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Rachel liebt es, nach einer anstrengenden Nacht bei den Schafen in die nach Kuchen duftende Farmküche zu kommen und gemeinsam mit ihrer Mutter Jill und kleinen Tochter Maisy zu frühstücken. Und genau dieses Gefühl bringt sie auf eine grandiose Idee: Um die Familienfarm zu retten, will sie ein gemütliches Landcafé in der ungenutzten Scheune eröffnen. Hier sollen ihre Kunden sich genauso wohlfühlen wie zu Hause auf Omas Ofenbank. Auch Jill ist sofort Feuer und Flamme, und so stürzen sich die beiden Frauen ohne zu zögern in die Vorbereitungen. »Ein warmherziger Roman, der einen zum Schmunzeln bringt - ein echter Genuss!« Debbie Johnson
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Seitenzahl: 439
Zum Buch:
Rachel ist zwischen grünen Wiesen und wolligen Schafen aufgewachsen. In dieser malerischen Umgebung lebt sie gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Maisy und ihrer Mutter Jill. Doch seit dem Tod des Vaters ist Rachel auf einmal für die Familienfarm verantwortlich – keine leichte Aufgabe. Allein mit der Schafzucht kann sie den Betrieb nicht aufrechterhalten. Da kommt ihr die zündende Idee: Jeder im Ort verbindet mit Primrose Farm herzliche Gastfreundschaft und den Duft nach frischem Kuchen aus Jills Farmhausküche. Was würde da besser passen, als mit einem kleinen Café in der Scheune neue Gäste anzulocken und mit den köstlichen Kuchen ihrer Mutter glücklich zu machen. Rachel setzt alle Hoffnungen in die Backkunst ihrer Mutter – um keinen Preis will sie ihr Zuhause verlieren …
»Ein warmherziger Roman, der einen zum Schmunzeln bringt – ein echter Genuss!«
Debbie Johnson
Zur Autorin:
Caroline Roberts lebt mit ihrem Mann in Northumberland im Norden Englands und ist der Überzeugung, dass jeder für seine Träume kämpfen sollte. Sie liebt es, emotionale Geschichten über Liebe, Verlust, Verrat und Familie zu schreiben, die zeigen, wie kompliziert, aber trotzdem wunderschön die Liebe sein kann. Die Sandstrände, Schlösser und grünen Hügel inspirieren sie zu ihren Geschichten.
Lieferbare Titel
Rosen, Tee und KandiszuckerCottage mit Meerblick
HarperCollins®
Copyright © 2020 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg
Copyright © 2019 by Caroline Roberts Originaltitel: »Rachel’s Pudding Pantry« Erschienen bei: HarperImpulse, an imprint of HarperCollinsPublishers, UK Published by arrangement with HarperCollinsPublishers Ltd, London
Covergestaltung: bürosüd, München Coverabbildung: mauritius Images / Loop Images / John Woodworth /LOOP IMAGES, Susie Kearley / Alamy, shutterstock / Jan Martin Will, Irina Afonskaya, LeManna, Nuk2013, shutterstock / BBA Photograph, effective stock photos Lektorat: Anne Nordmann E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783959679411
www.harpercollins.de
Als sie den grünen Hügel hinunterfuhr, sah Rachel in der Ferne über den Cheviot Hills einen Schimmer goldenen Lichts. Der Himmel über ihr war von Wolkenfetzen in Malven-, Grau- und Orangetönen durchzogen. Hier in Northumberland ging die Sonne im März früh unter. Obwohl sie schon ihr Leben lang in diesem Tal lebte, raubte ihr die dramatische Schönheit der weiten Landschaft immer wieder den Atem.
Rachel war mit dem farmeigenen Quad unterwegs. Ihr treuer Begleiter, Border Collie Moss, saß hinter ihr. Sie hatte gerade überprüft, ob für die neuen Lämmer und Mutterschafe alle Weiden gut gesichert und die Zäune stabil waren. Am frühen Nachmittag war sie bereits mit dem Traktor dort gewesen und hatte Heu- und Strohballen dort verteilt.
