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Eindrücke und Erlebnisse seiner siebenwöchigen Fahrradreise auf dem Jakobsweg von Köln nach Santiago de Compostela hat Jo Hagen in diesem Tagebuch zusammengefasst und mit über 200 Reisefotos illustriert. Er erzählt von den Anstrengungen und Entbehrungen, von bewegenden Momenten und Begegnungen - und von beeindruckenden Kirchen, Klöstern und Kathedralen auf seinem Weg. Ein amüsantes Buch mit vielen Hinweisen für alle Jakobspilger und diejenigen, die es vielleicht noch werden wollen. Buen Camino!
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Seitenzahl: 192
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Dieses Buch ist kein Reiseführer, kann aber Jakobspilgern Tipps vermitteln. Es ist auch kein prächtiger Bildband, die Bilder aber erzählen von den Schönheiten und Besonderheiten des Weges. Als ich losfuhr kannte ich meine Grenzen nicht, wollte keine Rekorde aufstellen. Zeit wollte ich mir nehmen für die Besichtigung von Kirchen und Klöstern, wollte die Landschaft genießen, wartete nicht auf ein Erweckungserlebnis. Eine Reise, die mich nachhaltig geprägt hat.
Nichts gesucht, aber alles gefunden.
Der Autor wurde Mitte des letzten Jahrhunderts dort geboren, wo sich Sauerland und Ruhrgebiet umarmen – wie der Name schon sagt. Mit Leidenschaft tätig in verschiedenen Segmenten der Werbung, des Marketing und Public Relations bis Vertrieb. Dort entdeckte er das Schreiben als Überzeugungsinstrument. Schreibt jetzt ohne Sachzwänge und Kundenbefindlichkeiten Texte, wie er sie mag – aus dem prallen Leben oft mit unfreiwilliger Alltagskomik. Ironisch, satirisch, manchmal mit nachdenklichen Zügen. Lesungen mit ihm sind ein besonderes Erlebnis.
Mitglied im Autorenforum Köln: www.autorenforum-koeln.de
In Köln ist er als Stadtführer Schäng unterwegs: www.schaengkoelle.de
Die Schilderungen und Informationen dieses Reisetagebuches entsprechen den persönlichen Erlebnissen meiner Reise im Jahr 2017. Es sind keine Wertungen über den Weg, Personen oder Herbergen und Gastronomie. Inzwischen können sich Änderungen ergeben haben, die ich hier nicht berücksichtigen konnte. Daher kann ich keine Haftung für die Vollständigkeit und Richtigkeit meiner Angaben übernehmen.
El tourista exige,
el peregrino agradece.
Der Tourist fordert,
der Pilger dankt.
WIE KOMMT MAN AUF SO EINE IDEE?
VORBEREITUNGEN
DEUTSCHLAND
Köln bis Kornelimünster.
Aachen bis Dreiländereck
BELGIEN
Dreiländereck bis Clermont
Lüttich/Liège bis Namur
Namur bis Labbé
FRANKREICH
Labbé bis Carrefour de La Touraille/Forêt-de-Mormal
Forêt-de-Mormal bis Honnecourt-sur-Escaut
Honnecourt-sur-Escaut bis Péronne
Péronne bis Corby
Corbie bis Amiens
Amiens bis Rouen
Rouen bis Cailly-sur-Eure
Cailly-sur-Eure bis Breuil-Benoît
Breuil-Benoît bis Chartres
Chartres
Chartres bis Châteaudun
Cateaudune bis Montoire-sur-Loir
Montoire-sur-Loir bis Tours
Tours bis Chinon
Tourquant
Chinon über Châtellerault bis Thuré
Thuré über Châtellerault bis Poitiers
Poitiers bis Melle
Melle bis Saintes
Saintes bis Pons
Pons bis Blaye
Blaye bis Bordeaux
Bordeaux
Bordeaux bis Dune du Pilat
Dune-du-Pilat bis Mimizan
Mimizan bis Capbreton
Capbreton über Bayonne bis Saint-Jean-Pied-de-Port
SPANIEN
Saint-Jean-Pied-de-Port bis Larrasoaña
Larrasoaña über Pamplona bis Puente la Reina
Puente la Reina bis Logroño
Logroño bis Nájera
Nájera über Santo-Domingo-de-la-Calzada bis Burgos
Burgos
Burgos bis Castrojeriz
Castrojeriz bis Terradillos de los Templarios
Terradillos de los Templarios bis Leon
Leon bis Astorga
Astorga bis Ponferrada
Ponferrada bis O Cebreiro
O Cebreiro bis Portomarin
Portomarin bis Monte-do-Gozo
SANTIAGO DE COMPOSTELA
UND DANACH…
STATISTIK
STRECKENVERLAUF
Weitere Veröffentlichungen von Jo Hagen
Die Pilgerente schaut voraus auf Abenteuer ...
