Bullet in my Heart - Romy Hart - E-Book

Bullet in my Heart E-Book

Romy Hart

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Beschreibung

Ein Rocker Girl, das ihrer Gang den Rücken kehrt. Ein Jura-Student, der von einer Musik-Karriere träumt. Zwei verwundete Herzen, die sich gegenseitig Heilung oder Verderben bringen. Die 19-jährige Vee ist fest entschlossen, dem heruntergekommenen Trailerpark zu entfliehen und ihr altes Leben in der Rocker-Gang hinter sich zu lassen. Josh will sein Jura-Studium abbrechen, weil Musik seine wahre Leidenschaft ist. Liebe steht bei beiden nicht auf dem Plan. Doch als Vee in der Bar der Green Hills University kellnert, während Josh als Singer Songwriter auftritt, geraten ihre Grundsätze unvermittelt ins Wanken. Sein Lied trifft Vee mitten ins Herz. Nur reicht das aus, um sich dem anderen öffnen zu können? Kann eine Liebe wider Willen stark genug sein, um mit allem zu brechen, das vorher das Leben bestimmt, und Familienbande zusammengehalten hat? Ein New-Adult-Roman, der das quälend schöne Ringen um Liebe und Verlust für ein paar kostbare Lesestunden zu deinem eigenen Herzschmerz macht.

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Romy Hart

Bullet in my Heart

 

 

 

 

 

 

Romy Hart

Bullet in my Heart

 

Instagram: @romy_hart

TikTok: @romy.hart

 

Content Notes:

Verlust von engen Familienangehörigen, Trauer und Trauerverarbeitung, Krebserkrankung, Armut, Bandenkriminalität, Panikattacken, Drogen- und Alkoholkonsum, Sucht, körperliche Gewalt, häusliche Gewalt und Sex (einvernehmlich).

 

1. Auflage 2023

Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2023

Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing

Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden.

 

www.novelarc.de

 

Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München

Lektorat & Korrektorat: worttief-Lektorat (Mareike Westphal)

Buchsatz: Novel Arc Verlag

Credits Envato Elements: timonko, hellokisdottir

 

Klappenbroschur: 978-3-98595-454-4

E-Book Ausgabe: 978-3-910238-14-5

 

 Vorwort

Liebe Lesende,

 

um allen das bestmögliche Lesererlebnis zu ermöglichen, informiere ich euch in diesem Vorwort über Inhalte des Buches, die womöglich triggern. Es ergeben sich Spoiler für die Handlung.

Folgende Themen werden in diesem Roman behandelt und manchmal auch nur angedeutet: Verlust von engen Familienangehörigen, Trauer und Trauerverarbeitung, Krebserkrankung, Armut, Bandenkriminalität, Drogen- und Alkoholkonsum, Sucht, körperliche Gewalt, häusliche Gewalt, Panikattacken und Sex (einvernehmlich).

 

Bitte gebt beim Lesen auf euch acht und meldet euch bei Novel Arc unter [email protected], wenn ihr Inhalte im Text entdeckt, die in der Liste fehlen.

 

Die im Roman behandelten Themen sind emotional und wichtig. Deshalb hoffe ich, dass diese Geschichte ein Lichtblick sein kann.

 

Viel Spaß mit Bullet in my Heart wünscht euch

Romy Hart

 

 

Für alle, die glauben, in Schatten zu versinken.

Dunkelheit ist nicht undurchdringbar.

Ein Glimmen genügt, um sie zu durchbrechen.

 

1. Kapitel

 

Vee

 

Mit einem viel zu freundlichen Lächeln stellte ich die Gläser auf dem klebrigen Holztisch ab. Zwei Bier, eine Limonade und eine Cola light. Dabei gab ich mir größte Mühe, die Gäste nicht merken zu lassen, wie anstrengend ich das fand. Heute zerrte es besonders an meinen Nerven, höflich zu Leuten zu sein, die mich offensichtlich schon nach einem Blick in eine Schublade steckten. Und zwar in keine gute.

Die zwei Paare am Tisch vor mir waren eindeutig Studenten. Die Jungs trugen Jacken der GHU, der Green Hills University, Bundesstaat Connecticut. Und die Mädels außerdem ein ebenso aufgesetztes Lächeln wie ich. Sie bedankten sich für die Getränke, und dank ihres Tonfalls wusste ich genau, was sie über mich dachten. Dafür brauchte ich weder ihre Blicke, die abfällig an dem großen, feingliedrigen Blumen-Tattoo auf meinem Arm hängen blieben, noch ihr Getuschel über meine pink gefärbten Haare.

Ich arbeitete jetzt schon seit Beginn des Sommers in dieser Bar, aber die Art, wie die anderen Studierenden mich behandelten, hatte sich auch nach sechs Wochen kein Stück gebessert. Als wüssten sie, dass ich keine von ihnen und nicht in einem Haus mit weißem Zaun und Hund im Vorgarten aufgewachsen war.

Sie hatten recht. Das war ich nicht. Trotzdem spielte ich meine Rolle weiter und versaute mir auf die Art zumindest nicht die Chance auf ein vernünftiges Trinkgeld.

Am nächsten Tisch erwarteten mich natürlich wieder Studenten. Dieses Mal ohne Merchandise der Uni am Körper, aber dank ihrer Studentenaura trotzdem unverkennbar. Davon abgesehen kamen eh nur Leute ins The Old Quarter, die an der GHU eingeschrieben waren.

Ziemliche Ironie, dass sie mir auf die Nerven gingen, obwohl ich mich genau deshalb in der Kneipe beworben hatte. Irgendwie hatte ich gedacht, dass es unter Studierenden leichter sein würde, mich in meinem neuen Leben zurechtzufinden und … reinzupassen. Sobald das Semester in einer Woche offiziell begann, wäre ich eine ganz normale Studentin, die sich als Kellnerin Geld dazuverdiente. Dann konnte ich so tun, als wäre ich wie alle anderen – bis es irgendwann stimmte.

Ich ließ den Blick durch den Schankraum schweifen. Es war voll für einen Donnerstag. Die meisten Tische waren besetzt, wahrscheinlich weil später eine Band auftrat. Die Gäste lachten, unterhielten sich und hatten Spaß. Es fühlte sich seltsam an, sie dabei zu beobachten. Keiner von ihnen war auf der Southside von Green Hills aufgewachsen, so wie ich.

Sie konnten froh sein, dass sie Green Hell, wie ich den Stadtteil nannte, nicht kannten. Denn er war genau das: die Hölle. Dorthin verirrte sich niemand freiwillig, der eine saubere Weste und ein reines Gewissen hatte. Green Hell, der Trailerpark und alles, was damit zusammenhing, waren wie ein Sumpf, der einen immer tiefer zog, je stärker man strampelte. Ich hatte es trotzdem am Anfang des Sommers rausgeschafft, nachdem ich endlich die Highschool abgeschlossen hatte. Länger als nötig dortzubleiben, war für mich nicht in Frage gekommen. Nicht nach dem, was vor kaum mehr als zwei Jahren passiert war.

Bei dem Gedanken zog sich etwas heiß und schmerzhaft in meiner Brust zusammen. Jahrelang hatten Dylan und ich von unserem Abschluss gesprochen, Pläne gemacht und uns eine Zukunft auf der Sonnenseite des Lebens vorgestellt. Wir hatten immer rausgewollt aus dem Schatten, und jetzt, da er nicht mehr da war, musste ich das irgendwie allein hinkriegen. Für uns beide. Also hatte ich heimlich meine Sachen gepackt und war über Nacht abgehauen. Ohne richtigen Plan, ohne einen Cent.

Und jetzt lebte ich nahe der Westside und fing ein neues Leben an. Ich war nicht mehr dieser Mensch, sondern eine normale Studentin. Punkt.

Die Tür schwang auf und eine Gruppe Kerle zog mit ihrem Grölen meine Aufmerksamkeit auf sich. Sie stolperten in die Kneipe, und ich reckte verärgert den Kopf in ihre Richtung. Mehr brauchte es nicht, um sie zu erkennen. Schwarze Lederjacken mit roten Fadenkreuzen und zerrissene Jeans.

Scheiße.

