or did increasing disillusionment set in as the terror continued? These and many other questions are of urgent interest, and not only to historians: answering them could place the First World War in a completely new light. Ann-Katrin Fett has now carried out an analysis of letters sent from the front, as a source genre that has so far received too little attention. These letters & exchanged between front-line soldiers and their loved ones at home & provide incomparable insights into the thoughts of a group of people whose testimony has otherwise scarcely featured in the historical sources. The letters reflect intimate feelings and judgements, largely without ulterior motives, and reveal both social moods and wider patterns of perception. The author investigates the way in which the brutal battles of matériel and the sight of landscapes with craters stretching across them altered contemporaries= views of death and of their own mortality, and the ways in which this was reflected in their writing. She analyses the dissonances that arose from the divergent worlds of experience on the front and at home, and the role that letters from the front played in bridging these gaps. The letters show numerous linguistic strategies for coping and invocatory speech acts that were used to establish distance from the reality of war. Distance was often expressed through omissions and playing down of events, as well as through heavy concentration on everyday and seemingly apolitical topics. Through her linguistic approach, the author succeeds in showing how people positioned themselves in their letters over several years relative to the continuing upheaval. One important finding is that the language used in letters from the front changed between 1914 and 1918. This, in turn, is used to show that there was a more general development in the history of mentality. One chapter is dedicated to each year of the war in order to make the chronological development of linguistic discourse tangible. The source material includes letters from the front and from civilians, from women and men, and from different age groups and milieus.

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Die Autorin

Ann-Katrin Fett, geboren 1989, studierte an der Universität Tübingen Geschichte, Skandinavistik sowie Literatur- und Kulturtheorie. Mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigt sie sich sowohl aus geschichts- als auch aus literaturwissenschaftlicher Perspektive.

Ann-Katrin Fett

Briefe aus dem Krieg

Die Feldpost als Quelle von 1914 bis 1918

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Umschlagbild: A. Fett

Print:

ISBN 978-3-17-036744-9

E-Book-Formate:

pdf:        ISBN 978-3-17-036745-6

epub:     ISBN 978-3-17-036746-3

mobi:     ISBN 978-3-17-036747-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

Inhalt

 

 

 

1   Einführung

2   1914: Die Welt in Aufruhr

Der Kriegsbeginn als Zäsur

Schreiben über den Tod

Schreiben über den Krieg

Das erste Weihnachten im Krieg

3   1915: Stagnation

Die Front erstarrt

Verschlechterte Versorgungslage

Friedenssehnsucht und Kriegsmüdigkeit

Neue Dimension der Zerstörung

Der Tod und der abwesende Körper

Überreizte Nerven und Abstumpfung

Gesellschaftliche Spaltungen?

Noch ein Weihnachten im Krieg

4   1916: Nerven

Im Höllenkessel

Gestählte Nerven und trotzige Beschwörungen

Missstände und soziale Spannungen

Schlechte Friedensaussichten

Verlorene Jugend

Dissonanzen

Weihnachten 1916

5   1917: Elend

Kälte, Hunger, Spannungen

Nerven, Glück und Gott

Abstumpfung und Todessehnsucht

Natur und Nationalismus

Begegnung mit dem Fremden

Weihnachten 1917

6   1918: Auflösung und Ende

Verelendung und Unruhen

Aufbruchstimmung und Frühjahrsoffensiven

Enttäuschung nach missglückter Offensive

Unmut und Frustration

Fragmentierte Beziehungen

Das Kriegsende

7   Fazit

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Abbildungsnachweis

1          Einführung

 

 

 

 

 

 

Im November 1917 sinniert der Soldat Ernst Kesselring in einem Brief an seine Verlobte Rosa über die Schwierigkeiten des Schreibens im Krieg:

»[Ich] glaube dir gern daß es kein Spaß macht Briefe zu schreiben wenn fremde Leute dabei sitzen. Erstens hatt man seine Gedanken nicht so beisammen und zweitens braucht auch nicht jeder zu lesen was man schreibt. Mir geht es genau so. Bei uns ist das Schreiben mit Schwierigkeiten verbunden, denn wir liegen mit 20 Mann in einem Keller und 2 kleine Fenster lassen nur spärlich Licht herein und hüllen das Ganze in ein magisches Halbdunkel. Nun das üble, bei den vielen Leuten, tanzt bald dieser, bald jener im Licht herum und fortwährend kann man den Ruf, aus dem Licht, ausstoßen. Ich schreibe dieserhalb meistens am Mittag denn wenn die Mägen voll sind so legen sich die meisten ins Bett und es gibt für 1-2 Stunden Ruhe, dann ist es aber vorbei.«1

Die Schreibbedingungen sind sowohl für Rosa als auch für Ernst denkbar ungünstig: Beiden mangelt es an Privatsphäre, Konzentration und Zeit. Dieser permanente Ausnahmezustand wirkt sich negativ auf die Qualität der Briefe aus, wie Ernst Kesselring berichtet:

»Einer meiner Kameraden schrieb einmal abends und als er fertig war verbrannte er den Brief wie er sagte hatt er alles durcheinander geschrieben sodaß man glauben könnte er sei verrückt oder zum mindesten betrunken gewesen.«2

Da die Briefschreiberinnen und Briefschreiber selten allein und ungestört sind, schaffen sie sich kleine »Nischen des Rückzugs«3, die sie zum Briefschreiben nutzen. Dabei ist die Zeit oft so knapp bemessen, dass die Briefe unter den widrigsten Umständen entstehen, wie der Soldat Klemens Drolshagen in lakonischen Worten berichtet:

»Nachdem wir den ganzen Vormittag geschossen, bekommen wir momentan eine gründliche Abreibung von schweren franz. Kalibern, daß der mehrere Meter tiefe Stollen nur so wackelt. In einer Weise ganz günstig, ich kann dann schnell was schreiben, wozu ich sonst kaum komme.«4

