Buddhistische Kurzgeschichten - Mathias Bellmann - E-Book

Buddhistische Kurzgeschichten E-Book

Mathias Bellmann

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Beschreibung

Mitten aus dem Leben sind diese buddhistischen Kurzgeschichten, denn mitten im Leben wirken und heilen die Übungen Buddhas. Wir alle erleben Krisen und wir alle müssen uns unserem nahenden Tod stellen. Menschen wie du und ich lassen sich in diesen Geschichten auf den Pfad des Buddha ein und lernen das Strahlen des heiligen Lichts der Erleuchtung kennen.

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Inhaltsverzeichnis

Eva

Alex

Amira

Achmed und Johnny

Falko

Gudrun

Marie

Jasmin

Eva

Die Geräte piepten und die Nadeln, an denen die Schläuche hingen, störten sie noch immer. Eva schwang ihr Bein aus dem Bett. Für einen Moment konnte man ihren sexy Slip sehen, aber das war egal, mit dem kahlen Kopf guckte sie sowieso kein Mann an. Dann schnappte sie sich ihren Tropf und schlürfte hinaus auf den Gang.

Draußen war es dunkel. Es musste kurz nach Mitternacht sein. Im Flur war nur die Nachtbeleuchtung an. Erst nach einigen Schritten registrierten sie die Bewegungsmelder und das Licht schaltete sich ein. Die Schwester kam kurz mit dem Bürostuhl aus dem Schwesternzimmer gerollt, schenkte ihr ein müdes Lächeln, als sie sie sah und verschwand wieder. Ihre Beine waren schwach vom Morphium. Aber es half, den Schmerz zu unterdrücken. Sie ging bis zur großen Tür, die aus der Station führte und drückte den großen Knopf, damit sich die Tür öffnete.

Langsam schob sie ihren Tropf durch die Gänge. Sie wollte zur Terrasse hinter der Cafeteria. Zwar gab es nachts nichts zum Kaufen, aber die Terrasse stand trotzdem offen. Es wirkte gespenstisch, als sie die kleine Halle des Cafés betrat. Das Gitter an der Verkaufstheke war heruntergelassen und lange Schatten flogen durch den Raum.

Der Wind blies kühl, aber nicht eisig. Dennoch bereute sie, dass sie quasi halbnackt mit ihrem dünnen Krankenhauskittel hergekommen war. Aber zu verlieren hatte sie sowieso nichts mehr. Der Tod fraß sich in ihren Kopf. Mehr als ein paar Wochen oder Monate hatte sie nicht mehr zu erwarten und dass die Chemo diesmal half, daran glaubte sie schon lange nicht mehr.

Dennoch hatte sie sich auf die Behandlung eingelassen, weil Peter es so gewollt hatte. Sie machte immer alles, was die Leute wollten. Das war ihr Wesenszug. Kalt fegte eine Böe unter ihr Outfit und ließ sie zittern. Der kleine Schmerz der kalten Luft fühlte sich lebendig an. Dieses Gefühl vermisste sie am meisten. Der Krebs hatte sie noch nicht aufgefressen, aber die Menschen behandelten sie schon wie eine Tote. Hier im Krankenhaus war es zwar einigermaßen erträglich. Denn die Schwestern waren sensibilisiert. Aber sobald sie auf die Straße ging, konnte sie es in den Augen der Menschen lesen. Sie sahen ihre bleiche Haut und die fehlenden Augenbrauen und dann entstand dieser Todesblick in den Augen.

Schlimmer war es zuhause. Seitdem ihre Eltern es wussten, war alles anders geworden. Ihre Mutter behandelte sie wie ein rohes Ei und ihr Vater war so verunsichert, dass er wie paralysiert war, sobald er sie sah. Auch ihre beiden Brüder konnten nicht damit umgehen, dass sie bald ihre kleine Schwester verlieren würden. Nur ihre beiden Nichten hatten sich irgendwie cool verhalten.

Das schlimmste war, dass das Gefühl ansteckte. Die ersten Wochen hatte sie ihre Diagnose verschwiegen. Wie sie heute wusste, war das gut gewesen und manchmal wünschte sie, sie hätte ihre schwere Last weiterhin geheim gehalten. Solange sie damit allein klarkommen musste, ging es irgendwie. Aber dann hatte sie alle zum Essen eingeladen und es ihnen mitgeteilt. Der Ausdruck in den Augen ihrer Familie hatte sie bis in den Schlaf verfolgt und seitdem war alles anders. Die Zeit der Unbeschwertheit war vorbei. Dabei war es das, was sie am dringendsten brauchte: eine Pause vom Kranksein.

