Der Weg, den wir gehen müssen - Jo Hagen - E-Book

Der Weg, den wir gehen müssen E-Book

Jo Hagen

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Beschreibung

Ein junger Mann findet auf dem Jakobsweg in Spanien geheimnisvolle, beschriebene Blätter. Fasziniert von der Lebensgeschichte einer unbekannten Frau, beginnt er, die Puzzleteile zusammenzusetzen. Während seine Wanderung ihn tiefer in ihre Welt zieht, muss er sich seinen eigenen Herausforderungen stellen und lebensverändernde Entscheidungen treffen. Ein Fund, der sein Schicksal für immer verändern wird. Ein Roman über die Inspirationen des Jakobsweges und die Kraft von Geschichten.

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Für meine Enkel Nicolas, Jakob und Marie

Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Pilgersegen

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

I

Die morgendliche Frische lässt mich das Gewicht meines Rucksacks leicht nehmen. Die Wasserflasche gefüllt mit kaltem Quellwasser, der Wanderstock klappert auf dem Pilgerweg einen gleichmäßigen Takt. Ausgeschlafen und gut gefrühstückt habe ich spontan meinen Laufrhythmus gefunden. Es duftet nach frisch gemähtem Gras. Mohn und Kamille nicken am Wegesrand der Sonne zu, Vögel zwitschern ihr Morgenlied. Kein Auto, keine Menschen. Meine Mitwanderer von gestern sind schon unterwegs und waren enttäuscht, weil ich heute alleine laufen möchte. Die anstrengende Etappe des Vortages ist nur noch eine Episode. Stein im Schuh, Hinweisschild übersehen, Wasserflasche vergessen. Vor dreizehn Tagen, beim Aufbruch, war es ein bevorstehendes Abenteuer. Nun bin ich längst ein Teil des Jakobsweges. Die spanische Sonne steigt langsam höher. Früh Aufbrechen ist bei diesen Tagestemperaturen wichtig, denn mittags brennt die Sonne gnadenlos. Dann ein schattiges Plätzchen finden, die Wanderschuhe ausziehen, ausruhen. Oder in der erfrischenden Kühle einer Kirche sitzen und meditieren.

Warum unternehme ich so eine Reise? Ist das die Lust auf das Abenteuer? Sehnsucht nach Spiritualität? Der Wunsch, den Schatten von der Seele zu waschen? Was hat mich bewogen, diese Strecke zu wandern? Ich kann es nicht beschreiben. Eine stille Sehnsucht zog mich hinaus. Gegen Monas Widerstand, trotz vermeintlich wichtiger Argumente. Ich war entschlossen, diesen Weg zu gehen. Auch wenn ich immer noch nicht beantworten kann warum. Ist der Weg das Ziel?

Auf diesem Weg zählt nur der Tag, alles aus meinem sonstigen Leben liegt hinter mir, ist unwichtig, nur Schatten, ausgeblendet. Jetzt erlebe ich die Freiheit der Straße, mein ganz persönliches Roadmovie. Einen Fuß vor den anderen. Wandern, dem Ziel mit jedem Schritt etwas näher kommen. Schritt für Schritt. Unendlich - und jeden Abend bei der Tagesbilanz, folgt die positive Überraschung, es doch wieder geschafft zu haben.

Nicht immer fängt der Tag so entspannt an wie heute. Das Schnarchen in den Schlafsälen, Pilger, die bereits um vier Uhr morgens im Licht von Stirnlampen ihr Gepäck zusammenkramen. Mücken und andere Insekten, dürftiges Frühstück, wenn überhaupt. Wassermangel auf der Strecke, Blasen an den Füßen, der Rucksack drückt unter zu viel Gewicht.

Jeden Tag neue Bekanntschaften, mit denen ich aus der Pilgerherberge losziehe. Pilgerinnen und Pilger von allen Kontinenten und Glaubensrichtungen, immer die gleichen Fragen: Woher kommst du? Wo und wann bist du gestartet? Gehst du allein? Nicht immer gelingt es, die Laufgeschwindigkeiten zu synchronisieren. Der eine hat Blasen, läuft deswegen langsamer, der Anderen ist der Rucksack zu schwer und sie pausiert öfter, der Nächste ist sportlicher und schon bald nicht mehr zu sehen. Mitpilger, die man abends wieder in der Pilgerherberge treffen kann. Das gemeinsame Pilgermenü, die Gespräche, gegenseitige Hilfe und Tipps, kollektives Schnarchen im Schlafsaal. Jeder weiß um die täglichen Probleme.

Probleme? Habe ich hier auf diesem Weg Probleme? Schaffe ich die Tagesetappe? Wie wird das Wetter? Finde ich den richtigen Weg? Eine Wasserstelle? Die Alltagssorgen eines Jakobspilgers. Ich kümmere mich nur noch um den Weg, denke und plane für die Tagesetappe. Was war gestern? Was kommt morgen?

Mit jedem Schritt habe ich mich nicht nur räumlich von zuhause entfernt. Die Dinge, die mich dort bewegten, sind hier unwichtig, verblassen mit dem zunehmenden Abstand.

Laufen, laufen, mechanisch, nicht jammern, nicht die Schritte zählen, nicht die Kilometer berechnen, nicht auf die Uhr sehen. Einfach nur laufen und den schweren Rucksack ignorieren. Schau dir die Landschaft an, genieße das Wetter, egal ob es regnet oder die Sonne brennt. Die Natur ist paradiesisch. Immer den gelben Pfeilen nach, die mir den Weg weisen.