Im Ersten Weltkrieg stellten Briefe die einzige Verbindung zwischen den Sphären Front und Heimat dar. Sie waren von enormer persönlicher sowie politischer Wichtigkeit, weshalb sie den gesamten Krieg über portofrei befördert wurden.5 Der Begriff der Feldpost bezeichnet die Postverbindung innerhalb der Truppe sowie zwischen den Soldaten und ihren Angehörigen in der Heimat. Die primäre Funktion von Feldpost war dabei nicht der inhaltliche Austausch von Informationen, sondern die kommunikative Verbindung von Menschen, die der Krieg auf unbestimmte Zeit räumlich getrennt hatte.6 Für die meisten war der Krieg völlig unerwartet in ihr Leben eingebrochen und hatte jegliche Gewissheiten erschüttert, die zuvor als unumstößlich galten. Inmitten einer völlig neuen und feindseligen Realität waren Briefe oft das Einzige, was die Menschen mit ihrem alten Leben und ihrer früheren Identität verband. Dementsprechend euphorisch wurde die Ankunft der Post begrüßt: »Der lichte Augenblick, in dem ganzen Elend, ist der Moment wenn ich deine lieben Briefe erhalte«7, schreibt Ernst an Rosa. Blieb die Post jedoch aus, konnte sich dies zu einem Problem von existenzieller Tragweite entwickeln und resultierte oft in einem Gefühl, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, wie folgender Briefausschnitt eines jungen Mannes an seine Eltern zeigt:

»Bin nun über 16 Tage im Felde und habe gerade einen Brief von Mutter bekommen sonst garnichts, von keinem Menschen, trotzdem ich schon so viel geschrieben habe. Ich komme mir immer wie ein Waise vor, alle anderen bekommen Post.«8

Auch die Menschen in der Heimat warteten voller Ungeduld auf ein Lebenszeichen aus dem Feld: Die Ungewissheit, die mit einer längeren Briefpause einherging, war für die meisten nur schwer erträglich und führte zu einer Vielzahl von bangen Spekulationen. Minna Stockelbrandt aus Berlin schreibt ihrer Freundin:

»Mein lieber Otto hat schon vom 18 März nicht mehr geschrieben, es sind nun schon drei Wochen, was soll man davon denken, ich bin ganz betrübt, ich möchte den ganzen Tag weinen, ich denke er ist tot, denn wäre er verwundet ließ er doch jemand anders schreiben. Ich habe schon hin und wieder mal geschrieben, bekomme aber nichts zurück, wäre er tot müßten doch wohl die Briefsachen zurück kommen, da weiß man nicht was man denken soll.«9

Während Briefe als Ersatz für den direkten zwischenmenschlichen Kontakt von größter Relevanz für die Aufrechterhaltung von Beziehungen waren, empfanden viele Menschen die briefliche Kommunikation zugleich als defizitär: »Ich wünscht wir brauchten die ganze Schreiberei nicht und ich könnte bei dir sein so wäre uns doch geholfen, aber leider sind dies alles nur fromme Wünsche.«10 Auch Marta Thiele-Tümler aus Berlin ist sich bewusst, dass die schriftliche Kommunikation Raum für allerlei Missverständnisse und Konflikte schafft: »Herzichen, die Gewißheit habe ich heute auch, daß es im persönlichen Zusammenleben nie zu so scharfen Auseinandersetzungen kommen kann, wie noch dieses Mal, schriftlich.«11 Dennoch wurde bereits zu Kriegszeiten der hohe emotionale Wert des Briefes sowie sein Potential als Erinnerungsobjekt für künftige Zeiten anerkannt:

»Was mußt du mein Lieb jetzt eine Menge Briefe aufbewahren da ich deine lieben Briefe auch noch zurücksende. Aber Herzchen hebe sie gut auf. Später haben wir Zeit alles in Muße miteinander durchzugehen.«12

Die hier aufgeführten Beispiele zeigen, dass Feldpostbriefe Einblicke in alltägliche Sorgen und Nöte im Krieg gewähren und im Stil einer Momentaufnahme versinnbildlichen, was in einer bestimmten Situation empfunden, erlebt und gedacht wurde. Feldpostbriefe versprechen eine »unmittelbare[…] Nähe zum Geschehen«13 und bilden die individuellen Erfahrungen der schreibenden Person ab. Sie zeigen daher die Sicht auf den Krieg »von unten«14 und erlauben direkte Einblicke in die Lebenswirklichkeit der Menschen. Anders als Erfahrungsberichte oder Gespräche mit Zeitzeuginnen und -zeugen aus der Nachkriegszeit sind Feldpostbriefe nicht von einer retrospektiven Erinnerung geformt und laufen daher nicht Gefahr, im Nachhinein umgedeutet oder verzerrt zu werden.15

Dennoch sollte stets beachtet werden, dass Feldpostbriefe keine allumfassende Darstellung der Kriegsgeschehnisse gewährleisten können, sondern stets nur eine sehr begrenzte Sicht in die private Korrespondenz