Jetzt blieb sie kurz stehen, um den Blick über die Hügellandschaft gleiten zu lassen, in der die Primrose Farm eingebettet lag. Vor ihr erstreckte sich grünes Weideland, so weit das Auge reichte. Es war durchzogen von Bächen und Flüssen, die kalt und frisch aus dem Moorland weiter oben in die tieferen Lagen strömten.
Ein grandioses Panorama, doch der Wind war eisig kalt an diesem Abend – vor allem, wenn man auf dem Quad saß. Rachels fingerlose Handschuhe hatten der beißenden Kälte nichts entgegenzusetzen, und als die Frühlingssonne langsam versank, wurde es schlagartig noch kälter. Es war gegen achtzehn Uhr – Zeit, nach Hause zu fahren.
Unten im Tal sah sie die Wirtschaftsgebäude der Farm. In der Ablammscheune brannte Licht. Dort würde sich Farmhelfer Simon heute die Nacht um die Ohren schlagen. Dahinter befand sich der alte Schuppen, den sie eigentlich nur noch als Lager benutzten. Aus dem traditionellen Farmhaus aus Feldsteinen, in dem sie mit ihrer Familie lebte, drang ein einladender Lichtschimmer. Dort warteten ihre Mutter Jill und ihre Tochter Maisy auf sie.
Rachel freute sich schon darauf, nach Hause zu kommen, wo es warm und gemütlich war. Sie fuhr den grasbedeckten Hügel hinunter, hielt kurz an, um das Tor zum Hof zu schließen, parkte das Quad und betrat die Veranda des Wohnhauses, wo sie schon vor dem Öffnen der Haustür von herrlichen Düften empfangen wurde, die aus der Küche drangen. Anscheinend hatte ihre Mum gebacken. Rachel fragte sich, welche Köstlichkeiten sie wohl zubereitet hatte. Jill verstand sich fantastisch auf alles, was aus dem Ofen kam: Kuchen, Torten, gebackene Desserts, Plätzchen, Aufläufe, traditionelle Pies und Puddings. Dieses typisch englische, köstliche Gebäck bereitete sie in einer besonderen Auflaufform zu, in der es im Wasserbad gedämpft wurde. Der Sponge Cake, ein Biskuitboden, bildete die Basis und wurde vor dem Dämpfen mit einer Schokoladen-, Frucht- oder Karamellsoße übergossen. Süß oder herzhaft – alles war superlecker. Jills Kreationen wärmten einem Herz und Magen, und sie waren genau das, was Rachel nach einem kalten Tag auf den Feldern brauchte.
Auf der Veranda schlüpfte sie aus ihren grünen Gummistiefeln und öffnete dann die Tür zur Küche. Ein intensiver Schokoladenduft ließ ihr sofort das Wasser im Mund zusammenlaufen.
»Mummy!« Die kleine Maisy flog Rachel in die Arme. Ihre blonden Locken hüpften wild, als sie auf ihre Mutter zurannte.
»Hallo, Liebes. Alles in Ordnung?« Jill drehte sich zu ihrer Tochter um und lächelte sie liebevoll an. Sie stand am alten steinernen Waschbecken und wusch ab. Ihr dunkelbraunes Haar war mittlerweile von feinen weißen Strähnen durchzogen.
»Ja, danke. Du hast gebacken?«
»Ja. Ich hatte mal wieder Lust, die alte Küchenmaschine rauszuholen.«
»Das ist ja super.« Rachel lächelte. Ihre Mum hatte lange nichts mehr gebacken, obwohl es ihr immer so großen Spaß gemacht hatte. In Rachels Kindheit war die Küche stets ein Hort voller süßer Leckereien gewesen. Wenn sie von der Schule nach Hause gekommen war, war sie schon gespannt gewesen, welche wunderbare Puddingkreation diesmal auf sie warten würde. Oft war sie vor der Tür stehen geblieben und hatte versucht, anhand der Aromen zu erraten, was ihre Mutter gebacken hatte. Heute roch es unbestreitbar nach Kakao.