Meine Kondition hat sich gesteigert, ich bin kräftiger, fühle mich gesund. Trotz neun Kilo Gepäck auf dem Rücken laufe ich leicht und beschwingt den glatten Weg neben der Straße. Ich löse mich aus der meditativen Monotonie, die mich weitertreibt. Die Herberge ist schon aus meinem Blickfeld verschwunden. Weit hinter mir nur eine pilgernde Person.

Als Pilger läuft man nur dann gemeinsam, wenn man das möchte und gemeinsam einen Rhythmus findet. Heute genieße ich das Alleinsein. Darum habe ich mir nach dem Frühstück Zeit genommen und die anderen Pilger ziehen lassen. Da sind nur meine Gedanken, ich koste die Landschaft aus, konzentriere mich auf den Weg. Immer den gelben Pfeilen nach ...

II

Die kleine Kapelle am Weg schmiegt sich gemütlich in die Umgebung. Unter dem schattigen Vorbau sitzt eine alte Frau an einem kleinen Tisch. Nach dem Gruß hat sie schon den Stempel in der Hand. Ich nestele meinen Pilgerpass aus der wasserdichten Hülle, falte ihn auseinander. Ein ovaler, grüner Stempelabdruck kommt zu dem bunten Kaleidoskop. Wunderbare kleine Kunstwerke oder einfache wackelige Buchstaben. Rot, schwarz, blau und grün, je nach Farbe des Stempelkissens. Dazu das handschriftliche Datum.

Ich bedanke mich, nehme ein Blatt mit mehrsprachigen Erklärungen über die Kapelle, die ich durch das weit offen stehende zweiflügelige Portal betrete. Ein kühler Luftstrom empfängt mich in der Dunkelheit, an die sich die Augen erst gewöhnen müssen. Ich schiebe die Sonnenbrille nach oben in die Haare, mein Pilgerhut baumelt schon am Rucksack, den ich ächzend neben mich auf die Kirchenbank stelle. Einfach nur die Stille genießen. Langsam werden die Konturen des Raumes deutlicher. Der Altar, die Buntglasfenster, die Ausmalung der Gewölbe. Die Statue des heiligen Jakob ist leicht am Pilgerhut mit Jakobsmuschel und Wanderstab zu erkennen. Ich nehme einen Schluck aus meiner Aluflasche und strecke die Beine von mir. Die Ruhe in der kühlen Kapelle tut gut. Diese Augenblicke der stillen Betrachtung machen einen Teil des Jakobsweges aus.

Das Vibrieren des Handys unterbricht die meditative Besinnung. Den Klingelton habe ich abgestellt. Erst nach einigen Intervallen ein Blick auf das Display. Mona! Vibrierend verschwindet es wieder in der Tasche. Auf diesem Weg sollte die andere Welt außen vor bleiben. Das, was man dort für wichtig hält, ist hier nichts. Mona hat es noch nicht verstanden, sie ruft mich an, wenn der Wasserhahn tropft, die Mülleimer überquellen oder die Post einen Brief zu spät zustellt. Das zieht mich immer wieder aus meiner so heilsamen Ruhe! Einer Welt, die mit wenig auskommt. Einer Welt, die nur das Heute kennt! Das Vibrieren hört auf. Angespannt warte ich, ob es einen zweiten Versuch geben wird. Nach einer Minute entkrampfe ich mich wieder.

Mona! Seit drei Jahren meine feste Partnerin. Im Studium haben wir uns kennengelernt, erst später wiedergetroffen, da hat es bei uns gefunkt. Drei Jahre, die so schön anfingen. Heute kann ich nicht genau sagen, – trotz der vielen gemeinsamen Pläne – was unsere Liebe bedeutet.

Hinter mir höre ich Stimmen, drehe mich um. Eine Asiatin spricht mit der Stempelfrau. Ich wende mich wieder zum Altar, höre sie eintreten. Meine stille Pause ist vorbei. Ich stehe auf, schwinge den Rucksack auf die Schultern. Beim Herausgehen aus der Kapelle noch eine Münze in den Opferstock. Die Alte nickt freundlich und wünscht Buen Camino. Das Zirpen der Zikaden untermalt die flirrende Hitze. Ich schwenke auf den Weg ein. Nach jeder Pause muss ich erst wieder den richtigen Laufrhythmus finden. 200 Meter weiter liegt der erste Handzettel im grasigen Straßengraben neben dem Pilgerweg. Die Hitze steigt, ich zwinge mich weiter, kein Schatten. Getreidefelder flimmern, soweit das Auge reicht. Nach einigen Metern der nächste Zettel und weiter vorne noch einige im Graben. Wozu nehmen die Pilger die Informationsblätter der Kirche mit, wenn sie die gleich wieder wegwerfen? Erneut vibriert mein Handy. Mona ignoriert unsere Vereinbarung. Wir hatten vereinbart, dass ICH mich melde. Oft gibt es auf dem Weg kein Netz und sie kann mich nicht erreichen. Das half mir schon manches Mal als Ausrede. Warum schalte ich das Telefon nicht einfach aus? Die Navigation? Hier gibt es genug gelbe Pfeile, die mir den Weg weisen. Ärgerlich krame ich das Telefon aus der Tasche. »Hallo?«

»Guten Morgen, bist du schon unterwegs?«

»Die Herbergen schließen um acht und jetzt ist es zehn.«

»Hast du an den Geburtstag meiner Mutter gedacht? Sie würde sich über einen Anruf freuen. Mama fragt immer nach dir und wann du wieder da bist.«

»Nachher, wenn ich Mittagsrast mache«, knurre ich.