Eine Böe krabbelte unter ihr dünnes Krankenhauskleid. Sie lächelte. Mehr als den Tod konnte sie sich nicht holen und der klopfte sowieso schon an ihre Tür. Wie als ob sie danach gerufen hatte, ging ein Schmerzimpuls durch ihren Körper. Sie biss die Zähne zusammen. Denn er würde vorbeigehen wie alles andere und im Notfall gab es noch den Knopf für die Schmerzmittel.

Aber jetzt nicht dachte sie, denn sie wollte die Nacht mit ungetrübtem Bewusstsein erleben. Das Kratzen der Tür hinter sich, riss ihre Aufmerksamkeit von den Sternen weg. "N'Abend", war die knappe Begrüßung des Hausmeisters. Mehr sagte er nicht, zündete sich seine Kippe an und sog intensiv den Rauch ein. Mit Genuss ließ er den Qualm in die Nacht steigen. Sie hatte ihn bei ihren zahlreichen Besuchen schon mehrmals gesehen. Er war zwar wortkarg, aber kein schlechter Kerl. Dennoch war die Stimmung kaputt und sie schlürfte zurück in ihr Krankenzimmer.

"Guten Morgen Frau Behrendt", die junge Schwester zog die Gardinen auf. Das Licht blendete sie und die Müdigkeit steckte in ihren Knochen. Doch die Schwestern waren gnadenlos. Wenn es Frühstück gab, war es Zeit aufzustehen. Sie wollten nicht, dass ihre Patienten ihren Tagesrhythmus verlören, nicht einmal die Todgeweihten.

Vor ihr lag ein ruhiger Krankenhaustag. Einzig eine neue Therapeutin hatte sich angekündigt. An sich war sie kein großer Freund von Psychologen. Aber ansonsten gab es kaum Abwechslung im Krankenhaus und ein paar Fragen über ihre Gefühle würde sie schon überstehen.

Das Essen im Krankenhaus war besser als sein Ruf. Regelmäßig kamen die Leute aus der Küche und fragten, ob sie zufrieden war. Besonders freute sie sich, wenn die kleine Huong das Essen brachte. Immerzu lächelte sie. Heute war es leider nur die alte Monika gewesen. Sie war definitiv nett, aber Huongs Strahlen war einfach besser.

Kaum dass sie aufgegessen hatte, kam die Schwester, um sie an ihren Termin bei der neuen Therapeutin zu erinnern. Sie lächelte. Das Buch, welches sie gerade las, hielt nicht, was der Klappentext versprochen hatte und sie war dankbar für jede Abwechslung vom tristen Krankenhausalltag.

Die Müdigkeit steckte noch in ihren Knochen, als sie durch den Gang schlürfte. Der Termin sollte in der obersten Etage stattfinden. Einige Mal war sie schon da gewesen. Dort gab es keine Krankenzimmer, aber es war wunderschön. Das Dach war verglast und bei Sonnenschein strahlte es herrlich. Heute war es zwar bewölkt. Dennoch wäre es die Aussicht wert. Als sie oben ankam, klopfte sie vorsichtig an die Tür. "Herein!", rief eine freundliche Stimme.

Sie drückte die Klinke runter. Der Raum war eine kleine Sporthalle. Auf dem Boden lagen Gummimatten und an den Wänden gab es die Klettergerüste, die es auch damals in der Sporthalle in der Schule gegeben hatte. Sie erblickte ein paar große Gummibälle und hoffte, dass sie sich nicht über diese Dinger rollen müsste. Denn Sport war nie ihre Leidenschaft gewesen. Seit ihrer Schulzeit war sie zum Glück davon verschont geblieben.

"Hi", lachte die Therapeutin, "ich bin Sophie. Schön, dass du da bist. Komm sieh dich erst einmal um und dann setz dich zu mir."

Sie fühlte sich überfahren. Die sonnige Natur dieser Frau war unübersehbar. Diese Überfreundlichen waren ihr immer suspekt gewesen. Sie verstand nicht, wie ein Mensch in dieser Welt dauerhaft happy sein konnte. Um höflich zu sein, lief sie einmal quer durch den Raum. Das Licht flutete die kleine Sporthalle und zauberte kleine Schatten, die über den Boden tanzten.

Kurz blieb sie bei einer Wolke hängen, die am Himmel trieb, dann riss sie sich los und drehte sich um. Sophie saß auf dem Boden und lächelte sie an. Im Sonnenlicht, das durch die Deckenfenster auf die rosa Matten fiel, wirkte sie wie ein kleiner Engel. Kurzerhand schob sie ihren Tropf zu ihr. Sophie stand auf und sie hängten den Tropf tiefer, damit sie sich hinsetzen konnte.

