Bücherleben - Astrid Pfister - E-Book

Bücherleben E-Book

Astrid Pfister

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Beschreibung

Gedruckt im Jahre 1843, findet das Buch A Christmas Carol seinen allerersten Besitzer. Anhand weiterer Eigentümer wird die Geschichte dieses Werks erzählt. Es durchlebt Weltkriege, die Spanische Grippe, Tschernobyl, den Mauerbau oder den Anschlag auf das World Trade Center.

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Seitenzahl: 292

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Astrid PfisterBÜCHERLEBEN

In dieser Reihe bisher erschienen

7001 Stefan Melneczuk Marterpfahl

7002 Frank W. Haubold Die Kinder der Schattenstadt

7003 Jens Lossau Dunkle Nordsee

7004 Alfred Wallon Endstation7005 Angelika Schröder Böses Karma

7006 Guido Billig Der Plan Gottes7007 Olaf Kemmler Die Stimme einer Toten

7008 Martin Barkawitz Kehrwieder7009 Stefan Melneczuk Rabenstadt

7010 Wayne Allen Sallee Der Erlöser von Chicago

7011 Uwe Schwartzer Das Konzept7012 Stefan Melneczuk Wallenstein

7013 Alex Mann Sicilia Nuova

7014 Julia A. Jorges Glutsommer

7015 Nils Noir Dead Dolls

7016 Ralph G. Kretschmann Tod aus der Vergangenheit

7017 Ralph G. Kretschmann Aus der Zeit gerissen

7018 Ralph G. Kretschmann Vergiftetes Blut

7019 Alfred Wallon Das Phoenix-Kartell

7020 Alfred Wallon Intrigen in Tucson

7021 Andreas Zwengel Nützliche Idioten

7022 Astrid Pfister Bücherleben

Astrid Pfister

BÜCHERLEBEN

ROMAN

Als Taschenbuch gehört dieser Roman zu unseren exklusiven Sammler-Editionen und ist nur unter www.BLITZ-Verlag.de versandkostenfrei erhältlich.Bei einer automatischen Belieferung gewähren wir Serien-Subskriptionsrabatt.Alle E-Books und Hörbücher sind zudem über alle bekannten Portale zu beziehen.© 2023 BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 WindeckRedaktion: Jörg KaegelmannTitelbild: Mario HeyerUmschlaggestaltung: Mario HeyerSatz: Harald GehlenAlle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-95719-786-3

Jetzt

Heute hat mich jemand als Rarität bezeichnet. Eine Rarität, die aber noch sehr ansehnlich ist.

Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll. Was würden Sie denken, wenn das jemand über Sie sagen würde?

Irgendwie hat es etwas Abwertendes, und es bedeutet, dass man alt ist. Wobei die Person wenigstens hinzugefügt hat, dass ich noch recht ansehnlich bin, um dem Ganzen vermutlich ein wenig die Spitze zu nehmen.

Aber sehen wir der Tatsache doch mal ins Auge, ich bin wahrhaftig alt. Und dass ich das Wort wahrhaftig benutze, macht dies offensichtlich.

Ich stamme aus einer Zeit, in der die Menschen noch ganz anders miteinander gesprochen haben. Alles ging viel förmlicher und höflicher zu, und selbst Sätze des Alltags klangen poetisch. Früher … sehen Sie, auch das zeigt, wie alt ich bin. Nur dann fängt man seine Sätze immer mit: Früher war ja alles besser … Früher haben wir das aber so gemacht … an.

Aber andererseits bedeutet ein hohes Alter auch, dass man unglaublich viel erlebt hat. Ich selbst hatte das Privileg, so viele Dinge erleben zu dürfen und so viele Orte zu sehen, dass es praktisch für mehrere Leben reichen würde. Ich habe Dinge erlebt, von denen viele nur aus Geschichtsbüchern wissen, oder um es etwas moderner zu formulieren, von Google oder Wikipedia. Es ist nicht so, dass ich der Technik abgeneigt bin, ich finde das Internet eine ganz erstaunliche Erfindung, aber ich fand es schön, wenn Leute, die etwas wissen wollten, in die nächste Bibliothek geeilt sind und dort stundenlang ihre Nase in Bücher gesteckt haben. Meist ist man am Schluss mit wesentlich mehr Wissen hinausgegangen, als man ursprünglich gesucht hat.

Aber ich schweife ab, auch so ein Problem des Alters.

Es geht darum, dass ich das, was ich erlebt habe, gern teilen möchte, und deshalb danke ich Ihnen, dass Sie dieses Buch gekauft haben und für meine Schwafeleien sogar Geld bezahlen möchten. Aber ich verspreche Ihnen, Sie haben Ihr Geld gut angelegt. Ich nehme Sie nun mit auf eine Reise durch mein ganzes bisheriges Leben, und wenn Ihre Fantasie so groß ist, wie die der meisten Bücherleser, dann wird es Ihnen möglich sein, all die Orte und all die Begebenheiten vor sich sehen zu können, und hineinzutauchen.

Ich möchte Sie aber vorwarnen, vieles, was ich erlebt habe, war traumatisch und die Orte, die ich besucht habe, sorgen bisweilen sogar für Albträume bei mir. Aber auch, wenn ich viel Schreckliches in meinem Leben durch­leiden musste, war doch da auch immer die Hoffnung, Licht und Liebe.