Ganz klassisch mit Pilgerstab und Kutte lief in den 70er-Jahren ein Journalist auf dem spanischen Jakobsweg und berichtete darüber in einer Ausgabe des GEO-Magazins. Er erzählte von den Entbehrungen, der gnadenlosen Sonne in der Meseta und den wilden Hunden, die er mittels Pilgerstab fernhalten musste. Ein Abenteuer, das mich faszinierte.
In den späteren Jahren meines Herumziehens mit VW T1 und T2 Bullis bin ich dem Jakobsweg nicht nahegekommen. In den weiteren Jahrzehnten hörte und las ich immer öfter etwas über diesen faszinierenden Pilgerweg. Wochenlang mit 10 kg Gepäck auf dem Rücken zu wandern, übersteigt aber deutlich meinen sportlichen Eifer. Als der Kerkelingsche Jakobsweg in aller Munde war, war ich weiterhin fasziniert, habe aber nie daran gedacht, selbst den Pilgerweg anzutreten.
Der Ruhestand rückte näher, doch ich würde mich nicht langweilen. Stadtführungen in Köln, mehr als ein paar Kurzgeschichten schreiben: ich würde nicht dem Müßiggang anheimfallen. Dann fand ein noch wenig genutztes Alufahrrad den Weg zu mir. Und über Nacht ist da der kühne Gedanke, den Rentenbeginn mit einer großen Fahrradreise, von Köln nach Santiago de Compostela zu feiern. Mit kleineren Plänen, den Jakobsweg nur in Spanien zu erleben, gab ich mich erst gar nicht ab. Ich war vom Reisefieber befallen.
Was trieb mich an? Ich hatte kein Gelübde getan, wollte mich nicht von Sünden befreien, erwartete kein Erweckungserlebnis. Geschichte, Kunstgeschichte, die sakralen Bauten haben mich seit jeher in ihren Bann gezogen. Darum freute ich mich auf die Kirchen, Klöster, Kathedralen und deren spirituelle Eindrücke. Vielleicht noch ein Stückchen Abenteuerlust, ein bisschen metaphysisches Erlebnis? Die Menschen, denen ich auf meinem Weg begegnen würde? Die Sorge, auf meiner Reise zu vereinsamen, trieb mich nicht um, besaß ich doch eine ständige Begleiterin: meine Pilger-Badeente, die ich als Navigatorin solide auf die Spitze des vorderen Schutzblechs montierte. Dort sitzt sie noch heute.
Kommen Sie mit auf den Camino – jeder Tag ist ein Erlebnis.
Plane nicht so viel – fahr los!
Bücher habe ich gewälzt, Internet-Foren befragt, Fahrrad-Fernreisende ausgequetscht, Packlisten erstellt. Es wurden mir kluge, teils richtige, oder andere, für mich nicht praktikable, Ratschläge erteilt. Nach Monaten der Vorbereitung war ich immer noch auf der Suche nach Weisheit. Bis mir ein erfahrener Jakobspilger via Facebook den einen, wichtigsten Ratschlag gab: »Plane nicht so viel – fahr los!«
Doch würde ich die Strecke bis Santiago überhaupt schaffen? Wie weit würde ich kommen? Könnten Knie versagen, Blasen sich einstellen, Magen und Darm mitmachen, Sonnenbrand ...? Weil mir während der Vorbereitungszeit im Dezember und Januar das Fahrradfahren wenig Vergnügen bereitete und somit als Konditionstraining ausfiel, ging ich zum Aufbau meiner Kondition einige Wochen, ich hätte es niemals geglaubt, freiwillig in ein Fitnessstudio.