Ein langer Moment entstand. Die Stille war merkwürdig. Sie machte sich bereit für den therapeutischen Fragenhagel. Doch Sophie lächelte sie einfach freundlich an. Statt dem üblichen Unbehagen, dass entstand, wenn keiner etwas sagte, fühlte es sich ganz natürlich an. Sophie lächelte einfach und ihr Lächeln war ansteckend.

"Schön, dass du da bist Eva", durchbrach sie nach ein paar Minuten sanft die Stille, "ich hoffe, du hast Lust auf eine kleine Körperreise."

Körperreise hallte es in ihrem Kopf. Das Wort verwirrte sie. Zudem war sie irritiert, dass Sophie keine Fragen stellte. In den letzten Monaten hatte sie gleich mehrere Therapeuten kennengelernt. Jeder hatte mit einem Schwall von Fragen begonnen. Manche hatten sie geschickt in ein freundliches Gespräch eingeflochten, aber die meisten hatten sie einfach runtergerattert ohne Rücksicht auf ihr Befinden.

"Was ist eine Körperreise?", fragte sie zaghaft interessiert.

Sophie zog ihre Mundwinkel hoch und lächelte noch mehr. Das überraschendste war das Natürliche an dem Lächeln. Es wirkte weder gequält noch aufgesetzt. Es war ganz natürlich und hüllte sie komplett ein. Zudem funkelte gerade durchs Fenster ein Sonnenstrahl und traf Sophie.

"Am besten wir probieren es einfach. Viel darüber reden ist doch langweilig."

Sophies Augen funkelten wie der Regenbogen. Die offene Weite in ihren grünen Augen wirkte wie zwei offene Arme, die bereit waren, sie in die Arme zu nehmen. Sie ließ sich anstecken und lächelte zurück. Nach einer knappen Antwort bat sie Sophie, sich auszustrecken und sich flach mit dem Rücken auf die rosa Matten zu legen.

Normalerweise stand sie nicht auf so was. Das einzig Gute an Therapeuten war die Abwechslung vom langweiligen Alltag des Krankenhauses. Die meisten Übungen, die sie ihr anboten, lehnte sie regelmäßig ab. Doch gegen Sophie wollte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung nicht wehren. Ihr ganzes Wesen überzeugte sie davon, dass sie ihr Vertrauen konnte.

Zuerst schob sie den Ständer mit dem Tropf zu ihr rüber und arrangierte das Kabel so, dass es zum Liegen passte. Dann streckte sie die Beine aus. Ihre nackten Beine zu sehen, schockierte sie für einen Moment. Sie waren käseweiß. Voll Scham blinzelte sie Sophie an. Ihr Lächeln strahlte noch immer ungebrochen. Also schluckte sie ihre Scham runter, stützte sich mit den Armen ab und ließ sich langsam nach hinten auf die Matte gleiten.

Im gleichen Augenblick als ihr Körper lang auf dem Boden lag, atmete sie unbewusst ein und aus, als ob eine schwere Last von ihr abfallen würde. Es entspannte sie. Auch die rosa Matten fühlten sich besser an, als sie erwartet hatte. Ein Blick zu ihrem Tropf verriet ihr, dass alles lief und sie sich keine Sorgen machen musste.

"Liegst du bequem?", fragte Sophie und riss sie wieder aus ihren Gedanken. "Ja, alles ist bestens", war ihre knappe Antwort. Komischerweise stimmte es. Alles fühlte sich richtig an. Vor allem wegen Sophies Stimme entspannte sie sich. Sie wusste nicht genau, was es war, aber etwas darin gab ihr das Gefühl, gut aufgehoben zu sein.

Ein Geräusch riss sie erneut aus ihren Gedanken. Sie wusste nicht, was es verursachte. Also hob sie leicht ihren Kopf, um nachzusehen, was es war. Die Therapeutin hatte eine Klangschale vor sich auf ein kleines Kissen gestellt. Mit einem Schlegel strich sie über den Rand und ließ die Luft vibrieren. Es waberte sanft in der Luft und trug sie für einen Moment weit davon.

Sophie strich sanft die Schale entlang. Obwohl nur einige Sekunden vergangen sein durften, bevor sie das erste Worte sagte, kamen ihr diese paar Augenblicke wie eine zärtliche Ewigkeit vor. Für den Bruchteil eines Augenblicks war ein Bild aus ihrer Vergangenheit aufgetaucht, als sie zusammen Familienurlaub auf ihrem Bungalow im Norden gemacht hatten.