Es gibt ein Zitat aus einem berühmten Buch, das genau dies aussagt:

Aber glaubt mir, dass man Glück und Zuversicht selbst in Zeiten der Dunkelheit zu finden vermag. Man darf nur nicht vergessen, ein Licht leuchten zu lassen.

Dieses Zitat hat mir aus der Seele gesprochen, denn es ist wahr. Ich habe so viel Leid gesehen, in meinem langen Leben aber auch unfassbar viele wunderschöne Momente erlebt. Und rückblickend betrachtet möchte ich keinen davon missen, denn sie sind meine Geschichte … sie haben mich zu dem gemacht, der ich bin.

Mir fällt gerade auf, dass ich mich Ihnen noch gar nicht vorgestellt habe, und das gehört ja wohl zum Mindestmaß an Anstand, wenn ich Ihnen in Kürze mein gesamtes Leben erzähle.

Fangen wir doch mit meinem gerade oben viel erwähnten hohen Alter an. Ich bin jetzt stolze 179 Jahre alt, aber wie die nette Lady, die mich gerade aus einem öffentlichen Bücherschrank gerettet hat, versichert hat, noch sehr ansehnlich. Mein Buchrücken ist nicht gebrochen, und auch, wenn mein Ledereinband ein wenig zerschrammt ist, so ist doch mein Titel noch perfekt lesbar. Meine Seiten sind ein wenig fadenscheiniger und verblichener geworden mit den Jahren, aber es fehlt noch keine einzige.

Gestatten, ich bin eine der ersten Ausgaben von A Christmas Carol und wurde von einem wunderbaren Mann namens Charles Dickens erdacht. Erblickt habe ich das Licht der Welt am 19. Dezember 1843 in einer Londoner Druckerei.

London, England, 19. Dezember 1843

Ich war so furchtbar aufgeregt, denn heute war ein ganz besonderer Tag. Heute war nicht nur Weihnachten, ­sondern ich würde auch meinen ersten offiziellen Besitzer kennenlernen.

Ich hoffte sehr, dass es jemand war, der Bücher wirklich liebte und eine Leidenschaft für sie besaß und mich nicht nur aufgrund des berühmten Namens auf meinem Buchrücken in Besitz nehmen wollte. Aber wegen dem, was ich bisher gehört hatte, war ich guter Hoffnung.

Ich war heute, am 19. Dezember veröffentlicht worden und hatte eigentlich damit gerechnet, ein paar Tage, wenn nicht sogar Wochen im Buchladen ausgestellt zu werden. Ich weiß, man soll immer bescheiden sein, aber der Buchhändler war so von meinem Aussehen angetan, dass er mich direkt in der Mitte des Schaufensters platzierte, und mehrere angezündete Lampen ließen mein weinrotes Leder und die goldenen Verzierungen weithin leuchten. Die anderen Bücher warfen mir neidische Blicke zu und tuschelten miteinander, weil ich so edel und wertvoll aussah. Durch die Glasscheibe konnte ich beobachten, dass sich vor dem Laden schon eine lange Schlange gebildet hatte, obwohl dieser erst in einer dreiviertel Stunde aufmachen würde. Der Buchhändler eilte geschäftig hin und her und rief irgendwann auch seine Tochter Eleanor zur Hilfe.

„Liebling, du musst herunterkommen und mir beim Auspacken der Kartons helfen. Heute ist der neue Roman von Charles Dickens geliefert worden, und es scheint so, als ob ihn ganz London kaufen möchte. So einen Andrang habe ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt.“

Kurz darauf eilte ein blasses Mädchen, das augenscheinlich so um die zehn Jahre alt war, so schnell die knarrenden Stufen hinunter, dass ihre langen geflochtenen Zöpfe wild hin und her flogen. Ihr kupferrotes Haar leuchtete im Licht der Lampen genauso schön, wie mein weinrotes Leder.

„Hier bin ich, Vater. Ich fange sofort an.“ Sie ging zu einem der Kartons hinüber, die hinter der Ladentheke standen, und öffnete ihn neugierig. Ich sah auf den ersten Blick, dass sie einmal eine wunderbare Buch­händlerin werden würde, denn ihr Vater hatte ihr die Liebe zu Büchern offenbar von klein auf vermittelt. Ihre Augen leuchteten, als sie vorsichtig einen meiner Brüder aus dem Karton holte, und mit den Fingerspitzen strich sie sanft über den Einband des Buchs und fuhr über die Linien des Buchtitels. Sie warf einen kurzen Blick über die Schulter und vergewisserte sich, dass ihr Vater gerade beschäftigt war, dann hob sie das Buch zum Gesicht hoch, schloss die Augen und atmete tief ein. Wer sich nicht mit Büchern auskannte, der wusste es nicht, aber Bücher veränderten im Laufe der Zeit ihren Geruch. Ich, das gerade erst frisch aus der Druckerei kam, roch noch ganz neu. Wenn man die Augen schloss, so wie Eleanor, konnte man das frische Papier und die Druckerschwärze riechen und auch den Geruch des Leders wahrnehmen. Mit der Zeit wandelte sich dieser Geruch und veränderte sich immer wieder um feine Nuancen. Richtig alte Bücher verströmten einen ganz charakteristischen Geruch, der schöner roch als der teuerste Wein. Ich war gespannt, ob es mir vergönnt sein würde, dieses Privileg eines Tages zu bekommen, doch bis dahin würde noch eine lange Zeit vergehen. Denn ich war gerade erst gedruckt worden und damit in den Augen der anderen Bücher praktisch ein Baby.

