Burg mit Leiche - Karola Koch - E-Book

Burg mit Leiche E-Book

Karola Koch

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Beschreibung

So hatte sich Elke Fauth ihren 40. Hochzeitstag nicht vorgestellt: Ihr Mann Klaus überreichte ihr stolz die Besitzurkunde über eine mittelalterliche Burg, die er geerbt hatte. Da hätte Elke doch lieber eine Küchenmaschine bekommen als dieses steinerne Monstrum. Und dann findet sie auch noch eine Leiche im Burgkeller und muss bei den Ermittlungen helfen, da die junge Kommissarin sonst niemanden hat, der sie unterstützt. Zum Glück stehen ihr ihre Freundinnen Ute und Hannelore zur Seite und ihr Mann Klaus, der sein Sonnenstrählchen über alles liebt. Warnung: Dieses Buch ist nichts für Fans knallharter Krimis. Hier gilt die Formel: Spannung + Spaß + Komödie = Krimödie.

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KAROLA KOCH, geb. 1965 in Hannover, schrieb schon in der Schule Geschichten, sehr zur Freude ihrer Mitschüler. Doch auch das Schauspiel hatte es ihr angetan und so wurde sie Regisseurin der Theater-AG. Was konnte sie unter diesen Voraussetzungen anderes studieren als Kulturpädagogik? Dieser Meinung war jedenfalls der damalige Chefdramaturg der Landesbühne Hannover. Nachdem sie das Diplom als Kulturpädagogin in der Tasche hatte, entschied sich Karola Koch für das Schreiben. Sie absolvierte ein Volontariat und wurde in Hannover Redakteurin an Zeitschriften. Im EXPO-Jahr 2000 verließ sie dann ihre Geburtsstadt und zog an die Schleswig-Holsteinische Nordseeküste. Nach einem Ausflug in die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit kam die berufliche Wende. Sie holte ihre Ausbildung zur Lehrerin nach und unterrichtet seitdem Deutsch und Darstellendes Spiel an einer Gemeinschaftsschule. Aber die Lust am Schreiben blieb. Und so besuchte sie regelmäßig eine Schreibwerkstatt der Autorin Sandra Dünschede. Dann kam der verregnete Sommer 2023. Statt im Garten auf der Liege verbrachte Karola Koch ihre Zeit am Schreibtisch und so entstand ihr Erstling. Derzeit schreibt sie an ihrem zweiten Krimi.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Im Jahre des Herrn 1184

KAPITEL 1

KAPITEL 2

Im Jahre des Herrn 1185

KAPITEL 3

KAPITEL 4

Im Jahre des Herrn 1187

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

Im Jahre des Herrn 1188

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

Im Jahre des Herrn 1188

Weihnachten

KAPITEL 13

Im Jahre des Herrn 1189

KAPITEL 14

Im Jahre des Herrn 1189

KAPITEL 15

KAPITEL 16

Im Jahre des Herrn 1192

KAPITEL 17

Im Jahre des Herrn 1192

KAPITEL 18

Im Jahre des Herrn 1192

KAPITEL 19

Im Jahre des Herrn 1193

KAPITEL 20

Im Jahre des Herrn 1193

KAPITEL 21

Im Jahre des Herrn 1194

KAPITEL 22

Im Jahre des Herrn 1229

DICHTUNG UND WAHRHEIT

PROLOG

Die Schritte verhallten und mit ihnen der letzte Schein der Lampe. Jetzt war er allein. Er lag im Dunklen, konnte die Hand vor Augen nicht mehr sehen. Und erst recht nicht den Schaft der Hellebarde, die in seinem Unterleib steckte. Aber er spürte den Schmerz, der sich in ihm ausbreitete. Der Schmerz wütete in ihm, wie ein Wolf, der seine frisch erlegte Beute in Stücke riss. Er roch das Blut, das seinem Körper entströmt war. Süßlich und schwer. Blut schmeckte nach Eisen, das wusste er. Oft genug hatte er sich lachend das Blut von einer Wunde abgeleckt, die ihm zugefügt worden war. Aber den Geruch von Eisen konnte er nicht wahrnehmen.

Hoffnung gab es keine, das wusste er. Er würde sterben, jetzt und hier. Noch spürte er das Blut in seinem Adern fließen, aber er merkte auch, dass das Herz langsamer und mit mehr Anstrengung pumpte. Und mit jedem Atemstoß floss Blut aus der Wunde in seinem Bauch.

Ihm wurde kalt. Die Wärme wich aus seinem Körper, gemeinsam mit jedem Tropfen Blut. Er spürte den harten, eisigen Boden unter sich. Wieso ist es hier nur so kalt? Wir haben Sommer, es war eine heiße Sommernacht vorhin. Wir haben getanzt und du wolltest mehr von mir hinter dem Zelt. Er musste lachen. Ein heiserer Schmerzensschrei entrang sich seiner Kehle. Umsonst, alles war umsonst. Was hatte sein Vater zu ihm schon als kleinem Jungen gesagt: »Du wirst eine Tages Herr der Burg sein.«

Meine Burg, ich werde in meiner Burg sterben. Über ihm richtete sich stolz der Burgturm in die Höhe. Er spürte fast die Last der abertausenden von Steinen, die einst für den Turm übereinander gemauert worden waren. Hier unten, tief unter der Erde, bildete das felsige Gestein des Gewölbes das Fundament für den Turm.

Ich bin das Fundament. Auf mir ist die Burg erbaut. Ich bin die Burg. Meine Burg. Mein Sohn, deine Burg. Es ist jetzt deine Burg und du wirst Burgherr sein. Beende, was ich begonnen habe. Sei der Burgherr und mach unsere Familie groß und stark. Verteidige meine Burg gegen jeden Eindringling.

Er sah seinen Sohn, wie er allein dastand, die Burg gegen die Eindringlinge zu verteidigen. Mit letzter Kraft versuchte er, nach der Hellebarde zu greifen, um ihn im Kampf gegen die Feinde zu unterstützen.

Doch es war zu spät. Der Tod war schneller. Und mit einem letzten Aufstöhnen fiel sein Kopf zur Seite und die Augen brachen.