Mein Hausarzt, der den Jakobsweg selbst schon zu Fuß gegangen war, bescheinigte mir, nach dem Test auf dem Fahrrad-Ergometer, ein regelrecht klopfendes Herz und stellte mir, für alle Fälle, einiges an Medikamenten zusammen. Dann wünschte er mir »Buen Camino«.
Das Fahrrad bekam eine edelstahlglänzende Kette, neue Reifen und ich hatte Ersatzschläuche und diverse Ersatzteile im Gepäck, einige überflüssige Kilo, die ich mir hätte sparen können. Aber das wusste ich erst nachher.
Schon im Mittelalter waren Klöster, Kirchen und Kathedralen wichtige Etappen auf dem über Europa gesponnenen Netz der Jakobswege. Somit gab es über meinen persönlichen Streckenverlauf wenig Zweifel. Den ersten Stempel im Pilgerpass wollte ich mir, natürlich, am Kölner Dom holen. Von Köln über Aachen und in Belgien über Lüttich (Liége), dann Richtung Frankreich. Dort sollten Amiens, Rouen, Chartres auf meiner Strecke liegen; nicht der direkteste Weg, der eigentlich durch Paris geführt hätte. Doch wegen der eindrucksvollen Kathedralen nahm ich die zusätzlichen Tagesreisen gerne in Kauf. Ich hatte einen Luxus und der hieß: Zeit.
Der Pilgerpass ist mir von der Deutschen Sankt-Jakobusgesellschaft, nach Ausfüllen eines entsprechenden Antrags, ausgestellt und zugeschickt worden. Die geneigten Leser mögen mir verzeihen, wenn ich nicht mit Abfahrt- und Ankunftszeit, Streckenkilometern, täglichen Wetterdaten und ausgegebenen Euronen meinen Bericht verwässere. Im Anhang (Statistik → Seite →) erscheint gerafft, was die Datengier stillt.
Noch am Tag vor der Abfahrt habe ich Zweifel, als ich mein Rad zur Probe mit komplettem Gepäck durch mein Stadtviertel steuere. Ich erschrecke über das deutlich veränderte Lenkverhalten und dem, wegen der 26 kg Gepäck, erhöhten Schwerpunkt und damit deutlich erschwerten Auf- und Absteigen. Würde ich überhaupt die erste Etappe bis Aachen schaffen? Zweifel nagen an mir und meinem Vorhaben. Mit fertigem Gepäck, unruhigen Gedanken, abgearbeiteten Checklisten, schlafe ich ein und wache an einem aprilfrischen Morgen auf. Am Kölner Dom erwartet mich schon ein Abschiedskomitee, das ich nicht enttäuschen kann.
Ächzend quäle ich mich den vergleichsweise harmlosen Anstieg über die Deutzer Brücke und stehe mit Glockenschlag 10 Uhr vor dem Dom. Mein Sohn Jakob hat sich offiziell Abschiedsurlaub genommen, Inge ist extra angereist, meine Freunde Renate und Peter lassen es sich nicht nehmen, mich zu verabschieden und einen guten Weg zu wünschen. Peter hat angekündigt, mich auf seinem betagten Rad bis zur Stadtgrenze zu begleiten.
Im Domforum, im Schatten der heimischen Kathedrale, bekomme ich meinen ersten Stempel in den Pilgerpass, dem viele weitere eindrucksvolle folgen sollen. Um in Santiago das begehrte Compostela zu bekommen – die Bestätigung für den zurückgelegten Jakobsweg – ist es nötig, als Radler mindestens die letzten 200 Kilometer mit täglich zwei Stempeln nachzuweisen. Für Fußpilger reichen 100 Kilometer. Ich habe mir vorgenommen, den gesamten Streckenverlauf mit Stempeln dokumentieren zu können.