Während Eleanor und ihr Vater die Bücher auf den Tischen aufstapelten und auf der Ladentheke ausstellten, beobachtete ich die Leute draußen. Ich konnte es gar nicht glauben, dass sie tatsächlich alle wegen mir und meiner Brüder hier waren, denn das Wetter war mehr als ungemütlich. Es war ein unglaublich kalter Dezember, und der Schnee lag so hoch, dass die Menschen bis zu den Knöcheln darin versanken. Außerdem wehte ein stürmischer Wind den Wartenden die ganze Zeit Schneeflocken und Eissplitter ins Gesicht. Um die vornehmen Herrschaften machte ich mir weniger Gedanken, die Männer trugen dicke Wollhosen und lange Gehröcke, deren Kragen sie hochgeschlagen hatten, um sich vor dem Wind zu schützen. Auch die ledernen Handschuhe, die Schals, die ihre Frauen ihnen gestrickt hatten und die schwarzen glänzenden Zylinder sorgten dafür, dass ihnen die Kälte nicht so sehr zusetzte. Die Frauen und die kleinen Mädchen an ihren Händen waren in dicke Pelzmäntel gehüllt, und ihre Hüte spendeten ebenfalls ein wenig Wärme, aber es gab auch einige nicht so gesegnete Geschöpfe in der Schlange, die meine Aufmerksamkeit erregten. Ein Mann trat unentwegt von einem Bein aufs andere und hatte die Arme um den Körper geschlungen, um ein wenig Wärme zu erzeugen. Seine Kleidung war abgetragen und viel zu dünn für diese eisigen Temperaturen, aber alle Löcher waren sorgfältig gestopft worden, und alles war sauber und gepflegt. Man sah sofort, dass es jemanden in seinem Leben gab, der sich liebevoll um ihn kümmerte, auch wenn nicht viel Geld da war. Der junge Mann trug weder einen Gehrock noch einen Schal, oder irgendetwas, das ihn vor der Kälte schützte, aber keiner der anderen Wartenden kam auf die Idee, ihm vielleicht einen Schal zu leihen oder ihm sonst wie zu helfen. Die Zeiten waren hart, und London war voller Obdachloser und Bettler, und die Menschen hatten gelernt, einfach wegzuschauen. Um Gegenden wie das East End machte man möglichst einen weiten Bogen, so als würde die Armut nicht existieren, wenn man sie ignorierte. Der Mann faszinierte mich, und ich fragte mich, was er an diesem frühen Wintermorgen vor einem Buchladen machte. Suchte er nach Arbeit, um seiner Familie ein schönes Weihnachtsfest bereiten zu können?

Die Schlange reichte nun schon die ganze Straße hinunter und bis zur Ecke. Ich hatte gewusst, dass der Mann, der mich erschaffen hatte, Charles Dickens, ein sehr beliebter Romancier war, aber dies hier übertraf doch meine kühnsten Erwartungen.

Der Buchhändler öffnete jetzt den Laden, und sofort strömten die Leute hinein, um der klirrenden Kälte zu entgehen. Tatsächlich stürmten sie alle sofort auf meine Brüder zu. So wie es aussah, waren sie wirklich alle ausnahmslos an diesem Morgen hierhergekommen, um ein Exemplar von A Christmas Carol zu ergattern. Es erfreute mein Herz, dass es so viele Menschen gab, die genug Fantasie besaßen, um sich in dieser schweren Zeit an einen anderen Ort befördern zu lassen. Ich beobachtete abwechselnd das aufgeregte Treiben im Laden und die Schlange, die langsam immer kürzer wurde. Es dauerte noch fast eine halbe Stunde, bis der ärmliche Mann, den ich zuvor beobachtet hatte, den Laden betrat. Er zitterte unfassbar, und ich sah, wie er zu einer der Kerzen hinüber ging und seine Hände über die winzige Flamme hielt, um sie zu wärmen. Sofort eilte der Buchhändler herbei. Ich freute mich, dass er jeden Kunden gleich behandelte, unabhängig von seiner Herkunft, aber ich sollte mich irren.

„Was treibt Ihr denn da? Hier gibt es nichts für Herumtreiber, verschwindet sofort aus meinem Laden. Ich habe keine Almosen abzugeben, dies ist ein Buchgeschäft“, sagte der Inhaber unfreundlich und versuchte, den Mann zur Tür zu schieben.

Der Mann sah ihn an, und ich konnte sein dünnes Gesicht und die eingefallenen Wangen erkennen, die von regelmäßigem Hunger zeugten, doch sein Blick strahlte sowohl Wärme als auch Würde aus. „Ich bin nicht hier, um zu betteln, sondern um ein Buch zu erwerben.“ Da er nun schon fast an der Tür stand, war das Schaufenster am nächsten, sodass er kurzerhand hineingriff und mich herauszog. „Dieses hier hätte ich gern.“

Der Buchhändler stieß ein schnaubendes Lachen aus und musterte ihn abfällig, auch die Menschen in seiner Nähe hörten jetzt neugierig zu und beobachteten das Spektakel. „Euch mangelt es ganz offensichtlich an dem Nötigsten, Bücher sind für Euch doch höchstens nützlich, um daraus ein Feuer zu entzünden.“ Dieser Satz wurde mit schallendem Gelächter der umstehenden Gentlemen quittiert. „Dieses Buch in Euren Händen ist gerade erst erschienen und kostet ganze fünf Schilling. Das ist wahrscheinlich mehr, als Ihr in Monaten verdient.“

Der Mann umklammerte mich mit einer Hand, die immer noch eisig kalt war, während er die andere tief in seine Hosentasche schob.