Im Jahre des Herrn 1184

»Hier!« Graf Adolf hob sein Kampfschwert mit beiden Armen in die Höhe, damit auch alle seine anwesenden Mannen es genau sehen konnten. »Genau hier,« er stieß sein Schwert in den Boden, »werde ich die Burg Hanrovia errichten. Sie soll Schutz und Trutz sein gegen alle einfallenden Feinde.«

Seine Männer jubelten. Sie rissen ihre Schwerter und Lanzen in die Höhe, als ob sie den bereits besiegten Feind noch einmal besiegen wollten. Man sah ihnen die Strapazen der zurückliegenden Schlachten an. Nur wenige unter ihnen waren ohne Blessuren geblieben. Durch Verbände war Blut gesickert, einige hatten sich Stecken geschnitzt, damit sie mit der Truppe mithumpeln konnten. Auch bei den hohen Herren um den Grafen sah es nicht viel besser aus. Das einst edle Wams aus Samt, das der Graf trug, war dreck- und blutverschmiert. Nur war es das Blut seiner Feinde, nicht sein eigenes. Auch seine engsten Gefolgsleute hatten von ihrem Glanz verloren. Das noch kindlich wirkende Gesicht von Junker Johann wurde von einem Dolchhieb geschmückt, den er im Kampf mit den Dithmarschern erhalten hatte. Die einst so glänzenden Rüstungen hatten Beulen bekommen. Nur einer der Begleiter des Grafen, ein junger Mann, dessen Gestalt alle überragte, wirkte, als ob die Schlacht spurlos an ihm vorübergegangen wäre. Dabei war er immer in der Nähe des Grafen geblieben, hatte ihm so manchen Feind vom Leibe gehalten.

Graf Adolf zeigte, dass er weitersprechen wollte, sofort war wieder Ruhe.

»Und du mein getreuer Heinrich«, der Graf wandte sich an den blonden Hünen, der neben ihm stand, »sollst mein Burgvogt sein.«

Erneut brach Jubel aus. »Hoch lebe der Graf!«-Rufe waren zu hören. In diesem Moment öffnete sich die Wolkendecke und ein Sonnenstrahl traf auf das im Boden steckende Schwert. Die in den Griff des Schwertes eingelassenen Edelsteine begannen zu leuchten. Das Kriegsschwert hatte sich zu einem Kreuz gewandelt.

Der Jubel erstarb langsam, der Graf kniete sich mit einem Bein auf den Boden, seine Gefolgsleute folgten seinem Beispiel. Dessen ansichtig werdend, gingen auch die Männer in die Knie, legten die Kampfwaffen zur Seite und erhoben die Hände zum Gebet.

»Pater Noster, qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum«, begann der Herzog in seiner volltönenden Stimme.

Die Zelte waren abgebaut, die Pferde waren gesattelt, die Waffenknechte standen zum Abmarsch bereit. Adolf zog seine Handschuhe an, sein Reitknecht hielt ihm den Steigbügel bereit. Doch der Graf drehte sich noch einmal zu dem neben ihm stehen Heinrich, legte ihm die Hand auf die Schulter:

»Heinrich, du weißt, was du zu tun hast. Bau mir meine Burg Hanrovia, dass sie meines Namens würdig ist. Sie soll hier die nächsten tausend Jahre stehen und allen Angriffen trotzen. Ich verlasse mich auf dich.«

»Ja, Herr. Ich werde euch nicht enttäuschen.«

»Ich weiß!«

Graf Adolf, klopfte noch kurz auf die Schulter Heinrichs, dann stieg er auf sein Pferd und gab das Signal zum Abmarsch.

Es dauerte, bis auch der letzte Wagen des Trosses außer Sichtweite war und der Staub sich gelegt hatte.

Burgvogt Heinrich drehte sich zu der Handvoll Männer um, die bei ihm geblieben waren.

»Los Männer, an die Arbeit. Wenn uns der Graf besucht, muss Burg Hanrovia stehen!«

KAPITEL 1

Du wirst Wege beschreiten, die neue Energien für dich freisetzen(Glückskeks Nr. 1)

«Das geht nicht, Klaus! Du kannst mir doch nicht einfach eine Burg schenken.»

«Wer sagt denn, dass das einfach war? Glaube mir, mein Schatz, das war gar nicht so einfach zu bewerkstelligen.»

Hatte Klaus das wirklich getan? Nein, das konnte nicht sein Ernst sein. Elke konnte es nicht glauben, was Klaus ihr am Morgen des vierzigsten Hochzeitstages glücklich überreichte: Die Besitzurkunde für Burg Hanrovia. War das wirklich ihr Klaus, der ruhigste, abwägendste, unspontanste und zuverlässigste - ja manchmal etwas langweilige - aber trotzdem tollste Mann der Welt. Vielleicht war es nur ein Witz?

»Klaus, das ist nicht dein Ernst!«

»Das ist mein voller Ernst, mein Schatz!«, strahlte Klaus. Er nahm Elke in den Arm und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange. »Du wolltest doch schon immer deine eigene Burg haben.«

»Das war vor über fünfunddreißig Jahren, Klaus!« Elke spürte, wie ihre Stimme zu versagen drohte. »Als wir in Schottland waren, ein Traum. Nicht ernst gemeint, nur geträumt.«

Klaus nickte. »Und jetzt lassen wir den Traum wahr werden. Und du wirst das Burgfräulein von Burg Hanrovia.«

»Ich ein Burgfräulein?« Elke begann jetzt ernsthaft am Realitätssinn ihres Mannes zu zweifeln. Wann hatte Klaus sie zum letzten Mal richtig angesehen? Zwei Schwangerschaften zeigten ihre Folgen, genauso wie der Hang zu Sahnetorten, Sahneeis und Sahnesoßen sich auf Elkes nicht mehr als solcher erkennbaren Taille verewigt hatten. »Eher bin ich eine Burgmatrone.« Elke fühlte sich plötzlich uralt.

«Du wirst immer mein Burgfräulein sein. Auch wenn du hundert bist!» Sie spürte Tränen der Rührung in sich hochsteigen und kuschelte sich fester in die Arme ihres Mannes.