»Denk dran, dass sie immer nachmittags zum Grab von Papa geht. Dann kannst du sie nicht erreichen«, versucht Mona mich, auch aus der Ferne, zu organisieren.

Ihre Mutter, die mich nur notgedrungen akzeptiert und mit der ich in den drei Jahren nie warm geworden bin. Immer schwingt bei Besuchen und Gesprächen unausgesprochen mit, dass ich nicht der Traumpartner für ihre Tochter bin.

»Ich rufe sie an. Und jetzt muss ich weiter, es ist schon sehr heiß.«

»Pass auf dich auf und trink genug. Hast du dich ordentlich eingecremt? Annette war letzte Woche beim Hautarzt und der hat ihr wieder ein paar Stellen entfernen müssen, weil sie als Kind immer ungeschützt in der Sonne gewesen ist und ...«

»Mein Sonnenschutz hat Lichtschutzfaktor 50!«, schreie ich in das Handy und drücke die rote Taste, um das Gespräch zu beenden. Als ich das Telefon einstecken will, brummt es wieder. »Ist noch was?«, frage ich provozierend.

»Du brauchst doch nicht gleich so aggressiv zu reagieren. Man macht sich doch Gedanken.«

»Ich bin erwachsen.«

»Es ist doch nur, weil du so weit weg bist. Man weiß doch nicht, ob du an alles denkst«, fällt Mona jetzt in einen weinerlichen Ton.

»Ist schon gut«, entgegne ich versöhnlich. »Mach´ dir keine Sorgen. Ich rufe deine Mutter später an«, verabschiede mich und stecke das Handy ein. Nutzloses Gespräch. Meine gute Stimmung ist dahin. Und hier liegen schon wieder diese Blätter im Straßengraben. Es werden ja immer mehr. Merken die an der Kapelle nicht, dass die alle weggeworfen werden? Ich ziehe das Blatt, das ich mitgenommen habe, aus der Tasche und lese es beim Weitergehen. Beschrieben wird die Geschichte der Kapelle St. Jacobo Major, deren Gewölbeausmalungen, der Altar, das Figurenprogramm und die Buntglasfenster. Aus dem Augenwinkel sehe ich weitere Blätter am Straßenrand. Die Straße steigt jetzt an. Auf der Rückseite meines Blattes einige Skizzen der Kirche mit weiteren Erläuterungen und Herbergsempfehlungen für die nächste Etappe. Das Blatt verschwindet wieder in meiner Tasche, man kann es doch nicht einfach in die Landschaft werfen!

Am Wegesrand liegen weitere Blätter. Als die Straße und der Pilgerweg oben auf dem Hügel ankommen, liegt wieder ein ganzer Stapel Seiten im Straßengraben. So viele kann doch niemand mitgenommen haben. Vom Hügel entfaltet sich der Blick über die Landschaft mit einer goldgelben Ebene aus Getreidefeldern, im Dunst weit im Norden die hohen Berge des kantabrischen Gebirges. Die Straße schlängelt sich vor meinen Füßen durch Felder. Noch einige hundert Meter und dann kommen auch schattenspendende Bäume. Nur kurz stehen bleiben, etwas Luft schöpfen und aus der Wasserflasche trinken. Hoffentlich kommt bald ein Rastplatz mit Wasserstelle. Das inzwischen lauwarme Wasser bietet wenig Erfrischung. Der Weg ist jetzt nicht mehr asphaltiert, sondern fein geschottert und gut zu laufen. Wieder diese Blätter. Ich sehe genauer hin, bemerke den Unterschied zwischen meinem Infozettel aus der Kapelle und den hier massenhaft liegenden Blättern, die in der warmen Brise flattern. Hier liegen Seiten aus einem Ringbuch mit handschriftlichen Texten. Ich hebe eins auf. Eng, beidseitig beschrieben, in einer gleichmäßigen, etwas altmodischen Handschrift. Hier hat jemand lange Textpassagen zu Papier gebracht. Ich entziffere einige Sätze, hebe weitere Blätter auf.

... konnte ich kaum glauben, dass er wieder da war. Er stand wie ein Geist vor mir. Der, den ich für tot hielt und schon seit Jahren betrauerte, der stand jetzt leibhaftig vor mir ...,

Lese ich und nehme ein anderes Blatt.

... waren wir auf dem Weg dorthin nicht weitergekommen und mussten bleiben. Doch das Schicksal hatte noch weitere Prüfungen für mich ...