Der Buchhändler stieß einen überraschten Laut aus, als der Mann die verlangten fünf Schillinge aus der Tasche zog und sie dem verdutzten Buchhändler in die Hand drückte, sich ohne ein Wort umdrehte und den Laden mit mir zusammen verließ.

Als wäre ich es, der vor der Kälte beschützt werden musste, schob mich der Mann unter seinen fadenscheinigen Pullover, damit der Schnee mich nicht durchweichte. Die Menschen, die an uns vorbeieilten, schienen sich um ihr gerade erworbenes Exemplar deutlich weniger zu sorgen. Ich war mir schon jetzt sicher, dass ich ein gutes Zuhause gefunden hatte. Als ich jedoch nicht in ein Regal gestellt wurde, sondern in ein Stück Stoff eingewickelt und tief unter eine alte Kommode geschoben wurde, wurde mir bewusst, dass dies noch nicht mein wahrer Besitzer sein sollte, und ich hatte recht.

Am 25. Dezember war es dann endlich so weit. Ich hatte in meinem dunklen Versteck nichts sehen können, aber ich hatte den Gesprächen lauschen können und so erfahren, dass A Christmas Carol seit heute Morgen komplett verkauft worden war. In nur knapp einer Woche hatten all meine Brüder, stolze 5.999, ein neues Zuhause gefunden. Gut, dass der Mann mich direkt am Erscheinungstag gekauft hatte.

Als er mich schließlich unter dem Schrank hervorholte und ich ausgepackt wurde, blickte ich in ein wunder­schönes Frauengesicht. Das Kleid, das sie trug, war abgetragen und einfach, doch ihr Lächeln und das Funkeln ihrer Augen ließen den ganzen Raum erstrahlen. Sie stieß einen spitzen Schrei aus, und die Augen in dem schmalen Gesicht wurden riesengroß. Sie hob mich in die Höhe, sodass die wenigen Flammen, die in dem Kamin brannten, meine goldenen Verzierungen und meinen ebenfalls goldenen Buchschnitt funkeln ließen.

„Freust du dich, mein Liebling?“, fragte der Mann nun unsicher, weil die Frau außer dem Schrei noch keinen Laut von sich gegeben hatte.

Jetzt sah sie ihn an, und er stellte erschrocken fest, dass sie Tränen in den Augen hatte. Doch dann sprang sie auf und umarmte ihn so stürmisch, dass er fast das Gleich­gewicht verlor. „Woher hast du gewusst, dass ich mir dieses Buch so sehnlichst gewünscht habe?“, fragte sie atemlos.

„Die vielen Morgen, in denen wir im Dunkeln, in brütender Hitze oder in eisiger Kälte an einem stinkenden Hafen verbracht haben, nur damit du eine der Ersten in ganz London bist, die den neuen Fortsetzungsteil der gerade aktuellen Charles Dickens Erzählung in der ­Zeitung lesen kannst, und die Male, wo ich fast ins Wasser gefallen wäre, während du dich mit den anderen um das ankommende Schiff gescharrt hast, haben da so eine Vermutung in mir aufkommen lassen, dass du dich über ein gebundenes Exemplar freuen würdest“, sagte er breit grinsend.

Die Frau strich beinahe ehrfurchtsvoll über meinen ledernen Einband. „Es sieht so unglaublich wertvoll aus. Mein Liebling, so etwas Wundervolles können wir uns doch nie im Leben leisten“, sagte Eliza mit vor Rührung heiserer Stimme.

„Mach dir darüber keine Gedanken. Ich habe einen kleinen Weihnachtsbonus auf der Arbeit bekommen und das Buch außerdem günstig erstehen können.“ Das war gelogen, was man nicht tun sollte, aber es war eine liebevolle Lüge, was es vielleicht nicht so schlimm machte. In Wirklichkeit hatte er monatelang unzählige Überstunden gemacht, und wenn er von morgens bis abends gearbeitet hatte, hatte er danach einfach weitergearbeitet. Entweder hatte Eliza schon geschlafen, wenn er heimkam, oder er hatte ihr erzählt, dass er sich noch mit Freunden getroffen hatte. Aber auch dies hatte nicht ausgereicht, um die fünf Schillinge aufbringen zu können, und so hatte er schließlich die Taschenuhr seines Großvaters versetzt, denn sie war das einzig Wertvolle, das er besaß. Wobei, das stimmte nicht, denn das, was er besaß, war Eliza, was auch der Grund dafür war, dass er ihr dieses Buch so unbedingt hatte schenken wollen.