«Heute vor vierzig Jahren», murmelte sie.

«Ja? War da was?»

Empört schaute sie zu ihm auf.

«Richtig, der schönste Tag in unserem Leben», grinste er sie an. «Glaubst du, das hätte ich jetzt spontan vergessen? Und heute ist wieder so ein herrlicher Sommertag, genau wie am Tag unserer Hochzeit. Was hältst du von einem Picknick, mein Sonnenstrählchen?»

Elke strahlte Klaus an. So viel Romantik an einem einzigen Morgen, davon hatte der sonst so nüchterne Oberfinanzdirektor in den letzten Jahrzehnten nicht viel gezeigt.

«Und dann kannst du dir auch gleich unsere Burg ansehen.»

Schlagartig lösten sich die romantischen Gefühle bei Elke wieder in Luft auf. Sie seufzte.

«Dann muss ich mir das Unglück wohl jetzt ansehen.»

«Unsere Burg, mein Sonnenstrählchen, wird dein Glück sein. Wenn wir beide bald in Rente gehen, liegt eine wunderbare Aufgabe vor uns.»

Musste Klaus sie jetzt auch noch daran erinnern, dass ihr sechzigster Geburtstag unmittelbar bevorstand?

Ein rot-weiß gestreifter Schlagbaum versperrte den Zuweg über den Burggraben. Durchfahrt nur für Anwohner stand auf dem Schild, das an einer rostigen Kette daran hing. Elke stieg aus dem Volvo Vierzig aus.

«Komm, lass uns zu Fuß weitergehen.»

«Aber, mein Sonnenstrählchen, ich habe doch einen Schlüssel.»

Während Klaus sich an dem dicken Vorhängeschloss zu schaffen machte, das den Schlagbaum sicherte, schlängelte sich Elke am Pfosten vorbei.

«Ich gehe schon mal vor, du kannst ja dann nachkommen, wenn du den Schlagbaum oben hast.»

Die Brücke, die über den Burggraben führte, war gerade mal breit genug, dass ein großer Wagen sie überqueren konnte. Dafür war sie aber nicht sehr lang, denn der Burggraben war an dieser Stelle eher schmal. Eine Entenfamilie, Mutter Ente mit acht Küken schwamm unter der Brücke durch. Vater Erpel war nicht zu sehen. Elke beugte sich über das Geländer. Sehr tief schien der Graben nicht zu sein, wenn man den breiten Schilfrand in Betracht zog. Sie schnüffelte. Das Wasser roch modrig. In dem Schilfgürtel hatte sich Einiges an Unrat verfangen. Hier müsste dringend mal sauber gemacht werden.

Hinter der Brücke betrat Elke eine Allee aus Kirschbäumen. Die Blüte war fast vorbei, doch immer noch lag ihr süßer Duft in der Luft. Elke atmete tief ein und schaute traurig auf das hohe, verwilderte Gras, das rechts und links des Weges stand. Auch auf dem ungepflasterten Weg hatten sich so einige Grasbüschel und Unkräuter breit gemacht.

«Das gibt einen Haufen Arbeit», murmelte Elke. «Und wer soll die machen? Ich bestimmt nicht!»

Sie schüttelte energisch den Kopf, sah sie sich doch schon mit einer Hacke und einem Eimerchen hier sitzen und den Weg säubern. Hinter sich hörte sie ein Fluchen. Sie drehte sich um und konnte nur mit Mühe ein lautes Auflachen unterdrücken, sah sie doch den Burgherrn im Kampf mit dem Schlagbaum, der partout nicht aufrecht stehen und so die Durchfahrt für den alten Volvo freigeben wollte. Klaus winkte ihr hektisch zu, als wollte er ihr ein Zeichen geben. Doch in dem Moment klingelte Elkes Handy.

»Laura!« Voll Freude hatte sie den Namen ihrer Tochter im Display gelesen.

»Herzlichen Glückwunsch zum vierzigsten Hochzeitstag, Mama! Und? Was sagst du zu Papas Überraschung?«

»Du weißt davon?«

»Na, was glaubst du denn?« Laura lachte. »Papa zieht doch so ein Ding nicht allein durch. Wozu hat er einen Schwiegersohn, der Notar ist, und ihm bei dem ganzen Papierkram helfen kann?«

»Hätte ich mir eigentlich denken können«, murmelte Elke.

»Und wie gefällt dir die Burg? Sag doch endlich!«

»Ich bin noch auf der Allee dorthin, die Burg habe ich noch gar nicht gesehen. Da ist eine Hecke im Weg, die seit Dornröschens Zeiten wohl nicht geschnitten wurde. Ich sehe nur einen Turm. Und der steht hoffentlich noch, bis ich da bin.«

»Ach Mama, sei doch nicht so negativ. Die Bausubstanz ist top, sagt Carsten.«

»Der wusste auch Bescheid?« Elkes Stimme schraubte sich eine Tonlage höher.

»Du hast nicht nur einen Notar als Schwiegersohn, sondern darüber hinaus einen Bauingenieur als Sohn. Natürlich hat Carsten erst einmal die Bausubstanz überprüft, bevor Papa das Erbe annahm. Und er sagte, dass alles prima in Ordnung sei. Mit ein bisschen Farbe und ein paar kleinen Modernisierungen bekommt ihr alles wieder in Schuss, meinte Carsten.«

»Solange dein Vater das nicht alles selbst machen will.«

Sie seufzte, während Laura kicherte.

»Papa mit seinen zwei linken Händen. Das wird wohl eher nichts.« Jetzt musste selbst Elke lachen. Sie drehte sich in Richtung ihres Mannes und sah ihn mit dem Picknickkorb und einer Decke auf sie zukommen. Den Kampf mit dem Schlagbaum schien er verloren zu haben.

»Papa kommt gerade. Willst du ihn noch sprechen?«

»Lass mal, Mama. Ich rufe heute Abend noch mal an, dann könnt ihr mir alles ihn Ruhe erzählen. Genieß den Tag!« Mit einem Kuss in den Hörer legte Laura auf.