"Atme langsam ein und konzentriere dich voll auf deinen Atem", Sophies Stimme war glasklar, doch sie sprach langsamer und mit mehr Bass als zuvor. Die Klangschale webte in ihrem Geist und gab ihr den Antrieb, ganz Sophies Anweisungen zu folgen. Langsam sog sie die Luft durch ihre Nase und füllte ihre Lungen. Als ihr dann Sophie sagte, dass sie jetzt ganz langsam ausatmen sollte, folgte ihr Bauch ganz instinktiv und ließ die Luft zurück in den Äther fliegen. Mehrere Male wiederholten sie diese Übung. Es fühlte sich gut an, obwohl sie nichts anderes tat, als zu atmen. Doch jedes Mal wenn die Luft ihren Bauch verließ, blieb ein angenehm befreites Gefühl zurück, welches sich langsam in ihrem Körper ausbreitete. Gerade hatte sie das achte Mal ausgeatmet und fühlte, dass das Gefühl der Entspannung weiter zunahm.

"Lass uns jetzt in die Betrachtung des Körpers übergehen." Sophies Aussage irritierte sie. Kaum dass sie sich auf das Gefühl eingelassen hatte, sollte sie es wieder gehen lassen. Dazu war sie nicht bereit, denn es fühlte sich zu gut an. Aber scheinbar hatte sie keine Wahl, denn Sophie ging über in die besagte Körperreise.

"Wir fangen bei unseren Füßen an. Konzentriere dich ganz auf das Gefühl in deinem rechten großen Zeh." Sophies Stimme schwang hell und glasklar. Zugleich hatte sie mit dem Schlegel der Klangschale einen neuen Impuls gegeben. Trotz des anfänglichen Widerstands sich von dem Fokus auf ihren Atem zu lösen, folgte sie Sophies Stimme zu dem Gefühl in ihrem großen Zeh. Es war merkwürdig. Sie kannte ihre Zehen und trotzdem fühlte es sich lustig an. Als Sophie ihr sagte, dass sie ihn ganz genau spüren sollte, prickelte es, als ob er ihr Hallo sagen wollte. Nach dem Großen sollte sie sich auf die anderen Zehen konzentrieren und danach ging Sophie die einzelnen Teile ihres Fußes durch, angefangen beim Ballen über Sohle und Ferse, bis hin zum Spann. Mit ihrem Bewusstsein folgte sie Sophies Stimme.

Obwohl es ihr Fuß war und sie ihn ganz genau kannte, war es trotzdem anders. Es hatte etwas von dem Abenteuer einer Entdeckungsreise. Ihre Augen waren geschlossen und außer der Klangschale und Sophies Stimme war da nur ihr Gefühl. Doch das schien plötzlich größer zu sein als gewöhnlich. Es war nur ihr großer Zeh gewesen, doch desto mehr sie sich auf ihn fokussierte, desto größer wirkte er. Dieses Gefühl hatte sich im Rest ihres rechten Fußes fortgesetzt. Sophie hatte sie dann zu ihrem linken großen Zeh geführt und wieder war es so, als ob sie ihn zum ersten Mal wirklich bewusst wahrgenommen hatte.

Langsam führte sie Sophie ihre beiden Beine hoch bis zu ihrem Becken. Besonders im Schambereich prickelte es, aber kurz kam auch die alte Scham wieder auf. Denn seit ihrem letzten Freund waren fast zwei Jahre her und selbst auf den Plattformen wie Tinder bekam sie kaum Matches, weil ihre Krankheit sie einfach zu sehr gezeichnet hatte.

Nach mehreren Zwischenstufen kamen sie bei ihrem Kopf an, in dem auch der Tumor saß und sie nach und nach auffraß. Sie wusste nicht, wie viel Sophie über ihre Krankheit wusste. Sie ließ sich nichts anmerken und machte achtsam weiter. Zuerst konzentrierten sie sich auf ihre beiden Augen, die Nase und den Mund. Dann kamen die Ohren, Wangen, Stirn und Haare dran. Zum Schluss wendeten sie sich dem Inneren ihres Kopfes zu.

Als Sophie sie bat, das Gehirn achtsam zu betrachten, verkrampfte sie. Plötzlich begannen ihre Füße zu zittern. Sie fühlte sich hilflos. Doch auf einmal war da eine warme Hand, die sanft ihre Füße massierte. Die Starre löste sich und sie atmete mehrmals hektisch ein und aus.

"Konzentrieren wir uns noch einmal ganz bewusst auf unseren Atem, bevor wir uns wieder auf unseren Körper konzentrieren. Atme langsam und tief durch Eva!"