Was ist das? Eine Abenteuergeschichte? Die verstreuten Seiten sammele ich ein und fasse sie zu einem Stapel zusammen. Das Bücken ist mit Rucksack nicht so einfach. Ich nehme ihn vom Rücken, stelle ihn an den Wiesenrand und ramme den Wanderstock mit seiner Spitze ins Gras. Langsam wird der Papierstapel größer. Ich gehe zurück über die Hügelkuppe und sammele weitere Blätter auf. Die Asiatin aus der Kirche kommt den Berg hinauf und blickt nur kurz von ihrem Handy auf, als sie an mir vorbeiläuft. Soll ich zurück, bis fast zur Kapelle, um alle Blätter aufzuheben? Das würde bedeuten den Weg der letzten Stunde noch zweimal zu gehen. War das, was hier geschrieben stand, überhaupt so wichtig? Jemand hatte die Aufzeichnungen achtlos weggeworfen. Was geht mich dieser Text an? Wieder blicke ich auf ein Blatt:

Pedro gestattete mir, Brot zu backen, obwohl die Chancen für die Fertigstellung nur gering waren. Wir würden wieder beschossen werden, aber die Aussicht auf etwas Essbares, nach all den Wochen der Entbehrung, in denen wir nur Kräuter und Baumrinde hatten, war zu verlockend. Er spähte in der Dunkelheit durch den Türspalt in das Tal, während ich im Dunkeln, nur durch das Herdfeuer beleuchtet, das durch die Ritzen der Ofentür schien, den Teig knetete. Würden wir wegen des rauchenden Schornsteins entdeckt werden? Könnte uns das Herdfeuer verraten, wo doch schon Martín wegen der Glut einer vorschriftswidrig gerauchten Zigarette auf seinem Posten sterben musste? Das Holz in der Hütte war trocken und brannte gut, würde also keine starke Rauchfahne in der Dunkelheit erzeugen, die uns verraten konnte. Der Hunger und die Aussicht auf frisches Brot waren größer als die Vorsicht. Es würde nur einfaches Fladenbrot aus Wasser, Mehl und Salz, aber das war unseren leeren Mägen völlig egal.

Ich knetete den Teig in der Schüssel und formte daraus längliche, flache Laibe. Als ich die Ofentür öffnen musste, um die Brotlaibe hineinzuschieben, gab ich Pedro ein Zeichen, damit er die Tür der Hütte schloss, denn kein Feuerschein durfte hinaus dringen und uns verraten konnte. Danach war Pedro sofort wieder an der Tür. Inzwischen war es behaglich warm geworden in der fensterlosen Hütte hier in den Bergen, wo es nachts empfindlich kalt wurde, obwohl der Winter lange hinter uns lag. Endlich etwas Wärme und die Aussicht darauf ...

Was ich lese, zieht mich in seinen Bann. Ich suche das Anschlussblatt, finde es nicht. Die Blätter sind nicht nummeriert. Der Drang, mehr über die Geschichte zu erfahren und alle Seiten zu besitzen, treibt mich an, den Weg zurückzugehen. Mein Rucksack verschwindet unsichtbar hinter einem Busch. Eilig sammele ich weitere Bögen auf, raffe sie zusammen, vermeide zu lesen. Das Papier ist feucht, hat Grasflecken, aber nur wenige Seiten sind verschmutzt. Lange können sie hier nicht gelegen haben, wurden vielleicht heute Morgen aus einem fahrenden Auto geworfen.

Mein Rucksack ist noch da. Kein anderer Jakobspilger weit und breit. Die Mittagshitze sticht, der Rucksack drückt. Der Weg wartet. Gottlob geht es jetzt bergab in die Ebene. Weitere Blätter liegen schon vor mir im Straßengraben. Mühevoll beuge ich mich hinunter und hebe sie auf. Plötzlich ein Sack aus dickem braunem Packpapier, aus dem mehr Manuskriptseiten hervorquellen. Ich greife hinein und habe noch einen Stapel Seiten in der Hand. Es rieselt etwas Weißes, es klebt zwischen schweißigen Fingern. Zucker! Jetzt fällt mir der Aufdruck auf dem Papiersack ins Auge: AZÚCAR BLANCO.

Natürlich! Azúcar ist Zucker und blanco bedeutet weiß. Also weisser Zucker. Beim Schütteln des leeren Papiersacks rieseln Zuckerkristalle ins Gras. Alle gesammelten Blätter hineinstopfen und weiter marschieren. Da hinten unter den Bäumen kann ich bestimmt Rast machen und die Mittagshitze vorüberlassen.

III

Der Rastplatz zwischen den schattenspendenden Bäumen hat Tische und Bänke aus schwerem Granit, die zweckmäßig, aber wenig bequem sind. Einige Pilger sitzen und schwatzen beim Essen. Ich strecke mich im Gras aus, den Rucksack im Rücken lese ich im gefundenen Manuskript. Die Geschichte fasziniert mich und lässt mich das übliche Mittagsritual mit Essen und Schlafen vergessen. Bei einigen Seiten gelingt es mir, zu verstehen.

... kärgliches Mahl, aber froh, etwas Warmes im Magen zu haben. Sie hatte das aufgetischt, was sie hatte und wusste nicht, wovon sie am nächsten Tag satt werden sollte. Wir drei ziehen noch vor dem Morgengrauen los, um keinen Verdacht auf sie zu lenken. Es war alles abgesprochen, was nötig war, doch wir sagten ihr nichts über unser Ziel und weitere Zusammenhänge, damit sie uns im Falle eines Verhörs nicht verriet. Auch uns hatte man nur die Dinge anvertraut, die wir wissen mussten. Was war das für eine Welt. Manchmal sehne ich mich zurück in die Zeit auf dem Gutshof. Es war hart und wir wurden damals nicht viel besser behandelt als das Vieh, aber unsere Tage verliefen gleichförmig und wir litten keinen Hunger.