Eliza hatte jetzt die erste Seite aufgeschlagen und bewunderte die Illustration, die dort zu sehen war. „Am liebsten würde ich meinen Sessel jetzt ganz nah an den Ofen ziehen und sofort anfangen zu lesen, aber für diese Überraschung hast du erst einmal ein Festessen verdient.“ Sie legte mich vorsichtig auf den Sessel, damit ich ja nicht runterfiel, und hockte sich vor den Kamin, wo sie das Essen gekocht und gewärmt hatte. Die beiden lebten in einer winzigen Wohnung, die nur aus einem Raum bestand, der zugleich das Wohnzimmer, die Küche und das Schlafzimmer war, doch obwohl es kaum Möbel gab und alles nur ärmlich eingerichtet war, hatte Eliza es geschafft, ein Heim daraus zu machen. Überall, auf dem Kaminsims, dem Tisch oder den Schränken lagen Stechpalmen oder Mistelzweige und es gab selbst genähte Deckchen oder eine selbst gestrickte Decke.

Das Essen, was sie nun auf den Tisch stellte, sah aus, als würde es nicht einmal für eine Person reichen, geschweige denn für zwei, aber Elizas Mann George benahm sich so ausgelassen, als würde sich der gesamte Tisch wegen der Last der Speisen biegen. Als Eliza nach der Mahlzeit verschwand und als Überraschung einen Plumpudding holte, der nur ein bisschen größer als eine Orange war, freute sich George, als hätte er gerade einen Sack voll Gold geschenkt bekommen, und Eliza strahlte ihn mit vor Aufregung roten Wangen an, weil sie ihnen am Weihnachtstag so eine Delikatesse hatte ermöglichen können. Sie saßen nah beieinander und aßen den Plumpudding ganz langsam, um die wenigen Löffel voll und ganz auszukosten, und gaben sich zwischendurch einen zärtlichen Kuss.

Ich hätte mir kein schöneres erstes Zuhause vorstellen können, denn es war nicht Geld, das im Leben zählte, sondern die Liebe, und sie war in diesem winzigen Zimmer so im Überfluss vorhanden, dass es diese Familie reicher machte, als Queen Victoria.

Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte in mir kennen, aber sie handelte genau von diesem Thema, und Familie Cratchit war dieser hier gar nicht so unähnlich. Ich war mir sicher, dass Eliza meine Zeilen lieben würde, weil sie ihr Hoffnung schenken würden. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum sie den Verfasser Charles Dickens so sehr mochte, denn seine Geschichten handelten nicht von der vornehmen Gesellschaft, sondern von Waisenjungen, Bettlern und anderen Geschöpfen, die in der Gesellschaft nicht anerkannt waren. Er verlieh ihnen eine Stimme und brachte die reichen Gentlemen dazu, beim Nachmittagstee an die Menschen zu denken, die nicht so sehr vom Glück bedacht worden waren, wie sie selbst.

Nachdem Eliza alles abgeräumt und gespült hatte, umarmte sie ihren Mann noch einmal und sagte ihm, dass er ihr das schönste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten gemacht hatte, und dass sie mich stets wie den wertvollsten Schatz behandeln würde, denn das sei ich für sie.

Beide setzten sich nun dicht vor den Kamin, um wenigstens ein wenig Wärme von den spärlichen Flammen zu bekommen, und während Eliza sich sofort in die Geschichte vertiefte, lehnte sich George zurück und genoss es, das Mienenspiel seiner Frau zu beobachten. Denn sie tauchte in jede Geschichte so tief ein, dass es ihm vorkam, als würde sie die Figuren darin wahrhaftig sehen und an ihrem Schicksal teilhaben. Dieses Buch war wirklich jede einzelne Überstunde wert gewesen. Immer wieder sah Eliza aufgeregt hoch und las ihm bestimmte Passagen vor oder beschrieb ihm die Figuren.

„Ich möchte so schnell lesen, wie ich nur kann, um zu erfahren, wie es weitergeht, aber zugleich möchte ich auch so langsam lesen, wie ich nur kann, damit dieses wunderbare Buch niemals endet.“ Sie blickte ihn voller Wärme an. „Das Lesen dieses Buches soll fortan eine feste Tradition an unseren Weihnachtsfesten sein. Im nächsten Jahr möchte ich, dass du das Buch unserem Kind vorliest.“

George runzelte verwirrt die Stirn, doch als Eliza die Hand auf ihren Bauch legte und ihm ein Lächeln schenkte, wusste er, dass sie ihm in diesem Jahr ein noch ungleich wertvolleres Geschenk gemacht hatte als er ihr.

Staplehurst, England, 09. Juni 1865

Es war ein wunderschöner Sommertag, und die Sonne schien hell durch die Fenster des Zugabteils. ­Catherine las schon während der gesamten Zugfahrt in mir, sodass mein weinrotes Leder von den Sonnenstrahlen erwärmt worden war. Catherine war gerade einundzwanzig geworden und hatte mich zu ebendiesem besonderen Anlass von ihrer Mutter geschenkt bekommen. Wie sie es versprochen hatte, war ich Elizas größter Schatz ­gewesen, und ich hatte in den über zwanzig Jahren nicht einen Knick bekommen. Es war ihr sehr schwer gefallen, mich abzugeben, aber sie hatte ihrer Tochter nun einmal etwas ganz Besonderes zu diesem Ehrentag schenken wollen. Da Catherine ein paar Tage nach ihrem Geburtstag verreiste, beschloss sie, dass es eine wunderbare Gelegenheit wäre, mit dem Lesen bis dahin zu warten, auch wenn es ihr schwerfiel. Denn genau wie ihre Mutter liebte sie das geschriebene Wort und verschlang alles, was ihr in die Finger kam. Außerdem hatte ihre Mutter ihr so viel davon vorgeschwärmt, dass sie mehr als neugierig war.