»Das blöde Ding wollte allein partout nicht aufrecht stehen bleiben. Beim nächsten Mal musst du mir helfen.«

Klaus stellte den Picknickkorb ab, sah sich um und strahlte Elke an.

»Und? Was sagst du? Ist es nicht wunderschön hier?«

Elke nickte. Gern hätte sie etwas anderes gesagt, denn eigentlich war sie wütend, dass Klaus, ohne sie zu fragen, dieses Erbe angenommen hatte. Aber allein die Kirschbaumallee war wunderschön. Mittlerweile war Elke gespannt, was noch alles auf sie zukommen würde. Die Worte Lauras hatten ihr ein wenig Mut gemacht. Ihr Sohn und Schwiegersohn hätten Klaus abgeraten, die Burg zu übernehmen, wenn sie marode gewesen wäre.

Klaus hielt ihr die Hand hin. »Komm!«

Sie legte ihre Hand in seine und händchenhaltend, wie ein frisch verliebtes Paar, gingen die beiden weiter.

Hinter der Allee öffnete sich die Burginsel. Linker Hand stand direkt am Teich, zu dem sich der Burggraben hier erweitert hatte, ein zweistöckiges rotes Backsteinhaus, das wie ein kleines Gutshaus wirkte. Der Eingang wurde von weißen Säulen flankiert.

»Das ist das sogenannte Torhaus«, erklärte Klaus. »Ursprünglich stand es direkt hinter dem Burggraben. Aber es ist irgendwann im 17. Jahrhundert bei einem Überfall abgebrannt.«

»Aber so alt ist das Haus doch nicht?«

»Nein, dies hier wurde erst vor rund 100 Jahren errichtet. Und das kleine Haus auf der anderen Seite,« Klaus zeigte zu einem winzigen, halb verfallenen Häuschen, »ist das Gärtnerhaus.«

»In dem - wenn ich mich hier so umsehe - auch schon seit ewigen Zeiten keiner mehr gewohnt hat und entsprechend lange niemand mehr hier im Garten gewerkelt hat.«

»Ach, das kriegen wir schon hin. Ich kauf mir einen Aufsitzmäher -«, Elke verdrehte die Augen. Männer und ihre Spielzeuge. »- und dann haben wir die Rasenflächen im Nu wieder schier.«

»Und der Rest? Mähst du dann auch noch die Hecken wieder in Form? Mähst das Unkraut aus den Wegen?«

»Das findet sich. Jetzt komm und schau dir endlich die Burg an.«

Elke schüttelte den Kopf und kniff die Augen fest zusammen. Bisher hatte sie es tunlichst vermieden in Richtung Burg zu schauen, obwohl sie eigentlich nicht zu übersehen war. Aber Elke hoffte, wenn sie nicht hinsah, würde sie aufwachen und konnte über den albernen Traum lachen. Klaus nahm ihren Kopf zwischen beide Hände und drehte Elke so, dass sie in Richtung Burg blickte.

»Augen auf!«

Elke wagte kaum, ihren Augen zu trauen. Vor ihr stand ein dreiflügeliges, zweigeschossiges Bauwerk aus roten Backsteinen mit hohen weißen Fenstern im unteren Stockwerk. An der rechten hinteren Seite war der Burgturm zu sehen, der das Gebäude deutlich überragte. Statt nach oben offenen Zinnen, hatte er wie das Hauptgebäude ein Dach aus schwarzen Schindeln. Seine Fenster waren etwas kleiner. Zwischen den Seitengebäuden ging ein Zuweg zum Haupteingang.

»Da muss ein Rondell in die Mitte, mit einem Brunnen«, murmelte Elke. »Und Rosen!«

»Es gefällt dir?«

»Es ist ganz anders als ich es mir vorgestellt hatte. Ich dachte an eine riesige Burg-Ruine, aus schweren nur grob behauenen Steinen. So wie wir sie in Schottland gesehen haben. Aber dieses Gebäude ist einfach nur schön. Und wenn der Turm nicht wäre, würde ich gar nicht glauben, dass das eine Burg sein soll.«

Sie ging schnell voran.

»Hast du auch Schlüssel für die Burg? Ich will sie mir so gern von Innen ansehen.«

Klaus zog das dicke Schlüsselbund aus der Jackentasche und schlenkerte es vor ihren Augen.

»Puh, hier muss aber mal gründlich sauber gemacht werden.«

Elke stob durch die unteren Räume und warf die Worte dem hinter ihr schlendernden Klaus zu. Sie blieb an einem der hohen Fenster, die zum Teich zeigten, stehen, öffnete das Innenfenster und nahm sich ein Taschentuch, um damit Spinnweben wegzuwedeln, die sich zwischen den Fenstern gesammelt hatten. Danach drückte sie die Außenfenster auf.

»Hier müssen Luft und Sonne rein!«, stellte sie fest. Sie sah sich in dem großen Raum um. Die Farbe der zartgelb gestrichenen Wände war an einigen Stellen verblichen, wo einst Bilder hingen, war anhand der Ränder erkennbar und auch die Vielzahl der Formate. Die Decke hatte einen eleganten Stuckrahmen und wo einst wohl schwere Kronleuchter hingen, waren Stuckrosetten in der Decke.

»Das ist aber nicht original«, stellte sie fest.

»Nein«, bestätigte Klaus. »Im Inneren hat jeder Burgherr seine persönliche Note hinterlassen. Daher gibt es auch Heizung und Strom. Nur der Turm ist noch absolut original so erhalten, wie er 1186 erbaut wurde. Die ursprüngliche Burg aus dem 12. Jahrhundert wurde irgendwann um 1600 überfallen und ist teilweise ausgebrannt. Der linke Flügel, in dem wir jetzt stehen, wurde abgerissen und neu aufgebaut, der rechte Flügel ist zum Teil noch original, zum Teil aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Du siehst, wir haben schon die modernere Variante.«

»Da fehlen ja nur die isolierverglasten Fenster, so modern wie das hier ist.« Die Ironie in Elkes Stimme war unüberhörbar.