»Ja, es gibt Schokokuchen«, sagte Maisy, als könnte sie die Gedanken ihrer Mutter lesen. »Ich hab geholfen, stimmt’s, Grandma?«
Dieser Geruch war unverwechselbar – schokoladige Biskuitmasse und reichhaltige Schokosoße. Es war einer von Rachels Lieblingskuchen.
»Oh ja. Das hast du«, antwortete Jill. »Du warst mir eine große Hilfe. Hast das Mehl gesiebt.«
Rachel war sehr froh darüber, dass sich Großmutter und Enkelin so gut verstanden. Und es war wunderbar, dass Jill wieder angefangen hatte zu backen. Nach und nach begann sie wieder damit, die Dinge zu tun, die sie früher so gerne getan hatte.
»Oh Mann, ich glaube, ich muss sofort ein Stück essen. Es riecht göttlich, Mum. Und ich sterbe fast vor Hunger!«
»Essen gibt’s aber erst in einer halben Stunde. Ich mache einen Eintopf«, verkündete Jill.
»Klingt super. Aber noch eine ganze halbe Stunde? Meinst du nicht, da könnte ich vielleicht ein klitzekleines Stückchen Kuchen probieren?«
Da stand das süße Machwerk, verlockend und immer noch warm, auf der Arbeitsfläche neben dem großen gusseisernen Herd. Moss schnupperte einen Moment mit hochgereckter Schnauze, bevor er es sich vor dem warmen Herd bequem machte.
»Wir könnten den Nachtisch doch vor dem Abendessen essen, Grandma«, schlug Maisy schelmisch vor und grinste breit.
»Na, ich weiß nicht«, antwortete Jill.
Rachel nickte begeistert.
»Och, bitte!« Maisy grinste noch breiter.
Jill gab nach. »Na gut, dann machen wir heute mal eine Ausnahme. Aber ihr müsst trotzdem noch euer Abendbrot essen.«
»Juhu!«, riefen beide. Die drei Generationen Swintons fingen an zu kichern. Endlich wurde im alten Farmhaus wieder unbeschwert gelacht.
»Dann los.« Jill holte Nachtischschälchen und Löffel und verteilte drei Portionen. Dann gab sie die dunkle, glänzende Schokoladensoße darüber und zum Abschluss noch einen Klecks Sahne. Sie nahmen an dem langen Tisch aus Fichtenholz Platz, an dem sie so viele Mahlzeiten und Familienfeiern – Weihnachten, Geburtstage und sonstige Jahrestage – verbracht, sich Geschichten erzählt und gemeinsam Tränen vergossen hatten. An diesem Tisch hatte Rachel schon als kleines Mädchen gesessen – er war und blieb das Herzstück der Farmhausküche. Jetzt saß ihre eigene Tochter neben ihr und schaufelte begeistert den selbstgebackenen Kuchen ihrer Oma in sich hinein. Ein rührender Anblick, der Rachel das Herz aufgehen ließ.
Bald waren nur noch »Mmmms« und »Aahs« zu hören. Rachel und Maisy schmeckte es zu gut. Der Kuchen hatte einen herrlich intensiven Kakaogeschmack und schmolz auf der Zunge.
»Danke, Mum. Dein Kuchen ist wunderbar«, sagte Rachel.
Die Wiederaufnahme ihrer Backaktivität empfand Rachel als einen wichtigen Schritt nach vorn für Jill in der neuen Familienkonstellation. Wie lange hatten sie nicht mehr zusammengesessen und gelacht, und wie lange hatte ihre Mutter nicht mehr gebacken, weil sie der Meinung gewesen war, es lohne sich nicht mehr, seit diese große, klaffende Lücke in ihrem Leben entstanden war. Doch nun langsam, ganz langsam, begannen sie mit dem Versuch, die Lücke irgendwie wieder zu schließen.