Mit dem Tablett unterm Arm schlängelte ich mich durch den Raum und versuchte, die Jungs abzufangen, bevor Matt, mein Boss, sie entdeckte. Ace und die Bullets waren vor zwei Wochen schon mal hier aufgetaucht und hatten sich nicht besonders gut benommen. Deshalb war Matt wahrscheinlich der einzige Mensch, der sich noch weniger über ihren Besuch freute als ich. Er ahnte sicher, dass mir die Truppe nicht unbekannt war. Ich würde nicht zulassen, dass ihr Verhalten auf mich zurückfiel. Entschlossen versperrte ich ihnen den Weg.

»Was macht ihr hier?«, flüsterte ich mit Nachdruck.

»Na, was trinken. Ist doch klar.« Ace fuchtelte mit den Armen vor der Brust herum, was mich wohl beruhigen sollte. Es funktionierte definitiv nicht.

Heute sah mein Bruder zwar nicht so mies aus wie bei unserer letzten Begegnung, aber immer noch schlimm genug. Seine Lederjacke und das graue Shirt rochen nach Rauch und Alkohol, die blonden Haare fielen ihm lang in die Stirn. Würde er sich ein bisschen mehr Mühe mit sich selbst geben, sähe er mit der Frisur aus wie der Blonde aus dieser Neunziger-Boyband.

Schnaubend schob ich ihn mit meiner freien Hand in Richtung Ausgang, aber er ließ sich nicht beirren.

»Vee, bitte. Wir benehmen uns dieses Mal. Ehrlich! Bitte, bitte?«

Ich stockte mitten in der Bewegung und ärgerte mich sofort über mich selbst. Diesen Job durfte ich nicht riskieren. Er war gerade das Einzige, was mich finanziell über Wasser hielt. Um stark zu bleiben, stemmte ich die Hände in die Hüften und machte mich größer. Aber Ace ließ nicht locker. Er umfasste meine Schultern und drückte mich zurück auf den Boden, als würde das etwas ändern. Mühsam befreite ich mich aus seinem Griff und trat einen halben Schritt nach hinten, weg von ihm.

»Mein Boss war letztes Mal echt sauer wegen euch. Das kann ich nicht gebrauchen.« Die Jungs würden garantiert Ärger machen und den Bandauftritt versauen.

Mein Bruder hob abwehrend die Hände.

»Ich verspreche feierlich, wir halten uns zurück. Komm schon, Schwesterchen. Ich will nur ein bisschen Zeit mit dir verbringen. Dank deinem neuen Leben sehe ich dich ja kaum noch.« Er packte das charmanteste Lächeln aus, das er hatte. Und als er mich sanft in die Seite knuffte, merkte ich, wie ich weich wurde. Mit bröckelndem Widerstand ließ ich den Blick über die drei anderen Kerle schweifen, die jetzt natürlich mit großen Augen und bettelnder Miene die Unschuldsengel spielten.

Verdammt. Ich hasste es, wenn Ace das tat. Früher waren wir wie Pech und Schwefel gewesen, und ich vermisste das. Nein, ich vermisste ihn. Außerdem wusste Ace genau, dass ich nicht Nein zu ihm sagen konnte, sobald er mich mit diesem Blick ansah. Das hatte ich nie gekonnt. Daran hatte auch mein Weggang nichts geändert.

Mit einem kapitulierenden Nicken bedeutete ich den Jungs, mir zu folgen. Wenn ich sie in die hinterste Ecke des Ladens setzte, möglichst weit weg vom Tresen und der Bühne, würden sie schon nicht unangenehm auffallen.

»Ich meine es ernst, Ace«, machte ich einen letzten Versuch, ihm ins Gewissen zu reden, als die Bullets saßen. Mein Bruder nickte und sein bester Freund Tyler bekräftigte das.

»Wir machen keinen Scheiß, Vee. Ehrlich!«

Nach einem letzten Blick in die Runde schrieb ich ihre Bestellung auf und gab sie keine Minute später bei meinem Boss durch. Der zapfte mit geübten Handgriffen ein paar Biere an und deutete mit dem Kinn in Richtung Bühne.

»Vee, ich muss gleich unsere Sänger ansagen. Kannst du hinter der Theke bleiben? Lita hat grade Pause.«

»Lass mich kurz die Bestellung an den Tisch bringen, dann komme ich.«

Matt nickte. »Beeil dich, die Jungs sollten schon seit zehn Minuten spielen.«

»Klar.« Lächelnd hievte ich das Tablett vom Tresen. Auf dem Weg in die Ecke zu meinem Bruder redete ich mir selbst gut zu. Vielleicht hatten sie es ernst gemeint und würden sich heute ruhig verhalten. Ein recht großer Teil von mir wünschte sich genau das. Ich hatte zwar den Trailerpark und die Bullets verlassen, aber in dieser neuen Welt der normalen Leute war es ein wenig einsam ohne Ace und meine früheren Freunde. Vielleicht bestand doch eine Chance, nur eine klitzekleine, dass ich beides haben konnte.

Ein Glas nach dem anderen stellte ich auf dem dunklen Holz ab und fing dabei einen Blick von Brad auf. Als ich fertig war, packte er meine Hand und zog mich zu sich.

»Das geht doch sicher, ohne dass du es in die Kasse eingibst, oder?« Er verzog seinen Mund zu einem missglückten Grinsen. Brad war der Größte von ihnen, und seit die Jungs nur noch zu viert waren, hatte er sein Schlägergehabe perfektioniert – was ihm aber nichts nützte. Er genoss definitiv keinen Familienbonus und würde mich nicht weichkochen. Mit einer schnellen Bewegung löste ich meinen Arm aus seinem Griff.

»Nein, geht es nicht. Ace hat gesagt, ihr benehmt euch, also bezahlt ihr auch.« Nach einem Blick in die Runde, der jedem von ihnen eine Warnung sein sollte, stapfte ich zur Theke zurück.

Matt lehnte am Tresen, jederzeit bereit, das Konzert einzuläuten. Als er mich sah, stiefelte er in seinen Cowboy Boots in Richtung Bühne. Ich mochte ihn. Dabei war er genau die Art Mensch, der sich eigentlich schon beim ersten Blick meine Abneigung gesichert hätte. Mit dem Jeanshemd und den Stiefeln wirkte er im kernigen Umfeld des Quarter, als hätte sich ein Cowboy in einen irischen Pub verirrt. Absolut seltsam. Aber der Look passte zu ihm, genau wie die Bar. Sie war vielseitig, ausgestattet mit gemütlichen Tischen und einer großen dunklen Theke. Es gab sogar eine kleine Tanzfläche. Matt bestand darauf, dass das Quarter kein Pub, sondern eine Bar war. Er sagte immer, das käme bei den Studierenden besser an. In Wahrheit war ihm diese Bezeichnung einfach lieber, da war ich mir sicher. Und seine große Leidenschaft für Country sorgte dafür, dass hier neben Cover-Künstlern im unplugged-Stil Singer und Songwriter auftraten, die auch eigene Songs zum Besten gaben.

»Hey, Leute!«, begrüßte mein Boss die Gäste von der Bühne aus, und im schummerig beleuchteten Raum verstummten die Gespräche. Hinter Matt standen zwei Barhocker mit Mikrofonen, aber seine Stimme war auch ohne laut genug. »Heute habe ich endlich wieder einen besonderen Act für euch. Sie haben gerade eine kleine Tour beendet und geben ihr erstes Heimspiel hier im Quarter!«

Applaus brandete auf, lauter als ich erwartet hätte. Die Gäste freuten sich echt auf die Band. In mir keimte die Hoffnung auf, heute Abend gute Songs zu hören.

»Habt ihr eigentlich mittlerweile einen richtigen Namen, Jungs?«

Matt schaute über seine Schulter hinweg in den Bereich der Bühne, der sich von vorne nicht einsehen ließ. Danach drehte er sich lachend wieder um.

»Gut, dann wünsche ich euch viel Spaß mit Josh und Milo!«

Die Gäste klatschten enthusiastisch und meine Neugier auf die Musiker wuchs. Mit professioneller Gelassenheit richteten die beiden sich auf der Bühne ein, jeder eine Gitarre in der Hand. Die eine wirkte wuchtiger als jene, die der rechte Kerl sich umhängte. Er trug ein Jeanshemd, eine dunkle Cordhose und dazu Hosenträger plus Fliege. Eindeutig Hipster-Material, was seine gelockten Haare und die Brille nur noch unterstrichen. Pures Klischee.