Ein kurzes Stoßgebet im Dom und eine Kerze beim Heiligen Antonius, ein Gruß zum Heiligen Jakob, der an prominenter Stelle im Chor, nicht weit vom Dreikönigsschrein, steht. Ich bin bereit.
Am Kölner Stadtrand verabschiedet sich mein Begleiter Peter. Die ersten Stunden meiner Reise Richtung Westen beginnen. Der Rhein-Erftkreis, mir aus der Perspektive des Autofahrers vertraut, vom Rad sieht alles anders aus. Der Papsthügel bei Kerpen grüßt von weitem herüber, jene aufgeschüttete Erhebung, auf der anlässlich des 20. Weltjugendtages 2005 der deutsche Pontifex Benedikt XVI. die Abschlussmesse zelebrierte. Kerpen voraus. Spontan fällt mir das Geburtshaus des am 8. Dezember 1813 geborenen Adolph Kolping ein, das hier an meinem Weg liegt. Ein kurzer Stopp würde mir guttun. Doch leider ist das Geburtshaus des Gesellenvaters, dem Gründer des internationalen Kolpingwerkes, geschlossen. Ohne diesen Stempel im Pilgerpass strampelte ich weiter zum nächsten Etappenziel Düren. Wenn die Geißel des Radfahrers, der Gegenwind, nicht wäre. Die blühenden Rapsfelder wogen malerisch. Doch jedes einzelne Gramm meines Gepäcks, addiert mit dem Gegenwind, machen mir erhebliche Mühe.
Im kleinen Ort Golzheim fällt mein bepacktes Fahrrad sofort auf, als ich vor der Fleischerei Müller für eine Mittagsrast anhalte. Man bewundert mein Vorhaben und wünscht mir guten Weg, die belegten Brötchen fallen üppig aus. Hoffentlich habe ich den Mund im wörtlichen Sinne nicht zu voll genommen, denn ich bin erst wenige Kilometer von Köln entfernt.
Hinter Düren treffe ich auf einen komfortablen Radweg und kann endlich durch die Ebene rollen. Das ist aber schon in Langerwehe vorbei, hier biege ich ab zum Kloster Wenau, einer alten Pilgeretappe. Ein kühles und etwas modriges Tal, entlang einer schmalen Landstraße, bis Klosteranlage und Abteikirche in Sicht kommen. Nicht ahnend, dass wenige Tage später wiederum ein säkularisiertes Kloster des Prämonstratenser-Ordens auf dem Weg liegt, drücke ich mir im Seitenschiff der menschenleeren Katharinenkirche meinen zweiten Stempel des heutigen Tages in den Pilgerpass. Zum Rasten bleibt wenig Zeit, denn bis zu meinem heutigen Tagesziel Kornelimünster ist es noch ein gutes Stück. Mühsam schiebe ich das schwer bepackte Fahrrad über gute drei Kilometer eine schmale Straße hinauf.
Auf dem Höhenzug entlang des Hürtgenwaldes geht es dann flotter voran, doch meine Doppelnavigation mit Karte und Radfahrer-App (Navi) erweist sich mehrfach als widersprüchlich. Zudem ist die Ausschilderung in erster Linie für Autofahrer gemacht, der Radfahrer mit Ortskenntnis könnte über den einen oder anderen gut ausgebauten Wirtschaft sweg abkürzen. Zu guter Letzt stehe ich, ausweislich eines Radwegeschildes, zwischen den schweren Maschinen eines Steinbruchs, der sich nahe einer Eisenbahntrasse befindet. Meine Zweifel sind groß, führt doch der holprige Geröllweg zwischen Baggern und Brechmaschinen hindurch. Das soll der Radweg sein? Ich habe mich körperlich bereits verausgabt. Hinter dem Steinbruch schwenkt der Weg wieder parallel zur Eisenbahntrasse ein und es geht bequemer weiter. Die Kühe am Wegesrand glupschen wiederkäuend mit großen Augen dem schwitzenden Radfahrer hinterher. Dann eine letzte Sturzfahrt hinunter ins Tal, nach allen Strapazen eine Freude. Ich stehe vor der Abteikirche Kornelimünster.