Die Küche wurde nur durch den Schein einer einzigen Lampe erhellt – dort, wo Rachel mit ihrem Laptop am Tisch saß. Jill war bereits vor einer Stunde zu Bett gegangen, und Maisy schlief oben in ihrem Zimmer tief und fest, sicher mit ihrem Lieblingskuscheltier, einem weichen Lämmchen, im Arm. Ihr fliederfarbenes Kinderzimmer hatte noch ihr Großvater so liebevoll eingerichtet. Wenn Rachel an ihren Vater dachte, wurde ihr weh ums Herz. Wen sollte sie jetzt um Rat fragen? Wie konnte sie ohne ihn die Farm am Laufen halten?
Die große Küchenuhr tickte laut. Es war schon nach Mitternacht. Doch egal wie lange sie sich die Zahlen noch ansah, sie wurden nicht besser. Rachel seufzte, stützte die Ellbogen auf die Schreibtischplatte und vergrub für einen Moment die Stirn in den Händen. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen, auf keinen Fall! Die Primrose Farm war seit Generationen in Familienbesitz. Sie musste sie retten, zum Wohl ihrer Familie, ihrer Zukunft und auch zum Wohl ihrer Tiere – die Schafe und Rinder, die sie seit so vielen Jahren züchteten und pflegten. Was sie in den letzten zwei Jahren durchgemacht hatten, durfte nicht umsonst gewesen sein.
Aber jeden Monat wenn sie die Buchhaltung machte, hatte sie es schwarz auf weiß: Der Gewinn des Hofes schrumpfte immer mehr und damit auch ihr Einkommen. Dabei lebten sie schon jetzt alles andere als in Saus und Braus. Zum Glück brauchten sie weder schicke Klamotten noch teure Urlaube. Die Einzige, die neue Schuhe und Kleidung bekam, war Maisy, die sehr schnell wuchs. Rachel spürte, wie sie Kopfschmerzen bekam. Sie stand auf, um sich eine Tasse Tee zu machen. Als sie die Milch aus dem Kühlschrank nehmen wollte, fiel ihr Blick auf den Rest des leckeren Schokoladenkuchens. Sie nahm sich noch ein kleines Stück und wärmte es in der Mikrowelle auf – ein kleiner Kakaoschub würde vielleicht ihre Stimmung heben.
Rachel wusste, dass sie mit ihrer Mutter über die finanzielle Situation der Farm sprechen musste. Sie hatte bisher versucht, das Thema zu vermeiden – Jill hatte genug, mit dem sie fertigwerden musste. Andererseits musste sie auch erfahren, wie es um ihren Hof stand, denn am Ende mussten sie das Problem gemeinsam angehen. Rachel kam zu dem Schluss, dass sie zur Rettung der Farm ein paar Felder verkaufen mussten. Allerdings war sie sich nicht sicher, wie Jill diese Neuigkeit aufnehmen würde. Abgesehen davon war der Erlös daraus vermutlich sowieso nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Doch vielleicht gab ja noch andere Möglichkeiten. Freunde von umliegenden Höfen boten zum Beispiel seit einiger Zeit Übernachtungen mit Frühstück an. Urlaub auf einem traditionellen Bauernhof war gerade total angesagt. Sie lebten zwar im schönsten Tal von Northumbria, in den Ausläufern der Cheviot Hills, aber Maisy war noch so klein, deswegen scheute sich Rachel momentan noch davor, ihr Zuhause für Fremde zu öffnen. Es musste andere Möglichkeiten geben, sich ein zweites Standbein aufzubauen.
Nur würde ihr heute ganz sicher keine Idee mehr kommen, dazu war sie zu müde und zu geschafft, und außerdem hatte sie schlechte Laune. Das Denken fiel schwer. Zeit, schlafen zu gehen. Morgen war auch noch ein Tag. Aber der Gedanke, dass sie ihrer Mutter die finanzielle Situation der Farm darlegen musste, erfüllte sie mit quälender Sorge. Das würde keine angenehme Unterhaltung werden. Dennoch würde sie nicht darum herumkommen.