Abb. 1: Brief von Ella Mirring an ihren Verlobten Walter Lüdecke

einiger weniger Menschen erlauben, deren Perspektive auf den Krieg bruchstückhaft und subjektiv war.16 Darüber hinaus liefern Feldpostbriefe kein realhistorisches Abbild der damaligen Gesellschaft, da schriftliche Zeugnisse aus der Ober- und Mittelschicht häufiger überliefert und aufbewahrt wurden als Briefe aus dem Arbeitermilieu.17 Menschen aus bildungsbürgerlichen Kreisen waren zudem meist geübter und produktiver im Schreiben als Mitglieder weniger privilegierter Schichten, deren Perspektive daher im überlieferten Quellenmaterial tendenziell unterrepräsentiert ist.18 Die Quellenlage begünstigt darüber hinaus die männliche Perspektive auf den Krieg: Briefe von Frauen sind seltener überliefert, da diese an der Front häufig verlorengingen und schlechter aufbewahrt werden konnten als Briefe von Soldaten an die Angehörigen in der Heimat.19 Dies führt dazu, dass der Blick auf den Krieg in erster Linie männlich geprägt ist und die Deutungshoheit über die Geschehnisse bei den kämpfenden Frontsoldaten liegt.20 Verstärkt wurde diese Tendenz durch in Zeitungen und Anthologien (Briefsammlungen) veröffentlichte soldatische Feldpost, die als besonders patriotisch oder erbaulich erachtet wurde, was die öffentliche Wahrnehmung sowohl bereits während des Krieges als auch in der Nachkriegszeit entscheidend prägte. Die publizierten Briefe von Frauen hingegen propagierten das aus dem 19. Jahrhundert stammende Ideal von weiblicher Treue und Opferbereitschaft und schrieben Frauen eine unterstützende und stets sekundäre Rolle zu.21 Diese verkürzte Darstellung gilt es aufzubrechen und weibliche Subjektivität trotz der asymmetrischen Quellenlage gezielt in den Fokus zu rücken – abseits von stereotypen Zuschreibungen und Dichotomien.

Dabei wird klar, dass Feldpostbriefe trotz ihrer Unmittelbarkeit nicht frei von zeittypischen Topoi beziehungsweise Sprachbildern, Sinnstiftungsversuchen oder ideologischen Einflüssen sind und somit kein repräsentatives Bild der wahren innersten Vorgänge der schreibenden Person schaffen können.22 Welche Erfahrungen tatsächlich im Krieg gemacht wurden und welche emotionalen Vorgänge sich daraus ergaben, bleibt letztendlich im Verborgenen, weshalb Feldpostbriefe nicht als wahrheitsgetreue Abbildung des Krieges gelesen werden dürfen. Der Wert des Briefs als historische Quelle liegt somit nicht in seiner Funktion als psychologisches Dokument begründet, sondern darin, dass er gesamtgesellschaftliche Diskurse und mentalitätsgeschichtliche Prozesse, wie zum Beispiel verschiedene Denkweisen, Einstellungen und Empfindungen, sichtbar macht:23 Anhand eines persönlichen Dokuments wie des Briefs können über das Individuum hinausgreifende, kollektive Entwicklungen analysiert werden. Die Briefe fungieren somit als Seismograph für gesellschaftliche Stimmungen und soziale Strömungen. Der Fokus des hier angewendeten diskursanalytischen Ansatzes liegt auf kulturell geformten und überindividuellen Wahrnehmungskategorien. Dabei gilt die Prämisse, dass auch scheinbar persönliches Sprechen oder Denken, wie es typischerweise in Briefen stattfindet, nicht die innersten und ureigensten Empfindungen der schreibenden Person abbildet, sondern stets »symbolisch strukturiert und medial vermittelt«24 und somit in ein übergeordnetes Diskursgeflecht eingebunden ist. Laut dem Philosophen Michel Foucault ist sowohl unsere soziale Wirklichkeit als auch unsere Wahrnehmung historischer Ereignisse und Prozesse diskursiv erzeugt und durch sprachliche Zeichensysteme geformt: Worte schaffen Dinge, Sprache schafft Realität.25 Die zentralen Fragen sind daher: Was wird zu einer bestimmten Zeit warum gesagt? Unter welchen Umständen wird die Umwelt auf welche Weise strukturiert? Wie sind die Meinungen und Mentalitäten, die in den Briefen zum Vorschein kommen, konstruiert und wo liegen die Grenzen des Sagbaren? Nicht alles kann zu jeder Zeit ausgesprochen werden: Was im Jahr 1918 als Selbstverständlichkeit galt, war eventuell zu Beginn des Krieges noch im Bereich des Nichtsagbaren verortet und konnte weder in Worte gefasst noch gedacht werden, weil es sich außerhalb des Diskurses und somit außerhalb des Ortes »des legitimierten Sprechens«26 befunden hätte. Das Anliegen des vorliegenden Buches ist es, die langsam aufkommenden Entwicklungen und Verschiebungen der sprachlichen Diskurse in den Feldpostbriefen aufzuzeigen.

Die Art und Weise, wie ein Mensch seine eigene Biographie sowie seine Umwelt strukturiert und schließlich in Worte fasst, ist in hohem Grade abhängig von seinem Habitus. Dieser bezeichnet laut dem Soziologen Pierre Bourdieu die Verinnerlichung von milieubasierten kulturellen Präferenzen und Lebensstilen.27 Daher ist es stets wichtig, bei der Analyse der Briefe die Grundsätze der Quellenkritik zu befolgen. So sollten zunächst die politischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen der Quelle so genau wie möglich ermittelt werden. Bourdieu weist darauf hin, dass der Mensch keine »Marionette äußerer Bedingungen«28 und somit kein machtloser Gefangener der ihn umgebenden Strukturen ist. Dennoch ist der Mensch kein freies Individuum, das sein Leben komplett selbstbestimmt und ungeachtet äußerer Gegebenheiten gestalten kann. Laut Bourdieu ist der Mensch ein Akteur, der lediglich innerhalb dieser soziokulturellen Strukturen Handlungsspielraum hat. Die Art und Weise, wie der Akteur seine Umwelt deutet, schafft wiederum die ihn umgebende soziale Wirklichkeit. Es entsteht also eine Wechselwirkung zwischen Akteur und soziokultureller Realität,29 die er stets neu hervorbringt und deren Grenzen er verschiebt.

