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Emma hat Angst. Ihr Umzug nach New York ist für die junge Kostümbildnerin und Designerin eine Herausforderung, der sie sich stellen muss, wenn sie sich ihren Traum erfüllen möchte. Lange Zeit war Mark, ihr erster Freund und ihre große Liebe, ihr Halt im Leben. Doch nach seinem tragischen Tod hat sie diesen Halt verloren. Ihrer Freundin Ruby spielt sie eine Person vor, die sie nicht ist, die diese aber nur zu gern annimmt, um nicht hinter Emmas Fassade blicken zu müssen. Aber Caleb Black durchschaut Emma, denn auch in seiner Vergangenheit gibt es Schatten, die aus ihm den Mann gemacht haben, der er jetzt ist: ein Geschäftsmann, der die Gesetze manchmal zu seinem Vorteil beugt und seine Probleme mit Geschwindigkeitsrausch oder Schmerz zu lösen versucht.
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Warnung
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Epilog
Weitere Bücher
Für noch mehr Romantik:
Copyright © 2018 by Elena MacKenzie
Auflage 1 2021
Nicole Döhling
Dr.-Karl-Gelbke-Str. 16
08529 Plauen
Coverfoto: © Elena MacKenzie
Bilder: adobe Photostock
Coverdesign: ElenaMacKenzie
Alle Rechte vorbehalten: Elena MacKenzie
Dieses Buch enthält Inhalt, der auf einige Menschen verstörend wirken kann.
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SSV kann bei Menschen mit Depressionen, Missbrauch- und Traumataerfahrung und Zwangsstörungen auftreten.
Bei den meisten SSV-Patienten dient die Selbstverletzung der Regulierung von negativen Gefühlen und dem Abbau von Spannungen, die durch negative Gefühle hervorgerufen werden.
Zu den Behandlungsformen gehört auch die Übertragung durch sogenannte Skills: das Zupfen an einem Gummi um das Handgelenk, festhalten von Eiswürfeln, Eisspray, kauen auf Chilischoten.
Emma
»Dieser Abend wird der Anfang eines neuen Lebens sein«, sagt Ruby und wirft mir mit strengem Blick ein glänzend schwarzes Kleid aus meiner eigenen Kollektion zu. Das Oberteil besteht aus einer schwarz-roten Korsage und der Rock aus mehreren Lagen fliegendem Tüll: ein Kostüm für eine Tänzerin und alles andere als das, was man als Gast in einem noblen Club tragen sollte. Aber wenn wir uns nicht trauen, unsere eigenen Entwürfe zu tragen, wie sollten es unsere Kunden dann wagen? Dieser Abend im Luxury soll nicht zu unserem Vergnügen sein, sondern unserem Start-up einen wichtigen Kunden sichern.
Ich fange das Kostüm lustlos auf und lege es neben mich auf das Bett. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Doch, das bist du. Keine Widerrede, ich lasse nicht zu, dass du dich noch länger in deiner Wohlfühlzone versteckst. Raus aus den Jogginghosen und rein in den heißen Fummel. Dies hier ist New York und nicht Ocean City. Wir brauchen jeden Cent, den wir verdienen können, um uns dieses Apartment und den Laden unter unseren Füßen leisten zu können«, schimpft meine Freundin Ruby weiter auf mich ein.
Und sie hat recht. Bisher habe ich alles ihr überlassen, den Aufbau des Ladens, die Wohnungssuche und die Akquise erster Kunden, mich jedoch zwei Jahre lang in Ocean City versteckt, nur um meine Wunden zu lecken und mich nicht meinen Ängsten stellen zu müssen. Es wird Zeit, dass auch ich Verantwortung übernehme. Wenn es nur nicht so schwer wäre.
Ruby und ich haben diesen Traum schon seit wir uns auf der Junior High kennengelernt haben und Grandma Rose uns all ihre Geschichten über ihre Zeit als Burlesque-Tänzerin in Atlantic City erzählt hat. Sie hat uns ihre alten Kostüme gezeigt, hat sie uns anprobieren lassen, und wie Mädchen in diesem Alter, waren wir von all dem Funkeln und Glitzern fasziniert. Für mich stand immer fest: ich möchte auf den großen Bühnen dieses Landes tanzen und Bühnenkostüme entwerfen.
Mit dem Tanzen habe ich aufgehört, nachdem meine Großmutter gestorben war. Es war nicht mehr das Gleiche. Ursprünglich war Tanzen meine Medizin gegen all die Dinge, die ich erlebt und die man mir angetan hatte. Aber nach Großmutters Tod war es nur noch die schmerzhafte Erinnerung an ihren Verlust. Geblieben ist mir nur der Traum, Kostüme zu entwerfen und andere Tänzerinnen in ihnen sehen zu dürfen. Auch diesen Traum hätte ich beinahe aufgegeben, wenn Ruby nicht gewesen wäre. Sie ist allein nach New York gegangen und hat diese Wohnung und dieses Atelier gemietet, weil sie wusste, dass wir über das Internet keine Chance haben, jemanden von unseren Ideen zu überzeugen. Ich hätte mich noch ewig hinter dem kleinen Internetshop verstecken können, weil ich nicht sehen wollte, dass auf diesem Weg unser Traum zum Scheitern verurteilt war. Es war für mich nicht einfach, Ocean City zu verlassen und ihr zu folgen, aber letztendlich habe ich es doch gewagt.
Ruby stellt sich vor den Ankleidespiegel in ihrem Zimmer und beginnt, ihre honigblonden Haare von den großen Lockenwicklern zu lösen, dabei bewegt sie den Kopf kritisch hin und her und betrachtet ihre Erscheinung im Spiegel. »Findest du, ich sehe zu alt aus?«, will sie nachdenklich wissen und bürstet ihr schulterlanges Haar zu einer heißen 60er Jahre Frisur - oben sind sie glatt und liegen als glänzende Locken auf den Schultern. Den Pony rollt sie mithilfe von Nadeln zu einer echten Tolle und dann bindet sie sich noch ein rotes Bandana in ihr Haar.
Ruby ist eine wunderschöne schlanke Frau mit einem Vorbau, der die Blicke aller Männer direkt auf diese Körperregion zieht, sobald sie einen Raum betritt. Diese Aufmerksamkeit liebt sie, weswegen sie sich besonders viel Mühe dabei gibt, ihren Busen zur Geltung zu bringen, indem sie enge Oberteile mit weiten Ausschnitten trägt. Sie liebt es von Männern angebetet zu werden. Heute geht es ihr aber nur um einen einzigen Mann.
Ich verziehe grinsend das Gesicht. »Du bist 26, natürlich siehst du alt aus«, sage ich beiläufig.
»Du bist auch 26 und siehst viel älter aus als ich. Das kommt davon, wenn man sich in einer Kleinstadt verkriecht und niemals ausgeht, man wird alt«, knurrt sie mich an und zwinkert mir dann im Spiegel zu.
»Ocean City ist keine Kleinstadt«, kontere ich.
»Gegen New York schon.«
»Denkst du, er findet dich zu alt?«, hake ich nach und mustere die königsblaue Korsage, die Ruby über einer schwarzen hautengen Lederhose trägt, die ich ihr in den letzten Tagen auf den Leib geschneidert habe. Ich bin vor sechs Tagen hierher nach New York gezogen und alles, was ich bisher gesehen habe, ist diese Wohnung und das Ladengeschäft darunter, das wir als Ausstellungsraum, Büro und Atelier benutzen. Und die Häuser, an denen das Taxi auf der Fahrt vom Flughafen zu unserem Apartment vorbeigefahren ist, denn in meiner Angst habe ich alle Kraft darauf verwendet, mich auf jedes einzelne Haus zu konzentrieren und jedes bisschen New York in mich aufzusaugen, damit die Minuten schneller verstreichen, bis ich endlich aus der Enge des Autos entkommen konnte.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das Häuschen meiner Großeltern niemals verlassen, aber Rubys gebrochenes Herz hat mein Gewissen so sehr gerührt, dass ich nicht anders konnte. Vor ein paar Wochen hat Ruby mir in einem unserer täglichen Telefongespräche von ihrem One Night Stand erzählt und wie sehr sie sich in diesen Mann verliebt hat, der sie seither kaum noch beachtet. Sie hat mich angefleht, endlich nach New York zu kommen, weil sie meinen Trost so sehr brauche. Und nachdem ich sie in den letzten Jahren im Stich gelassen habe, konnte ich nicht anders. Ich musste meine Ängste verdrängen, so gut es mir möglich war, und meine Freundin unterstützen.