»Hey Moss.« Sie streichelte den Kopf des schwarz-weißen Border Collies, der neben ihr lag. »Komm, wir gehen schlafen.«
Er musste nach draußen in seinen Zwinger. Eigentlich war er als Hofhund gedacht, aber oft schlich er sich heimlich ins Haus, legte sich vor den warmen Herd und genoss die Streicheleinheiten, die er dann bekam. Außerdem mochte Rachel es, wenn Moss bei ihr war. Er war nicht nur grundsätzlich ein toller Begleiter, er war auch ein ausgezeichneter Arbeits- und Hütehund. Ihr Vater hatte ihn sehr gut ausgebildet. Wie sehr sie beide ihren Dad vermissten.
Eine Woche später begann auf der Primrose Farm die Ablamsaison – die Zeit, in der die meisten Schafe geboren wurden.
»Na los, mein Schatz, Zeit fürs Bett«, sagte Rachel zu Maisy.
»Aber wieso, Mum?«
»Kein Aber, Maisy. Du bist schon über deine Schlafenszeit, und morgen hast du wieder Vorschule!«
Es war Sonntagabend. Morgen begann die neue Schulwoche, und ihre knapp fünfjährige Tochter brauchte ihren Schlaf. Am Monatsende hatte sie Geburtstag – noch so etwas, das Rachel planen musste, die Geburtstagsfeier. Doch gerade war Rachel zu müde, um sich darüber Gedanken zu machen, wie sie eine Horde wilder Kinder bespaßen konnte. Spät ins Bett, früh wieder raus und manchmal überhaupt kein Schlaf – das waren die typischen Begleiterscheinungen der Ablammsaison.
»Und wer kümmert sich dann um Pete? Woher weiß ich, dass es ihm gut geht?« Maisy klang ernsthaft besorgt. Unter ihrem blonden Pony bildete sich eine kleine Falte auf ihrer Stirn. Übers Wochenende hatte sie ihrer Mutter geholfen, das kleine Lamm mit dem Fläschchen aufzupäppeln, weil es von seiner Mutter nicht angenommen worden war. (Es war das schwächste Tier einer Drillingsgeburt.)
»Ganz einfach: Heute übernehme ich die Nachtschicht und werde bei ihm sein.«
»Oh.«
»Ich werde gut auf ihn aufpassen«, versicherte Rachel ihrer Tochter. »Wie auf die anderen Schafe und Lämmer auch. Und wenn du morgen früh aufwachst, werde ich dir als Allererstes berichten, wie es Pete geht.«
Das schien Maisy zu beruhigen. »Okay.«
»Dann komm. Ich les dir noch eine Gutenachtgeschichte vor.«
Das Mädchen stand gleichzeitig mit seiner Mutter auf.
»Schlaf gut, Maisy«, rief Jill ihnen vom Herd aus zu. Rachel war ebenso überrascht wie erfreut, dass ihre Mutter heute Abend schon wieder buk.
Maisy lief rasch zu ihr und gab ihr einen Gutenachtkuss. »Gute Nacht, Grandma … Oh, sind die für mich?« Als ihre Großmutter sie hochhob, entdeckte Maisy ein paar Vanille-Cupcakes, die auf dem Küchentresen zum Abkühlen standen.
»Vielleicht. Du kannst morgen einen in die Schule mitnehmen. Aber jetzt ist erst mal Zähne putzen und Schlafen angesagt!«
» Das ist unfair!« Die Kleine versuchte es mit einem kessen, hoffnungsvollen Lächeln.
»Morgen«, sagte Jill bestimmt und lächelte zurück, während sie ihrer Enkelin die blonden Locken wuschelte.
Maisy huschte zurück zu Rachel. »Liest du mir die Geschichte von Floss vor, Mummy?«
»Kann ich machen.«
Ihre Tochter liebte die Geschichten über einen Hütehund und seine neue Familie, die noch dazu sehr schön illustriert waren.
