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Einer der bewegendsten deutschen Briefe und seine Folgen. Am 23. Mai 1920 findet Karl Kraus in der Wiener "Arbeiter-Zeitung" einen Brief Rosa Luxemburgs aus dem Breslauer Frauengefängnis. Sie beschreibt, wie sie durch die Gitter ihres Zellenfensters beobachtet, dass rumänische Büffel als Zugtiere von Soldaten bis aufs Blut geschlagen und gequält werden. Wenig später druckt er den Brief in der "Fackel" ab. Als eine anonyme Briefschreiberin gegen die "larmoyante Beschreibung" dieses Briefes an Sonitschka Liebknecht protestiert, antwortet Karl Kraus mit einer vehementen Polemik, die Walter Benjamin 1931 ein "Bekenntnis" nennt, "an dem alles erstaunlich" sei; auch "daß man diese stärkste bürgerliche Prosa des Nachkriegs in einem verschollenen Heft der "Fackel" zu suchen habe". Der "Büffelbrief" und seine Weiterungen werden hier mit einem Nachwort von Friedrich Pfäfflin mitgeteilt – bis hin zu dem Echo, das Rosa Luxemburgs Brief in den späten sechziger Jahren in einem Gedicht von Paul Celan findet.
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Seitenzahl: 58
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Karl Kraus | Rosa Luxemburg
Büffelhaut und Kreatur
Die Zerstörung der Naturunddas Mitleiden des Satirikers
Herausgegebenmit einem Nachwort vonFriedrich Pfäfflin
Auf dem Frontispiz: Rosa Luxemburg in Berlin[?]
»... ich lächle im Dunkeln dem Leben, wie wenn ich irgend ein zauberndes Geheimnis wüßte ...«
Rosa Luxemburg an Sophie Liebknecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2022
3., durchgesehene und ergänzte Auflage 2022
Die beiden ersten Auflagen erschienen 2009
in der Friedenauer Presse Katja Wagenbachs, Berlin
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Marion Wiebel, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-5211-7
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4885-1
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4884-4
Karl Kraus über einen Brief von Rosa Luxemburg›Die Fackel‹ 546-550 v. Juli 1920.
Rosa Luxemburg an Sophie LiebknechtFrauengefängnis Breslau, vor dem 24. Dezember 1917
Anonymer Brief an Karl KrausInnsbruck, 25. August 1920
Karl Kraus’ Antwort an eine Unsentimentale›Die Fackel‹ 554-556 v. November 1920
Nachwort
Anmerkungen
Literatur
Abbildungsnachweise
Am 28. Mai 1920 liest Karl Kraus einen Brief der Rosa Luxemburg aus dem Frauengefängnis in Breslau im Berliner Bechstein-Saal vor. Er wiederholt die Vorlesung wenig später in Dresden und Prag: Als er die Programme wie gewöhnlich in der nächsten ›Fackel‹ [546-550 vom Juli 1920, S. 5] dokumentiert, berichtet er von dem Eindruck, den dieses Dokument auf seine Zuhörer gemacht habe:
Der tiefste, je in einem Saal bewirkte Eindruck war die Vorlesung des Briefes von Rosa Luxemburg, den ich am Pfingstsonntag in der Arbeiter-Zeitung gefunden und auf die Reise mitgenommen hatte. Er war im Deutschland der unabhängigen Sozialisten noch völlig unbekannt. Schmach und Schande jeder Republik, die dieses im deutschen Sprachbereich einzigartige Dokument von Menschlichkeit und Dichtung nicht allem Fibel- und Gelbkreuzchristentum zum Trotz zwischen Goethe und Claudius in ihre Schulbücher aufnimmt und nicht zum Grausen vor der Menschheit dieser Zeit der ihr entwachsenden Jugend mitteilt, daß der Leib, der solch eine hohe Seele umschlossen hat, von Gewehrkolben erschlagen wurde. Die ganze lebende Literatur Deutschlands bringt keine Träne wie die dieser jüdischen Revolutionärin hervor und keine Atempause wie die nach der Beschreibung der Büffelhaut: »und die ward zerrissen«. Beim Vorlesen habe ich durch Weglassung des hier eingeklammerten an sich nicht weniger reizvollen Absatzes literarischen Inhalts in dieser Welt der Liebe die Betrachtung der Pflanzen und Tiere einheitlicher als eine Umarmung der Natur hervortreten lassen und das Postskriptum (wie hier) ohne die Unterschrift unmittelbar an das Ende geschlossen.