»Wenn er dich nicht will, hat er dich nicht verdient.«
Sie wendet sich zu mir um und sieht mich aus ihren Bernsteinaugen nachdenklich an. »Mein Kopf sagt, du hast recht, aber mein Herz sträubt sich dagegen zu akzeptieren, was es akzeptieren sollte. Es will ihn einfach zu sehr.« Dann zuckt sie mit den Schultern. »Aber es tut gut, dass du hier bist. Endlich! Ohne dich schaff ich das nicht. Ich verspreche dir, ich habe deswegen ein schlechtes Gewissen, solange ich lebe, weil ich weiß, wie schwer es dir gefallen ist, Ocean City zu verlassen.«
Ich weiche ihrem Blick aus. Eigentlich sollte ich das schlechte Gewissen haben. Das habe ich auch, wirklich ganz furchtbar schlecht. Dieses Atelier, New York, Kostüme für die großen Showbühnen zu entwerfen, das alles war unser gemeinsamer Traum und ich habe diesen Traum und Ruby lange im Stich gelassen. Viel zu lange.
»Er war der heißeste One Night Stand, den ich jemals hatte, und jetzt sieht er mich nicht einmal mehr an«, schwärmt Ruby unglücklich und mustert sich noch einmal im Spiegel. »Aber in diesem Aufzug muss er mich bemerken. Ich sehe scharf aus«, kreischt sie aufgeregt. »Wir werden in diesen Club gehen und er wird die Augen nicht mehr von mir abwenden können. Jetzt zieh dich schon endlich an!«
Ich werfe dem ›heißen Fummel‹ neben mir einen zweifelnden Blick zu. Ich befühle den glatten, seidigen Stoff des weiten Ausschnitts, betrachte zweifelnd das ärmellose Oberteil und sehe dann mit fest aufeinander gepressten Lippen zu Ruby auf. »Das kann ich nicht anziehen«, sage ich mit zitternder Stimme und schüttle den Kopf.
»Doch, du kannst«, sagt sie mit einem entschlossenen Nicken. »Du bist wunderschön, nichts kann daran etwas ändern.«
Bis auf die hellen Narben, die sich über meine ganzen Unterarme ziehen. Ich schäme mich zutiefst dafür, weil jeder, der diese Narben sehen kann, weiß, wie schwach ich bin, wie häufig ich nicht genug Kraft aufbringen konnte und dass ich ein Mensch bin, dessen Seele zerstört ist.
»Zu diesem Kleid passen diese Handschuhe einfach perfekt«, meint Ruby und wirft mir ein paar schwarze Handschuhe zu, die lang genug sind, um bis über die Ellenbogen zu reichen. Sie würden die Narben verstecken und ich könnte bedenkenlos das ärmellose Kleid tragen.
Der Gedanke, mit Ruby nach all der Zeit, die ich nicht mehr aus gewesen war, den Club zu besuchen, macht mir trotzdem Angst. Auf eine Party zu gehen, auf der sich unzählige fremde Menschen befinden werden, wäre ein großer Schritt für mich. Beängstigend. Ich lege eine Hand an meine Kehle, weil ich das Gefühl habe, nicht mehr atmen zu können. Ich muss mich mit Gewalt daran erinnern, dass ich mir geschworen habe, mich nicht länger selbst vom Leben abzuhalten. Nie wieder! Mein Puls rast, als ich das Kleid fester packe, es entschlossen gegen meine Brust drücke und nicke.
»Okay, ich schaffe das«, sage ich viel mehr zu mir, als zu Ruby. Ich kann Ruby nicht länger alles allein machen lassen. Das ist unser Traum. Also auch meine Verantwortung. Nach allem, was passiert ist, haben wir beide es nicht geschafft, das College zu beenden. Ich habe es nicht geschafft, weil ich mich um Rose kümmern musste. Und Ruby hat das College nicht beendet, weil sie für mich da sein und mich nicht allein lassen wollte mit dem Krebs, der meine Großmutter von uns weggerissen hat. Wir haben also nichts weiter als unseren Highschool-Abschluss und diesen Traum. Es ist umso wichtiger, jetzt, wo vom Erbe meiner Großmutter nichts mehr übrig ist, endlich alles zu geben, um uns etwas aufzubauen. »Emma Golden wird nicht länger eine Gefangene sein.«
»Schon besser, genau das wollte ich hören«, sagt Ruby mit einem breiten Grinsen. »Wenn du jetzt aufhören könntest, das Kleid zu zerknittern und es endlich anziehen würdest, dann könnten wir bald losgehen.« Sie wirft einen kontrollierenden Blick in den Spiegel und sieht mich dann an. »Das Luxury wird von genau den Leuten besucht, die wir brauchen, um wichtige Beziehungen zu knüpfen. Ein Vertrag mit dem Luxury wäre unser Fuß in der richtigen Tür.«
Diesen ›Fuß in der richtigen Tür‹ haben wir auch bitter nötig, denn lange werden wir finanziell nicht mehr durchhalten. New York ist eine sehr teure Stadt für zwei Mädchen aus Ocean City, die mit nichts weiter als Träumen hierher gekommen sind. Und dass ich zwei Jahre gebraucht habe, um mich von dem zu erholen, was eine einzige Nacht ausgelöst hat, war keine Hilfe für Ruby.
Ich stehe auf und stelle mich neben sie, steige aus meinen Jogginghosen und entschlossen in das Kostüm. Als ich nach New York gekommen bin, war ich fest entschlossen, die Vergangenheit nicht zu vergessen, aber sie nicht mehr mein Leben bestimmen zu lassen. Jetzt wird es Zeit, das auch endlich wahr zu machen. Das alles hier tue ich auch für meine Großmutter Rose. Sie hat sich immer gewünscht, dass wir an unseren Träumen festhalten und sie niemals aufgeben werden, egal wie schwer es vielleicht zeitweilig erscheinen mag. Irgendwann kommen bessere Zeiten und eines Tages dann kommt unsere Zeit und all die Arbeit wird sich gelohnt haben, hat sie uns immer erklärt. Ich betrachte mich im Spiegel, während Ruby mir im Rücken die Korsage bindet und lasse meine Finger über den Verlobungsring gleiten, den ich immer an einer Kette um meinen Hals trage. Der Diamant fängt glitzernd das Licht der Deckenlampe ein. Es gab eine Zeit, da wusste ich nicht, ob ich diesen Ring jemals ansehen kann, ohne an diese Nacht zu denken. Aber ein paar Monate Therapie und die Gefühle, die ich für Mark in meinem Herzen trage, haben mir geholfen, nicht nur die schlimmen Dinge zu sehen, wenn ich den Ring berühre.
»Die roten Tüllteile im Rock passen wunderbar zu deinen Haaren und der grüne Tüllrand an deinem Dekolleté betont deine Augen und macht dich zu einer Göttin«, sagt sie lächelnd. »Du siehst aus wie Bettie Page in Teaserama.«
Ich betrachte meine glänzend schwarzen schulterlangen Haare und den kurzen Pony, dann das Kleid mit der Korsage und den knallig roten Lippenstift, den Ruby mir vorhin aufgetragen hat, und grinse. »Du hast recht, aber Betties Kostüm hatte keine grünen Akzente, hätte ihr vielleicht auch gestanden.« Ich ziehe die langen Handschuhe langsam über meine Arme nach oben, bis über die Ellenbogen, und wünschte mir, sie wären noch viel länger. Verbissen versuche ich, nicht auf die hässliche Narbe zu sehen, die der Handschuh nicht komplett verdecken kann. Sie ist eine ewige Erinnerung an diese Nacht. Ich konzentriere mich einfach darauf, den anderen Handschuh auch noch überzustreifen. Und als ich das tue, höre ich in meinem Kopf die Klänge von Harlem Nocturne und sehe meine Großmutter, die große Mistress Golden, die ihrer Enkelin den Shimmy zeigt und dabei kokett die Augenbrauen hüpfen lässt und einen Schmollmund macht. Ich war zehn Jahre alt, als ich die alten Aufnahmen ihrer Shows entdeckt und sie angefleht habe, mir beizubringen, wie man so tanzt. Zuerst hielt meine Großmutter mich für zu jung, um Burlesque zu erlernen, dann war es nur ein Spaß, mir beizubringen, wie man Bumps und Doublebumps macht und irgendwann war es unser gemeinsames Ding. Ich habe lange nicht mehr getanzt, nicht mehr seit ihrem Tod vor einem Jahr.
Ich wende mich zu Ruby um, die mit einem Kajalstift in der Hand vor mir steht. »Du hast da noch eine Kleinigkeit vergessen«, sagt sie und macht einen Punkt auf meinen Wangenknochen. »Den Schönheitsfleck, erst der macht dich komplett.«
Mein Magen flattert etwas bei dem Gedanken, dass wir in einen der letzten Bulesque-Clubs der heutigen Zeit gehen werden. »Was wohl Mistress Golden sagen würde, wenn sie wüsste, wohin wir heute gehen?«
Ruby grinst breit. »Sie wäre nicht begeistert. Wahrscheinlich würde sie den Mädchen die Augen auskratzen, bei dem, was die als Burlesque bezeichnen.«
Ich lache laut auf und verdrehe die Augen. »Ich hoffe einfach mal, dass sie nicht so schlecht sind, wie du behauptest.«
»Du wirst dich wundern«, wirft Ruby mit einem genervten Augenrollen ein.