Durch Bauzäune und über schwankende Planken nimmt mich ein Mitglied des Kirchenchores mit ins Innere der Kirche, gerade als der Küster sich in den Feierabend verabschieden will. Mein pilgerliches Begehren geht ihm zu Herzen und er erbarmt sich meiner. Er zieht ein großes Schlüsselbund hervor und schließt noch einmal die Sakristei auf, um mir andächtig den begehrten Stempel in meinen Pilgerpass zu drücken.
Bescheiden frage ich nach Quartier. Der Küster verweist mich auf ein Hotel im Ort, das die Reisekasse aber schon am ersten Tag zu sehr belasten würde. Doch nicht weit gibt es ein Restaurant mit Fremdenzimmern, Krebsloch genannt. Die Sahneschnitzel seien legendär, das Richtige für einen ausgehungerten, müden Fahrradpilger. Schnell bin ich mit dem Wirt handelseinig. Mein Fahrrad nächtigt wohlverwahrt im Hausflur. Ein Dachstübchen, eine heiße Dusche, die ersten Aufzeichnungen in mein Tagebuch. Ein paniertes Schnitzel, das kaum genügend Platz auf dem Teller findet, mit reichlich Sahnesoße, dazu ein großes Bier und dann, nach 75 Kilometern, der wohlverdiente Schlaf des Gerechten.
Aachen bis Dreiländereck
Schon früh bin ich auf den Beinen. Ohne die gewohnte Tasse Tee, der Wirt hat schon am Vorabend ein Frühstück ausgeschlossen, bin ich schnell reisefertig. Wie der Name Krebsloch schon vermuten lässt, liegt die Herberge an der tiefsten Stelle der ganzen Gegend, was für mich zunächst einmal Schieben bedeutet. Doch eine halbe Stunde später habe ich die Höhe erreicht und rolle auf glatter Hauptstraße dem Zentrum Aachens, der alten Kaiserstadt des Carolus Magnus entgegen. An einer Ampelkreuzung, die ich bei grünem Signal quere, ruft mir ein dort stehender Fußgänger »Gute Reise« hinterher. Die an meiner Lenkertasche befestigte Jakobsmuschel ist nicht zu übersehen. Schwungvoll biege ich vor dem Aachener Dom ein und komme vor dem Eingangsportal direkt mit einem Domschweizer ins Gespräch. Leider ist eine Besichtigung nicht möglich, da sich gerade ein Paar unter höherem Segen das Jawort gibt. Doch er spendet Trost. Er würde den Kollegen bitten, den Stempel für den Pilgerpass herauszureichen. Obwohl ich den Aachener Dom schon mehrfach besichtigen konnte, hätte ich ihn gerne von innen gesehen. Doch jetzt reizt mich mehr die nur etwa einen Kilometer entfernte Jakobskirche. Nach einer Viertelstunde des Verschnaufens habe ich meinen Stempel und ziehe weiter.