Sophies Stimme wirkte wie sanfter Balsam. In den letzten Augenblicken war sie zu einem fliegenden Klangteppich geworden, der sie durch das unbekannte Land ihres eigenen Körpers getragen hatte. Also folgte sie ihr zurück zu dem Gefühl an ihrer Nasenspitze, durch das ihre Atemluft strömte. Fünfmal folgte sie konzentriert den Anweisungen Sophies, ein und auszuatmen; endlich stellte sich das tiefe, entspannte Gefühl wieder ein, mit welchem sie in die Körpermeditation gestartet waren. Noch weitere fünfmal ließ sie Sophie ganz bewusst ein und ausatmen. Dann kehrte sie zurück zu ihrer Übung:

"Ok. Lenken wir unsere Aufmerksamkeit weg von unserem Atem und werden wir uns unseres Kopfes ganz bewusst. Spüre ihn in seinem gesamten Umfang."

Sie nahm Sophies Worte an und versuchte ganz bewusst, ihren Kopf zu spüren. Sie nahm die Härte des Knochens wahr, der auf der Matte lag, sie spürte die glibbrige Spucke in ihrem Mund und das weiche Fleisch ihrer Wangen und ihres Gaumens. Sie tastete mit ihrem Sinn ihre Nasenhöhle entlang und dann spürte sie wieder die Blockade.

Der Atem kam ihr zu Hilfe. Es war, als ob er sich sanft um ihr Angstgefühl legte und sie stärkte. Also traute sie sich und ging einen Schritt weiter. Da war es, der Ort, vor dem sie seit Monaten immer mehr Angst bekam, weil er drohte sie und ihr ganzes Leben aufzufressen.Was sie spürte, war nicht viel. Die Angst war das Intensivste. Aber zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit schien sie kleiner zu werden.

Dann öffnete sich eine Art Höhle. Sie sah sie nicht. Denn ihre Augen waren geschlossen, doch sie spürte, dass sie da war. Es war eine Mischung aus etwas hartem, das begrenzte und einer dunklen Leere, die wie ein nackter Hohlraum war. Das überraschende war, dass es sich angenehm anfühlte. Sie ließ sich weiter treiben und spürte plötzlich, wie es da war, ohne es direkt fühlen zu können. Sie verharrte in dieser Wahrnehmung.

Sie blieb einfach still und spürte ihr Gehirn. In den letzten Monaten hatte ihr Kopf oft höllisch gebrannt. Nur mithilfe der Schmerzmittel hatte sie die Schübe überstanden. Auch heute morgen war es unerträglich gewesen. Doch jetzt dieses stille Gewahrsein zu erleben, eröffnete eine neue Perspektive und es sorgte dafür, dass sich unterschwellig etwas beruhigte.

Diese nervöse, angespannte Energie begleitete sie seit dem Tag der Diagnose. Sie war immer da und hatte sich wie ein Schleier über ihr gesamtes Wesen gelegt. Während sie jetzt weiter bewusst in die Höhle ihre Kopfes vordrang, spürte sie den Schleier ganz bewusst. Sie spürte ihn so klar wie kein einziges Mal zuvor. Er bestand aus Angst und dem Gefühl der Einsamkeit. Doch so bewusst, wie sie ihn jetzt sah, erkannte sie auch, dass die alte Eva immer noch da war. Sie hatte keine Angst gehabt und war vor dem Krebs und dem letzten Typen, der sie als emotionales Wrack zurückgelassen hatte, eine lebenslustige Person gewesen. Ja, sie spürte diese alte Eva und plötzlich tauchte das Bild auf, wie sie früher immer getanzt hatte. Es war nur eine Silhouette und doch musste sie lächeln.

"Es ist Zeit zum Atem zurückzukehren", Sophies Stimme war einfühlsam und gab ihr die Kraft, sich sanft von dem Bild und dem Gewahrsein ihres Kopfes zu lösen. Sie lenkte ihr Bewusstsein zurück zu ihrem Atem. Sophie leitete sie an und sie blies gefühlvoll die Luft durch ihre Nase aus und ließ zu, dass sich danach ihr Bauch ganz von allein wieder füllte. Zehnmal leitete sie Sophie an, ein und auszuatmen. Dann schwieg sie.

Alles was blieb, war die Klangschale. Sophie beendete ihre Sitzung nicht. Sie spürte, dass es keine Grenze gab und sie sich einfach nochmal entspannen konnte. Sie hielt ihre Augen geschlossen und versuchte sich erneut zu spüren. Zu ihrer Überraschung war das befreite Gefühl noch da. Der Schleier der Angst war zwar auch da, aber er lag nicht mehr