Seit vier Stunden las Catherine jetzt schon ununterbrochen in mir und hob höchstens kurz den Blick, um einen Schluck zu trinken oder von ihrem Reiseproviant zu essen. Catherines Gesichtszüge glichen so sehr denen ihrer Mutter, dass ich das Gefühl hatte, es wäre Eliza am Tag, als sie mich geschenkt bekommen hatte. Auch die Art, wie sie bei spannenden Szenen den Atem anhielt oder wegen des Schicksals von Tiny Tim Tränen in den Augen hatte, erinnerte mich an meine allererste Besitzerin.

Ich genoss die Wärme und beobachtete Catherines Mienenspiel und fragte mich, was der Tag noch alles für uns bereithalten würde.

Anscheinend nichts Gutes, denn in diesem Augenblick ertönte ein fürchterlicher Knall, und der ganze Waggon, in dem wir saßen, fing an, hin und her zu rucken. ­Catherine riss ebenfalls erschrocken den Kopf hoch, und in diesem Moment vernahm ich die ersten Schreie.

Ich fragte mich gerade, was passiert war und ob vielleicht irgendetwas auf den Schienen gelegen hatte, als Catherine leichenblass wurde und schrie: „Oh Gott, wir entgleisen!“ Sie hatte es kaum ausgesprochen, als der Zug zuerst erschüttert wurde, als ob wir gegen einen anderen Waggon geprallt wären und dann wild zu schaukeln begann. Ich kannte die Strecke, denn ich war sie schon mal mit Eliza gefahren, deshalb wusste ich, dass wir uns auf einer Brücke befanden. Wenn der Zug also tatsächlich entgleiste, bestand die Gefahr … es war so, als wäre die Schwerelosigkeit plötzlich aufgehoben worden. Unser Zugabteil kippte auf einmal zur Seite und dann rückwärts in die Tiefe. Catherine stieß einen spitzen Schrei aus, der sich unter die der anderen Reisenden mischte, und ich wurde ihr aus den Händen gerissen und flog durch die Luft. Schon kurze Zeit später ging wieder ein harter Ruck durch das Abteil, und es kam mir so vor, als wenn wir hin und her pendeln würden. Ich lag in der Nähe des Fensters, sodass ich einen Blick nach draußen erhaschen konnte. So wie es aussah, war der Zug tatsächlich entgleist, und mehrere Waggons waren in die Tiefe gestürzt und hatten schweren Schaden genommen. Unser Abteil hing zurzeit quer von der Brücke herunter, aber das konnte sich schnell ändern. Wenn eine Panik ausbrach und der Waggon zu sehr in Bewegung geriet, konnte er ebenfalls in die Tiefe stürzen.

Ich machte mir große Sorgen um Catherine, denn sie war durch die Luft geschleudert worden und hart gegen die Abteilwand geprallt, und da der Zug jetzt rückwärts hing, lag sie quer darauf. Sie bewegte sich zwar leicht, das hieß, sie war bei Bewusstsein, aber sie blutete aus einer Kopfwunde, und ihr Bein sah seltsam verdreht aus. Die Schreckensschreie waren nun verstummt und durch Schmerzensschreie ersetzt worden. Wenn hier schon so viele Menschen verletzt waren, wie sah es dann wohl erst in den abgestürzten Waggons aus?

Catherine wimmerte leise, als sie sich benommen an die Stirn fasste. Wir mussten hier raus, und zwar so schnell wie möglich, aber wenn ich ihr Bein ansah, bezweifelte ich, dass sie damit würde laufen, geschweige denn klettern können. Denn entweder würden wir nach ganz oben klettern müssen, um ganz am Anfang des Abteils auf die Schienen zurückklettern zu können, oder wir würden weiter nach unten in Richtung Boden krabbeln müssen, um vielleicht durch ein Fenster im letzten Abschnitt nach draußen klettern zu können. Egal, welche Möglichkeit man in Betracht zog, mit einem verletzten Bein war das fast unmöglich.

Als Catherine versuchte, vorsichtig aufzustehen, schrie sie schmerzerfüllt auf und sackte sofort wieder zu Boden. Ich befürchtete, dass ihr Bein vielleicht sogar gebrochen sein könnte. Durch die Glastür des Abteils konnte ich jetzt Leute sehen, die hilflos den Gang hinunterrutschten. Bis Hilfe von außerhalb eintraf, würde es bestimmt noch eine ganze Weile dauern, und ich war mir nicht sicher, ob sich der Waggon so lange in der Luft halten könnte. Das hieß, wir mussten unbedingt hier raus, damit Catherine nicht noch schwerer verletzt oder sogar getötet wurde. Ich wünschte plötzlich, sie wäre nicht allein gereist. Sie war so stolz gewesen und hatte sich so furchtbar erwachsen gefühlt, dass sie ganz allein unterwegs war. Ihre Tante hatte sie zum Zug gebracht, und Eliza und ihr Mann wollten am Bahnhof warten, wenn sie nach Hause kam. Es hatte alles vollkommen sicher und ungefährlich geklungen. Es hatte ja niemand ahnen können, dass der Zug unterwegs entgleiste.