Ich kneife die Lippen fest zusammen und versuche, das flaue Gefühl in meinem Magen zu ignorieren. Ich bin unglaublich nervös. Noch viel nervöser als vor ein paar Tagen, bevor ich zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder länger als ein paar wenige Minuten mit einem Auto gefahren bin. Ich hoffe sehr, dass der Weg bis zum Luxury nicht zu weit ist. Ich atme tief ein und sehe noch einmal in den Spiegel. Für eine Sekunde sehe ich statt meinem das Gesicht meiner Großmutter, die mir zufrieden zulächelt. »Für Golden Designs«, flüstere ich.
Ich hasse New York schon jetzt! Dabei hat es mir nichts getan, aber diese Stadt ist so groß, dass man für die meisten Wege ein Taxi oder die U-Bahn braucht. Und beides macht mir Angst. Ich sitze neben Ruby auf dem Rücksitz eines Yellow Cab und kralle mich mit der einen Hand am Türgriff fest, die andere Hand hält Ruby, die versucht, mich mit ihrem streichelnden Daumen zu beruhigen. Der Unfall ist zwar schon zwei Jahre her, aber ich habe noch immer Probleme damit, mich in ein Auto zu setzen. Ich kann die eisige Kälte des Wassers noch immer auf meiner Haut spüren, das Blut sehen, das Mark aus Mund und Nase gelaufen ist. Und ich werde niemals den Anblick seiner weit aufgerissenen Augen vergessen, als ich sein wundervolles Gesicht zum letzten Mal gesehen habe.
Ich atme tief und langsam ein und aus und verdränge die Erinnerungen an diese Nacht. Draußen wechseln sich moderne Hochhäuser mit älteren Wohnhäusern ab und eine Flut von gelben Taxis wetteifert mit unserem durch den zähen Verkehr. Die ersten Minuten in einem Auto sind die schlimmsten, dann gibt es Minuten, in denen mein Herzschlag sich beruhigt und ich beinahe ruhig werde, darauf folgen dann wieder Minuten des inneren Kampfes. So ist es jedes Mal, wenn ich in ein Auto steige. Ich kann nicht mehr atmen, schwitze, schnappe nach Luft und zittere gegen die Furcht an. Aber ich gebe nicht auf, ich muss es immer wieder versuchen, besonders jetzt hier in New York. Ich beiße mir auf die Unterlippe und konzentriere mich weiter darauf, meine Atmung zu kontrollieren und zähle die Namen von Städten runter, die ich schon einmal besucht habe. Diesen Trick hat mir meine Therapeutin beigebracht. Das Aufzählen soll mein Gehirn von der Angst ablenken und die meiste Zeit funktioniert das ganz gut. Zumindest breche ich nicht mehr in Panik aus und versuche mich schreiend aus fahrenden Autos zu befreien.
»Dort vorn ist es«, sagt Ruby und drückt meine Hand.
Ich nicke erleichtert und hole zitternd Luft. »Ich hätte locker noch eine Stunde geschafft«, sage ich ironisch und setze ein Grinsen auf.
»Besser wir übertreiben es nicht, ich bin schon froh, dass du es bis nach New York geschafft hast«, sagt sie mit einem zuversichtlichen Lächeln, das mich wohl aufmuntern soll. Rubys Methode mit meinen Ängsten umzugehen ist mit Witzen über sie hinwegzugehen. Das klingt für manchen vielleicht herzlos, aber es funktioniert, was nämlich überhaupt nicht funktioniert ist, wenn Menschen mit Mitleid reagieren. Mitleid macht alles nur noch schlimmer.
Ich lache. »Ja, die Stewardess glaubt jetzt sicher, ich hätte ein Alkoholproblem.« Ich stand auf dem Flug etwas neben mir und habe sämtliche Passagiere an meiner Biografie teilhaben lassen. Wahrscheinlich hätte ich nicht zusätzlich zum Diazepam auch noch Sekt zu mir nehmen sollen. Meine Therapeutin hat mir für akute Notfälle Diazepam aufgeschrieben, der Flug nach New York war solch ein akuter Notfall für mich.
Ruby bezahlt das Taxi, das direkt vor dem gläsernen Eingang des Luxury gehalten hat, dann steigen wir aus. Ich sauge erleichtert die kühle Abendluft ein und bewundere die gläsernen Türen, in denen sich tausende Lichtstrahlen zu brechen scheinen, fast wie bei einem Diamanten. Über dem Eingang steht in riesigen beleuchteten Buchstaben ›Luxury‹. Der Club befindet sich in der unteren Etage eines fünf Etagen hohen weißen Hauses in der East 81, schräg gegenüber des Metropolitan Museum of Art. Ich hätte erwartet, hier eine lange Schlange Wartender zu sehen, die alle in den Club wollen, aber es gibt nur wenige Menschen, die vor dem Eingang stehen.
»Sind wir zu früh?«, frage ich Ruby verwundert.
»Nein, an drei Tagen in der Woche kommt in das Luxury nur rein, wer eine Clubkarte besitzt oder auf der Liste steht. Wir stehen auf der Liste.« Sie grinst breit und geht direkt auf einen Mann in einem dunklen Anzug zu, der vor dem Eingang steht. Ich folge ihr verwundert, weil ich damit gerechnet hatte, dass es hier so sein würde, wie ich es aus dem Fernsehen kenne und man lange warten müsse, bis man den Club überhaupt betreten könne. Der Mann am Eingang mustert uns mit wenig Interesse und tritt dann zur Seite, um uns einzulassen, nachdem er Rubys Namen auf einem Klemmbrett abgehakt hat.
Wir betreten einen hellen Eingangsbereich mit einer hohen gewölbten Decke, von der ein schwerer Leuchter herunterhängt, dessen Kristalle blitzen und funkeln. An der Kasse bezahlen wir stolze 50 $ Eintritt. Auf einem Schild sehe ich, dass der Eintritt an den Wochenenden sogar 70 $ kostet. Das sind Preise, die einem Mädchen schon mal die Sprache verschlagen können, aber als ich einen Blick in den pompösen Raum hinter dem Empfang werfen kann, wird mir klar: Wer hierher kommt, für den sind 50 $ nur ein Taschengeld.
Ruby nennt noch einmal ihren Namen und wir werden dann doch ohne bezahlen zu müssen in den Club gelassen. Sie grinst zufrieden. »Er hat nicht vergessen, dass wir heute einen Termin haben.«
Ich sehe sie verwundert an und brauche ein paar Sekunden, bis ich verstehe, was sie eben gesagt hat. »Wir haben den Termin bei deinem One Night Stand?«, frage ich sie fassungslos.
Wir bleiben im Eingang zum Club stehen und sie sieht mich mit einem entschuldigenden Lächeln an. »Hatte ich das nicht erwähnt?«
Ich hebe beide Augenbrauen an und schüttle den Kopf. »Hast du offensichtlich vergessen.« Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, dass Ruby etwas mit unserem hoffentlich zukünftigen Geschäftspartner hatte. Solche Dinge laufen doch nie gut. Aber dieser Mann sieht das wohl anders, denn unser Termin scheint noch immer zu stehen. Scheinbar spielt es für ihn keine Rolle, dass er mit Ruby im Bett war. Aber was ist mit Ruby, hat sie Gefühle für diesen Mann? Ich bin mir nicht sicher, ob das hier noch immer eine gute Idee ist.
»Genau wegen diesem Gesicht habe ich es dir nicht gesagt«, unterbricht Ruby meine Gedanken.
»Was nicht gesagt?«, knurre ich frustriert.
»Dass er ER ist.«
»Ich mache mir nur Sorgen«, sage ich und werfe einen Blick über Rubys Schulter in den Club, der auf den ersten Blick von reflektierenden Spiegeln dominiert wird. Die Wände sind entweder in einem dunklen Grau gehalten oder verglast. Es gibt überall goldene Akzente und gedämpfte Lichter. Alles wirkt sehr geradlinig, kein bisschen verspielt und sehr edel. Dunkles Holz, schwarzweiße Kunstfotografien und gedämpftes Licht umgibt uns.