Bier lief über meine Hand, und ich riss mich von der Bühne los. Zapfen und Starren gleichzeitig war offensichtlich nicht meine Stärke. Leise fluchend stellte ich das volle Glas beiseite und wusch mir die Hände. Dabei fiel mein Blick auf das große Tattoo an meinem Unterarm, und ich fühlte mich ertappt. Eben noch hatte ich mich aufgeregt, dass die Leute von der GHU mich in eine Schublade steckten – dabei war ich nicht besser. Im Gegensatz zu den anderen hier hatte ich wenigstens einen Grund für die Angewohnheit, mir ein schnelles Urteil zu bilden. Da, wo ich aufgewachsen war, konnte das überlebenswichtig sein. Und es war schwierig, das abzulegen.

Ich wollte gerade nach meinem Bruder Ausschau halten, da begann das Duo auf der Bühne zu spielen. Leider erkannte ich den berühmten Basslauf im Country-Stil sofort. Urgh. Kaum ein Konzert verging, bei dem nicht mindestens ein Song von Johnny Cash gespielt wurde. Heute war es Walk the Line – und ich verdammt froh, dass Matt den Platz hinter der Theke mit mir tauschte. Mich durch den Raum zu bewegen, machte die Musik ein bisschen erträglicher.

Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, wie ein Kerl in grüner GHU-Jacke sich unter die Lederjacken am Tisch meines Bruders mischte. Der Student unterhielt sich mit den Jungs, als wären sie alte Bekannte. Ein seltsames Bild. Ace scherzte und wirkte betont lässig. Dabei war mein Bruder vieles, aber sicher nicht lässig. Ace war nicht der gesellige Typ.

Irgendwas stimmte mit der Situation nicht, ich konnte nur noch nicht sagen, was. Von hier aus musste ich mich verrenken, um den Tisch überhaupt im Blick zu behalten. Und als die Gäste auch noch in begeisterten Applaus ausbrachen, verbesserte der Geräuschpegel meine Konzentration nicht gerade. Jedes Klatschen zerrte an meinen Nerven, als würde die reine Lautstärke meine Sicht einschränken. Beim nächsten Geräusch aus Richtung Bühne drehte ich mich mit einem schweren Atemzug um. Fast, als würde ich Luft holen, um den beiden Möchtegern-Countrystars zu sagen, sie sollten nicht solchen Krach machen. Heute war eindeutig zu viel los im Quarter.

Dieses Mal sprach nicht der Lockenkopf, sondern der andere Sänger. Der, den ich mir gar nicht genauer angesehen hatte. Er lehnte an seinem Hocker, die Gitarre vor dem Bauch als wäre sie ein Teil von ihm, und schob sich eine Strähne seiner schulterlangen Haare zurück, die wahrscheinlich mit voller Absicht unordentlich aussahen. Dann legte er einen dieser Blicke auf, bei dem die Frauen sicher reihenweise dahinschmolzen. Typisch Musiker mit zerrissener Jeans und Lederarmband am Handgelenk – und ich machte das mit den Schubladen und Klischees schon wieder. Ich rollte über mich selbst die Augen.

Gerade räumte ich leere Gläser auf meinem Weg durch die Bar ab, da begann der Lederarmband-Gitarrist zu spielen. Er zupfte die Saiten in einem verspielten Stil, und ich drehte mich überrascht zur Bühne. War das echt Titanium von David Guetta? Seine Finger glitten so verträumt über den Gitarrenhals, dass sich seine ganze Ausstrahlung veränderte. Und als er die ersten Töne sang, konnte ich mich nicht mehr abwenden.

Er erwischte mich kalt. Gänsehaut-über-meinen-ganzen-Körper-jagend-kalt. Die Klangfarbe seiner Stimme verdichtete die Atmosphäre mit jeder Note. Man konnte sich ihr nicht entziehen, und irgendwie wollte ich das auch gar nicht.

Mit seinem Können beeindruckte er aber nicht nur mich. Die meisten Frauen – und Kerle – hingen an seinen Lippen. Niemals hätte ich gedacht, dass man dieses Lied als Ballade interpretieren könnte und es mich berühren würde. Seine Stimme löste etwas in mir aus, ein Sehnen und Fliehen zugleich. Wie hier sein und verschwinden. Liebe und Schuld. Bessere Worte hatte ich dafür nicht.

Ich wollte mich abwenden, bevor der Song endgültig die Gefühle in mir lostrat, die ich ständig so verbissen zurückdrängte. Aber Joshs Stimme hielt mich fest, bis das Stück endete. Applaus brandete durch den Raum, und ich spürte Hitze in meine Wangen steigen. Hitze, die in meinem ganzen Körper widerhallte.

Es dauerte, bis ich das Ziehen in der Magengegend abschütteln konnte. Entschlossen presste ich meine von den Gläsern kalten Finger gegen mein Gesicht. Ich wollte nicht an Dylan denken, und so viel fühlen wollte ich erst recht nicht. Instinktiv tastete ich nach der Kette um meinen Hals, und das half mir, mich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Eine Berührung am Arm holte mich endgültig an den Tisch zurück, an dem ich hatte Gläser abräumen wollen. Ich nahm die Bestellung von dem Kerl entgegen, der mich angestupst hatte, dann lief ich zur Theke. Während Matt die Getränke zusammenstellte, wagte ich einen Blick zur Bühne. Sie spielten ein Lied, bei dem der Lockenkopf die Melodie sang, doch ich musterte den Musiker mit den langen Haaren.

»Er ist gut.«

»Hm?«, machte ich und sah zu meinem Boss.

»Josh. Er ist gut.«

Mir blieb nichts anderes übrig, als zu nicken. »Die zwei haben was drauf.«

»Definitiv. Aber wenn Josh richtig loslegt, passiert jedes Mal das Gleiche.«

Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Und was soll das sein?«

»Die beiden spielen hier, seit sie ihr Studium an der GHU begonnen haben. Fast drei Jahre mittlerweile. Als Duo sind sie klasse, aber Josh hat seine eigene Art, die Leute in den Bann zu ziehen. Liegt ihm im Blut.«

Ja, er war verdammt talentiert. Er hatte mit seinem Gesang irgendetwas in mir berührt, und ich musste mir eingestehen, dass ich seine Stimme mochte. Mehr nicht.

Das Duo spielte einen schnelleren Song und das Publikum wippte mit. Die Stimmung war ausgelassen, manche Leute sangen sogar mit und die beiden Musiker agierten gekonnt mit den Gästen. Ich wollte mich gerade wieder abwenden, da drehte Josh den Kopf in meine Richtung – und verharrte dort. Er sah mich direkt an, und obwohl ich auf die Entfernung nicht erkennen konnte, welche Farbe seine Augen hatten, lag in ihnen eine Tiefe, mit der er sicher reihenweise Herzen brach. Selbst wenn ich jemand anderes wäre, würde das als Red Flag gelten. Aber ich war Ich und ganz egal, wie charmant Josh war, mein Herz würde er niemals auf dem Gewissen haben. Es war längst in tausend Splitter zersprengt. Und jeder davon gehörte Dylan.

Ich biss die Zähne zusammen und wandte mich endgültig ab. Auf keinen Fall wollte ich jetzt an ihn denken. Er und ich, wir waren Endgame gewesen und würden es bleiben. Daran konnte auch ein charmanter Gitarrist nichts ändern.

Matt schob mir ein volles Tablett entgegen, und ich machte mich wieder an die Arbeit. Dabei gab ich mir allergrößte Mühe, die Band zu ignorieren. Nur hatte sich der Klang von Joshs Stimme irgendwie gegen meinen Willen in mir eingebrannt. Ich hörte ihn ständig heraus. Was auch nicht besonders schwer war, wenn nur zwei Leute auf der Bühne standen, beruhigte ich mich selbst.