Ich blicke auf und merke, dass ich auf dem kleinen Rastplatz alleine bin. Wie lange habe ich hier im Gras gesessen und in den ungeordneten Blättern gelesen? Die Mittagshitze ist vorüber. Es wird Zeit, weiter zu gehen, um meine Tagesetappe bis zur nächsten Pilgerherberge zu schaffen. Manchmal sind die Herbergen schon am frühen Nachmittag voll. Die Manuskriptblätter stapele ich sorgfältig und stecke sie in den Zuckersack. Das Bündel quetsche ich in meinen Rucksack, den ich, noch etwas in Gedanken, wieder schultere. War der immer so schwer?

Fast hätte ich wieder meine Wasserflasche im hohen Gras liegenlassen. Gestern hat sie mir gottlob eine Pilgerin mitgebracht, die sie gefunden hatte. Ich fülle die Flasche am Wasserhahn auf und marschiere weiter. Die Sonne brennt auf den schattenlosen Weg. Doch in der Ferne sehe ich Bäume und einen Kirchturm mit einem Storchennest. Auf der Karte finde ich den Ort nicht, gedanklich bin ich noch beim Manuskript. Wird noch eine Stunde dauern, bis ich das Dorf erreiche. Meinen Laufrhythmus muss ich erst wieder finden. Einen Fuß vor den anderen. Schön gleichmäßig. Nicht auf die Uhr schauen. Je öfter man die Zeit abfragt, umso langsamer vergeht sie. Die Uhr holt mich in eine andere Zeit. Eine Zeit, die strukturiert und durchgeplant ist.

Immer, wenn ich anfangen will, über den schweren Rucksack, die schmerzenden Füße, die brennende Sonne oder den strömenden Regen zu jammern, besinne ich mich und betrachte die Landschaft bewusster. Sauge sie in mich auf, oftmals werfe ich auch einen Blick auf den zurückgelegten Weg. Dann bin ich dankbar und betrachte meinen Weg nochmals aus einer anderen Perspektive. Vielleicht sollten wir im Leben auch mehr Vergleiche anstellen zwischen unseren Zielen und unseren Wegen. Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?

Jäh zerreißt ein Klingelton meine Gedanken. Mona! Ich habe ihre Mutter noch nicht angerufen! »Ja?«

»Du hattest mir versprochen Mama anzurufen und zu gratulieren!«, vorwurfsvoll macht sie eine Pause, wartet auf eine Erklärung.

»Ich hatte noch keine Zeit, ich habe gelesen ...«

»Du hattest doch Zeit beim Wandern! Wieso gelesen? Jetzt ist Mama mit ihren Freundinnen unterwegs und ist erst abends zurück.«

»Mona, vielleicht erwische ich sie ja später noch ...«

»Wo hast du nur deinen Kopf? Du bist doch nicht überlastet. Interessiert es dich denn gar nicht, was dein Anruf Mama bedeutet?«

Stille. »Bist du noch da? Hallo?« Das Gespräch ist beendet. Ob ich in einem Funkloch bin oder Mona einfach aufgelegt hat, kann ich nicht feststellen. Ich stecke das Handy ein und gehe weiter.

Ein Schild weist auf eine Herberge in zwei Kilometern Entfernung hin. Zwei Kilometer! Noch zwei Kilometer! Eine weitere knappe halbe Stunde für meine müden Füße. Meine Gedanken sind bei den Blättern im Rucksack. Ich wandere weiter die schmale Straße entlang. Ein gelber Pfeil weist mir den Weg.

Verschwitzt und ausgepumpt erreiche ich die kleine Ansiedlung. Die wenigen Häuser schmiegen sich an den Hang, ein schmaler holpriger Weg schlängelt sich hindurch. Vor einem heruntergekommenen Haus steht eine Bank, unter der ein Hund Wanderstiefel und ein Gewirr aus Wanderstöcken bewacht. Ein handgemaltes Schild weist das Haus als Albergue aus. Der Hund knurrt, als ich auf die offenstehende Tür zugehe und eintrete. In einer spartanisch eingerichteten Stube sitzen Pilger mit verschwitzten Köpfen auf langen Bänken zwischen ihren Rucksäcken, löffeln gierig Suppe. Es riecht nach Fett und Schweiß. In einer Ecke ist die Küche, dort schöpft eine mütterliche Frau am Herd Suppe auf einen Teller. Sie schaut zu mir herüber, schüttelt bedauernd den Kopf. »Albergue completo«, sagt sie nur und widmet sich wieder der Suppe. Die Pilger löffeln schweigend, ein oder zwei blicken kurz auf und zucken bedauernd mit den Schultern. Das Mitleid gegenüber denen, die hier keine Unterkunft bekommen, ist sparsam. Die hier einen Schlafplatz gefunden haben, sind froh, unter der Gewinnern des Tages zu sein. »Versuchs mal ein paar Kilometer weiter, da muss auch noch eine Herberge sein«, ruft einer Suppe löffelnd herüber. Ein anderer nickt. »Ist aber auch nicht sicher, ob dort was frei ist. Auf dem Abschnitt hier gibt es wenige Herbergen.« Dann widmen sich beide wieder der Suppe und interessieren sich nicht mehr für mich.

Ich lasse mich draußen auf die Bank fallen und schäle mich aus den Trageriemen des Rucksacks. Der Hund hebt den Kopf und schaut mich mitleidig aus dunklen Augen an. In mir hallen die Ratschläge nach: Versuchs mal ein paar Kilometer weiter ... ist aber auch nicht sicher!