»Wir hatten eine Nacht, und wenn wir erstmal für ihn arbeiten dürfen, werden es eben noch ein paar mehr.« Sie zwinkert mir gelassen zu und ich atme tief durch. Ruby ist schon seit der Junior High meine Freundin und ich habe gelernt, sie zu nehmen, wie sie ist. Aber manchmal kann sie mich wirklich wahnsinnig machen mit ihrer sorglosen Art. Ich habe das Gefühl, dass nichts sie von ihrer rosa Wolke werfen kann. Bis auf diesen Mann. Als sie mich angerufen hat, um mir von ihm zu erzählen, hat sie fast eine ganze Stunde abwechselnd von ihm geschwärmt, nur um ihn dann zu verfluchen und herzzerreißend zu weinen. Dass sie geweint hat, hat mich davon überzeugt, dass sie mich braucht. Es war sozusagen der Tritt in den Hintern, den ich gebraucht habe, um mich endlich aufzuraffen. Seit ich hier bin, versuche ich Rubys immer gute Laune auf mich abfärben zu lassen, aber so richtig gelingt mir das nicht. Manchmal überschatten meine Ängste alles und ich gehe durch die Tage hier in New York mit einem unechten Lächeln für Ruby, während in meinem Inneren dieser Vulkan brodelt und nur darauf wartet auszubrechen.
»Also gut«, sage ich und nicke vorsichtig.
Ruby feixt und wendet sich dem Club zu, aus dem nur leise Jazzmusik dringt. Es ist noch recht früh am Abend, weshalb ich davon ausgehe, dass die Gäste erst später kommen. Wahrscheinlich haben wir deswegen den Termin beim Inhaber so früh bekommen, weil er jetzt noch Zeit für uns hat.
Der Club ist unterteilt in eine Tanzfläche, um die herum Sitzgruppen stehen. Die Tanzfläche ist nicht besonders groß, wahrscheinlich ist Tanzen hier nicht das, was die Gäste tun sollen, denn der Fokus aller Sitzflächen konzentriert sich nur auf einen Punkt im Raum. Egal wo im Raum man steht, die Bühne ist so im Raum integriert, dass sie jeden wie magisch anzieht. Sie soll das Hauptanliegen der Gäste sein. Sie ist der Mittelpunkt des Luxury. Angestrahlt von Lichtern, in ein wahres Funkeln getaucht lässt sie meinen Magen nervös flattern und weckt eine heimliche Sehnsucht in mir, die ich seit Großmutters Tod nicht mehr gespürt habe.
Ich folge Ruby zur Bühne hin und mit jedem Meter, den wir uns nähern, spüre ich das aufregende Rasen in meinem Herzen, diese Sehnsucht nach dem Gefühl, dort oben zu stehen und zu tanzen und tief in mir versunken zu sein, nichts anderes als die Musik zu hören und meinen Körper zu spüren, der sich ganz von allein bewegt. So wie damals beim Ballett: Weihnachtsaufführungen in dem kleinen Theater unserer Schule, Dornröschen im ehemaligen Kino oder Giselle auf der Bühne des Atlantic Hotels. Ich spüre die Sehnsucht nach dieser absoluten und vollkommenen inneren Ruhe. Ich schüttle sie erschrocken ab, als der Schmerz über mich hereinbricht.
Ruby bleibt vor der Bühne stehen und dreht sich zu mir um. »Es ist wunderschön hier, oder?«, fragt sie, dann greift sie nach meiner Hand, drückt sie und nickt mit traurigem Lächeln hinter mich.
Ich drehe mich langsam um und halte den Atem an. Wenn man hier vor der Bühne steht und in den Raum schaut, erst dann kann man sie sehen. Von der Decke hängen lebensgroße Bilder, sie schweben über der Tanzfläche. Jedes Bild ist ein schwarzweiß Foto einer der größten Burlesque-Tänzerinnen der 50er: Tempest Storm, Bettie Page, Trudy Wayne, Cherrie Knight und … Rose Golden, meine Großmutter. Mein Herz setzt für einen Schlag aus, bevor es sich schmerzhaft zusammenzieht und ich gegen die Tränen anblinzeln muss.
Ruby drückt noch einmal meine Hand. »Kommst du damit klar?«
Ich schlucke. »Es ist großartig, dass sie noch immer geliebt wird«, sage ich heiser.
»Sie war eine tolle Frau«, sagt Ruby.
»Es weiß doch niemand, dass ich …«, werfe ich hastig ein. Ich mustere das Bild, das meine Großmutter im Alter von achtundzwanzig zeigt. Sie war genau wie ich nie eine dieser ganz schlanken hochgewachsenen Frauen. Nein, wir haben beide vielmehr die Rundungen eines Pinup-Girls. Meine Rundungen habe ich bekommen, als ich mit dem Tanzen aufgehört habe, Rose hatte ihre nach der Geburt meiner Mutter behalten. Sie hatte die gleichen dunklen Haare wie ich, nur ihre waren viel lockiger. Wenn Rose mir nicht ihre Welt des Burlesque gezeigt hätte, um meine Welt ein wenig schöner zu machen, dann wäre mein zehnjähriges Ich nie zum Ballett gegangen, aber Rose fand damals, dass Ballett für ein Mädchen meines Alters geeigneter war. Burlesque habe ich trotzdem nie aufgegeben, weil ich die Kostüme so geliebt habe.
»Ich habe dieses Kostüm immer geliebt«, sage ich lächelnd und betrachte das paillettenbesetzte eng anliegende Kleid, das vorn kaum ihre Scham verdeckt, hinten aber in einer weiten Schleppe bis auf den Boden reicht. Man sieht es auf dem monochromen Bild nicht, aber es ist blutrot. Eine der Schneiderpuppen in unserem Studio trägt es jetzt.
»Nein, ich hab es niemandem gesagt«, antwortet Ruby.
Ich nicke zufrieden und beobachte, wie sich ein Mann von knapp vierzig in einem teuren dunkelgrauen Anzug an einen der Tische in Bühnennähe setzt. Neben ihm sitzt schon eine Blondine. Sie ist schlank, sehr gut aussehend und sehr sexy gekleidet. Und sie dürfte kaum älter als zwanzig sein. Aber der Mann, neben dem sie sitzt, weiß offensichtlich genau, was er will. Er legt besitzergreifend seine Finger unter ihr Kinn, zieht sie zu sich heran und flüstert ihr etwas ins Ohr. Die Szene ist so aufgeladen mit Sex, dass ich es fast knistern hören kann.
Ich löse den Blick von dem Paar und lasse den Blick über die Gäste schweifen, die langsam an die Tische strömen. Die meisten Männer sind mittleren Alters oder älter, ein paar sind auch jünger, aber was sie alle gemeinsam haben: Sie tragen teure Anzüge oder Kleidung, der man von weitem das Designerlabel ansehen kann. Und die Frauen, die in den Club kommen, sind überwiegend viel jünger als die Männer. Ich presse die Lippen fest aufeinander, weil ich weiß, was sie hier suchen: Geld. Ich habe diese Mädchen erlebt, die hinter reichen und berühmten Männern her sind. Sie verfolgen ihre Ziele rücksichtslos. Eins dieser Mädchen war hinter Mark her gewesen, und es hat sie nicht interessiert, dass er kein Interesse an ihr hatte. Oder dass es mich gab. Sie hätte alles getan, nur um mit jemandem zusammen sein zu dürfen, der erfolgreich war und gutes Geld verdiente.
»Dort drüben ist er«, stößt Ruby plötzlich nervös aus. »Ich werd schon wieder ganz feucht im Höschen. Die Art, wie er sich bewegt, wie er den Raum dominiert, sobald er ihn betritt.« Ruby stößt einen Seufzer aus.
Ich folge ihrem Blick und sehe zwei Männer auf uns zukommen. Einer von beiden lächelt und hat den Blick freundlich auf uns gerichtet, der andere mustert geschäftig die Gäste, nickt hier und da mal einem Gast zu, begrüßt ihn mit einem Handschlag und wechselt ein paar Worte mit ihm, während er weiter auf uns zukommt. Die Mädchen, die die beiden anbeten, ihnen fast hechelnd vor die Füße fallen, sich sogar auffordernd an sie schmiegen, ignoriert er. Ich weiß sofort, wen von beiden Ruby meint, denn er bewegt sich wirklich, als gehöre die Welt ihm. Und so, wie er sich durch den Raum bewegt, zieht er jeden Blick auf sich, als würde nur noch er existieren. Beide Männer sind groß, breitschultrig und sehr attraktiv, aber dieser strahlt düstere Härte und Arroganz aus, während der andere freundlich und aufrichtig nett wirkt.
»Ms Fuller«, begrüßt er Ruby und reicht ihr die Hand. Sie nimmt sie mit einem verbissenen Ausdruck im Gesicht.
Ruby bringt nicht viel dazu, sich zu verspannen oder ihre lockere Art zu verlieren, aber im Augenblick scheint die Präsenz dieses Mannes ihr die Sprache verschlagen zu haben. Wie hat sie es mit ihm ins Bett geschafft, wenn sie in seiner Nähe nicht mal den Mund aufbekommt?