Ich sah jetzt Menschen zu den verschiedenen Fenstern eilen und diese teilweise einschlagen, um den im Waggon Eingeschlossenen zu helfen. Ich war überglücklich, dass es solch mutige und tapfere Männer gab, die sich nicht nur um ihr eigenes Schicksal sorgten. Ich hoffte inständig, dass sich auch jemand Catherine erbarmen würde, denn ihre Kopfwunde blutete noch immer, und sie sah leichenblass aus.

In diesem Moment schob ein Mann die Abteiltür auf und half Catherine auf die Beine. „Miss, wir müssen Sie hier hinausschaffen, es ist nicht sicher. Im nächsten Abteil ist das Fenster zerbrochen, durch dieses kann ich Euch nach draußen heben.“ Der Mann wollte sie gerade nach oben ziehen, als Catherine sich reckte, hastig nach mir griff und mich fest an ihre Brust presste.

„Das Buch muss natürlich auch gerettet werden, da habt Ihr vollkommen recht.“ Er warf einen Blick auf den Titel und fügte hinzu: „Ein ganz passables Buch, wie ich finde.“

Obwohl sie durch die Kopfwunde noch immer benommen war, erwiderte sie vehement: „Es ist nicht passabel, es ist brillant. Es ist wunderbar und anrührend und lehrreich und einfach einzigartig.“

Der Mann schmunzelte, während er Catherine unter die Arme griff, um sie zu stützen, damit sie nicht das verletzte Bein benutzte, während er zum nächsten Abteil unterwegs war. „Sie scheinen ein großer Fan des Autors zu sein.“

„Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass dies mein erster Roman von ihm ist. Meine Mutter hingegen verschlingt jedes einzelne gedruckte Wort von Charles Dickens. Sie hat jede einzelne Fortsetzungsgeschichte gelesen. Aber ich verstehe sie nach dem Lesen dieses Buchs auf einmal viel besser, sie hat nicht übertrieben. Er hat in mir auf jeden Fall eine neue treue Leserin gefunden“, sagte Catherine, bevor sie wieder leise vor Schmerzen aufschrie, weil der Gentleman sie jetzt vorsichtig aus dem Fenster hob. Ein anderer Mann, der unten wartete, nahm Catherine auf seine Arme und trug sie ans sichere Ufer. Er legte Catherine vorsichtig auf den Rücken und untersuchte zuerst die Platzwunde an ihrem Kopf. Mich hielt sie immer noch an ihre Brust gepresst. Der Gentleman, der uns geholfen hatte, war jetzt ebenfalls aus dem Zug geklettert und hatte von irgendwoher Wasser besorgt und versuchte, es der vollkommen entkräfteten Catherine einzuflößen. Von diesem Blickwinkel aus konnte ich unserem Retter das erste Mal richtig ins Gesicht sehen, und nun war ich sicher, dass ich bei diesem Unfall ebenfalls Schaden davongetragen hatte. Meine Sinne waren verwirrt, sodass ich Trugbilder sah, denn der Gentleman, der uns gerettet hatte, war zugleich der Gentleman, der mir das Leben geschenkt hatte.

Aber das konnte nicht sein. Wieso sollte sich ein so berühmter Romancier wie Charles Dickens gerade bei uns im Zug befinden und uns noch dazu unter Gefährdung seines eigenen Lebens retten? Wahrscheinlich bildete ich mir das alles nur ein, weil ich ebenfalls kräftig im Zug umhergeschleudert worden war.

Aber das Antlitz kam mir so bekannt vor, er war schließlich als Illustration auf einer meiner ersten Seiten abgebildet. Ich kannte es so gut, wie jedes einzelne Wort in mir.

Er kümmerte sich rührend um Catherine, und nachdem sie ein paar Schlucke Wasser getrunken hatte, schiente er mit dem anderen Mann notdürftig ihr Bein.

Noch immer wurden Leute aus den Zugabteilen gezogen, und die Erde um uns herum füllte sich mit Verletzten. Hoffentlich stürzte das Zugabteil, in dem wir gesessen hatten, nicht auch noch ab, bevor alle daraus gerettet waren.

Plötzlich wurde der Gentleman, der wie ein Doppelgänger von Mr. Dickens aussah, noch blasser um die Nase, und ich befürchtete, dass er sich so sehr um andere gekümmert hatte, dass er nun einen Schwäche­anfall erlitt, als er plötzlich aufsprang und rief: „Oh nein, Unser gemeinsamer Freund befindet sich noch im Zug, ich muss ihn retten!“

Mehrere Mitreisende versuchten, ihn aufzuhalten, da der Waggon mittlerweile gefährlich instabil geworden war, aber der Mann schüttelte sie ab und kletterte zurück in das Abteil, dem wir gerade erst entflohen waren.

Ich machte mir große Sorgen, dass er nicht mehr unbeschadet herauskam, nur weil er seinen Freund retten wollte.

Doch schon wenige Minuten später sah ich ihn herausklettern … in den Armen keinen verletzten Mann … sondern ein Manuskript.

Plötzlich verstand ich, was er gemeint hatte. Our mutal friend war kein gemeinsamer Freund, sondern der Titel des aktuellen Romans, an dem er gerade schrieb, das hatte ich irgendwo gehört.

Es war tatsächlich Charles Dickens, und er hatte heute nicht nur sein Leben riskiert, um mehrere Seelen zu retten, sondern auch zwei seiner Bücher. Wenn er nicht noch einmal zurückgeklettert wäre, wäre sein Manuskript vielleicht zerstört worden und würde niemals das Licht der Welt erblicken.