Die Jakobskirche liegt an der Jakobstraße. Auch wenn das Portal Einlass gewährt, ist die Kirche hinter der Vorhalle durch ein Gitter abgesperrt. Das schmiedeeiserne Sieb lässt den Blick frei für Kirchenschiff und das Standbild des Sankt Jakob. Enttäuscht, weil heute zum zweiten Mal eine Kirche nicht zugänglich ist, schaue ich mich im Narthex um. An der Informationstafel entdecke ich einen kleinen Zettel mit der Information für Pilger, sich doch bitte bei der gegenüberliegenden Metzgerei oder im Biosupermarkt zu melden. Da die Metzgerei geschlossen ist, steuere ich den Biosupermarkt an. Willkommener Ort, um mein bisher vermisstes Frühstück nachzuholen. Man richtet mir die Grüße des Pfarrers aus, ich bekomme zu meinem Stempel ein liebevoll verpacktes Päckchen Aachener Printen als Wegzehrung, eine Postkarte mit dem Motiv der eben erst live gesehenen Jakobsstatue und vom Biomarkt zusätzlich einen Apfel. Eine nette Geste, bei der mein Pilgerherz erblüht. Nachdem ich mit Brötchen und Croissant und einem Cappuccino mein Frühstück nachgeholt habe, schwinge ich mich in den Sattel, um meine Reise Richtung belgischer Grenze fortzusetzen, dem höchsten Punkt des Tages. Hier finden die Grenz-Eckpunkte der Niederlande, Belgien und Deutschland zum Dreiländereck zusammen, gekrönt durch einen Aussichtsturm. Doch vor Erreichen der Höhe ist kraftzehrendes Schieben über einen holprigen Wanderweg angesagt. Dort oben ist eine Menge los. Menschen, die sich am Dreiländerpunkt auf den digitalen Chip bannen lassen wollen, stehen Schlange. Auch ich lasse mich für die Reisedokumentation fotografieren. Bald zieht es mich weiter. Die Grenze ist überschritten oder überrollt. Ich bin in Belgien.
Mit kühnem Schwung lasse ich mich die Serpentinen auf der Landstraße in die belgischen Niederungen hinabgleiten. Eine Wohltat nach der anstrengenden Plackerei bergauf. Bald weist mich ein Schild auf das belgische Fahrradnetz RAVeL hin, was sich zunächst als Hohlweg erweist, steinig, eher einem trockenen Bachbett vergleichbar. Die erste echte Belastungsprobe für Mensch und Rad. Es rappelt und klappert allenthalben, zweimal löst sich die Pilgermuschel von der Lenkertasche, zerspringt jedoch nicht zwischen den Steinen. Ein gutes Vorzeichen? Nach wenigen Kilometern verwandelt sich der RAVeL in einen echten Fahrradweg, asphaltiert und auf einer ehemaligen Eisenbahntrasse mit erträglichen Steigungen, schattig zwischen Bäumen und Sträuchern verlaufend. Ab hier muss ich eine kräftige Lanze für die Belgier brechen. Die RAVeL-Wege verlaufen über alte Eisenbahntrassen, Treidelpfade entlang von Flüssen und Kanälen und andere separate Wege. Sie sind in süperbem Zustand und exzellent ausgeschildert.
In den Nachmittagsstunden erreiche ich einen kleinen Ort mit einer interessant aussehenden Dorfkirche, wo ich ein eisernes Geländer nutzte, um mein Fahrrad anzuschließen. Auch hier ist man vom Prinzip der offenen Kirche längst abgerückt, das gegenüberliegende Wirtshaus, unter dem bekannten belgischen Stern Stella Artois stehend, ist hingegen gut besetzt. Die auf den Fernsehschirmen laufenden Fußballmatches, werden von den Männern am Tresen lautstark kommentiert. Radebrechend versuche ich neben einem kühlen, schäumenden Sternengetränk, nach Logis zu fragen. Der Wirt nickt, man hat mich und mein Rad wohl schon anreisen sehen. Doch hier gäbe es kein Quartier. Seine weit in den Achtzigern stehende Mutter, anscheinend noch die Patronin der Sternengastronomie, weist mir einen Platz an, stellt mir mein Bier auf den Tisch und deutet mir an, telefonieren zu wollen. Das tut sie dann auch