»Du wirst es nicht glauben, mein Sonnenstrählchen, aber die gibt es.«

»Wie bitte? Und der Denkmalschutz?«

»Irgendeiner meiner Vorfahren hat sich anscheinend nicht darum geschert und moderne doppelverglaste Fenster eingebaut. Zum Glück nur in den Dacherkern, es fällt also nicht weiter auf. Und nach hinten raus gibt es noch ein paar Dachflächenfenster. Aber dadurch ist es da oben auf dem Dachboden schön hell. Und wenn, man die Fenster öffnet auch schön luftig.«

»Das muss ich mir ansehen!« Elke stürmte Richtung Treppe, die gleich hinter dem Eingangsportal rechts und links nach oben führte. Plötzlich stutzte sie, streckte ihre Nase in die Luft und schnüffelte.

»Es riecht hier gar nicht!«

»Was meinst du damit?«

»Es riecht hier nicht alt und muffig. Nicht feucht, obwohl doch drumherum das ganze Wasser ist. Es riecht staubig, mehr nicht.«

»Das könnte daran liegen, dass die Burg auf einem Gewölbe erbaut ist, dass ziemlich tief unter die Erde geht. Wir mussten schließlich zur Tür erst einmal die Stufen empor gehen.«

»Ein tiefer Keller also.«

Klaus seufzte. »Kein Keller, ein Gewölbe.»

«Dann eben Gewölbe. Dann kannst du dort ja in Zukunft deine Weinflaschen lagern. Mein Wein lagert im Gewölbekeller. Klingt wahrscheinlich besser als Meine Waschmaschine steht im Gewölbekeller.» Elke kicherte. «Und jetzt führet mich zu meinem Trockenboden, Junker Klaus!»

Sie hielt ihm die Hand hin, die er daraufhin auf seinen Unterarm legt. Gemeinsam stiegen sie Treppen empor, bis sie im Dachgeschoss ankamen. Im rechten Flügel standen in einigen der kleineren Räume matratzenlose Skelette alter Eisenbetten und schiefe Schränke, deren Türen teilweise offenstanden. Hinter einer Tür war eine Toilette verborgen, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatte.

«Ein Plumpsklo, Klaus!»

Hinter zwei anderen Türen fanden sie Badezimmer, die aus den siebziger Jahren zu stammen schienen, wie die Farbe der Fliesen vermuten ließ.

«Hellblau für die Herren, Rosa für die Damen», kommentierte Elke. «Vermutlich waren das hier Dienstbotenquartiere.»

Auf dem Weg zum linken Flügel durchquerten sie einen riesigen Dachboden, der durch die berüchtigten Dachflächenfenster erhellt wurde. Im linken Flügel standen die Zimmer leer. Sie wirkten hell und freundlich und schienen nach einer noch nicht lange zurückliegenden Renovierung nicht viel benutzt zu sein. Auch hier gab es zwei Badezimmer, die aber nicht älter als zehn Jahre zu sein schienen.

«Und hier siehst du die verbotenen Fenster.»

«Aber die passen doch gut in die Optik», stellte Elke fest.

«Ja, die sind schon gut gemacht, aber eben Iso-Verglasung und vom Denkmalschutz eigentlich nicht erlaubt.» Klaus fasste sich auf den Bauch, wo sein Magen unüberhörbar knurrte. «Und jetzt habe ich Hunger. Wozu habe ich einen Picknickkorb gepackt, wenn wir nichts essen. Wo möchte die Gnädige denn ihr Picknick einnehmen?» Elke überlegte kurz.

«Am Torhaus mit Blick auf den Teich», bestimmte sie dann.

Klaus hatte die karierte Decke auf die Rasenfläche zwischen der Terrasse des Torhauses und dem Teich gelegt. Die Blätter der Seerosen hatten sich bereits am Rand der Teichoberfläche ausgebreitet und einzelne noch geschlossene Knospen ragten zwischen ihnen empor. Im Hintergrund zog eine Ente mit ihren Küken ihre Bahnen. Die Maisonne schien mild, genau richtig, um ihre Strahlen zu genießen. Elke kam um die Ecke des Torhauses, sie musste dringend auf Toilette und hatte die im Torhaus genutzt.

«Ach, ist die herrlich altmodisch», strahlte sie. «Der Terrazzoboden im Erdgeschoss ist traumschön. Den müssen wir erhalten. Auch diese schwarz-weißen Fliesen in der Toilette dürfen nicht weg. Gut, ansonsten muss alles neu, aber vielleicht geht das, ohne zu viel kaputt zu machen.»

«Ich muss gestehen, so genau habe ich mir das Torhaus noch gar nicht angesehen.» Klaus öffnete die Flasche Hugo, die er seiner Elke zuliebe gekauft hatte. «Aber dein Wunsch ist mir Befehl.» Mit diesen Worten goss er ein.

«Das Häuschen machen wir uns so richtig nett», schwärmte Elke mit leuchtenden Augen. «Unten ist Platz für ein schönes Wohnzimmer und ein kleines Esszimmer kommt direkt neben die Küche. Da steht noch ein alter Herd, der mit Holz beheizt wird. Und oben ist dann Platz für unser Schlafzimmer und ein Arbeitszimmer sowie ein Gästezimmer, wenn Carsten uns besuchen kommt. Und dann - » Elke verstummte schlagartig. «Ziehen wir denn hierher? Was wird aus unserem Häuschen? Und wie wollen wir das alles bezahlen?»

Das Leuchten war aus ihren Augen verschwunden.

«Mach dir da mal keine Gedanken. Das bekommen wir alles hin. Ich habe da schon einen Plan. Jetzt setz dich erst mal, genieß den Ausblick und lass uns auf unsere Burg Hanrovia anstoßen.»

Er zog Elke sanft zu sich herab und reichte ihr ein Glas.

«Auf uns und unsere Zukunft als Burgherren!»

KAPITEL 2

Das Leben meistert man lächelnd oder überhaupt nicht.(Glückskeks Nr. 2)

Elke drehte sich auf die rechte Seite. Dabei fiel ihr Blick auf die leuchtenden Ziffern des Weckers. 2:05 Uhr. Todmüde war sie, als sie gegen 23 Uhr zu Bett gegangen sind. Doch dann war sie schlagartig wieder wach.