Für die nächste Viertelstunde lief endlich alles normal. Ich lächelte, kellnerte, machte Striche und trug Gläser durch die Gegend. Bis ich einen Kontrollblick zu Ace und den Jungs warf. Neben meinem Bruder saß ein anderer Gast, der genauso eindeutig nicht zur Gang gehörte, wie die Studenten vorher. Ich richtete mich auf und kniff die Augen zusammen. Eine kleine Plastiktüte wechselte unter dem Tisch den Besitzer und beide nickten. Mir rutschte fast das Tablett aus den Händen.

Dieser Schwachkopf! Ich hatte Ace gewarnt, hatte ihm klar gemacht, dass er sich in der Old Quarter Bar so etwas nicht erlauben konnte. Ich war nicht abgehauen, damit er mir meinen Neuanfang kaputt machte. Ace’ Scheiß hatte nichts in diesem neuen Leben zu suchen. Das wusste er. Ich hatte es ihm verdammt noch mal oft genug gesagt.

Entschlossen stapfte ich zu dem Tisch und knallte das Tablett auf die Holzplatte. Zum Glück übertönte der Applaus der Gäste das Geräusch und ersparte uns ungewollte Aufmerksamkeit. Ace schreckte wie erwartet hoch, die anderen lümmelten unbeeindruckt auf der Sitzbank. Brad und AJ grinsten dämlich, Tyler wich meinem Blick aus. Ich kannte jeden von ihnen, seit wir Kinder gewesen waren. Schon damals hatten sie nur Unsinn im Kopf gehabt. Und mit dem offiziellen Einstieg in die Gang war daraus geplante Gesetzesbrecherei geworden. Jeder von uns hatte das durch. Aber ich ertrug das nicht länger.

Ruckartig packte ich Ace am Kragen seiner Lederjacke und lehnte mich ihm ein Stück entgegen.

»Ihr verschwindet jetzt. Sofort«, knurrte ich, doch er rührte sich nicht. Er wollte mich heute offensichtlich provozieren. »Ace, wenn du und die Jungs euch nicht hier rausbewegt, rufe ich eigenhändig die Polizei. Und ich bezeuge gern, was ich grade gesehen habe.«

Meine Nasenflügel bebten. Ich war weder besonders groß noch klein, und mein Bruder überragte mich definitiv. Aber er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass er sich mit mir nicht anlegen sollte, wenn ich in dieser Stimmung war. Er hatte den Bogen mit seinen Pillen überspannt.

»Okay, tut mir leid. Wir gehen.« Er hob abwehrend die Hände und ich ließ die Jacke los.

»Dein Ernst? Wir sind noch lange nicht fertig!« Brad lehnte sich über den Tisch und Ace zuckte mit den Achseln.

»Ich hab keinen Bock auf die Bullen. Oder weißt du, wer von denen heute im Einsatz ist? Ich hatte nicht vor, einen auf Reese zu machen und im Knast zu landen.«

Murrend wühlte Ace in seiner Tasche und warf ein paar Scheine auf den Tisch. Dann stand er auf und drängte sich an mir vorbei, genau wie die anderen Bullets. Ich folgte ihnen, dabei behielt ich meinen Boss im Auge. Der bekam nichts mit, weil der Abschiedsapplaus für das Duo unsere Diskussion übertönt hatte. In mir brandete das schlechte Gewissen auf. Ich hasste es, Ace zu decken – und dass ich es wieder tat. Aber er war mein Bruder. Wir hatten Scheiße erlebt, die einen zusammenschweißte. Diese Verbindung verschwand nicht einfach, bloß weil ich vor zwei Monaten den Trailerpark verlassen hatte und kein Gangmitglied mehr sein wollte.

Draußen schlug mir schwüle Sommerluft entgegen, die aber immer noch besser als die in der Bar war. Ich nahm einen tiefen Atemzug, um mich zu beruhigen. Es half nicht. Als alle vier Kerle vor dem Quarter standen und die Tür ins Schloss gefallen war, explodierte ich innerlich. Statt zu schreien, senkte ich die Stimme bedrohlich.

»Hast du völlig den Verstand verloren? Du kannst hier doch nicht so eine Nummer abziehen!« Trotz meiner Wut achtete ich darauf, nicht zu viel Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Vor dem Quarter war zwar ein kleiner Schotterplatz, aber die belebte Kneipenmeile, die ins Zentrum der Stadt führte, war nicht weit weg. Wie aufs Stichwort spürte ich Blicke auf uns.

»Dieses Mal hast du es echt übertrieben, Ace. Ihr alle. Du kannst nicht mit diesem Scheiß hier weitermachen. Ich dachte, du hättest eingesehen, dass die Dinger Müll sind. Aber scheinbar bist du einfach nur ein Vollpfosten.«

»Ey, Vee, komm mal wieder runter«, murmelte Tyler, der seine Haare in einer Elvis-ähnlichen Welle trug, seit er in den Stimmbruch gekommen war. »Du bist auch keine Heilige.«

»Halt die Klappe, Tyler«, keifte ich ungehalten. Ich fasste nicht, wie ignorant sie waren. Sie riskierten nicht nur selbst Kopf und Kragen, sondern zogen mich mit da rein. Es kümmerte sie nicht mal, dass sie mich mit vorgeschobenen Gründen weichgekocht hatten. Weil die Bullets eben alles taten, was der Boss von ihnen verlangte.

Brad löste sich aus der Truppe und trat einen Schritt auf mich zu, dabei richtete er sich zu seiner vollen Größe auf. Die sorgfältig konstruierte Lässigkeit fiel von ihm ab und seine braunen Augen wirkten wie schwarze Löcher. Instinktiv wich ich zurück. Nicht weil ich tatsächlich Angst vor Brad hatte, sondern weil ich dieses Verhalten von Bones, dem Anführer der Gang, kannte. Mein Unterbewusstsein hatte sich die Antwort auf diese Art Aufplustern eingeprägt.

»Und du meinst echt, mich interessiert, was du zu sagen hast?« Brad war wütend, obwohl er eigentlich gar keinen Grund dazu hatte. Aber das war seine Art, mit unserem Leben umzugehen.

Um mich einzuschüchtern, sah er von oben auf mich herab, und eine Ader an seinem Hals pulsierte. Dieses Mal blieb ich stur. Statt auszuweichen, reckte ich das Kinn. Zwei, drei Atemzüge standen wir so da, mit bebenden Nasenflügeln und starren Blicken – bis es mir zu blöd wurde.

Schnaubend verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Du musst dich nicht aufspielen, Walker. Ich hab keine Angst vor dir. Du und die Jungs, ihr werdet euch hier nie wieder blicken lassen, verstanden? Und das gilt auch für dich«, fügte ich an meinen Bruder gerichtet hinzu.

»Komm schon, Vee.« Ace trat von einem Fuß auf den anderen. »Du kannst mich nicht von jetzt auf gleich einfach hängen lassen.«

»Das mache ich gar nicht. Ich hab euch reingelassen, oder? Weil du mein Bruder bist. Und das bedeutet was.« Wie mir schmerzlich bewusst war. »Aber du kannst den Scheiß da drin nicht verticken. Wieso machst du das überhaupt noch?«

»Irgendwer muss ja das Geschäft am Laufen halten, seit du dich verpisst hast.« Dieses Mal war es Ace, der schnaubte. Gleichzeitig wurde sein Blick härter. »Du lässt deine Familie und die Gang im Stich. Um was zu tun? Als Kellnerin in einer Bar zu arbeiten und so zu tun, als wärst du nicht –«

»Wag es ja nicht«, unterbrach ich seine Tirade. Ich hatte dieses Gespräch um Ehre und Verantwortung oft genug mit meinem Vater geführt. Ich war es leid, ständig die gleiche Leier hören zu müssen. Weder wollte ich darüber nachdenken, woher ich kam, noch daran erinnert werden, was in dieser einen Nacht passiert war. In den vergangenen zwei Jahren hatte ich nicht eine Nacht geschlafen, ohne davon zu träumen. Erst seit ich in der Stadt wohnte, wurde es besser. Es war die richtige Entscheidung gewesen, zu gehen und den Bullets den Rücken zu kehren. Dabei würde es bleiben.