Er löst seine Hand von ihrer, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Sein Gesicht zuckt nicht mal, als er Rubys Finger von seiner Hand lösen muss. Nichts lässt erkennen, dass er und Ruby Sex hatten. Er steht vor mir mit unbewegtem Gesichtsausdruck. Seine Augen richten sich auf mich, dann hält er mir die Hand hin. »Misss Golden, vermute ich. Ich bin Caleb Black.«
»Sie vermuten richtig«, sage ich und kann mir nicht verkneifen, ein wenig verschnupft zu klingen, weil er Ruby so offensichtlich ignoriert. Die beiden hatten Sex, kann man denn da nicht etwas … zuvorkommender sein? Ich nehme seine Hand, er drückt meine fest, etwas zu fest, aber ich verziehe nicht das Gesicht, um ihm keine Schwäche zu zeigen. Ich bin wirklich froh, dass meine Hände in Handschuhen stecken, denn so kann er nicht fühlen, wie verschwitzt sie sind. Auch wenn ich es mir niemals anmerken lassen würde, aber seine ganze Ausstrahlung macht mich sehr nervös. Er hält meine Hand ein wenig zu lang fest und sieht mir dabei prüfend ins Gesicht, aber ich halte seiner Prüfung stand und reagiere nicht auf seine kleine Provokation.
Als er mich loslässt, ist seine Miene noch immer kühl und geschäftig, selbst, als er kurz Ruby mustert und seinen Blick über ihren Körper gleiten lässt. Er will es also rein geschäftlich belassen, worüber ich erleichtert bin, auch wenn es mir für Ruby leid tut. Aber im Moment ist es das Beste, wir konzentrieren uns erst einmal darauf, diesen Auftrag zu bekommen, um unser Überleben in dieser Stadt zu sichern. Danach bleibt noch immer Zeit für Rubys Herz.
»Das ist mein Bruder und Mitinhaber des Luxury, Brady Black.«
Brady reicht uns die Hand und wirft mir ein strahlendes freundliches Lächeln entgegen, als er mich neugierig mustert. Er scheint so viel besser gelaunt zu sein als sein Bruder. »Nennen Sie mich Brady«, sagt er zu mir und begrüßt dann Ruby genauso freundlich.
»Setzen wir uns doch an den Tisch dort drüben, Brady kann uns etwas zu trinken besorgen. Was möchten Sie?«, will Caleb wissen und weist auf einen Tisch, der direkt neben der Bühne steht, ein wenig abseits der anderen Tische in einer kleinen abgeschotteten Nische. Wahrscheinlich das ganz private kleine Reich der Inhaber. Er wirft seinem Bruder einen kurzen Blick zu und mit einem knappen Lächeln schickt er ihn weg, Getränke für uns holen. Offensichtlich ist er es gewohnt, Menschen nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Und offensichtlich sind diese das gewohnt, denn Brady Black entfernt sich sofort in Richtung Bar. Und erst als ich ihm nachsehe, fällt mir auf, dass niemand Ruby und mich gefragt hat, was wir trinken möchten.
Caleb Black wendet sich mit unbewegter Miene wieder mir zu und lässt seinen Blick erst über mein Gesicht wandern, dann über meinen Körper. Ich kann es auf jedem Zentimeter meiner Haut kribbeln spüren, als er mich abschätzt. Als er wieder aufsieht, blitzen seine Augen. Aber was ich sehe, ist kein überraschtes Blitzen und auch kein bewunderndes. Es wirkt eher abgestoßen.
Ich versuche, das Gefühl zu unterdrücken, das sein Blick in mir auslöst. Ich bin mir sehr wohl bewusst, dass mein Körper nicht dem gängigen Schönheitsideal entspricht, die meiste Zeit ist es mir egal, dass andere Menschen ein Problem mit meinen Rundungen haben, aber seine offene Abwertung löst Magenkrämpfe in mir aus und schnürt mir die Kehle zu. Du bist wunderschön, höre ich die Stimme meiner Großmutter in meinem Kopf. Das hat sie mir immer gesagt, wenn ich mit meinem Äußeren unzufrieden war.
Ich recke das Kinn trotzig vor. »Können wir?«, frage ich kühl und er lächelt nur arrogant, wendet sich von mir ab und führt uns an den Tisch. Ich setze mich auf die Lederbank und versuche, dabei nicht ganz unelegant rüberzukommen, aber wenn man sich in den Spalt zwischen Sitzbank und Tisch schieben muss und dann noch zu verhindern versucht, dem arrogant grinsenden Kerl keine zu tiefen Einblicke in sein Dekolleté zu gewähren, dann ist dieses Unterfangen nicht ganz einfach.
Um die tiefe Röte in meinem Gesucht zu überspielen, lege ich geschäftig meine Ledertasche auf den Tisch und krame den Ordner mit meinen Entwürfen heraus. Ich atme tief ein, bevor ich wieder aufsehe und nehme mir fest vor, mich nicht davon nervös machen zu lassen, wie herablassend das Lächeln auf diesen zum Küssen perfekten Lippen ist. Nein, ich werde nicht einmal bemerken, wie anziehend dieses herbe maskuline Gesicht ist, das durch die Narbe, die seine Augenbraue spaltet, sogar noch viel interessanter wirkt. Es ist komisch, aber ich muss diese Narbe immer wieder anstarren, sie zieht meinen Blick regelrecht auf sich, weil sie etwas mit seinem Gesicht macht. Etwas, das einen heißen Strom durch meinen Körper jagt. Ich räuspere mich, als ich bemerke, dass er mich fragend ansieht und wende mich meinem Ordner zu, spiele nervös am Eckgummi, der ihn verschlossen hält, und zucke zusammen, als ich Rubys Hand auf meinem Oberschenkel spüre.
Sie sieht mich an und in ihrem Gesicht kann ich ablesen, dass sie mir sagen will: »Wir bekommen das hin.«
Das hoffe ich sehr, denn ich habe im Moment das Gefühl, dass ich nicht geschaffen bin für geschäftliche Gespräche. Und ich bin nicht geschaffen dafür, mit Männern zu reden, die, nur weil sie mir gegenüber sitzen und mich aufmerksam unter die Lupe nehmen, mit ihrer Anwesenheit die Luft aus meinen Lungen saugen. Ich bin wirklich erleichtert, als Brady mit unseren Getränken zurückkommt.
Er stellt ein Glas vor mich und lächelt freundlich. Ein Lächeln, das ein wenig witzig aussieht. Bei ihm habe ich zumindest nicht das Gefühl, dass ich nicht mehr atmen kann und auch mein Herz rast nicht mehr so sehr, als würde ich in einem Auto sitzen, als er sich neben seinen Bruder an den Tisch setzt. Ich beschließe, nur noch ihn anzusehen, während wir dieses Gespräch führen werden. Weil ich ja schlecht Ruby neben mir ansehen kann, das würde einfach nur lächerlich wirken. Aber ein freundliches Gesicht, wie das von Brady, nimmt mir ein wenig die Nervosität. Vielleicht vergeige ich das hier nicht völlig, wenn ich nur noch ihn ansehe und seinen Bruder völlig ignoriere.
»Eistee«, sagt Brady, als ich meine Finger um das kühle Glas lege. Meine Kehle fühlt sich so ausgedörrt an, dass ich plötzlich riesigen Durst verspüre und froh bin, dass Brady uns nur Eistee gebracht hat. Er war sich wohl nicht sicher, ob Ruby und ich Alkohol trinken wollen oder nicht.
Er und sein Bruder wollen offensichtlich Alkohol, vor ihnen steht jeweils ein Whiskeyglas mit einer braunen Flüssigkeit auf Eis darin - vielleicht Bourbon? Ich habe keine Ahnung, was Männer so trinken, was man überhaupt in Clubs so trinkt. Ich bin nie in einem Club gewesen.
»Also dann«, meint Caleb und prostet mir zu.
Ich hebe mein Glas und kann es kaum erwarten, endlich den kalten Tee meine Kehle hinunterlaufen zu lassen. Mir ist extrem heiß, obwohl es im Club angenehm kühl ist. Ich stürze nervös den Tee herunter und erst, als mein Glas halbleer ist, fällt mir etwas Merkwürdiges auf. Ich setze das Glas ab und reiße hustend die Augen auf. »Das ist kein Eistee!«
Caleb und Brady lachen.
»Das hier ist ein Club und kein Kindergarten«, sagt Caleb kalt.
Ich schlucke, kneife die Augen enger zusammen und räuspere mich. »Ach nein?«, stoße ich hervor und sehe mich mit hochgezogenen Augenbrauen um. »Ich hatte das Gefühl, es wäre einer. Die Mädchen hier flechten noch ihre Zöpfe.«
Caleb beugt sich mit verbissenem Blick näher zu mir über den Tisch. »Flichtst du deine Haare auch noch?«
»Nicht mehr seit zehn Jahren«, antworte ich und beiße mir auf die Lippen. Seinen zukünftigen Geschäftspartner zu beleidigen, ist wahrscheinlich nicht der richtige Weg.