Doch auch rein materielle Faktoren konnten den Inhalt des Geschriebenen beeinflussen: Auf einer Postkarte, die wenig Platz bot und zudem öffentlich lesbar war, wurden andere Dinge geschrieben als in einem Brief, der sich über mehrere Seiten erstreckte und nur an eine Person adressiert war. Vor allem an der Front waren die Soldaten oft nur unzureichend mit Schreibmaterial versorgt, was dazu führte, dass die zu übermittelnden Informationen in knappen Worten zusammengefasst werden mussten. Der Inhalt ist jedoch nicht nur vom Medium, sondern auch von den äußeren Bedingungen, unter denen der Brief geschrieben wurde, abhängig. Häufig entstanden die Briefe in Stresssituationen oder unter Lebensgefahr, was in einem gehetzten, atemlosen und mitunter fehlerbehafteten Schreibstil resultieren konnte. Zudem bewegte sich der Feldpostbrief stets im Spannungsfeld von öffentlicher und privater Sphäre: Während der Brief grundsätzlich den Anschein eines persönlichen Dokuments erweckt, das die privatesten Gedanken zweier Menschen miteinander verbindet, war die Feldpost häufig an mehrere Empfängerinnen und Empfänger gerichtet, weshalb der Inhalt entsprechend verträglich gestaltet werden musste und nur ein begrenztes Maß an Intimität zuließ.30 Es wurde meist in dem Wissen geschrieben, dass Briefe durch mehrere Hände gingen und innerhalb der Familie ausführlich besprochen wurden. Vollrath Thiele etwa bedankt sich bei seiner Mutter für ihren Brief, den er »gleich an Herzi weiter gereicht [hat], damit sie den Inhalt kennt.«31

Auch an der Front wurde das Schreibverhalten der anderen kritisch beobachtet und kommentiert, wie etwa Gustav Lehmann einer Bekannten berichtet: »[Jetzt] wo ich diesen Brief an Sie geschrieben hab sagte mein Vorderreiter, ich kan dir nicht verstehen was du immer an ihr schreibst […].«32 Zugleich warnt er vor den zweifelhaften Absichten eben jenes Kameraden, der ebenfalls mit der Frau in schriftlicher Verbindung steht:

»[Ich] möchte noch erwähnen das bei jedem Brief was Sie an mir geschrieben haben er jedes mahl mich frug ob Sie eine Photographie mit geschikt haben er will nun einmahl um eine Photographie zu erhalten an Sie schreiben um damit seinen Spott unter den Kammeraden zu treiben.«33

Dass die Schreibenden sich mitunter gezwungen sahen, explizit darauf hinzuweisen, dass der Brief nicht für fremde Augen bestimmt war, zeigt, in welch hohem Maß der Feldpostbrief normalerweise als öffentliches Ereignis gehandelt wurde: »Liebes Muttchen […] ich spreche nur zu Dir u. bitte Dich besonders, diesen Brief nicht den Mädchen zum Lesen zu geben«34, schreibt Vollrath Thiele im März 1917, nachdem er sich von seiner Mutter Rat in Beziehungsfragen erbeten hat.

Briefe spielten nicht nur für die Aufrechterhaltung der Kommunikation eine bedeutende Rolle, sondern ebenso für die Konstituierung von Beziehungen, die aufgrund der räumlichen Trennung komplett auf schriftlicher Ebene stattfinden mussten. Besonders bei noch neuen Verbindungen war das Briefschreiben grundlegender Bestandteil des Kennenlernprozesses, wie etwa bei Marta und Vollrath Thiele, die zu Beginn des Krieges eine intensive Brieffreundschaft führten, sich 1917 verlobten und schließlich heirateten. Es ist oft darauf hingewiesen worden, dass sich die Erfahrungsräume der Sphären Front und Heimat durch den Krieg stark voneinander unterschieden, was insbesondere die Kommunikation zwischen Frauen und Männern erschwerte. Diese Dichotomie wurde jedoch durch den Austausch von Briefen zumindest teilweise aufgehoben:35 Wie sehr sich die Sphären gedanklich vermischen konnten, zeigt folgender Bericht von Maria Dinkel:

»Heute Nacht schlief ich schlecht; ich träumte andauernd von Angriffen an Eurer Front, ich war nämlich auch dabei, hatte eine Waffe in der Hand u. wußte nicht wie man schießt. Ich kam ganz in Aufregung u. war nicht wenig froh, als ich in meinem friedlichen Bett erwachte. Mit brennendem Kopf stand ich auf, doch als ich Deinen l. Brief in Händen hatte u. las, wie gut es meinem Liebling geht, verschwand das Übel.«36

Die Menschen versuchten, durch das Schreiben gemeinsame Anknüpfungspunkte zu finden und das Leben vor dem Krieg auf schriftlicher Ebene wiederaufzunehmen. Dabei machen die Briefe nicht nur deutlich, welche unterschiedlichen gesellschaftlichen Erwartungen an Männer und Frauen herangetragen wurden und wo diese erfüllt und mitunter auch überwunden werden konnten. Zugleich gewähren sie einen Einblick in die genderspezifische Selbstbilder von Frauen und Männern in der wilhelminischen Gesellschaft.

Während die Schreibenden in ihren Briefen stets die Erwartungen ihrer Leserinnen und Leser zu beachten hatten, konnte auch das Wissen um die Zensur den Inhalt des Briefes erheblich beeinflussen.37 Die Zensur war zu Beginn des Krieges im Deutschen Reich noch nicht einheitlich geregelt, erst im April 1916 wurden konkrete Zensurbestimmunen erlassen: Die zensierten Briefpassagen wurden geschwärzt und die Briefumschläge mit einem Stempel markiert.38 Dennoch wird in den Briefen häufig erwähnt, dass die Weitergabe von militärischen Informationen grundsätzlich untersagt ist: »[Wir] stehen jetzt vor ein großes Ereignis näheres dürfen wir aber nicht darüber schreiben den es ist Soldatengeheimnis«39, schreibt etwa Gustav Lehmann. Auch Paul Beer bedauert, nichts Genaueres über seine Lage mitteilen zu können, »da alle Post gelesen wir und wenn wichtige erlebnisse geschrieben werden, wird der Brief verbrannt.«40 Aufgrund der ungeheuerlichen Menge an Feldpost konnte die Zensur den ganzen Krieg über nur stichprobenartig stattfinden,41 worauf Maria Dinkel aus Tübingen anspielt: Der Brief ihres Freundes »war von der Zensur geöffnet u. wieder geschlossen worden.