Ich habe Burg Hanrovia geerbt, mein Sonnenstrählchen! Diesen Satz von Klaus hörte sie wieder und wieder, wenn sie die Augen schloss. Du wirst das Burgfräulein von Burg Hanrovia. - Zu unserem vierzigsten Hochzeitstag wollte ich dir etwas ganz Besonderes schenken. Elke hielt sich die Ohren zu, doch es nützte nichts. Klaus' Stimme wiederholte wieder und wieder diese unsäglichen Sätze.

Wie konnte er nur schlafen in so einer Situation? Elke dreht sich auf die linke Seite und schaute auf ihren selig schlafenden Mann. Er lag auf dem Rücken, sein Mund stand leicht offen und ein leises Schnorcheln schlüpfte durch seine Lippen.

»Ohne dieses Geräusch kann ich nicht schlafen«, pflegte sie sonst immer liebevoll zu sagen. Aber heute ging es ihr auf die Nerven. Er schlief sanft wie ein Baby und träumte wohl davon in einer Ritterrüstung über das Gut zu lustwandeln. Jedenfalls wirkte sein verträumtes Lächeln so.

»Soll ich ihm in die Nase kneifen?«, murmelte Elke. »Dann ist er wenigstens auch wach und ich nicht allein schlaflos.« Aber sie kannte ihren Mann. Er würde nur kurz schnauben, sich auf die Seite drehen und dann weiterschlafen.

Elke warf sich herum auf den Rücken. Ein Blick nach rechts zum Wecker, 02:15 Uhr. Wie lange sollte diese Nacht denn noch dauern? »Ich sollte Schäfchen zählen, vielleicht hilft das.« Sie schloss die Augen, stellte sich vor, sie wäre am Deich vom Wesselburener Koog und zählte die Lämmer ihres Bruders Henner. »Ein Lamm - mähh! - 2 Lämmer - mähh! - drei Lämmer - mähh! ... 15 Lämmer - mähh!« Plötzlich verwandelten sich die Lämmer in Ritter in eisernen Rüstungen, die von der Zinne des Burgturms in den Burggraben sprangen. »Klaus! Spring nicht! Du kannst in deiner Rüstung nicht schwimmen! Du gehst unter!« Sie war wieder hellwach.

»Alles ist gut, mein Sonnenstrählchen«, murmelte Klaus neben ihr, bevor er sich auf die Seite drehte und weiterschlief.

02:45 Uhr zeigten die Ziffern des Weckers unbarmherzig an. Abends hatte sie noch mit ihrer Tochter telefoniert. Die beiden Enkelkinder waren schon ganz gespannt, Oma und Opa auf der Burg zu besuchen, erfuhr sie da. Wenn man noch in den Kindergarten ging, wie die beiden Mädchen, war die ganze Welt ein Abenteuer, dachte Elke sich, als sie das hörte. Sie schwankte zwischen vorsichtiger Freude darüber, dass sich nach vierzig Ehejahren und dem bevorstehenden Rentnerdasein ihres Mannes keine Langeweile eingeschlichen hatte, sondern etwas Aufregendes, Neues vor ihnen lag und der Angst, wie ihnen das alles gelingen sollte. Hatte sich Klaus vielleicht doch übernommen? Nicht nur finanziell, sondern auch mit der ganzen Arbeit, die vor ihnen lag. Könnten sie die jemals bewältigen. Was wäre, wenn sie ihr Haus verkaufen und ihre Ersparnisse investieren würden und dann das Abenteuer Burg in einem finanziellen Desaster endete? Sie müsste darauf achten, dass aus den laufenden Einkünften, die durch Klaus' Pensionierung geringer ausfallen würden - und erst recht, wenn auch sie in ein paar Jahren aufhören würde zu unterrichten - nicht zu viel in die Unterhaltung der Burg investiert würde.

03:07 Uhr. Da sie sowieso nicht schlafen konnte, stand Elke auf. Leise schlich sie zur Tür, warf noch einen Blick zurück zu ihrem schlafenden Ehemann und ging dann die Treppe nach unten. Dort angekommen machte sie Licht an. Das grelle Deckenlicht deckte erbarmungslos auf, wie lange es her war, dass die Wände neue Tapeten oder frische Farben bekommen hatten. Elke ging in die Küche. Sie war ihr ganzer Stolz, ihre neue Einbauküche, die sie sich vor fast dreißig Jahren geleistet hatte. Doch jetzt entdeckte Elke die Schwachstellen, die im Laufe der Zeit entstanden sind. An dem Oberschrank, in dem die Gläser standen, platzte das Furnier ab, genau wie am Kühlschrank. Und am Vorratsschrank sah Elke jetzt deutlich die Löcher von Carstens Versuch, seine Bilder mi Reißzwecken und Hammer zu befestigen. Er hatte als achtjähriger Stöpke das Klebeband nicht gefunden und wollte seine Mama unbedingt mit den schönen Bildern, die er in der Schule gemalt hatte, überraschen.

Elke seufzte, nahm sich ein Glas Wasser und setzte sich an den Küchentisch. Hier wäre eine umfassende Renovierung nötig. Was würde denn nun aus ihrem Häuschen werden? Was waren sie beide glücklich, als sie es sich kaufen konnten. Elke war damals mit Laura schwanger. Damals war Elke mit ihrem Klaus bereits fast sieben Jahre verheiratet.

Alle hatten gedacht, sie sei schwanger, als sie mit gerade einmal neunzehn Jahren Klaus geheiratet hatte. Sie war sechzehn, als sie den gut fünf Jahre älteren Klaus kennenlernte. Er hatte soeben seine Bundeswehrzeit beendet und das Mathematik-Studium begonnen. Durch seine ruhige Art fühlte Elke sich sofort zu dem großen, blonden Studenten hingezogen. Bei ihm dauerte es etwas länger, bis er auf das schüchterne Mädchen mit den rötlichen Haaren und den Sommersprossen aufmerksam wurde. Als er dann sein Studium beendet hatte und seinen Vorbereitungsdienst in der höheren Laufbahn beim Finanzamt antreten konnte, machte er seiner Elke den Heiratsantrag. Sie studierte mittlerweile in Kiel, um Lehrerin zu werden. Was lag da näher als zusammenzuziehen? Elke lächelte. Es passte zu Klaus, dass dann auch alles seine Ordnung haben sollte und sie heirateten.