Was soll ich jetzt unternehmen? Obwohl ich heute weniger Kilometer gelaufen und deutlich unter meinem Tagesdurchschnitt geblieben bin – ich kann nicht mehr! Jetzt ärgere ich mich, so viel Zeit auf diese Manuskriptseiten verschwendet zu haben. Eine Dusche, etwas zu essen und einen Schlafplatz, sei er auch noch so bescheiden. Ich kann mir schon vorstellen, wie in dieser Herberge der Schlafsaal aussieht. Ein großer Raum, vollgestopft mit Stockwerkbetten, wenn man Glück hat, halbwegs saubere Matratzen oder Einwegüberzüge aus Papier für die Matratze. Vielleicht eine notdürftige Dusche und ein Waschbecken, das sich Pilger und Pilgerinnen teilen. Nachts kollektives Schnarchen. Bereits um vier Uhr klauben die ersten Pilger beim Licht der Stirnlampe ihre Utensilien zusammen, um vor der Mittagshitze einen großen Teil des Weges zu schaffen. Auch wenn das hier jeglichen Komfort vermissen lässt, es ist besser als kein Quartier! Die Alternative, in der freien Natur zu übernachten, ist für mich wenig verlockend.

Während ich noch überlege, was ich tun soll, tritt eine junge, etwas füllige Frau in Cargohose und T-Shirt aus der Tür. Die schwarzen Haare hat sie am Hinterkopf zusammengesteckt. Sie hat eine Zigarettenschachtel in der Hand, nestelt eine Zigarette und Feuerzeug heraus. Sie inhaliert den Rauch tief, bläst ihn dann in den Himmel, wobei sie die Augen entspannt schließt. In Gedanken versunken lehnt sie am Türpfosten, zieht dann ihr Handy aus der Hosentasche und wirft einen Blick auf das Display, schüttelt den Kopf, steckt es wieder ein. Dann schaut sie zu mir, hält mir die Zigarettenschachtel hin. Ich lehne ab.

»Thank you, no smoking.«

»Germany?«, fragt sie. Ich nicke. Sie zeigt auf sich, stellt sich als Isabella aus Mailand, Italien vor. Wir sprechen einige Sätze auf Englisch mit dem üblichen woher, wo wann gestartet, wie viel Zeit hast du und gehst du die ganze Strecke bis Santiago? Bevor ich meine Quartiersorgen ansprechen kann, erzählt sie mir, dass sie fast auch weitergehen musste, dann aber noch für deutlich mehr Geld ein Doppelzimmer mit kleinem Bad von der Herbergsmutter angeboten bekam, das sie alleine belegt. Wenn ich wohlerzogen wäre, könnte ich das andere Bett haben, gibt sie mir englisch radebrechend zu verstehen ...

Nicht ganz ausgeschlafen sitze ich beim Frühstück und lasse es mir schmecken. Isabella hat geschnarcht! Doch ich bin ihr sehr dankbar. Das war gestern einer der Momente, in denen man glaubt, Sankt Jakob habe einen Engel geschickt. Eine lange Dusche, einen großen Teller kräftiger Suppe mit allerlei Gemüse, vor allem Kohl und Rindfleisch, dazu einen halben Liter Rotwein. Die Welt war wieder zurechtgerückt. Um 21 Uhr lag ich neben Isabella im Bett und war eingeschlafen, bevor ich irgendwelche Gedanken auf die kuriose Situation oder fremde weibliche Reize verschwenden konnte.

Der Blick aufs Display zeigt vier vergebliche Anrufe von Mona an. Der Anruf bei Monas Mutter mit verspäteter Gratulation verläuft am frühen Morgen unterkühlt. Sie wirft mir vor, Mona zu lange allein zu lassen und nur an mich zu denken. Mona brauche mich. Wie es mir geht oder wie meine Pilgerreise verläuft, interessiert sie nicht.

Isabella kommt aus dem Flur, der zu unserem Zimmer und dem Schlafsaal führt, an mir vorbei, nickt mir zu und macht mit zwei Fingern am Mund das Zeichen, was bedeutet, dass sie schnell ihre Frühstückszigarette inhalieren will.

Ich schultere meinen Rucksack und denke jetzt wieder an das Manuskript im Zuckersack. Dabei überkommt mich der Wunsch, weiter zu lesen. Doch ich mache mich auf den Weg. Vor der Tür verabschiede ich mich mit herzlichen Worten von Isabella. Vielleicht treffen wir uns noch mal auf dem Weg. Sie hat mir gestern aus der Patsche geholfen, wofür ich sehr dankbar bin. Die Kosten für das Zimmer haben wir uns geteilt. Win-Win-Konstellationen gibt es eben auch auf dem spirituellen Jakobsweg und Teilen hat christlichen Ursprung.