Wenig später lag Maisy in ihrem gemütlichen, wenn auch ziemlich kleinen Zimmer im Bett, fest eingekuschelt in ihre Decke mit dem Einhorn-Motiv. Neben ihr lag ihr Stofftierlämmchen, das sie schon als Baby bekommen hatte. Rachel begann, ihr mit ruhiger Stimme vorzulesen. Mutter und Tochter mochten diese Geschichten vom Bauernhof beide. Sie lasen die Bücher immer und immer wieder gemeinsam und freuten sich jedes Mal aufs Neue darüber, dass am Ende alles gut ausging. Nach allem, was sie in den vergangenen zwei Jahren durchgemacht hatten, war es schön, an ein gutes Ende glauben zu können.
Als Rachel auf der letzten Seite angekommen war, waren Maisys Lider schon schwer. Auch Rachel war todmüde, sie hätte sofort zu ihrer Tochter unter die Decke kriechen können. Aber heute Nacht würde sie nicht zum Schlafen kommen. Die Natur und die Arbeit konnten nicht warten. Mutterschafe und Lämmer brauchten ihre Hilfe.
Simon, ihr zuverlässiger Farmhelfer, hatte die letzte Nachtschicht übernommen und auch fast den gesamten Nachmittag gearbeitet. Er hatte zwischendurch nur ein paar Stunden geschlafen. Jetzt war Rachel an der Reihe. Aber es machte ihr nichts aus. Die Nachtschicht war meistens ruhig, in der Scheune waren nur das Blöken der Schafe zu hören und die Geräusche der Nacht, die von außen hereindrangen. Jedes Frühjahr war es wieder so weit – ihr Vater hatte ihr von Kindesbeinen an beigebracht, worauf es ankam. Sie wollte ihren Dad stolz machen und beweisen, dass sie es genauso gut konnte. Sie würde sein Werk weiterführen und für die Primrose Farm und ihre Tiere ihr Bestes geben. Nicht nur das Wohlergehen der Tiere lag nun allein in ihrer Verantwortung, sie musste auch für ihre Mutter und ihre Tochter sorgen. Die Farm war ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlage.
Vorsichtig glitt sie vom Bett und gab ihrer Tochter nur sanft einen Kuss auf die Stirn, um sie nicht aufzuwecken. »Schlaf gut, meine Süße.«
»Nacht, Mum«, flüsterte Maisy mit geschlossenen Augen.
»Noch Zeit für eine Tasse Tee, bevor du raus musst?«, fragte Jill, als Rachel die Treppe wieder herunterkam.
Rachel warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Nein, ich glaub, ich geh besser direkt rüber. Ich hab Simon versprochen, dass ich ihn um halb acht ablöse.«
»Warte kurz, ich mach dir noch eine Thermoskanne fertig. Und du brauchst doch auch was zu essen. Im Kühlschrank liegen Schinkenbrote, in Alufolie eingewickelt. Oh, und ich hab einen Sticky-Toffee-Pudding gemacht und dir eine Portion beiseitegestellt.«
»Super! Vielen Dank, Mum. Ich liebe dieses Dessert!« Wie schön, dass ihre Mutter langsam wieder die Alte war!
»Das weiß ich doch. Ich muss meine Mannschaft fit halten, damit sie Energie hat!«
»Auf jeden Fall. Und was wäre da besser geeignet als ein Stück Sticky-Toffee-Pudding? Ich freue mich übrigens sehr, dass du wieder angefangen hast zu backen.«
»Hast du auch dein Handy?« Jill ging nicht auf Rachels Kommentar ein.
»Na klar. Und …« Rachel ging zur Garderobe in der Eingangshalle und sah in den Taschen ihrer Wachsjacke nach, ob sie alle nötigen Utensilien dabeihatte: das alte Taschenmesser ihres Vaters, Bindfaden, Geburtsstricke. »Ja, ich habe alles.«
»Dann hab eine gute Nacht da draußen. Ich hoffe, es bleibt ruhig.«
»Ich auch.«
Jill packte ihr das Essen, die große Thermoskanne und einen Zinnbecher in einen Rucksack.
»Komm, Moss. Du darfst mit.« Rachel pfiff nach ihrem Hund, der wieder mal vor dem Herd lag, seit er sich vorhin ins Haus geschlichen hatte. Aber jetzt sprang er auf, wie immer begierig, ihr zu helfen.