eifrig. Nach etwa zwanzig Minuten gibt es eine Lösung. Der Gastronom wird von Mutter instruiert, schreitet an meinen Tisch und macht mir in Zeichensprache und per Skizzen auf dem Bierdeckel klar, welche Option mir in Aussicht steht. Etwa drei Kilometer bergauf im nächsten Ort, wo der Straßenbelag unruhig wird, links abbiegen, am Aushang des Rathauses – ich weiß, dass Hotel de Ville kein Hotel, sondern das Rathaus ist – dort am Aushang also eine Telefonnummer. Diese solle ich anrufen und man würde mir weiterhelfen. Skeptisch trinke ich aus, zahle, bedanke mich für die Hilfe und mache mich, den Berg hinauf, auf den Weg. Der Ort heißt Clermont und tatsächlich beginnt kurz vor der Hauptkreuzung das unruhige Kopfsteinpflaster. Ich biege ab und sehe schon von weitem ein Stadttor, das sich später auch als Rathaus entpuppt. Auf halbem Weg dorthin werde ich von einem Bürger angesprochen, der mich, geschulten Blickes, als quartiersuchenden Jakobspilger identifiziert hat. Spontan begleite er mich zum Stadttor-Rathaus, wo eine Infosäule zum Jakobsweg steht und auch besagte Telefonnummer zu finden ist. Jenseits des Marktplatzes wird gerade in der Kirche der Kommunionsgottesdienst beendet. Mein Clermontbürger versucht, mit seinem Handy diverse Telefonnummern zu erreichen, ohne einen Kontakt zu bekommen. Da löst sich aus der Menschenmenge vor der Kirche ein Herr und schreitet in unsere Richtung über den Marktplatz. Beide Bürger tauschen in wenigen Worten den Sachverhalt und der Herr spricht mich in deutscher Zunge an.
Er ist der richtige Gesprächspartner. Als Jakobspilger hätte ich natürlich das Recht auf einen Schlafplatz, gibt er mir zu verstehen. Leider seien bereits vier Pilgerinnen im Anmarsch, von denen er zwei auf den Gemeindeplätzen im alten Pfarrhaus, die beiden Weiteren privat bei sich zuhause untergebracht habe. Er wolle sein Möglichstes tun, auch mich irgendwo ... Ich verweise auf mein Zelt, das ich für solche Fälle dabei habe. Widerstrebend zieht er mit mir auf die Wiese neben dem alten Pfarrhaus. Ein idealer Campinggrund, malerisch gelegen, auch wenn es an jeglichen sanitären Einrichtungen und, wie sich herausstellen sollte, auch gastronomischen Angeboten im Ort gebricht. Wir sind schnell einig. Durch das schmiedeeiserne Gitter habe ich gut gesiebten Blick auf Rathaus und Marktplatz und ein dortiges Restaurant, von dem mein Gastgeber mir für 18 Uhr Öffnung in Aussicht stellt.
In der intensiven Abendsonne errichte ich mein Zelt und mache es mir gemütlich. Blick auf Ortszentrum, direkt neben der Jakobskirche und Pfarrhaus. Ich bin gut gerüstet. Doch es wird 19 Uhr, das Restaurant liegt verwaist, auf der Terrasse die Sonnenschirme zugeklappt, die Abendsonne versinkt langsam hinter den Häusern. Mein Gastgeber hat mich für den nächsten Morgen zum Frühstück eingeladen, doch keinesfalls werde ich hungrig in den Schlafsack kriechen. Erkundungsgänge im Ort bleiben erfolglos. Da fällt mir die Notration ein, die mein Sohn als geübter Wanderer mir ins Gepäck gebürdet hat. Eine Aluminiumtüte, deren Inhalt aus gefriergetrockneten Spaghetti-Bolognese besteht. Aufreißen, gekochtes Wasser dazu, umrühren und zehn Minuten quellen lassen. Willkommene Gelegenheit, neben dem Zelt auch meine bescheidenen Küchenutensilien auszuprobieren. Bald gellt die Pfeife des Wasserkessels auf meinem Campingkocher durch den ruhigen Ort und den Friedhof hinter der Kirche. Nach zehn Minuten löffele ich eine erstaunlich wohlschmeckende Mahlzeit aus der Tüte. Gesättigt rolle ich mich in den Schlafsack und verfalle sofort in den wohltuenden Schlaf des Fahrradpilgers.