Der Morgen ist noch frisch, doch die Sonne fängt schon an, auf der Haut zu brennen. Ich habe vergessen, Arme, Beine, Gesicht und Nacken, die der Sonne ausgesetzt sind, vor dem Abmarsch einzukremen. Lichtschutzfaktor 50 dreimal täglich. Im Norden grüßen die schneebedeckten Bergspitzen des kantabrischen Gebirges. Ich habe mich gestern nicht mehr mit der Tagesetappe beschäftigt. Die Karte und mein Tagebuch sind im Rucksack geblieben. Ich gehe einfach weiter den gelben Pfeilen nach. Weit vor mir laufen zwei Pilger, gebeugt unter ihren Rucksäcken. Ich drehe mich kurz um. Niemand hinter mir. Meine Gedanken beschäftigen sich wieder mit dem Manuskript. Erst jetzt, nachdem ich schon viele Seiten gelesen habe, fällt mir auf, dass das Manuskript in deutscher Sprache verfasst ist. Ich habe das wie selbstverständlich genommen, aber hier in Spanien im Straßengraben einen Stapel Seiten in deutscher Sprache zu finden. Wie kommt eine deutsche Handschrift nach Spanien? Wer hat sie abgefasst? Wer hat sie achtlos weggeworfen? Ich muss mehr lesen, um darauf Antworten zu bekommen. Vielleicht sollte ich beim Laufen einige Seiten überfliegen. Ich verwerfe den Gedanken, denn dann brauche ich mich auch nicht mehr über die jungen Asiaten lustig zu machen, die einen Fuß vor den anderen setzen, dabei auf ihr Handy-Display schauen und sich nicht für Menschen und Landschaft interessieren. Mein Handy lässt, wie aufs Stichwort, einen Piepton für ›Nachrichteneingang‹ hören. Bevor ich es aus der Tasche ziehe, weiß ich, dass es eine vorwurfsvolle Nachricht von Mona ist. Obwohl ich keine Lust darauf habe, schaue ich aufs Display. ›Hallo Pilger, wir haben gestern am Stammtisch gesessen und uns gefragt, ob du uns vergessen hast. Melde dich mal, wir wollen wissen, wie es dir geht und wo du bist. deine Mittwochsrunde‹.

Erleichtert lache ich und tippe schnell eine kurze Antwort. Meine Freunde treffe ich immer mittwochs abends und sie sind neugierig, ob ich den Weg wohl schaffen werde. Als IT-Manager sitzt man vorwiegend am Bildschirm und da ich zudem nicht besonders sportlich bin, haben die Zweifel meiner Freunde durchaus Berechtigung. Doch bisher ist es besser gelaufen, als ich es selbst glaubte. Vielleicht haben mir die Trainingsstunden im Fitnessstudio doch etwas geholfen, die Tagesetappen mit Rucksack zu schaffen. Viel Vorbereitungszeit hatte ich nicht, denn als ich meinen Job gekündigt habe, wurde ich umgehend freigestellt. In den drei Monaten Freizeit, bis ich die neue Stelle antreten kann, wollte ich etwas Sinnvolles tun. Der Jakobsweg hatte mich schon immer interessiert. Jetzt war die Gelegenheit, sich Zeit dafür zu nehmen.

Ich setze eine Nachricht an die Mittwochsgruppe ab. Und weil ich gerade dabei bin, auch noch eine Weitere an Mona, mit dem Hinweis, dass es gestern Quartierschwierig- keiten gab und der Anruf bei ihrer Mutter vollzogen ist. Jetzt ist aber Schluss mit Handy. Gerade will ich den Knopf zum Abschalten drücken, als es in meiner Hand vibriert. Mona!

»Bist du ok? Du hast hoffentlich noch ein Bett bekommen?«

»Ja, erst gab es nichts, und ich hatte mich schon auf Schlafsack in der freien Natur ohne Dusche, Abendessen und Frühstück eingestellt.« Bewusst dramatisiere ich mit einigen Sätzen die Situation, erzähle von Wassermangel, nächtlicher Bedrohung durch wilde Hunde, schwieriges Vorankommen durch unwegsames Gelände. Und dann, als ich fast den Entschluss fasse, aufzugeben, der Lichtschein der ersehnten Herberge auftaucht.

»Und was hast du dann gemacht? Das ist ja schrecklich! Warum tust du dir das an?«

»Ich habe mir das Zimmer mit einer Italienerin geteilt«, antworte ich wahrheitsgemäß und bereue es umgehend.

»Wie bitte? Du hast mit einer fremden Frau ... Ich ... Das ist doch jetzt nicht wahr, oder?«

»Ganz harmlos, ich war ja froh, überhaupt eine Unterkunft gefunden zu haben.«

»Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Ich fasse es nicht. Viel Vergnügen mit der Tussi.«

Das Gespräch ist beendet. Ich bleibe stehen, schaue noch einen Moment auf das Display. Warum bin ich nicht verärgert? Ich fühle mich erleichtert, horche in mich hinein. Ich allein weiß, dass es keinen Grund für irgendwelche Anschuldigungen und Eifersuchtsszenen gibt. Mona liegt gründlich falsch, meine Worte als Untreue auszulegen. Und ich spüre etwas hämische Freude, sie zur Weißglut gebracht zu haben. So weit ist es mit uns gekommen. Ich schalte das Handy ab, fasse den knotigen Wanderstock etwas fester und marschiere weiter.

Das Manuskript in meinem Rucksack verdrängt andere Gedanken. Es ist doch kurios, warum finde ausgerechnet ich in einem spanischen Straßengraben eine deutsche Handschrift? Wer hat die Zeilen geschrieben? Es kann eigentlich nur eine Frau gewesen sein, so, wie sie das Brotbacken beschreibt. Warum und für wen schreibt sie das auf? Ja wieso landet das dann hier alles in einem Straßengraben? Viele Fragen, vielleicht bekomme ich darauf beim Lesen einige Antworten. Mechanisch setze ich meine Schritte voreinander und verliere mich in Spekulationen über die Manuskriptseiten.