Sie stand auf und ging ans Fenster. Die dunkle Nacht begann dem Morgen zu weichen, ganz langsam wurden die ersten Silhouetten der Sträucher im Garten sichtbar.

»Kannst du nicht schlafen, mein Sonnenstrählchen?« Klaus war hinter Elke getreten und legte seine Arme um sie. Sie lehnte ihren Kopf an seiner Schulter.

»Meine Gedanken kreisen. Schaffen wir das? Worauf haben wir uns nur eingelassen?«

»Vertrau mir, ich habe mir das wirklich alles genau überlegt.« Er drehte sie um, hob ihr Kinn mit der Hand an, damit sie ihm in die Augen schauen musste und zwinkerte ihr zu. »Glaubst du etwa, ich stürze mich in meinem hohen Alter noch in irgendwelche Abenteuer.«

»Bis heute Morgen hätte ich das nie für möglich gehalten, jetzt bin ich mir aber nicht mehr so sicher. Alter schützt vor Torheit nicht.«

Lachend nahm Klaus sie in den Arm. »Komm, lass uns wieder ins Bett gehen. Morgen kommt die Familie zum Feiern. Da soll dein strahlendes Lächeln nicht durch müde Augen getrübt werden.«

»Oma, Oma!« Die sechsjährige Nele kam auf Elke zugelaufen, die Blumen, die sie in der Hand hielt, wild schwenkend, so dass der Strauß arg zerrupft aussah. »Für dich!«, sagte sie atemlos vor Aufregung, als sie ihn ihr überreichte. Elke ging in die Hocke und nahm ihre Enkeltochter fest in die Arme.

»Ich auch, ich auch!«, drängte sich die fast vierjährige Lina dazwischen.

»Komm, mein Schatz. Omas Arme sind groß genug, euch beide zu halten.« Elke atmete tief den Duft aus Linas Haaren ein, diesen unbeschreiblichen Geruch, den nur kleine Kinder haben - eine Mischung aus einem bisschen Schlaf, ein wenig Babycreme und einem Hauch Windel.

Sie hatten einen wunderschönen Tisch auf der Terrasse des Fährhauses bekommen, dem Restaurant an der Eider, in das sie immer zu Familienfesten gingen. Der Tisch war anlässlich des vierzig. Hochzeitstages besonders festlich eingedeckt. Die Sonne strahlte und von der Terrasse aus konnte man die Segler beobachten, die auf der Eider Richtung Nordsee zogen. Es roch nach Salzwasser und Frühling.

»Ich gratuliere dir, Mama.« Laura reicht Elke ein Päckchen. »Aber bitte erst auspacken, wenn Carsten da ist - ist von uns dreien.«

»Warum gratuliert mir eigentlich nie jemand?«, ließ Klaus sich vernehmen. »Ich bin immerhin auch vierzig Jahre verheiratet.»

«Weil Mutti es vierzig Jahre mit dir ausgehalten hat!» Laura zwinkerte ihrem Vater zu.

«Ich gratuliere dir, Schwiegerpapa. Vierzig Jahre mit Elke, das hätte ich auch geschafft, aber ob ich es so lange mit deiner Tochter aushalte, kann ich dir noch nicht sagen.» Spielerisch empört boxte Laura André in den Oberarm.

«Wart nur ab, bis wir wieder zu Hause sind, mein Freund!»

«Siehst du, ich muss nicht nur ihre spitze Zunge fürchten, sie wird auch noch gewalttätig.» André legte den Arm um Laura und gab ihr einen zärtlichen Kuss. «Carsten kommt etwas später, er hat vorhin angerufen. Im Elbtunnel ist eine Röhre gesperrt, entsprechend voll ist es. Ich denke», André schaute auf die Uhr, «in spätestens einer halben Stunde ist er hier.»

«Wir fangen aber trotzdem schon mal an,» beschloss Klaus. «Kinder, lasst euch schmecken, was das Buffet hergibt.»

Die Kleinen zogen Laura in das Innere des Restaurants, in dem ein Buffet aufgebaut war, das keine Wünsche offenließ. Die anderen folgten ihnen lächelnd.

«André, setzt du dich beim Essen bitte zu mir.» Elke setzte sich an das Kopfende des Tisches und wies auf den freien Platz an ihrer Seite. «So können wir uns besser unterhalten.»

«Ohne, dass Klaus jedes Wort mitbekommt?», ergänzte ihr Schwiegersohn mit verschmitztem Gesichtsausdruck.

«Ich habe noch so viele Fragen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, er weicht mir aus.»

«Dann leg los!»

«Wieso erbt mein Mann eine Burg? Geht das wirklich mit rechten Dingen zu? Man hört und liest doch immer wieder, von diesen mysteriösen Mails, in denen Leute ein Vermögen erben, aber erst ein paar tausend Euro überweisen müssen.»

André legte sein Besteck zur Seite und nahm erst einmal einen Schluck von seinem Bier.

«Laura fährt nachher,» erklärte er auf Elkes besorgten Blick hin. «Mach dir erst einmal keine Sorgen, das ist alles ganz korrekt gelaufen. Klaus bekam im November einen Brief von einem Stuttgarter Kollegen, der sich auf Erbensuche spezialisiert hat. Und damit kam er erst einmal zu mir. Natürlich hatte er sofort ähnliche Gedanken wie du, witterte da eine Betrugsmasche. Aber es ist wirklich so, Klaus ist Erbe dieser Burg. Vor ein paar Jahren, ich glaube fünf oder sechs, ist der Vorbesitzer gestorben. Und der Besitz wäre - wenn es keinen Erben gäbe oder der das Erbe ablehnt - an das Land gefallen. Daher ist das Land verpflichtet sich auf die Suche nach einem Erben zu machen. Und über intensive und lange Recherchen unter anderem des Familienstammbaums hat sich ergeben, dass Klaus der letzte einer langen Reihe von männlichen Nachkommen eines Burgvogts Heinrich ist, der die Burg Hanrovia 1205 von Graf Adolf III. als Dank für seine treuen Dienste geschenkt bekam. Euer Nachname 'Fauth' hat den Stuttgarter Kollegen auf die richtige Fährte geführt.»