Schon früh erwache ich am frostigen Morgen. Blauer Himmel, ein sonniger Tag steht bevor. Gut eineinhalb Stunden vergehen, bis das Zelt demontiert, getrocknet, eingewickelt, meine Fahrradtaschen verpackt und alles mit dem Rad ein solides Bündnis eingegangen ist. Ich werde während der Reise dafür eine Stunde brauchen, Zähneputzen inbegriffen, auch wenn ich nicht im Zelt übernachte.
Kurz vor dem achten Glockenschlag stehe ich an der Haustür von Familie Brandt, deren Frühstückstisch keine Wünsche offenlässt. Auch die sauerländischen Fußpilgerinnen treffen ein und wir genießen Brötchen, Tee und Kaffee bei anregenden Gesprächen mit unseren Gastgebern.
Sanft steigt der Fahrradweg auf der alten Eisenbahntrasse zum nächsten Höhenzug an, der Blick schweift weit über die hügelige Landschaft. Nach einer Dreiviertelstunde ist die Höhe erreicht und es geht in flotter Fahrt abwärts hinein nach Lüttich.
Beim Überqueren der Maas auf der Pont de Fragneé begrüßen mich vier posaunierende Goldengel im strahlenden Sonnenschein. Lüttich oder Liège, wie der Belgier sagt. Herzlicher kann kein Willkommensgruß sein. Der samstägliche Verkehr ist erträglich. Ich habe etwas Mühe, mich in der Stadt zurechtzufinden, doch nach einigen weiteren Kilometern ist auch die Tourist-Information erreicht. Die junge Dame an der Rezeption ist etwas überrascht, einen Jakobspilger vor sich zu haben, und verspricht sich zu kümmern, in zwei Stunden könne sie mehr sagen. Zeit, die Kathedrale zu besichtigen und den Weg zur St. Jakobskirche zu finden. In der Kathedrale zünde ich eine Kerze an und bekomme einen Stempel in der Trésor (Schatzkammer). Die Jakobskirche, südlicher im Stadtgebiet, liegt in einem malerischen Viertel. Eine gepflegte Grünfläche vor der Kirche, die ich über einen Seiteneingang betrete. In der Kirche herrscht Hochbetrieb, denn eine Chorprobe für ein abendliches Konzert steht an. Niemand fühlt sich für mich zuständig, aber ich kann mich in der Kirche frei bewegen und genieße die spätgotische Architektur mit der beeindrukkenden Gewölbedecke, während mein, vor der Kirche angeschlossenes Fahrrad, für Gesprächsstoff sorgt.
Etwas mehr als zwei Stunden später wird mir der Weg zur Jugendherberge empfohlen. Dort, in einem umgebauten, modernisierten Kloster, bekomme ich ein Bett, während mein Fahrrad im Hof übernachten muss. Im Vierbettzimmer sitzt schon ein Niederländer, der mir erzählt, wobei er sich sein geschundenes Knie salbt, dass er ebenfalls nach Santiago unterwegs ist und sich dafür drei Monate Auszeit genommen hat. Doch Sjoerd, sprich Sjurd, machen Knieprobleme zu schaffen. Schnell freunden wir uns an und nach einer Dusche wollen wir gemeinsam essen gehen. Es wird ein schöner Abend bei sommerlichen Temperaturen und gutem Essen in einem kleinen arabischen Restaurant.
Doch unsere Nachtruhe soll nicht erquickend sein. Das Vierbettzimmer, bisher nur von uns beiden genutzt, wird gegen Mitternacht von einem weiteren Gast belegt, der seine Zeit braucht, sein Bett über Sjoerd nach seinen Bedürfnissen herzurichten. Der schwergewichtige Mann schnarcht, wälzt sich im viertelstündigen Abstand lautstark von einer, auf die andere Seite. In der Nacht muss er mehrfach das Stockwerkbett plumpsend verlassen, um seine schwache Blase zu leeren und ächzend wieder das knarzende Bett zu entern.