IV

Ich habe nicht gemerkt, dass sich der Himmel eingetrübt hat und am Horizont dunkle Wolkentürme stehen. Aber die sind noch weit weg. Obwohl die Sonne nicht mehr vom Himmel brennt, ist es heiß und stickig. Mein T-Shirt ist durchgeschwitzt, die Gurte des Rucksacks fangen an zu scheuern. Der Weg zieht sich an einem kleinen Hang hoch. Als ich auf der Kuppe einer Hügelkette ankomme, kann ich weit in die Landschaft schauen, wo der hell geschotterte Weg sich weiter durch die grünen Felder windet und in der Ferne verschwindet. An einer Kreuzung steht eine Steinsäule mit einem verzierten Wegkreuz.

Daneben sitzt eine junge Frau auf dem grasigen Wegesrand, spielt versunken auf einer kleinen Gitarre und singt leise dazu. Das Bild strömt Ruhe aus, hier möchte auch ich eine Pause machen. Ich trete näher, halte aber respektvollen Abstand, um die meditative Stimmung nicht zu stören. Unter ihrem Strohhut mit der breiten Krempe lugt kurzes weizenblondes Haar hervor. Ihr glattes Gesicht mit den blauen Augen lächelt mich an, während sie auf den Saiten zupft und leise singt. Sie trägt eine blaue Hose, die kurz unter den Knien aufhört und schlanke, braune Waden freilässt. Die klobigen Wanderstiefel, mit dicken Socken, die sie über die Stiefelschäfte heruntergekrempelt hat, wollen nicht so richtig zu ihrer schlanken Figur passen. Sie schaut zu mir, lächelt und nickt, was ich als Einverständnis betrachte, mich in ihre Nähe zu setzen. Ich lasse mich ins Gras fallen, den Rucksack als Rückenlehne. Mit meinem Hut fächele ich mir Luft zu. Der leichte Luftzug tut gut. Sie hat ihr kleines Lied beendet, sagt: »Hallo«, und lächelt mich an. Ich grüße zurück und wir wechseln einige Sätze auf Englisch. Wir erzählen eine gute halbe Stunde so vertraut, als würden wir uns schon lange kennen. Dabei unterlegt sie unser Gespräch zupfend mit einigen leisen Akkorden. Jennifer fasziniert mich, wie sie unbekümmert an den Saiten zupft, mich von Zeit zu Zeit anlächelt, mit ihren wasserblauen Augen strahlt und mit ihrer dunklen Stimme summt. Sie fängt an zu erzählen, wobei sie weiter auf der Gitarre improvisiert. Sie erklärt mir, dass die Gitarre eine Ukulele ist. Ein kleines, handliches Instrument. Lange hat sie gespart, um sich die Europareise leisten zu können. Den Jakobsweg zu laufen, alle Zwänge und Konventionen hinter sich zu lassen, ist nach Studium und ersten Schritten im Beruf ihr Herzenswunsch. Während sie sich mir weiter anvertraut, bewundere ich ihre Art zu sprechen, glaube einen Duft zu erschnuppern, der so erfrischend und anlockend zugleich ist. Sie wirkt sehr selbstsicher, dennoch löst sie bei mir den Drang aus, sie zu beschützen. Unauffällig rücke ich näher zu ihr. Einem forschenden Blick folgt die Frage nach meinen Beweggründen, den Jakobsweg zu gehen. Weitschweifig erzähle ich von beruflich abschalten, Landschaft erleben, Selbstfindung und merke bald, wie sehr ich mich in meine eigenen Widersprüche verstricke.

Unter der Krempe ihres Strohhutes hervor wirft sie mir wieder diesen intensiv forschenden Blick zu, der in mir wie in einem Buch zu lesen scheint. Knapp, sagt sie dann, sie habe auch so eine Krise. Spontan will ich antworten, es gäbe bei mir keine Krise, da schiebt sie nach, sie suche, genau wie ich, nach einem Sinn, ihr Lebensweg stehe an einem Tor, das aufgestoßen werden will. Verlegen blicke ich zu Boden. Vor weniger als einer halben Stunde habe ich sie getroffen und sie kennt mich besser als ich mich selbst.

Jennifer ist aus Neuseeland und nimmt sich viel Zeit für die Reise. Es ist so friedlich, die Vögel zwitschern, Jennifer fährt mit geübten Fingern über die Saiten ihrer Ukulele. Ihre dunkle, melodische Stimme klingt warm und innig. Ich höre ihr gerne zu.

Sie spricht davon, wie wenig sie zum Leben braucht. Jennifer hat nur das, was sie mit sich tragen kann. Kann man so dauerhaft sein Leben gestalten? Doch Jennifer lebt auch in ihrer Heimat Neuseeland sehr bescheiden und reduziert. Sie versichert mir, dass sich bisherige Alltagsschwierigkeiten als Luxusproblem erweisen und keine Last mehr sind. Ich stimme ihr zu, denn hier auf dem Camino habe ich gelernt, bewusster mit den wesentlichen Dingen des Lebens umzugehen. Noch vor wenigen Wochen hätte ich nicht vermutet, tagelang ohne Computer auszukommen, musste mich schweren Herzens von dem Gedanken trennen, meinen Laptop mitzunehmen. Mein hochgerüstetes Smartphone habe ich inzwischen die meiste Zeit ausgeschaltet – und vermisse nichts!