Der Brief an die aus Rostow am Don stammende Kunsthistorikerin Sophie Liebknecht geb. Ryss (1884-1964), die zweite Frau Karl Liebknechts, wird hier in seiner ganzen Länge mitgeteilt; den Anfang und Schluss des Briefes konnte Karl Kraus bei seiner Lesung nicht kennen, denn er war nicht im Ganzen veröffentlicht worden. Seine Vorlesung setzt mit dem vierten Absatz ein, wo von Karl Liebknechts Haft die Rede ist.
[Breslau, vor dem 24. Dezember 1917]
Sonitschka, mein Vöglein, ich habe mich so über Ihren Brief gefreut, wollte gleich antworten, hatte aber gerade viel zu tun, wobei ich mich sehr konzentrieren mußte, deshalb durfte ich mir nicht den Luxus gestatten. Dann aber wollte ich schon lieber auf Gelegenheit warten, weil es doch so viel schöner ist, zwanglos ganz unter uns plaudern zu können.
Ich dachte an Sie jeden Tag beim Lesen der Nachrichten aus Rußland und stellte mir mit Sorge vor, wie Sie bei jedem unsinnigen Telegramm grundlos in Aufregung geraten. Was jetzt von drüben kommt, sind meist Tartarennachrichten, und das stimmt doppelt für den Süden. Den Telegrammagenturen liegt es (hüben wie drüben) daran, das Chaos möglichst zu übertreiben, und sie bauschen jedes unbeglaubigte Gerücht tendenziös auf. Bis die Dinge sich klären, hat es gar keinen Sinn und Grund, unruhig zu sein, so ins Blaue hinein, auf Vorschuß. Im allgemeinen scheinen die Dinge ganz unblutig zu verlaufen, jedenfalls sind all Gerüchte von »Schlachten« unbestätigt geblieben. Es ist einfach ein erbitterter Parteikampf, der ja in der Beleuchtung bürgerlicher Zeitungskorrespondenzen stets wie ein losgelassener Irrsinn und eine Hölle aussieht. Was nun die Judenpogrome betrifft, so sind alle dergleichen Gerüchte direkt erlogen. In Rußland ist die Zeit der Pogrome ein für allemal vorbei. Dazu ist die Macht der Arbeiter und des Sozialismus dort viel zu stark. Die Revolution hat die Luft drüben so gereinigt von Miasmen und von der Stickluft der Reaktion, daß Kischiniow für immer passé ist. Eher kann ich mir – in Deutschland noch Judenpogrome vorstellen … Jedenfalls herrscht die dazu passende Atmosphäre der Niedertracht, Feigheit, Reaktion und des Stumpfsinns. In dieser Hinsicht können Sie also für Südrußland völlig beruhigt sein. Da sich die Dinge dort zu einem sehr scharfen Konflikt zwischen der Petersburger Regierung und der Rada zugespitzt haben, so wird auch die Lösung und die Klärung sehr bald eintreten müssen, worauf man die Situation wird überblicken können. Von allen Standpunkten hat es absolut keinen Sinn, keinen Zweck, daß Sie sich aufs Ungewisse vor Angst und Unruhe verzehren. Halten Sie sich doch tapfer, mein kleines Mädchen, Kopf hoch und ruhig bleiben. Es wird sich noch alles zum Besseren wenden, nur nicht gleich immer das Schlimmste erwarten! …
Ich hoffe fest darauf, Sie bald, im Januar, hier schon zu sehen. Nun heißt es, Mat. W. wolle im Januar kommen. Mir wäre es schwer, auf Ihren Besuch im Januar zu verzichten, aber ich kann natürlich nicht disponieren. Wenn Sie erklären, Sie können nicht anders als im Januar, dann bleibt es vielleicht dabei; vielleicht kann Mat. W. im Februar? Ich möchte jedenfalls bald wissen, wann ich Sie sehe.