Die Herren, die dieses Amt ausüben, hätten aber viel zu tun, wenn sie jeden Liebesbrief, dazuhin noch einen in etwas eigenartiger Schrift lesen müßten.«42 Dennoch war der Brief für viele ein zu unsicheres Medium für die Übermittlung privater Informationen, weshalb sie das persönliche Gespräch vorzogen, wie aus einem Brief von Arno Hill an seinen Vater hervorgeht: »Wenn du noch mal kommen könntest, wäre es mir sehr angenehm, ich möchte dir etwas sagen.«43 Der Vater vermutet den Grund für die kryptische Nachricht sofort in der Zensur: »Wenn es irgend möglich ist, werde ich dich noch einmal besuchen, was hast du mir zu sagen, darfst das nicht schreiben?«44 Was die beiden zu besprechen hatten, werden wir nie erfahren.

Mitunter versuchten die briefeschreibenden Soldaten, die Zensurbestimmungen durch das Verwenden geheimer Sprachcodes zu umgehen.45 So fragt Klemens Drolshagen in einem Brief an seinen Bruder:

Abb. 2: Paar aus Württemberg

»Hast du kürzlich was von Redickers Irma, Paula Ophoff u. Nora Traus gehört? Es geht ihnen hoffentlich gut.«46 Da eine Antwort auf seine Frage ausblieb, sieht er sich gezwungen, in einem späteren Brief zu schreiben: »Ihr braucht doch nur die ersten Buchstaben der 6 Mädchennamen zusammen zu stellen um zu wissen, wo ich bin. Ich habe dir’s damals doch so erklärt.«47 Dass sich der Briefschreiber im Juli 1918 im französischen Ripont befand, können wir heute nur aufgrund der Auflösung des Sprachrätsels rekonstruieren. Häufig waren die Andeutungen jedoch so ausgeklügelt und daher nur für die jeweilige Empfängerin oder den Empfänger verständlich, dass die Sprachcodes aus unserer heutigen Perspektive nicht mehr als solche erkennbar sind.48 Viele Menschen entwickelten im Laufe des Krieges zudem eine stark personalisierte Sprache, die sich Außenstehenden verschloss und auf diese Weise sowohl vor neugierigen Blicken als auch vor der Zensur geschützt war.49 Obwohl die Zensurbestimmungen nur die Briefe von der Front betrafen,50 wurden im Juni 1916 Schreibregeln erlassen, in denen Frauen explizit dazu aufgefordert wurden, keine sogenannten ›Jammerbriefe‹ an die Front zu schicken, da eine Demoralisierung der Truppen befürchtet wurde. Stattdessen sollten Frauen Stillschweigen über ihre Sorgen und Nöte bewahren und die Männer an der Front durch tapferes Durchhalten unterstützen.51 Sowohl die Schreibanleitungen als auch die Zensurregeln waren jedoch nur bedingt effektiv:52 Beschwerden über Missstände fanden sich zu allen Zeiten in den Kriegsbriefen.

Noch stärker als die Postzensur beeinflusste jedoch die ›innere Zensur‹ den Inhalt der Briefe:53 Nicht jedes Erlebnis konnte in Worte gefasst, nicht alles den Angehörigen zugemutet werden. Häufig ist diesen durchaus bewusst, dass ihnen so manches verschwiegen wird: »Du bist vorsichtig in Deinen Briefen, Liebling, u. läßt Deinen Gefühlen nicht ganz freien Lauf, gelt, ich errate es. Sag, ob ich recht habe!«54 Ein junger Mann aus einer hessischen Kleinstadt stellt ebenfalls fest, dass der Vater, der sich an der Front befindet, in seinen Briefen nur Nichtssagendes mitteilt:

»Lieber Vater, du schreibst mir gar nicht einmal Näheres über dein Befinden. Wie bist du eigentlich mit deinem Los zufrieden? Ich kann es mir schon denken. Aber, reibe dich nicht zu sehr auf. Sei stets auf dich bedacht, um uns hab keine Sorge.«55

Indem er eine möglichst harmlose Formulierung wählt und bewusst darauf verzichtet, über sein eigenes Wohlbefinden zu berichten, wendet der Sohn dieselbe »kommunikative Norm der Unaufrichtigkeit«56 an wie der Vater.