Er lehnt sich wieder zurück und mustert mich wieder mit diesem Blick aus den eisigen Augen, der wohl zu ihm gehört wie diese aristokratisch gerade Nase und die langen Wimpern, die ein Mann gar nicht besitzen sollte. »Schade, würde dir vielleicht stehen.«
Ich blinzle verwirrt, weil er mich duzt, übergehe es aber, stattdessen schlage ich meinen Ordner auf und schiebe ihn etwas mehr in Bradys Richtung, als könnte mich diese Geste davor bewahren, mit Caleb sprechen zu müssen. Aber ich weiß es längst besser, Caleb ist derjenige, der das Sagen hat. Selbst wenn beiden der Club zu gleichen Teilen gehören sollte, Brady scheint mir derjenige zu sein, der freiwillig und gern hinter seinen Bruder tritt, um ihm die Führung zu überlassen. Wahrscheinlich hat er sich das schon in frühester Kindheit angeeignet. Kein Wunder, bei der einnehmenden Ausstrahlung seines Bruders. Brüder! Sie haben zwar beide dunkles Haar, aber sonst haben sie wenig Ähnlichkeit miteinander. Während Caleb zwar attraktiv ist, aber eher hart wirkt, ist Brady hübsch. Er ist ein wirklich hübscher Mann mit weichen Zügen. Brady ist mindestens 1,90, Caleb höchstens 1,80, dafür aber viel muskulöser.
»Bevor wir anfangen, wir finden bestimmt auch einen alkoholfreien Eistee für Sie«, sagt er mit einem sanften Lächeln. Es wirkt fast, als wolle er versuchen, das Benehmen seines Bruders ungeschehen zu machen.
»Nein, ist schon in Ordnung. Ich bin es nur nicht gewohnt, Alkohol zu trinken, deswegen war ich einen Moment lang etwas erschrocken.« Ich bin Alkohol wirklich nicht gewohnt, denn in dieser Sekunde fühle ich, wie die schwere Wärme sich in meinem Körper ausbreitet. Dieser Eistee hat es ganz schön in sich.
»Wir haben uns ja schon unterhalten«, sagt Ruby und wirft mir einen kurzen Blick zu. Er ist zu kurz, um erkennen zu können, ob sie sich genauso unwohl fühlt wie ich. Vielleicht habe ich nicht nur schon lange nichts mehr getrunken, vielleicht habe ich schon viel zu lange keinen Kontakt mehr zu Männern gehabt. Aber ich kann die Nervosität nicht ablegen. Am liebsten würde ich das hier einfach Ruby überlassen. Einfach sie reden lassen und an entsprechenden Stellen hier und da nur ein »Hmm«, »Genau«, und »So habe ich mir das auch vorgestellt« einwerfen.
Als Caleb sich vorbeugt und den Ordner zu sich heranzieht, greife ich ganz automatisch zum Eistee und trinke das Glas hastig leer. Für einen Augenblick funktioniert das auch, die kalte Flüssigkeit spült die Hitze in meinem Inneren einfach fort, aber als Caleb fest die Lippen aufeinander presst, dann aufsieht und einen Blick auf meine Korsage wirft, ist die nervöse Hitze sofort wieder da.
Ich weiche seinem Blick aus und konzentriere mich auf eine Tänzerin, die mit lasziven Bewegungen ihre Hüften auf der Bühne kreisen lässt. Sie hat nichts weiter als sehr knappe glitzernde Hotpants an und einen BH.
»Ruby hat erwähnt, ihr stellt Kostüme für Showtänzerinnen, Burlesque oder Kabarett her«, sagt Caleb in dem Augenblick, in dem ich das Gefühl habe, die Bühne würde vor meinen Augen etwas verschwimmen. Ich schließe die Augen einen kurzen Moment, bevor ich ihn ansehe und beim Anblick seines versteinerten Gesichts erstarre.
»Das tun wir«, sagt Ruby und tätschelt wieder meinen Oberschenkel, sie spürt meine Unsicherheit und fühlt genau wie ich, dass das hier nicht so gut läuft, wie wir erhofft hatten. »Also Emma tut es. Sie entwirft die Kostüme, nähen tun wir gemeinsam.«
Ich sehe Brady unsicher an. Er scheint mich zu beobachten und hat bisher selbst noch keinen einzigen Blick in den Ordner geworfen. Nur Caleb sieht sich die Entwürfe an, und er sieht nicht begeistert aus, was bewirkt, dass der Eistee mir reichlich schwer im Magen liegt. Eine Kellnerin kommt mit einem Tablett und stellt neue Gläser vor uns hin. Sie ist sehr schlank, hochgewachsen und sehr freizügig angezogen: eine kurze Shorts in Gold und ein enges schwarzes Shirt, auf dem in Goldschrift der Name des Clubs auf ihrer Brust steht. Ich will ihr mein Glas wieder mitgeben, aber als Caleb mir den Ordner mit unbefriedigtem Gesichtsausdruck wieder zuschiebt, überlege ich es mir anders und trinke das Glas fast leer. Wie kann er meine Entwürfe nicht gut finden? Mein Magen krampft sich zusammen, den Alkohol schmecke ich diesmal kaum noch. Ich fühle mich viel zu betäubt.
»Diese Kostüme sehen aus wie aus den 50ern«, sagt er brummend, fixiert mich mit herausforderndem Blick und starrt dann meine Korsage nieder. Ja, er starrt sie nieder, als wäre sie etwas Abscheuliches, Verachtenswertes.
»Viel zu zugeknöpft.«
Ich schnappe überrascht nach Luft, werfe einen Blick auf mein Dekolleté und ziehe dann entrüstet meinen Ordner wieder zu mir heran. Mein erster Gedanke ist es, dass es Zeit ist, einfach zu gehen, aber das schaffe ich nicht. Ob es am Alkohol oder an meiner Entrüstung liegt, kann ich nicht sagen, aber ich stelle mich auf, stemme die Hände in die Hüften und kneife wütend die Augen zusammen, dann zeige ich auf das fast nackte Mädchen auf der Bühne. »Gleich am Eingang hängt dieses Poster, das verspricht, man bekäme hier die beste Burlesque-Show der USA zu sehen. Was man stattdessen zu sehen bekommt, sind lasziv tanzende Pornosternchen. Es gibt genau eine Art, wie man Burlesque richtig tanzt, und das ist sie nicht«, werfe ich Caleb an den Kopf. Mir ist ganz heiß vor Aufregung, ich fühle mich emotional so erregt, dass ich zittere. Und er? Sitzt einfach nur da, sieht zu mir auf und hat dieses Grinsen auf dem Gesicht, das mich nur noch wütender macht. Ich greife heftig atmend nach meinem Glas und leere es, dann stelle ich es übertrieben laut auf den Tisch zurück und werfe Caleb einen giftigen Blick zu, als ich bemerke, dass sein Blick auf meine vollen Brüste gerichtet ist. Ganz offensichtlich hat er bemerkt, wie hervorragend so eine Korsage sein kann, wenn Frau etwas hat, das sie hineinstopfen kann. Ich verziehe das Gesicht zu einem selbstsicheren Grinsen und setze mich wieder. Den Kreisel in meinem Kopf ignoriere ich so gut es geht.
»Du glaubst also, du kannst es besser als meine Mädchen?«, will er wissen und lässt seinen abwertenden Blick wieder über mich gleiten.
Brady räuspert sich neben ihm hörbar und legt ihm eine Hand auf den Unterarm, als wolle er ihn stoppen. Als könnte irgendjemand diesen Mann stoppen. Ich bin mir sicher, er ist jemand, der immer macht und bekommt, was er will.
»Oh, oh«, stößt Ruby neben mir aus und verspannt sich.
»Du glaubst also, ich könne nicht tanzen, nur weil ich nicht aussehe wie eine dieser Kleiderstangen?«, fahre ich ihn an.
Ruby stößt gegen meine Schulter, als sie hastig nach dem Ordner greift und ihn zu sich heranzieht. Sie schlägt ihn auf, zeigt auf ein Bild, während ich noch immer damit beschäftigt bin, einen Blickkrieg mit Caleb auszufechten, und schiebt den Ordner dann wieder zu Caleb herüber. Mit einem Finger tippt sie wild auf die Skizze eines Kleides, das sich an eine kurvige Frau schmiegen würde, als würde es ihren Körper anbeten. »Hast du das hier schon gesehen? Ist das nicht wunderbar?«, will sie von Caleb wissen und versucht, ihn von mir abzulenken. Ruby weiß sehr genau, wie empfindlich ich darauf reagiere, wenn jemand sich herablassend über Frauen mit ein paar Pfunden zu viel auf den Hüften äußert. Ich kann es nicht ab, werde zum erbitterten Verteidiger aller Frauen mit Rundungen. Denn ja, auch wir können sexy sein. Nicht können! Wir sind sexy!