Ich hätte nicht geglaubt, dass es möglich wäre, aber der Mann, der mich erschaffen hatte, war in meiner Achtung sogar noch höher gestiegen.

Er war nicht mehr der Jüngste, und er war sichtbar traumatisiert von diesem entsetzlichen Unfall, doch nichtsdestotrotz hatte er keine Sekunde gezögert, um seinen Mitmenschen zu helfen.

Nachbemerkung deines Buchs:

Bei diesem Unfall sind über vierzig Menschen verletzt und zehn getötet worden, und wer weiß, wie viele es gewesen wären, wenn Charles Dickens und andere tapfere Menschen nicht ihr Leben riskiert hätten, um Leute aus den Waggons zu holen und eine Erstversorgung zu machen.

Das Manuskript, für das Charles Dickens noch einmal in den Zug geklettert ist, war übrigens tatsächlich Our Mutual Friend, an dem er während der Reise geschrieben hatte. Es ist der letzte Roman, den der Autor je vollendet hat. Stellt euch mal vor, Charles Dickens hätte ihn nicht gerettet …

London, England, 29. Januar 1880

Als sich William Booth auf den Weg zur Kutsche machte, glitt er mehrmals fast auf vereisten Stellen aus oder versank mit seinen Stiefeln wadentief im Schnee. Er hatte gehofft, dass der Winter bald vorbei sein würde, aber stattdessen hatte er mit voller Härte zugeschlagen. Er war dankbar dafür, dass er ein warmes Heim hatte, in das er zurückkehren konnte, aber er wusste, dass dies beileibe nicht selbstverständlich war.

Zwei Jahre zuvor hatte er genau aus diesem Grund die Heilsarmee gegründet, nachdem er jahrzehntelang als Evangelist tätig gewesen war. Doch das war ihm nicht genug gewesen. Er wollte nicht nur predigen, er wollte den Menschen auf direktem Wege helfen. Er wollte den Ärmsten der Armen sowohl Glauben als auch Liebe und Unterstützung bieten. Das Motto der Heilsarmee lautete: Suppe, Seife, Seelenheil.

Viele der gut situierten Engländer verstanden es nicht, wenn er bei seinen Veranstaltungen erklärte: „Einem leeren Magen kann man nicht predigen.“ Sie alle hatten noch niemals richtigen Hunger und Leid erfahren, hatten niemals Angst haben müssen, zu erfrieren. Sie wussten nicht, welche Verzweiflung das in einem Menschen auslösen konnte.

Er hatte es sich mit seiner Heilsarmee auf den Plan geschrieben, so viel Not wie nur möglich zu lindern und auf diese Weise so viele Seelen wie nur möglich zu retten.

Ein Obdachloser war nicht immer obdachlos gewesen, zumeist steckte eine äußerst tragische Geschichte dahinter, und William Booth nahm sich die Zeit, diese anzuhören.

Er begab sich mit seinen Mitarbeitern, die sich Soldaten Gottes nannten, in die erbarmungswürdigsten Viertel Londons wie dem East End, und er hatte das Heilsarmee-Quartier bewusst in einer der schlimmsten Gegenden Londons, Whitechapel, bauen lassen, verteilte Suppe und heiße Getränke und hörte sich die Sorgen und Nöte der Menschen an, an denen so viele einfach achtlos vorübergingen. Er wollte so viele Menschen wie nur möglich von der Straße holen und sie zum Glauben finden lassen, und wenn ihm das gelang, würde er versuchen, ihnen gemäß ihrer Fähigkeiten eine Anstellung bei der Heilsarmee zu verschaffen.

Aber um das realisieren zu können, brauchte er leider viele Gelder. Geld, das die, denen es so viel besser ging, der Heilsarmee spenden würden. Denn umso mehr Gelder hereinkamen, desto mehr Menschen konnte er helfen.

Für eine reiche Londoner Familie bedeutete eine Spende keinen großen Verlust, aber für ihn barg sie die Möglichkeit, das Leben eines Menschen vollkommen zu verändern und ihn zu retten. Und zwar auf mehr Arten, als sich diese wohl situierten Gentlemen jemals vorstellen konnten.

Er stieg jetzt in die Kutsche und gab dem Kutscher ein Zeichen, dass dieser losfahren konnte. Heute Abend war er als Redner auf genau so einer Versammlung eingeladen. Er würde vor einigen der reichsten Londoner predigen und anschließend von der Heilsarmee und der Idee dahinter erzählen. Am Schluss würde er dann den Zylinder herumgehen lassen und hoffen, dass die Männer und Frauen an diesem Abend sowohl ihr Herz als auch ihre Geldbörsen öffnen würden.

„Wie geht es Ihrer Gattin, Edward?“, rief William dem Kutscher zu.

Der Mann warf einen kurzen Blick nach hinten, bevor er wieder nach vorn zu den Pferden schaute. „Leider immer noch unverändert. Der Husten will einfach nicht aufhören. Meine Grace kann kaum etwas bei sich behalten und wird immer schwächer. Ich befürchte, dass es die Schwindsucht sein könnte, aber das habe ich meiner Grace natürlich nicht gesagt. Ich bete jeden Tag zum Herrn, dass er sie wieder gesund werden lässt. Die Mädchen sind doch noch so klein, sie würden den Verlust ihrer Mutter nicht verkraften.“