In den Feldpostbriefen offenbaren sich zahlreiche Sprachhandlungsstrategien, die es der schreibenden Person auf sprachlicher Ebene erleichtern, mit dem erlebten Grauen umzugehen und es in bekannte Sinnkategorien einzuordnen.57 Viele Schreibende flüchten sich in sprichwortartige Redewendungen, Floskeln und tradierte Sprachbilder; ihre Briefe sind von einem stark formelhaften Stil geprägt.58 Des Weiteren lässt sich vor allem in den Berichten von der Front die Tendenz zum Trivialisierenden und Verharmlosenden feststellen,59 etwa in Form der Beteuerung, dass »die ganze Schickanei nur halb so schlimm war […].«60 Damit ist oft ein ironisch-euphemistischer Schreibstil verbunden:61 Indem ein Soldat Granaten als »große Zuckerhüte« bezeichnet und Trommelfeuer als »das schönste Feuerwerk«62 beschreibt, distanziert er sich auf humoristisch-zynische Weise vom Kriegsgeschehen. Eine weitere sprachliche Distanzierungsmethode ist die Flucht in harmlose, alltägliche Themen, die de facto einen Großteil der Feldpostkommunikation ausmachen. So konzentrieren sich die meisten Menschen in ihren Briefen nicht auf die beunruhigende neue Realität, die sich jedem Versuch des Verstehens entzieht, sondern auf das Bekannte und Vertraute. Auf diskursiver Ebene wird damit nicht nur das Kriegsgeschehen ausgeblendet, sondern zugleich der Anschein von Normalität erweckt und das vermeintlich intakte Leben der Vorkriegszeit herbeigeschrieben.63 Betont alltägliche Briefe dienten dazu, sich der eigenen Identität als Mensch zu vergewissern und den Bezug zum alten Leben der Vorkriegszeit aufrechtzuerhalten.

Den meisten Menschen war bewusst, dass sich die neue Lebenswirklichkeit, in die sie der Kriegsausbruch gestürzt hatte, nur schwer mit Worten ausdrücken ließ:64 Das ›sprachliche Inventar‹ hatte sich noch nicht an die neue Kriegsrealität angepasst und wurde als zutiefst unzureichend empfunden. Die Nichtvereinbarkeit bekannter Sinnkategorien mit dem Bruch in der eigenen Weltwahrnehmung löste häufig eine »kognitive Dissonanz«65 aus, angesichts derer die Sprache versagen musste. Auf brieflicher Ebene deutet sich die Verdrängung des Nichtsagbaren durch Leerstellen, Aussparungen und bewusst oder unbewusst eingesetztes Schweigen an.66 Folgender Briefausschnitt eines Soldaten, der sich 1915 im polnischen Bolimów befand, zeigt das Zusammenspiel des Unbeschreibbaren mit kompensatorischen Floskeln:

»Wir lagen in der Nacht vom 30–31 Mai in einem Ort einige Kilometer hinter der Front in Ruhe und glaubten diese Ruhe […] genießen zu dürfen. Da um 10 ½ Nachts plötzlich Alarm. Im Nu war alles auf den Beinen und 10 Minuten später marschierten wir zur vordersten Linie. Man frug untereinander was denn so eigentlich loß wäre doch es wußte niemand richtig Bescheid. Da hieß es ›halt‹ und jetzt wußten wir es geht zum Angriff. Jeder von uns dachte da vielleicht an seine Lieben in der Ferne. Dann aber ging es mit leuchtendem Blick und frohem Mut vorwärts. Das weitere bin ich leider nicht im Stande hier auf Papier niederzuschreiben und darum will ich damit schließen.«67

Den Angriff selbst beschreibt der Autor jedoch nicht, da er sich nicht in der Lage sah, das Erlebte adäquat wiederzugeben. Die Gründe hierfür dürften äußerst vielschichtig sein: Zum einen befand sich die Empfängerin des Briefes in einer anderen Lebenswirklichkeit als der Schreiber, was eine Darstellung der Ereignisse für diesen erschwerte. Zum anderen zeigt sich bei der Analyse von Feldpostbriefen stets die Schwierigkeit, Gewalt, Schmerz sowie psychische und physische Traumata in Worte zu fassen:68 Die Dimension der Körperlichkeit wurde in den Briefen fast immer ausgeblendet. Wo auf den Schlachtfeldern der fragmentierte und ausgelöschte menschliche Körper das sichtbarste Zeichen der brutalen Kriegsrealität war, klafft in den Briefen eine diskursive Leerstelle. Häufig wird das Nichtsagbare durch tradierte Floskeln und Redensarten kompensiert: Die Beschwörung des leuchtenden Blicks und des frohen Mutes im Angesicht eines nächtlichen Angriffs lenkt von einem potentiell traumatischen Ereignis ab.

Dieser Briefausschnitt zeigt: Es ist nicht nur schwierig, Traumata in Worte zu fassen, sondern auch, diese in den Briefen zu erkennen. Hierbei dürfen wir nicht den Fehler begehen, sprachliche Leerstellen ausschließlich mit zu verbergenden traumatischen Gewalterfahrungen zu erklären.69 Neben dem Unsagbarkeitstopos ist fehlende Schreiberfahrung ein häufiger Grund für die oft oberflächlich wirkenden Briefe.70 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war das Briefschreiben für viele eine völlig neue Art der Kommunikation, worauf folgender Briefausschnitt einer Frau namens Minna hindeutet:

»Lieber Bruder du schreibst Heinrich könnte dir auch mal eine Karte schreiben daß nimm Ihm nicht übel er kann nicht gut schreiben so lange wie wir verheiratet sind muß ich das Schreiben machen.«71

Vor allem älteren Menschen oder Mitgliedern bildungsfernerer Schichten fiel es oft schwer, sich schriftlich auszudrücken, weshalb sie mitunter auf floskelhafte Formulierungen zurückgriffen oder in Zeitungen veröffentlichte Feldpostbriefe als Schreibvorlage verwendeten.72 Die meisten waren es zudem nicht gewohnt, innere Vorgänge schriftlich festzuhalten und beschränkten sich daher in ihren Briefen auf die wichtigsten Informationen, wie etwa den aktuellen Standort oder dass es »soweit noch recht gut«73 geht. Mitunter können knappe Briefe oder ausbleibende Post auch ganz einfach mit Schreibfaulheit begründet werden: »Lieber Onkel! Wollte Euch schon längst wieder mal schreiben aber immer keine Lust bitte verzeiht deshalb.«74

Abb. 3: Brief von Wilhelm Franke an Ella Mirring

Für das vorliegende Buch wurden bisher unveröffentlichte Feldpostbriefe aus Privatsammlungen verwendet. Während der Recherche habe ich mehr als eintausend Briefe und Karten gesichtet, transkribiert und ausgewählt. Diese bieten aufgrund ihrer Heterogenität einen Querschnitt durch die deutsche Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts: Das Quellenmaterial umfasst Briefe von der Front und aus dem zivilen Raum, von Frauen und Männern aus verschiedenen Altersgruppen und sozialen Milieus. Zudem sind die schriftlichen Zeugnisse auch regional breit gestreut: Es werden Briefe aus allen Teilen Deutschlands einbezogen. Berücksichtigt werden sowohl zusammenhängende Korrespondenzen, die sich über mehrere Kriegsjahre erstrecken, als auch einzelne Briefe und Karten.