Caleb wirft nur einen flüchtigen Blick auf meinen Entwurf, dann sieht er wieder mich an. »Diese Entwürfe sehen vielleicht toll an einem Körper wie deinem aus, aber sie sind nichts für meine Mädchen.« Er lässt seine Hand auf den Entwurf klatschen und legt zornig den Kopf schief. »In so etwas kann man sich dort oben doch gar nicht bewegen.«
Ich sehe zur Bühne, als die ersten Noten von Harlem Nocturne erklingen. Eine zierliche Blondine mit einer wallenden Mähne rekelt sich auf einem Stuhl, der in der Mitte der Bühne steht. Ich reiße meinen Blick von ihr los und funkle Caleb strafend an. »Kann man nicht?«, frage ich knurrend und wische mir mit dem Handrücken heftig über meine feuchte Stirn. Der Alkohol bringt mich nicht nur zum Glühen, ich bin auch gereizter, als es nötig wäre. Ich wende mich Ruby zu. »Lässt du mich mal bitte kurz raus?«
Ruby sieht mich verwirrt an. »Was hast du vor?«
Zur Antwort schüttle ich einfach nur mit dem Kopf und scheuche Ruby aus der Sitzecke, dann schiebe ich mich heraus und gehe mit großen - wackligen - Schritten auf die Bühne zu. Ich beachte nichts um mich herum, sondern bin völlig auf die Blondine fixiert, die eben versucht, den armen Stuhl zu vergewaltigen, indem sie ihre intimste Stelle an die Rückenlehne zwängt.
Ich schwitze und eine innere Stimme schreit mich an, zu Verstand zu kommen, aber mein Körper tut einfach das, wovon er glaubt, es tun zu müssen: er erklimmt die Bühne, strauchelt auf der obersten Stufe, fängt sich im letzten Augenblick und platziert sich dann mit all seinen Rundungen vor der Blondine. Ich stemme die Hände in die Hüften. Irgendein Teil von mir weiß noch immer, dass ich das hier nicht tun sollte, aber ich kann mich nicht aufhalten.
»Was auch immer du hier tust, lass es sofort sein«, sage ich bedrohlich zu der Tänzerin. »Rose würde dir den Hintern aufreißen, wenn sie das zu sehen bekäme.«
Die Blondine sieht mich verwirrt an, wirft einen Blick über meine Schulter und tritt dann vom Stuhl zurück. »Woher willst du wissen, was Rose tun würde? Wer ist Rose überhaupt?«
Ich atme erleichtert auf, als die Musik endlich abgeschaltet wird, nur um dann festzustellen, dass alle mich ansehen. Sie starren und murmeln, schütteln ihre Köpfe und dort hinten kommt ein Mann auf mich zu, der wirkt, als würde er mich plattwalzen wollen. Auf seiner Brust steht in überdeutlichen Buchstaben Security.
»Sie war meine Großmutter«, sage ich gedehnt und leicht abgelenkt zu der Tänzerin. Ich wende mich von ihr ab und sehe nach unten vor die Bühne, wo Ruby steht und aufgeregt mit den Händen wedelt. Neben ihr steht Caleb, er hat die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Oberarmmuskeln drücken sich deutlich gegen den Stoff. Ich bin mir sicher, er bräuchte keine Security im Club, er käme mit jedem Problem gut allein klar.
»Wenn du schon mal dort oben bist, dann zeig uns doch gleich, wie du es besser machen willst.«
Ich schlucke heftig, lasse den Blick über die Gäste schweben und mir wird zum zweiten Mal an diesem Abend klar, dass das Publikum zum großen Teil aus Männern mittleren Alters und jungen Frauen besteht. Sehr jungen und sehr schlanken Frauen. Und sie alle sehen jetzt zu mir auf. Ich habe seit Großmutters Tod nicht mehr getanzt. Mein Puls rast so heftig, dass ich die Schläge im ganzen Körper spüre. Ich komm aus dieser Situation nicht mehr einfach raus. Sie alle sehen mich an und warten darauf, dass ich etwas tue. Einfach zu gehen kommt nicht infrage, weil es ein Sieg für Caleb wäre. Den Auftrag bekommen wir ohnehin nicht mehr. Was also habe ich zu verlieren? Ich könnte zumindest versuchen, seine Meinung zu ändern über Frauen wie mich. Mein Herzschlag beschleunigt sich ein weiteres Mal, als ich den wahrscheinlich dümmsten Entschluss meines Lebens treffe.
Caleb
Ich kenne diese Frau jetzt seit nicht einmal einer Stunde, habe aber schon herausgefunden, dass ich nur ein herablassendes Grinsen aufsetzen muss, um sie zu provozieren. Genau dieses Grinsen setze ich auch jetzt auf. Ich verschränke die Arme und sehe zu ihr auf. Ich weiß, dass sie es nicht tun wird, aber ein Teil von mir wünscht es sich zu sehen, wie sie diese scharfen Kurven bewegt. Sie glaubt, ich hätte etwas gegen Rundungen, und ich habe sie in dem Glauben gelassen. Habe sogar noch nachgeholfen, weil ich Spaß dabei hatte, sie zu provozieren. Sie ist ziemlich anfällig für Provokation, was mir zumindest im Augenblick gut gefällt.
Ihr Blick ist wie erstarrt, angsterfüllt, aber in ihren Augen funkelt etwas auf. Ich gebe Tom ein Zeichen und er startet Harlem Nocturne von vorne. Emma sieht zu mir runter, dann zu ihrer Freundin, die neben mir steht. Als diese einen Schritt nach vorne macht, halte ich sie zurück, indem ich ihren Arm packe.
»Lass sie allein entscheiden, Ruby. Oder traust du ihr das nicht zu?«, sage ich mit dunkler, drohender Stimme, als sie sich zu mir umsieht mit einem Protestieren auf den Gesichtszügen. Ruby zieht an ihrem Arm, aber ich lasse sie nicht frei, stattdessen ziehe ich sie gegen mich und lege meine Arme um sie. Für einen Moment durchzuckt die Erinnerung an unsere gemeinsame Zeit meine Hirnwindungen. Kein Sex wie so viele andere, sonst würde ich mich nicht mehr daran erinnern. Das ist aber auch schon alles, was ich mit ihr verbinde. Ein wenig Spaß zwischen Erwachsenen, unbedeutend.
Ich konzentriere mich wieder auf Emma, die meiner Tänzerin jetzt einen Schubs verpasst und sie von der Bühne schickt, dann wirft sie dem Publikum ein Lächeln zu, das mir einen wohligen Schauer durch den Körper jagt, stößt ihre Hüfte nach rechts, nach links und wieder nach rechts. Jede fließende Bewegung mit einem Lächeln auf den Lippen, das wie heißes Feuer durch meine Venen rollt. Sie wendet uns den Rücken zu, stellt ein Bein auf dem Stuhl ab, wackelt mit ihrem runden Hintern, sieht über die Schulter zurück und zwinkert jedem Mann im Raum kokett zu. Sie spielt mit ihren Zuschauern, spielt mit mir, denn als sie jetzt beginnt, sich ihren Strumpf vom Schenkel zu rollen, sieht sie mir direkt in die Augen.
Ich fühle mich hypnotisiert von diesem Blick, von der Art, wie sie mich und jeden anderen hier gefangen nimmt nur allein mit ihren Bumps und Shimmys. Sie setzt sich seitlich auf den Stuhl, streckt ein Bein in die Höhe und entledigt sich langsam und mit einem weiteren Zwinkern des zweiten Strumpfs. Ich muss schlucken, denn auf meiner Bühne steht Bettie Page und sie verführt mich mit ihren Reizen. Bettie Page, die Frau, die Männer selbst noch Jahrzehnte nach ihren großen Auftritten von sich träumen lässt.
Als wir diesen Club übernommen haben, stand er kurz vor dem Ruin, aber er war bekannt für seine Burlesque Show, die hier früher jeden Abend Zuschauer angezogen hat. Ich habe keine Ahnung von Burlesque, zumindest weiß ich darüber nicht viel mehr als jeder andere Mann auch. Es gehört in eine andere Zeit. Das Schild hängt nur als Erinnerung an die besten Zeiten des Clubs noch im Eingangsbereich, genauso wie die Schwarzweiß Bilder der Tänzerinnen über der Bühne. Brady und ich wollten nicht alles im Club modernisieren. Wir wollten das alte Luxury mit dem Neuen kombinieren.
Ich sehe mich um und alle im Club verfolgen wie gebannt jede ihrer Bewegungen. Was sie dort tut, ich gebe es ungern zu, aber es macht etwas mit mir und mit jedem anderen hier im Raum. Vielleicht sollte ich meine Meinung über Burlesque noch einmal überdenken. »Wieso kann sie das?«, flüstere ich Ruby ins Ohr, die in meinen Armen schnell und angestrengt atmet.