«Wieso?»

«Dieser Vogt Heinrich hat die Burg erbaut und hier in der Gegend für Graf Adolf von Holstein und Schaumburg regiert und Recht gesprochen. Er bekam dann die Burg und den Titel Burggraf verliehen. Und euer Name – Fauth – kommt aus dem mittelhochdeutschen für Vogt. Wahrscheinlich haben die Menschen hier, obwohl er mittlerweile Burggraf war, von ihm immer nur als Vogt gesprochen. Und so ist das euer Familienname geworden. Und ihr zu Burgerben.»

«Aber Fauth ist doch ein eher seltener Nachname. Da hat die Suche so viele Jahre gedauert?»

«Immerhin gibt es mehr als 1900 Menschen in Deutschland, die Fauth heißen.»

«Oh!»

«Und zuerst hat er unter dem Namen Vogt gesucht, da Klaus Verwandter in Süddeutschland diesen Nachnamen trug. Es muss irgendwann zu einer Trennung in zwei Ahnenreihen gekommen sein, in Süddeutschland unter Vogt, in Norddeutschland unter Fauth. Und weißt du wie viele Menschen mit dem Namen Vogt haben?»

Elke schüttelte den Kopf.

«Ich auch nicht, aber es sind sehr, sehr viele.» André zwinkerte ihr zu, nahm sein Handy und gab den Namen Vogt in die Suchfunktion ein. «Es gibt über 170.000 Vogts allein in Deutschland.»

«Aber so ein Erbe kostet doch hohe Erbschaftssteuer?» Elke bohrte weiter.

«Die Burg selbst ist von Erbschaftssteuer befreit, wenn ihr ein paar Auflagen einhaltet. Und das, was ihr für das Land drumherum sowie ein bisschen Wald zahlen müsst, hält sich im Rahmen.»

«Du sagtest vorhin, ein Anwalt aus Stuttgart hat Klaus geschrieben?»

«Ja, der letzte Burgherr lebte in Baden-Württemberg. Er schien auch nicht so viel Interesse an der Burg zu haben. Keine Ahnung, was er damit vorhatte. Anscheinend hat er das meiste, was Wert hatte, verkauft. Auch einen großen Teil des Landes, das ursprünglich dazu gehörte.»

«Ich habe mich schon gewundert, dass die Räume so leer sind.»

«Im Obergeschoss des rechten Flügels steht ganz viel rum. Bilder, Möbel, und ein paar schöne alte Holztruhen. Hast du die nicht gesehen?»

«Ach, ich war gestern so aufgeregt, da habe ich noch lange nicht alles gesehen. Dazu war ich auch noch gar nicht in der Lage. Der Schock war zu groß. Aber die Iso-Fenster habe ich gesehen.»

«Ja, damit hat sich euer Vorfahr bösen Ärger mit der Denkmalschutzbehörde eingefangen. Wahrscheinlich hatte er danach keine Lust mehr, Burgherr zu spielen.» André hatte wieder zu essen begonnen. «Glaub mir, dieses Erbe wird euch noch viel Freude machen.»

«Na hoffentlich!» Elke seufzte. «Wenn Carsten auch einverstanden war. Er ist ja dann der nächste, der das Ungetüm erbt.»

«Wenn man vom Teufel spricht...»

Elke fühlte sich plötzlich von zwei Armen umfangen. Eine Wange drückte sich an ihre. «Herzlichen Glückwunsch zum Hochzeitstag, Mamale!»

Sie drehte sich in ihrem Stuhl um. «Carsten! Da bist du ja endlich!» Ihre Augen leuchteten. Seit ihr Sohn zum Studium nach Hannover gezogen war und nach erfolgreichem Abschluss auch dort gleich eine Stelle bei einem großen Bauunternehmen bekommen hatte, sah sie ihn nur noch wenige Male im Jahr. «Entschuldige Mamale, ich bin extra zeitig los, damit ich pünktlich zum Brunch hier sein kann, aber im Elbtunnel war ein Unfall.» Er zog entschuldigend die Schultern hoch.

«Hauptsache, du bist überhaupt da. Jetzt hol dir was zu essen und setz dich.»

«Komm zu mir, mein Sohn», war Klaus vom anderen Ende des Tisches zu vernehmen. «Ich habe dir extra einen Platz an meiner Seite freigehalten.»

Zufrieden betrachtete Elke ihre Familie, wie sie miteinander saßen und sich unterhielten. Auch bei ihnen gab es mal kleinere Reibereien, aber das hielt nie lange an. Von dem Tag seiner Geburt an liebte Laura ihren kleinen Bruder. Drei Jahre Altersunterschied konnten sehr viel sein, besonders wenn die große Schwester in die Pubertät kam, aber selbst da gab es kaum mal Streit zwischen den beiden. Jetzt saßen sie sich gegenüber, rechts und links von Klaus. Laura war mehr nach ihr geraten, fand Elke. Ihre Haare hatten nicht ganz die die Farbe von Kastanien, die Elkes früher hatten, sie war aber sonst ein ähnlicher Typ. Auch Laura musste sich mit den ärgerlichen Pfunden herumschlagen, die nach der zweiten Schwangerschaft einfach nicht mehr verschwinden wollten und sich stattdessen regelmäßig vermehrten. Carsten war das Ebenbild seines Vaters. Groß, er überragte mit seinen 1,96 sogar noch seinen Vater, hatte die gleichen blonden Haare und meerblauen Augen, die bei beiden Männern immer zu lachen schienen. Carsten war schlank und durchtrainiert, während Klaus eher hager wirkte. Elke fragte sich, ob Klaus schon vor vierzig Jahren so dünn gewesen war. Oder wurde er mit jedem Gramm, das sie zunahm, weniger?

«Und, was sagst du zu unserem Geschenk?» Carsten riss sie aus ihrer Nachdenklichkeit.