Während des Transkribierens zeigten sich in den Briefen stets wiederkehrende sprachliche Muster und Gemeinsamkeiten, die häufig dieselbe Entwicklung durchliefen. Dadurch wurde mir klar, dass die Briefe nicht nur als persönliches Zeugnis einzelner Menschen gelesen werden können, sondern zugleich als Indikator für kulturelle Entwicklungen. Mein Ziel war es, die Briefe nicht isoliert voneinander zu betrachten, sondern als Teil eines großen Prozesses zu analysieren. Aus diesem Grund entschied ich mich für den diskursanalytischen Ansatz. Dieser macht anhand von kulturellen Sprachbildern, Motiven und Metaphern überindividuelle Prozesse sichtbar. Zugleich geht die Diskursanalyse von einer Wechselwirkung zwischen historischen Ereignissen und ihrer Darstellung aus. Die analysierten Feldpostbriefe reflektieren also nicht nur die soziale Wirklichkeit, sondern bringen diese zugleich erst hervor.

Um die Entwicklung sprachlicher Diskurse von August 1914 bis November 1918 nachverfolgen zu können, wird ein chronologischer Ansatz gewählt: Jedem Kriegsjahr ist ein Kapitel gewidmet. Der Fokus wird auf sprachliche Bilder, Metaphern, Euphemismen, Floskeln und Topoi gelegt, um zu analysieren, in welche individuellen Sinnzusammenhänge der Krieg gestellt wurde. Die zentrale Frage ist dabei, wie sich die Sprache in den Feldpostbriefen zwischen 1914 und 1918 verändert hat und welche mentalitätsgeschichtlichen Entwicklungen sich daraus ableiten lassen.

2          1914: Die Welt in Aufruhr

 

 

 

Der Kriegsbeginn als Zäsur

Eine Woche nach Kriegsbeginn, zur Zeit der allgemeinen Mobilmachung, schreibt ein Mann namens Wilhelm einen eiligen Brief an seine Familie:

»Hoffentlich trifft Euch dieser Brief noch zu Hause an, denn in einigen Tagen werdet Ihr wohl Abschied nehmen müssen, wer hätte das wohl geglaubt, daß die Welt mal so in Aufruhr geraten könnte jetzt bin ich 20 Jahre vom Militär frei und kann noch in den Krieg ziehen […].«1

Die Welt ist aus den Fugen geraten. Urplötzlich und ohne Vorwarnung, so scheint es, bricht der Krieg in das private Leben ein, macht individuelle Lebensentwürfe zunichte und stürzt die Menschen ins Ungewisse. Das Bild einer in Aufruhr geratenen Welt zeigt, dass der heraufziehende Krieg nicht nur als Bruch in der eigenen Biographie, sondern zugleich als globale Katastrophe von historischem Ausmaß wahrgenommen wird. Die Vermischung des eigenen privaten Lebens mit überpersönlichen Weltereignissen, die als so komplex empfunden werden, dass ein Verstehen unmöglich gemacht wird, ist mit einem Gefühl des Kontroll- und Autonomieverlusts verbunden. »[Es] ist gut«, schreibt Wilhelm, »das unser Vater das nicht mehr erlebt hat, leider bist Du liebe Mutter nun ganz allein.«2 Alle bisher gekannten Gewissheiten und Sicherheiten haben keine Gültigkeit mehr. So schreibt eine Frau an ihren gerade nach Frankreich eingerückten Nachbarn: »[Wir] haben nun lange Jahre zusammen gelebt und jetzt muß es so noch kommen.«3 Der Krieg als Zäsur ist ein zentrales Motiv in den Feldpostbriefen des Kriegsbeginns.

Die weit verbreitete Verunsicherung bezüglich der sich überschlagenden Ereignisse manifestiert sich in den Briefen und Karten in einem lakonischen Stil. Im September 1914 berichtet ein Soldat von seiner Ausbildung, die in aller Eile durchgeführt wird:

»Wier müssen am Morgen um 5 Uhr aufstehen, u. ausrücken bis ½ 12 Uhr, dann von ½ 3–8 Uhr, das schlaucht nicht wenich. Unser Majohr meint uns daß wier in 4 Wochen ausgebildet sein sollen, dann geht nach Münsingen u. Scharfschießen, u dann geht’s Rußland zu […].«4

Dem Medium der Feldpostkarte ist es geschuldet, dass einschneidende biographische Ereignisse wie die Fahrt nach Russland auf knappe Eckdaten reduziert werden und so die existenzielle Dimension des Mitgeteilten nur erahnt werden kann. Ausschlaggebend ist außerdem die Tatsache, dass – je nach Milieuzugehörigkeit und Bildungsgrad – das schriftliche Ausdrucksvermögen vieler Menschen aufgrund fehlender Schreiberfahrung in der Vorkriegszeit schnell an seine Grenzen stößt.5 Zudem liegt die Vermutung nahe, dass selbst erfahrenere Briefschreiberinnen und Briefschreiber oft nicht imstande waren, die völlig neue Erfahrung eines Krieges in schriftliche Sinnzusammenhänge zu stellen. Eine persönliche Ebene, die Einblicke in das innerste Empfinden der Schreibenden gewährt, findet sich in den untersuchten Briefen und Postkarten somit äußerst selten:

»Wir rücken bis 15. aus nach der Grenze. Schreibe mir bald einmal. Gott schütze dich.«6

Während sich aus diesen drei kurzen Sätzen, die ein Soldat Anfang August auf einer Feldpostkarte an einen Freund richtet, keinerlei Rückschlüsse auf die emotionalen Vorgänge des Briefschreibers ziehen lassen, sind diese doch symptomatisch für die sprachlichen Diskurse und Briefkonventionen der damaligen Zeit. Die Aufforderung, bald zu schreiben, zeigt, dass die primäre Aufgabe der Feldpost nicht der detaillierte Austausch von Informationen, sondern die Aufrechterhaltung von persönlichem Kontakt war. Die Wendung »Gott schütze dich« am Ende der Postkarte erhält durch ihre Formelhaftigkeit beschwörenden Charakter. Dies zeigt sich auch in folgendem Brief, den eine Mutter Ende August an ihren Sohn richtet:

»Lieber Ernst ich bete Tag und Nacht für Euch lieben Kinder, das Euch der liebe Gott überall beschützen mag wo ihr seid. Friedrich hat ein Testament gemacht falls er nicht wieder kömmt, mir das Haus gehört, ich damit machen kann was ich will ist das nicht braf von ihn.«7

Der Verweis auf das tägliche Gebet kann als Bewältigungsstrategie verstanden werden, die in den traditionellen Formen der Religiosität verhaftet ist, und der Briefschreiberin angesichts der verunsichernden Ereignisse Orientierung vermittelt. Auch das erwähnte Testament ist weit mehr als eine bloße finanzielle Absicherung, zeugt es doch von dem Bedürfnis, in einer unüberschaubaren Situation mit ungewissem Ausgang die Kontrolle zu behalten.

Das disruptive Potential des Krieges, der die Fundamente des bisherigen Lebens erschüttert, ist eng verknüpft mit einer unbestimmten Endzeitstimmung. Anders jedoch als in vielen literarischen Werken, die auf die Zeit der Mobilmachung Bezug nehmen, ist in den Feldpostbriefen von einem heilsgeschichtlichen Erneuerungsgedanken oder gar von Kriegsbegeisterung nichts zu spüren. Während etwa in Thomas Manns Der Zauberberg der Krieg als reinigender Donnerschlag bezeichnet wird, der die Welt ins Chaos stürzt, nur um aus ihren Trümmern »einmal die Liebe steigen«8 zu lassen, ist in den Briefen oft eine gänzlich profane Zukunftsangst sowie der damit verbundene Wunsch nach Absicherung vorherrschend: Der bereits erwähnte Wilhelm habe seiner Schwester geraten, »sie sollten sich trauen lassen, Papiere und Aufgebot brauchen sie jetzt ja nicht, dann kriegt Auguste doch im Notfall Unterstützung […].«9 Und während Emil Sinclair in Hermann Hesses Demian das Motiv des Riesenvogels Abraxas beschwört, der sich schicksalhaft aus dem Ei kämpft – »das Ei war die Welt, und die Welt mußte in Trümmer gehen«10 –, schreibt eine Frau angesichts der Tatsache, dass ihre beiden Brüder in den Krieg gezogen sind: »Hoffentlich sind sie noch gesund und munter dies ist eine zu traurige Zeit für uns alle.«11 In den Feldpostbriefen ist das in der Literatur weit verbreitete reinigende Erweckungserlebnis fast komplett abwesend.12 Der Topos von der alten Welt, die in einem karnevalesken »Weltfest des Todes«13 zugrunde gehen muss, damit aus ihren Trümmern eine geläuterte und bessere Menschheit entstehen kann, ist lediglich in intellektuellen und künstlerischen Kreisen verbreitet, die sich vom Krieg eine Befreiung aus erstarrten gesellschaftlichen Strukturen erhofften. In die Lebenswirklichkeit der meisten Milieus – ungeachtet, ob bürgerlich, ländlich oder von Arbeitern dominiert – ist dieser Diskurs kaum vorgedrungen.14

Lediglich in abgeschwächter und zur Floskel erstarrter Form finden sich Anklänge davon in den Feldpostbriefen und -karten des Kriegsbeginns, die jedoch trotz der scheinbar transportierten Euphorie nicht als Kriegsbegeisterung interpretiert werden sollten. Im August 1914 schreibt ein Soldat an seinen Bruder: »Und jetzt gehts mit frohem Mut. Mit Gott für König und Vaterland.«15 In der sakralisierten Überhöhung der eigenen Nation gehen Religion und Nationalismus eine semantische Verbindung ein und beinhalten einen identitätsstiftenden Effekt: Der Einzelne ist eingebettet in das Kollektiv der Nation, wodurch nicht nur dem eigenen Dasein, sondern auch dem Krieg an sich ein höherer Sinn verliehen wird.

Abb. 4: Gruppenbild württembergischer Soldaten

Angesichts der Mobilmachung greift im August 1914 eine allgemeine Erregung um sich, der sich beinahe niemand entziehen konnte. Doch nur selten war eine überschwängliche, rauschhafte Euphorie die Ursache für die Menschenansammlungen in den großen Städten. Oftmals trieb das Bedürfnis nach Informationen zu den aktuellen Geschehnissen die Menschen auf öffentliche Plätze – ein Phänomen, das jedoch auf die größeren urbanen Zentren des Deutschen Reichs beschränkt blieb.16 Die Feldpostbriefe sind diesbezüglich bemerkenswert vage. So steht auf einer Postkarte aus Straßburg neben der Abbildung des Münsters geschrieben: »Ich habe mich Freiwillig ins Feld gemeldet.«17