»Wieso zieht sie sich aus?, wäre die richtige Frage«, wirft Ruby ein und zerrt plötzlich wütend an meinen Armen, als Emma mit wiegenden Hüften ihren Tüllrock auszieht und ihn zu Boden gleiten lässt. Wohlgerundete weiche Schenkel, die sofort die Fantasie in mir freisetzen, wie ich mich zwischen diese Beine schiebe und sie um meine Taille lege.
»Verdammt, sie ist heiß«, sagt Brady grinsend.
Emma setzt sich rücklings auf den Stuhl, umklammert die Lehne mit ihren Unterschenkeln und lehnt sich so weit nach hinten, dass ihre Haare fast den Boden berühren. Mit einem breiten Lächeln streckt sie uns ihr Dekolleté hin, es droht jeden Moment aus ihrer Korsage zu rutschen. Sie streichelt darüber, spitzt flirtend die Lippen und zieht sich wieder hoch, dreht sich galant auf dem Stuhl um, legt beide Hände auf ihre Knie und spreizt die Schenkel, und während sie das tut, sieht sie mich direkt an, herausfordernd, flirtet mit einem Blick, der mir den Atem verschlägt. Sie legt ihre Hände auf die Korsage, leckt über ihre Lippen, schüttelt ihre Schultern und beginnt, die Korsage zu öffnen. Mir wird heiß.
»Emma«, quiekt Ruby in meinen Armen. Ich drücke ihr schnell eine Hand auf den Mund, damit sie Emma nicht aufhält.
Emma lächelt nur mit roten Wangen, steht vom Stuhl auf, wirft Ruby oder mir einen Luftkuss zu und reißt ihre Korsage herunter. Jetzt trägt sie nichts mehr weiter als einen glitzernden BH und eine knappe Shorts. In dem Moment würde ich alles dafür geben, wenn sie sich noch einmal umdrehen würde und ich einen weiteren Blick auf ihren Arsch bekommen würde. Aber die Musik endet und sie bleibt starr stehen, sieht mich direkt an und dieser Zauber, dieser Glanz verschwindet aus ihren Augen, als hätte mein Anblick ihn gelöscht. Dieser Gedanke bewirkt ein schwaches Ziehen in meiner Brust. Ich löse die Arme um Rubys Körper und trete hinter ihr hervor. Es macht mich zornig, aber ich kann den Blick noch immer nicht von Emma nehmen. Wahrscheinlich macht es nicht nur mich wahnsinnig, wie ihre Brüste sich unter ihren heftigen Atemzügen heben und senken. Sie beben! Und obwohl sie sich nicht mehr bewegt, sieht sie noch immer überwältigend schön im Licht der Strahler aus, die auf die Bühne gerichtet sind.
Und genau das will ich nicht zugeben. Niemals würde ich zugeben, dass eine Frau mich auch nur eine Sekunde aus der Fassung gebracht hat, weswegen ich meine Lippen fest aufeinander presse, während ich auf sie zugehe und vor der Bühne stehenbleibe. Keine Frau soll den Eindruck bekommen, sie könne Macht über mich haben. Das lasse ich nie wieder zu.
»Willst du noch ewig dort oben rumstehen und meine Show aufhalten?«, fahre ich sie an, beuge mich über den Rand der Bühne, ziehe ihre Korsage an mich heran und werfe sie ihr zu. Sie fängt sie auf, drückt sie sich fest gegen ihren Oberkörper und beißt sich fest auf die Lippen. Auf ihr Gesicht tritt so plötzlich Unsicherheit, dass die Verwandlung von der selbstsicheren sexy Tänzerin hin zur schüchternen verängstigten Frau in meinen Eingeweiden ein Schleudertrauma auslöst. Vielleicht ist es auch nur die Hitze eines Vulkans, denn diese zwei Persönlichkeiten, die in ihr zu stecken scheinen, lösen ein unfreiwilliges Interesse an ihr in mir aus. Nein, das ist nur das Interesse an dem, was sie eben getan hat.
Ihre Nervosität sorgt dafür, dass sie auf der Treppe stolpert und fast in Brady hineinfällt, der unten auf sie wartet und ihr freundlich anbietet, ihr beim Anlegen der Korsage behilflich zu sein. Sie sieht zu ihm auf, dann sofort wieder zur Seite und schüttelt den Kopf. »Ich schaff das allein«, höre ich sie sagen. Sie legt die Korsage um ihren Oberkörper. In ihrem Gesicht kann ich die widerspiegelnden Gefühle sehen. Hätte sie nicht die Drinks im Kreislauf, wäre sie nie auf die Bühne gegangen, da bin ich mir sicher. Aber ich frage mich wieso, denn was sie gezeigt hat, war professionell, wahrscheinlich über Jahre einstudiert. Ich bin mir sicher, sie stand schon auf einer Bühne. Die Show, die sie dort oben abgeliefert hat, hat jeden hier in ihren Bann geschlagen: nicht billig, nicht schlampig, eine echte Show. Gut genug für Las Vegas, also auch gut genug für das Luxury.
»Lass uns gehen«, sagt sie zu Ruby, die ihre Freundin noch immer schockiert ansieht. Beide Frauen scheinen nicht mit diesem Auftritt gerechnet zu haben. Mich würde brennend interessieren wieso. Wieso ist jemand in etwas so gut wie Emma Golden und versteckt es?
Ich trete direkt vor Emma und versperre ihr den Weg. »Moment«, sage ich düster und sehe auf sie herab. Sie ist nicht groß, geht mir trotz ihrer hohen Schuhe nur bis zur Brust, aber ich glaube, gerade das übt den Reiz an ihr aus. Sie ist nicht klein und zierlich, sondern klein mit einem aufregend erregenden Körper. Und sie hat diesen Blick drauf: ein wenig trotzig, ein wenig unschuldig und ein wenig ängstlich. Etwas in mir mag es sehr, wenn sie mich so ansieht. Unschuldig, ich muss bei dem Gedanken grinsen. Was ich eben auf dieser Bühne gesehen habe, war kein bisschen unschuldig. Aber vielleicht macht genau diese Mischung ihren Zauber aus.
Jetzt sieht sie mich auch wieder so an, noch dazu geht ihr Atem noch immer aufgeregt und hektisch. »Es tut mir leid, ich hatte nicht vor, die Show zu torpedieren.«
Ruby schiebt mich ein Stück zur Seite und hilft Emma dabei, ihre Korsage wieder zu richten. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«, zischt sie fassungslos.
»Ich hab doch eben gesagt, dass es mir leid tut«, faucht Emma zurück.
»Hat sie«, wirft Brady ein und grinst die beiden Frauen mit vor der Brust verschränkten Armen an. Er ist definitiv amüsiert.
Emma und Ruby schieben sich an uns vorbei und bewegen sich eilig auf den Ausgang zu. Ich werfe Drake einen kurzen Blick zu. Der Chef der Security stellt sich mit seinem massigen Körper direkt vor die Tür. Er wird die Frauen nicht aus dem Club lassen, bevor ich es ihm gestatte. Aber das wissen sie noch nicht, weswegen ich gemütlich hinter ihnen herlaufe und mir extra viel Zeit damit lasse, genug Zeit, um einen ausgiebig prüfenden Blick auf den ausgeprägten Schwung von Emmas Hüfte werfen zu können. »Wirklich schade, dass sie diesen Rock wieder anhat«, murmle ich.
»Was hast du vor?«, will Brady wissen, der neben mir läuft.
Ich zucke nur mit den Schultern, weil ich selbst noch nicht genau weiß, worauf das hier rauslaufen wird. Im Moment weiß ich nur, diese Frau könnte wertvoll für unseren Club sein. Mir ist es bis vor ihrem Auftritt nicht bewusst gewesen, aber als ich die aufmerksamen Blicke unserer Gäste gesehen habe, wusste ich, wir brauchen etwas Frisches im Club. Oder etwas Altes. Das Luxury war viele Jahre der wichtigste Club der Stadt für die wichtigsten Geschäftsleute der Stadt. Nicht zuletzt wegen unserer inoffiziellen Abmachung mit der besten Escort-Agentur der Stadt, kommt langsam wieder Schwung in den Club. Aber wenn etwas gerade wieder gut läuft, dann heißt das nicht, dass es das für immer tut. Die Konkurrenz ist groß. Wir brauchen eine Veränderung. Emma könnte diese Veränderung bringen. Vielleicht ist es Zeit, dem Retro-Trend eine Chance zu geben. Wir haben den Club vor ein paar Monaten übernommen, ihn aufwendig vorgerichtet, aber wir haben noch lange nicht den alten Glanz wiederhergestellt. Die meiste Zeit ist der Club fast leer, weil er nichts anderes zu bieten hat als alle anderen.
»Charles hat Feuer gefangen«, meint Brady und nickt mit dem Kinn in die Richtung, in die wir gerade laufen.