»Du kannst sagen, was du willst«, schob ich nach, »aber ich komme nicht zurück.«

Ruckartig packte Ace den Kragen seines grauen T-Shirts. Sein Blick brannte vor verzweifelter Wut, als er es weit genug herunterzog, damit ich das Fadenkreuz-Tattoo auf seiner linken Brust sah. Ich stöhnte demonstrativ auf. Jede einzelne schwarze Linie war mir mehr als vertraut, immerhin war ich dabei gewesen, als man sie ihm gestochen hatte.

»Siehst du das hier, Vee? Muss ich dich wirklich daran erinnern, dass auch du ein Fadenkreuz unter der Haut hast? Wie wir alle? Die Bullets haben dich aufgefangen, als dein ganzes Leben fast den Bach runtergegangen wäre. Weil du eine von uns bist. Das ist es, was wir sind, und du entkommst dem nicht, egal wie weit du läufst.«

»Ich bin keine mehr von euch.«

»Du bist immer noch meine kleine Schwester. Du hast die Bullets im Blut.« Mein Bruder ließ resigniert den Stoff los, begleitet von Brads höhnischem Lachen.

»Genau! Red dir doch nicht selbst irgendwas ein. Du bist da hineingeboren. Egal, was du tust, du wirst immer eine von den Green Hell Bullets bleiben. Ich weiß das, dein Bruder weiß das und du weißt es auch.«

Etwas in mir warnte mich davor, mich vom Vorzeigeschläger Brad provozieren zu lassen. Leider war es dafür längst zu spät. Er hatte meinen wunden Punkt getroffen, und ich verlor für einen Augenblick die Kontrolle. Dabei wusste ich, dass ich ihn auf die Art nur bestätigte.

Mit aller Kraft stemmte ich die Handflächen gegen Brads Brustkorb und schubste ihn. Er wankte nicht einmal. Keine Sekunde später packte er mich an den Schultern, und ich wusste, dass das hier eine ausgewachsene Rangelei werden würde. Fauchend versuchte ich, Brad abzuschütteln, als eine Stimme uns unterbrach.

 

Josh

 

»Hey!«

Ich trat einen Schritt auf die Gruppe zu, und der große Kerl hörte auf, die Kellnerin aus der Bar zu schütteln. Ich setzte sofort nach. »Gibt’s ein Problem?«

Ich gab mir größte Mühe, einen unbeteiligten Eindruck zu machen, um ihn nicht unnötig zu provozieren. Hoffentlich würde er sich nicht dazu entschließen, sich mit mir zu prügeln.

Nicht, dass ich das nicht durchziehen würde. Aber er und seine Kumpel waren in der Überzahl und sahen aus, als wären sie Ärger gewohnt. Sie hatten diese Aura an sich, und diese Lederjacken, die mir fast wie eine Uniform vorkamen, verstärkten den Eindruck. Sie waren die Art Typen, denen man nicht in einer dunklen Gasse begegnen wollte.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Milo hinter mir aus dem Quarter kam und stockte. Innerhalb von Sekunden hatte er die Situation überblickt und hoffte sicher genau wie ich, dass sich alles schnell und friedlich klären ließ. Als ich mich das letzte Mal in so etwas eingemischt hatte, hatte das mit einem Besuch im Krankenhaus geendet. Das Veilchen war gerade erst verheilt, und auch Milo hatte eingesteckt. Er würde sich nie freiwillig schlagen, konnte mich aber genauso wenig hängen lassen, wenn ich mal wieder den Helden spielte. Und leider half es überhaupt nicht, dass ich genau wusste, wie waghalsig das war.

Mit einem dumpfen Geräusch stellte Milo seinen Gitarrenkoffer auf dem Boden ab, und das gab den Ausschlag. Der Kerl ließ die Kellnerin los und starrte stattdessen mich an, als würde er überlegen, was er mit mir machen sollte. Ich nutzte die Gelegenheit, um die Schultern zu straffen. Vielleicht ließ er es ja, wenn ich bedrohlich genug aussah?

Falsch gedacht. Der Große ließ demonstrativ die Fingerknöchel knacken und machte einen Schritt auf mich zu. Shit.

»Was mischt du dich ein, du Wichser?«, kläffte er, und ich stellte mich innerlich schon auf ein neues Veilchen ein, da zerrte die Kellnerin ihn am Arm zurück.

»Hast du solche Angst vor mir, dass du dir lieber das nächstbeste Opfer vornimmst?«, kam in schneidendem Tonfall über ihre Lippen. Wow.

Kurz dachte ich, jetzt würde er tatsächlich handgreiflich werden. Obwohl das Adrenalin in dem Moment richtig reinkickte, war ich noch viel zu weit entfernt, um tatsächlich einzugreifen. Doch der Typ lehnte sich nur zu ihr und behielt auf beinahe wundersame Weise seine Hände bei sich. Auf ihrem Gesicht konnte ich lesen, dass er etwas zu ihr sagte, das sie nicht hören wollte. Sie antwortete mit einem leidenschaftlichen »Verpisst euch«.

Einer der anderen Typen packte den Großen an der Schulter, bevor der sich doch noch auf sie stürzen konnte, und redete ihm gut zu. Und dann – endlich! – gingen sie. Als sie uns den Rücken zukehrten, bestätigte sich meine Vermutung, dass sie die Lederjacken nicht grundlos trugen. Auf der Rückseite war ein Aufnäher angebracht, der nach einem Fadenkreuz aussah und ziemlich was von Sons of Anarchy hatte. Und dass Motorräder aufheulten, kaum waren sie um die nächste Ecke, vervollständigte den Eindruck, es hier mit einer Motorradgang zu tun zu haben. Ich stieß einen Schwall Luft aus. Das hätte übel enden können. Wo hatte ich mich da gerade eingemischt?

Die Kellnerin, die mir schon im Quarter aufgefallen war, schaute den zwielichtigen Typen hinterher und beachtete uns gar nicht. Sie musste neu sein. Milo und ich hatten so oft dort gespielt, dass ich sie andernfalls kennen würde. Vermutlich war sie in unserer Sommerpause, die wir für eine kleine Tournee genutzt hatten, eingestellt worden. Mir wäre jemand wie sie nicht entgangen, da war ich mir sicher. Ich hatte mich heute mehrfach dabei erwischt, wie ich sie von der Bühne aus beobachtet hatte. Die Haare reichten ihr bis zur Taille und leuchteten in einem Rosa-Pink, das wie Zuckerwatte aussah. Oder Marshmallows, klebrig und süß. Jedes Mal, wenn sie eine Bestellung an einen Tisch gebracht hatte, hatte sie freundlich gelächelt. Doch sobald sie gedacht hatte, niemand würde es bemerken, hatte sie ihre Fassade fallen lassen. Und ihrer Miene nach zu urteilen konnte sie Country echt nicht ausstehen.

Ich packte meinen Gitarrenkoffer fester und trat an sie heran. Sofort ruckte ihr Kopf in meine Richtung. Mir blieb beinahe die Luft weg bei dem Blick. In ihren blauen Augen lag ein Ausdruck, der wild und stark war. Sie hätte die Situation wahrscheinlich auch ohne mich in den Griff bekommen. Und das sah sie wohl genauso.

»Was?«, fauchte sie und legte den Kopf schief, dabei scannte sie mich von oben bis unten.

Okay. Damit hatte ich trotzdem nicht gerechnet. Klar, es war allein mein Problem, dass ich mich in solche Streitereien einmischte, aber meistens waren die Geretteten doch eher dankbar für die Hilfe. Sie dagegen wirkte verärgert. Beinahe, als hätte ich den Streit angefangen und nicht der andere Kerl. Ich hatte ihr helfen wollen, das war offensichtlich gewesen, oder? Vielleicht war sie doch stärker durch den Wind, als ihre gefasste Haltung vermuten ließ.

»Ich wollte nur –«

»Einen Award, weil du dich in Dinge einmischst, die dich nichts angehen?« Ihre Augen sprühten förmlich Funken, und mir blieb der Mund offen stehen. »Das kannst du vergessen.«

»Ist alles okay bei dir?«, stellte ich die Frage, die ich eben schon begonnen hatte. Und dieses Mal brachte ich sie sogar trotz ihres Blicks zu Ende.

»Bestens, Superman.« Sie schnaubte, sah noch einmal die Straße hinunter und verschwand dann ohne ein weiteres Wort in der Bar. Ich starrte ihr mit offenem Mund hinterher, bis die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel.

»Na, das war ja erfolgreich«, scherzte Milo hinter mir. »Immerhin sind wir heute ohne Blessuren davongekommen.«

Seine Worte drangen kaum zu mir durch, weil ich immer noch die Tür anstarrte. Ich musste mich zwingen, mich von ihr loszureißen und fuhr mir dabei wie von selbst durch die langen Haare. Erst danach war ich in der Lage, meinen Gitarrenkoffer zu schultern und mich in Bewegung zu setzen.

»Ich weiß schon, was du sagen willst, Milo. Aber das hätte fies für sie werden können, deshalb musste ich was tun. Auch wenn es anscheinend nicht die beste Idee war, sich einzumischen«, gab ich zu, während Milo zu mir aufschloss und wir uns auf den Heimweg machten.

»Ach, nein?« Mein bester Freund grinste über das ganze Gesicht, und ich zuckte mit den Schultern. Falscher Stolz war eine der wenigen schlechten Eigenschaften, die ich nicht besaß.

»Mach dich ruhig über mich lustig«, meinte ich und ließ mich von Milos Grinsen anstecken. »Als ob ich nicht wüsste, dass ich es manchmal übertreibe.«

Mein Bandkollege betrachtete mich forschend von der Seite. »Die Kellnerin ist neu im Quarter, oder?«

»Jap, scheint so.«

»Und sie hat dir gefallen.«

Mit einem ertappten Schnauben schüttelte ich den Kopf. Wüsste ich es nicht besser, käme ich auf die Idee, er fragte mich aus, weil er selbst ein Auge auf sie geworfen hatte.

»Ach, na ja«, fing ich an, aber er unterbrach mich.

»Nein, nein. Das war keine Frage. Ich weiß, dass es so ist.«

Dieses Mal musste ich lachen. Milo kannte mich viel zu gut. Wir waren jetzt seit drei Jahren befreundet. Seit dem ersten Tag an der GHU hatten wir die gleichen Kurse besucht und schnell gemerkt, dass wir musikalisch zusammenpassten. Seitdem traten wir regelmäßig als Duo auf, um uns etwas dazuzuverdienen. Eigentlich brauchte ich das Geld nicht. Aber ich war anfangs ziemlich einsam hier gewesen und hatte die Zeit mit Milo echt genossen. Mittlerweile kannte er mich von allen Menschen auf der Welt eindeutig am besten.

»Meinst du, der Kerl war ihr Freund?«, fragte er ernster und schob seine Brille wieder an ihren Platz.

»Sie sahen aus, als würden sie sich gut kennen, und ganz ehrlich – die Situation wirkte ziemlich aufgeladen. Als wäre er eins von diesen Arschlöchern, bei dem eh niemand versteht, warum eine Frau wie sie mit ihm zusammen ist.«

»Tja, ich wüsste auch zu gern, warum der Bad Boy so oft gegen den netten Kerl von nebenan gewinnt.« Milo zuckte mit den Achseln. Er hatte bisher kein großes Glück in der Liebe gehabt. Meistens tat er so, als würde ihn das nicht stören, aber ich wusste genau, dass er sich wünschte, endlich die eine richtige Person kennenzulernen. Ich konnte das nachvollziehen, obwohl ich ganz anders tickte.

Ich war zufrieden damit, wie es lief. Ab und an traf ich jemanden und wir verbrachten eine Nacht miteinander. Das passierte an der Uni schneller, als man dachte. Und durch die Musik lernte man leicht neue Leute kennen – trotz Country und Dasein als Singer-Songwriter. Aber Milo reichten gelegentliche Dates nicht, er brauchte mehr. Anders als ich. Allein bei dem Gedanken daran, eine feste Beziehung einzugehen, schüttelte es mich. Das war nichts für mich.

Die nächtliche Stille wurde von einem penetranten Klingelton durchbrochen. Im Gehen zog ich das Handy aus der Hosentasche und sah auf dem Display das Kontaktbild meines Vaters. Ugh. Ein Gespräch mit ihm konnte ich gerade gar nicht gebrauchen. Unser Verhältnis war nicht das Beste, und auf Vorwürfe hatte ich wirklich keinen Bock. Ich schaltete das Smartphone auf stumm und steckte es weg.

»Du gehst nicht ran?«, fragte Milo überflüssigerweise.

»Nope.« Ich war bei dem Thema wenig gesprächig. Meine Familie war das einzige Tabu für mich, und meistens respektierte er das. Aber seit ich den Fehler begangen hatte, Milo von meiner Mutter zu erzählen, ließ er sich nicht mehr so leicht abwimmeln.

»Es wird wieder Zeit für das Essen, oder?«, bohrte er weiter.

»Jap.«

»Okay, du willst nicht drüber reden. Aber falls doch, weißt du, wo du mich findest. Ich hab auch einen schwierigen Vater. Ich kenne das.«

»Ich weiß. Danke.« Mehr würde Milo nicht aus mir herausbekommen, und ein Teil von mir fühlte sich mies, dass ich ihn so abweisend behandelte. Aber der Widerwille, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, war größer als mein schlechtes Gewissen.

An der nächsten Straßenecke trennten sich unsere Wege. Milo verabschiedete sich mit einem »Denk nicht zu viel an die Kellnerin!«, dann bog er rechts ab und verschwand in der schummerig beleuchteten Straße in Richtung Campus.

Ich warf einen Blick auf mein Smartphone. Dieses Mal zeigte es mir eine neue Nachricht auf der Mailbox an. Resigniert spielte ich sie ab.

»Josh, hier ist dein Vater.«

Da wäre ich ohne seine Erklärung nie draufgekommen.

»Unser Essen und der Besuch stehen an. Melde dich bei mir. Du wirst dich nicht davor drücken, hörst du?«

Seufzend nahm ich das Handy vom Ohr. Es lief immer so mit ihm. ›Josh, tu dies. Josh, tu das. Josh, sei der Mensch, den ich haben will, und nicht der, der du bist.‹ Ständig das gleiche Spiel. Ich hasste es.

Als ich endlich im Loft ankam, war von dem Hochgefühl, das ich sonst nach einem Auftritt verspürte, nichts geblieben. Ich hatte den restlichen Fußmarsch mit Grübeln verbracht und meine Stimmung damit auf den Tiefpunkt gedrückt.

Mit einem Seufzen stellte ich die Martin auf ihren Gitarrenständer und ließ mich auf das große, alte Ledersofa fallen. Es war schon spät und ich sollte schlafen, aber irgendwas in mir brachte mich dazu, die dämliche Nachricht meines Vaters noch einmal anzuhören. Dass er sich so viele Wochen im Voraus meldete, nervte mich. Ich wusste genau, wann das Datum war. Wir mussten nicht erst einen Termin suchen. Es gab nur den einen. Und auf seine Erinnerung daran konnte ich verzichten. Ich dachte doch selbst an nichts anderes, je näher der Tag rückte.

Ich war kurz davor ihm eine bissige Antwort zu tippen, pfefferte das Handy aber stattdessen mit zusammengebissenen Zähnen in die Kissen des Sessels, der gegenüber der Couch stand. Ich hatte keinen Nerv, mich mit ihm zu beschäftigen. Trotzdem rotierten meine Gedanken und wollten nicht zur Ruhe kommen. Mein Fuß wippte schon nervös auf dem Boden herum und es dauerte nicht lange, bis die Unruhe in mir alles andere verdrängte. Sie fraß sich unerbittlich durch meinen Körper, altbekannt und unerträglich.

Ich sprang auf, lief ein paar Mal im Kreis und schnappte mir letztlich doch die Gitarre. Dann spielte ich wahllos irgendwelche Melodien, und mit der Zeit lösten sich meine Gedanken von meinem Vater und landeten schließlich bei der Kellnerin. Zuerst kam mir ihr bissiger Blick in den Sinn. Der, gepaart mit den pinkfarbenen Haaren, dem großen Tattoo auf ihrem Arm und den Klamotten, die sie getragen hatte, passte zu ihrer kratzbürstigen Art. Sie hatte kein Blatt vor den Mund genommen. Trotzdem hatte etwas an ihr beinahe zart auf mich gewirkt. Ein seltsames Wort, aber mir fiel kein besseres ein. Es hatte mich gepackt und bis jetzt nicht losgelassen.

Meine Finger glitten immer noch über die Saiten, und auf einmal merkte ich, welches Lied ich spielte. Eines, das perfekt zu ihr passte. Meine Mundwinkel hoben sich endlich wieder. Das nächste Mal, wenn wir im Quarter auftraten, würde ich diesen Song für sie singen.

 

Vee

 

Ich rüttelte fest am Knauf meiner Wohnungstür, und endlich entriegelte das Schloss. Mit einem Ruck drückte ich die Tür auf, und sofort schlug mir miefige Luft entgegen. Ich zwang mich, nicht sofort zum Fenster zu hasten. Ich liebte mein kleines Ein-Zimmer-Appartement. Es war knapp eine halbe Stunde zu Fuß vom Quarter entfernt, nur zur Uni musste ich eine ganze Weile laufen, aber das störte mich nicht. Ich hatte mir die Wohnung nur leisten können, weil sie nicht gerade in der besten Gegend und damit leider nicht ganz so weit von der Southside entfernt lag, wie ich mir gewünscht hätte. Deshalb achtete ich penibel darauf, die Tür immer verschlossen zu lassen. Ich hatte kein Interesse daran, plötzlichen Überraschungsbesuch zu bekommen. Von wem auch immer.

Schwungvoll stemmte ich mich mit vollem Körpereinsatz gegen die Tür, damit sie einrastete. Dann legte ich den Riegel vor und hängte die Kette ein. Meine Tasche warf ich auf den kleinen Esstisch vor der offenen Küchenzeile, danach riss ich endlich das Fenster auf. Noch im frischen Lufthauch, der durch die Wohnung zog, schlüpfte ich aus meinen Boots.

Was für ein Abend. Dass Ace aufgetaucht war, hatte alles durcheinandergebracht. Mittlerweile hasste ich fast, ihn zu sehen. Dabei waren wir früher eine Einheit gewesen. Wir hatten einander beschützt und uns in den Armen gehalten, wenn es zu Hause unerträglich geworden war. Klar, ich hatte dem Trailerpark und der Gang entkommen wollen, aber nicht vorgehabt, mich gleichzeitig von Ace oder meinen früheren Freunden zu trennen. Doch wenn er nicht damit aufhörte, krumme Dinger im Quarter zu drehen, musste ich genau das tun. Und dass Brad jetzt auch noch anfing, sich wie der größte Schläger aufzuführen, machte alles komplizierter. Irgendwie war die Dynamik der Truppe nach dieser einen Nacht vor zwei Jahren nie wieder die Gleiche gewesen. Dylan hatte bei jedem von uns Narben hinterlassen.

Ich zog mich am Fensterbrett hoch und setzte mich auf die kalte Keramikplatte, während sich die frische Sommerluft angenehm im Raum verteilte. Die stickige Hitze, die sich den Tag über hier aufgestaut hatte, verschwand. Als ich vor zwei Monaten eingezogen war, hatte ich die schäbigen, alten Möbel vom Vormieter übernommen. Ich war echt froh gewesen, mir dadurch keine kaufen zu müssen. Dank ein paar Eimern roter Farbe sah die kleine Küchenzeile fast wie neu aus.

Manchmal fasste ich es kaum, dass das hier wirklich meine Wohnung war. Hier wurde ich nicht von Ace’ Schnarchen, nur wenige Meter neben mir im gleichen Zimmer, geweckt oder von den schweren Schritten meines Vaters auf dem knarzenden Boden des Wohnwagens. Ganz zu schweigen von dem Grölen der Gangmitglieder und dem Donnern der Motorräder, das man manchmal quer durch den Wohnwagenpark gehört hatte. Hier war ich frei davon.

Nachdem ich meine Haare zu einem losen Dutt gebunden und das letzte saubere Glas aus dem Küchenschrank mit Wasser gefüllt hatte, suchte ich mir aus meinem Klamottenhaufen ein Schlafshirt. Ich wollte damit gerade im Bad verschwinden, da hörte ich ein Johlen von unten an der Straße. Die Leute, die an meinem offenen Fenster vorbeikamen, waren offensichtlich in ziemlich guter Stimmung. Die GHU-College-Hymne schallte bis zu mir hoch, und ich musste schmunzeln. Sie grölten nicht in dem Versuch, der Welt ihren Frust entgegenzuschreien, wie wir es früher getan hatten. Sie hatten einfach Spaß und es kümmerte sie nicht, dass kein Ton richtig saß.

Niemand von ihnen sang so gut wie Josh. Sofort klang mir wieder seine warme Stimme in den Ohren, und ich wusste nicht, ob es mich ärgern oder beeindrucken sollte, dass er es geschafft hatte, sich auf die Art in mein Gedächtnis einzubrennen. Und das auch noch mit einem Lied im typischen Singer-Songwriter-Stil mit akustischen und vor allem sanften Klängen.

Normalerweise konnte ich mit dieser Musik nicht viel anfangen. Ich fühlte mich eher bei Rock, Grunge oder Punk zu Hause. An guten Tagen kam ich sogar mit Pop oder Chart-Songs klar. Immerhin hatte ich auch Titanium sofort erkannt. Aber was die Songwriter im Quarter an selbstgeschriebenen Liedern spielten, war größtenteils übertrieben tiefgründig – was es mir leider schwer machte, die Songs und Musiker ernst zu nehmen. Ich liebte Texte mit Bedeutung. Ich verstand viel zu gut, dass man auf diese Art seine Gedanken oder Erlebnisse aus dem Kopf bekam. Aber wenn die Worte dann von charismatischen Sängern mit schnulziger Inbrunst gesungen wurden, reichte es mir. Egal wie gut der Text war.

Dass ich selbst mehrere Notizbücher mit Gedichten vollgeschrieben hatte, erzählte ich deshalb niemandem. Niemals. Es gab nur zwei Personen, die davon wussten. Eine von ihnen war tot und die zweite hatte ich verloren, als ich gegangen war.

Instinktiv holte ich mein Smartphone aus der Tasche und öffnete den Chat mit Amber, als wäre auf wundersame Weise bei dem bloßen Gedanken an sie eine neue Nachricht von ihr aufgetaucht. Aber da war keine. Nur meine Versuche, uns nicht ganz auseinanderbrechen zu lassen, die sie ignorierte.

Resigniert steckte ich das Handy an das Ladekabel und leerte mein Wasserglas in einem Zug. Die singenden Studenten waren längst weitergezogen und ich ging ins Bad, um mir nicht nur das Make-up, sondern all die wehmütigen Gedanken abzuwaschen. Als ich mir das Shirt über den Kopf zog, verhedderte sich die Kette darin, die ich seit drei Jahren trug. Beinahe hätte ich sie mir mit dem Stoff vom Hals gezogen, hielt sie aber im letzten Moment fest. Der silberne Anhänger war kalt unter meinen Fingern, so wie alles in mir, wenn ich an Dylan dachte. Er hatte mir diese Kette geschenkt. Das Amulett zeigte den heiligen Antonius, den Schutzpatron der verlorenen Dinge. Wie ich eins gewesen war, bevor ich Dylan getroffen hatte, und wie ich nun für immer eins sein würde. Ohne ihn.

Der Gedanke traf mich so unvorbereitet, dass ich mich am Waschbeckenrand abstützen musste. Ich atmete, versuchte, die Gefühle und vor allem die Erinnerungen beiseitezuschieben. Ich wollte nicht an seinen Tod denken, nicht wieder an die schreckliche Nacht erinnert werden. Es war etwas mehr als zwei Jahre her und erst, seit ich den Trailerpark verlassen hatte, wurde es erträglicher. Wirklich leicht würde es nie werden. Dylan war meine große Liebe gewesen. Die anderen aus der Clique hatten das für völlig verrückt gehalten. Immerhin war ich erst fünfzehn gewesen, als wir zusammengekommen waren. Aber Dylan und ich hatten eben so gefühlt. Ace, den Jungs und sogar meiner besten Freundin war das wahnsinnig auf die Nerven gegangen, und irgendwie hatte das Dylan und mich noch enger zueinander gebracht. Wir waren unzertrennlich gewesen, und glücklich. Zu glücklich, dachte ich manchmal. Je höher der Flug, desto tiefer der Fall.

Eine Träne löste sich aus meinen Wimpern und tropfte auf meinen Handrücken. Sie riss mich aus der Starre, in die meine Erinnerungen mich getrieben hatten, und holte mich ins Hier und Jetzt zurück. Nur dass ich hier gar nicht sein wollte. Ich wollte bei Dylan sein, in seinen Armen liegen und ihm von meinem Tag erzählen. Einfach nur normal mit ihm sein.

Ich gab mir einen Ruck, wurde meine restlichen Klamotten los und stieg endlich in die kleine Duschkabine. Das Wasser lief warm über meine Haut, aber es konnte die Kälte in mir nicht vertreiben. Egal wie viel ich schrubbte und wie lange ich dabei zusah, wie mein sorgfältig gestaltetes Make-up im Abfluss verschwand, das Gefühl in meiner Brust blieb.

Mit geputzten Zähnen, Schlafshirt und Handtuchturban ging ich zu meinem Bett. Heute war die Sehnsucht so schlimm wie lange nicht mehr, und für eine Millisekunde fragte ich mich, ob das etwas mit Josh zu tun hatte. Oder Matts indirekter Unterstellung, ich würde ihn attraktiv finden.

Mit wenigen Handgriffen fand ich die Tasche, die ich unter meinem Bett versteckte, und zog sie hervor. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, damit aufzuhören, weil es schrecklich wehtat, aber heute musste ich es tun. Etwas in mir musste. Das Geräusch des Reißverschlusses klang laut in der mittlerweile eingekehrten nächtlichen Stille. Das Blut rauschte in meinen Ohren, als ich die große Jacke neben meiner kleineren entdeckte. Sofort drang mir der Geruch von Leder, Bier, Lagerfeuer und Motoröl entgegen. Und der von Dylan. Auf dem Rücken der Jacke prangte ein Fadenkreuz in Rot, Weiß und Schwarz. Das Zeichen der Green Hell Bullets.

Ohne nachzudenken, schlüpfte ich in die Jacke, dann krabbelte ich auf mein Bett, kramte unter den Kissen mein Notizbuch hervor und schrieb. Jedes Gefühl, jeder Gedanke wurde zu Worten und der Schmerz floss mit ihnen aus mir heraus. Zumindest ein bisschen. Mittlerweile wusste ich, dass dieses Ventil mir half, nicht völlig durchzudrehen.

Beim ersten Mal, kurz nach Dylans Tod, war es seltsam gewesen, meine Gedanken einem Stück Papier anzuvertrauen, aber mittlerweile hatte ich keine Hemmungen mehr. Niemand würde diese Texte je sehen. Und niemand kannte den dunklen Knoten, der sich in jede Faser meines Körpers ausstreckte und mir seit Dylans Tod das Atmen schwer machte. Der mich manchmal lähmte. Nur wenn ich die Gedanken aufschrieb, hatte ich das Gefühl, wieder Luft zu bekommen.

Eine Träne tropfte auf das Papier und ich ließ sie. Ich musste mich nicht zusammenreißen oder meine Gefühle vor jemandem verstecken. Das Schreiben bewahrte mich vor einem völligen Zusammenbruch. Und je mehr Zeilen ich dichtete, umso schneller verklang der stechende Schmerz zu einem erträglichen Hintergrundgeräusch. Als ich den letzten Punkt unter den Text setzte, entwich mir ein Seufzen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Amber eine weitere Nachricht zu schreiben, entschied mich aber dagegen. Stattdessen rollte ich mich auf dem Bett in Dylans Jacke zusammen. Das half, es auszuhalten. Alles, was geschehen war. Alles, was ich getan hatte. Es ließ mich für einen Moment sogar ertragen, dass ich schuld an Dylans Tod war.

2. Kapitel

 

Josh

 

Pünktlich zum Ende der Sommerpause füllte sich der Campus. Überall fanden Kurse statt, und die Studenten kehrten aus den Ferien zurück. Vor den Wohnheimen tummelten sich Leute, die sich in die Arme fielen und über den Sommer sprachen. Sie lachten, klopften sich gegenseitig auf die Schulter, als hätten sie einander Jahre nicht gesehen.

Ich mochte die Atmosphäre an der Uni. Vor allem, wenn sich die Blätter der großen Kastanien auf dem Gelände zum Spätsommer langsam verfärbten und in Rot und Gelb perfekt zu den Ziegeln der alten, imposanten Gebäude passten. Trotzdem war ich froh, nicht in einem der Wohnheime auf dem Campus zu leben. Anders als Milo hatte ich mein Loft und war Mom ziemlich dankbar dafür. Vor der Sommerpause hatte ich meinen besten Freund besucht und es war eng, voll und laut gewesen. Die Wenigsten hatten Einzelzimmer, sondern mussten sich in einer Dreier- oder Vierer-WG ein Zimmer mit einem anderen Studenten teilen. Mit ein bisschen Glück bekamen die höheren Semester ein eigenes Zimmer in einem Zwei-Personen-Appartement. Ich hatte keine Ahnung, wie man da noch seine eigenen Gedanken hören sollte. Aber vielleicht war es genau das, was die Leute mochten. Und eine gemeine Stimme in meinem Kopf wies mich darauf hin, dass auch mir das manchmal guttun würde.

Ich riss mich von der Gruppe Studenten los und lief über das Gelände, direkt an den Gebäuden der Rechtswissenschaften vorbei. Sie ragten unverändert altehrwürdig, groß und vor allem starr in den Himmel. Für manche wäre es wohl der absolute Traum, an einer alten Universität in so einem Gebäude Jura zu studieren. Aber nicht für mich.

Schlagartig durchflutete mich Erleichterung, dass ich dieses Kapitel meines Lebens hinter mir ließ. Bei dem Gedanken an die Jahre, die ich an ein Jurastudium verschwendet hatte, schüttelte es mich. Zum Glück war damit nun Schluss. Ich studierte ab diesem Semester im Hauptfach Musik und würde nicht nebenbei ein Hass-Fach belegen, nur weil mein Vater es verlangte. Ich hatte mich drei Jahre lang durch die Kurse gequält, die er ausgesucht hatte, und gleichzeitig Musik studiert. Es war wahnsinnig anstrengend gewesen und meine Noten hatten in allen Bereichen gelitten. Für dieses Semester hatte ich entschieden, dass es so nicht weitergehen konnte. Meine Leidenschaft galt der Musik und nichts anderem. Das würde auch die fünfhundertste Ansprache meines Vaters nicht ändern. Das einzige Problem dabei war, dass er mich finanzierte.

Gedankenverloren zog ich mein Smartphone aus der Hosentasche. Ich las wieder die Nachricht, die er mir heute Morgen geschrieben hatte. Ich hatte nicht auf seinen Anruf reagiert und ihn links liegen lassen, entgegen unserer Abmachung.

 

Dad: Sohn, halt mich nicht hin. Der Tag rückt näher. Du wirst tun, was wir besprochen haben, Josh.

 

Ich schnaubte. Mein Vater war schon immer besser darin gewesen, die Leute zu erpressen, als Verständnis zu zeigen.

»Was machst du für ein Gesicht?« Milo riss mich aus meinen Gedanken, und ich ließ fast das Telefon fallen. Er hatte seine Gitarre geschultert und von seiner Motivation hätte ich mir gern die Hälfte geborgt. Die Nachricht meines Vaters hallte noch in mir nach, als ich das Handy zurück in die Tasche steckte.

»Familie«, sagte ich nur, und mein bester Freund nickte. Er wusste aus eigener Erfahrung, wie schwierig die Verwandtschaft es einem manchmal machte. Milo stammte aus einer Sportlerfamilie, die keinerlei Verständnis dafür gehabt hatte, dass er als Teenie lieber der Theater-AG als dem Football-Team beigetreten war. Entsprechend begeistert waren sie von seiner Studienfachwahl gewesen.

---ENDE DER LESEPROBE---