Rachel ging über den Hof, vorbei an der alten gemauerten Scheune und hin zu dem kleinen Pfad, der zum Ablammstall führte. Die Abenddämmerung setzte ein, die Schatten wurden länger und die Luft kühler. Langsam verschwand das letzte Licht des Tages und ging über ins dunkle Blau der Nacht. Der schrille Ruf des Austernfischers ertönte, und Rachel sah das Vogelpärchen über ihrem Kopf vorbeifliegen – zwei schnelle schwarz-weiße Pfeile mit den charakteristischen orangefarbenen Schnäbeln.
Kurze Zeit später stand sie vor der großen Stahlkonstruktion der Scheune, die moderner war als die anderen Farmgebäude. Helle Lichter brannten, und als sie hineinging, schlug ihr der erdige Geruch von Stroh und Schafen entgegen.
»Hey, Simon. Alles so weit okay?«
Ihr Farmhelfer war mittleren Alters. Er hob den Kopf und sah sie an. Sein dunkles Haar wurde an den Schläfen langsam grau, und sein Gesicht war wettergegerbt von der jahrelangen Arbeit auf den Feldern. »Alles bestens. Behalt nur die Nummer 98 im Auge. Sie hat Zwillinge bekommen, aber eine ihrer Zitzen will nicht, sodass sie Probleme hat, beide gleichzeitig zu säugen. Vielleicht musst du bei ihnen ein bisschen zufüttern, wenn du die anderen Flaschenlämmer versorgst.«
»Okay, danke für die Vorwarnung. Und wie macht sich Pete, das Flaschenlamm vom Freitag? Den Namen hat ihm Maisy verpasst.«
»Dem geht’s super. Ist ein kleiner Kämpfer.«
»Puh, gut. Wenn ihm was passieren würde, wäre Maisy untröstlich.«
Leben und Tod gehörten zum Alltag auf einer Farm. Deswegen sollte man als Landwirt seine Tiere nicht zu sehr ins Herz schließen. Beim Anblick von süßen kleinen Lämmern fiel einem das manchmal allerdings nicht so leicht – vor allem natürlich ihrer vierjährigen Tochter, aber auch Rachel selbst mit ihren mittlerweile vierundzwanzig Jahren. Ihr Vater hatte immer gesagt, dass sie schon als Kind ein zu weiches Herz gehabt habe. Er hatte ihr verboten, den Lämmern Namen zu geben, aber Rachel konnte nicht aus ihrer Haut. Sie tat alles, um die Tiere zu retten, selbst in den aussichtslosesten Fällen. Ihr Vater musste sie immer wieder daran erinnern, dass man manchmal grausam sein musste, um im Sinne des Tierwohls zu handeln.
»Wir geben unser Bestes«, sagte Simon und beförderte Rachel damit wieder ins Hier und Jetzt.
»Natürlich.«
»Alles andere ist so weit stabil. Ein paar von den Mutterschafen von gestern sind mit ihren Lämmern schon wieder draußen. Es scheint allen gut zu gehen.«
»Fein. Dann lass ich dich jetzt mal Feierabend machen.«
»Danke. Ich bin echt bereit für ’ne Mütze voll Schlaf.«
»Ach, Moment noch. Mum hat dir ein paar Cupcakes gebacken.« Rachel holte ein Päckchen aus ihrem Rucksack.
»Wunderbar! Da freue ich mich. Gibt’s gleich, wenn ich nach Hause komme, mit einer Tasse Kaffee. Sag Jill danke von mir, ja?«
»Mach ich. Sehr gerne.«
Simon ließ Rachel mit Moss und den Schafen allein. Sie schaltete das Radio aus, das er angelassen hatte. Tagsüber mochte sie das Geplänkel und die Musik, aber nachts genoss sie die Ruhe und den Frieden, die nur ab und zu vom Blöken der Tiere unterbrochen wurden.
Rachel machte einen Kontrollgang durch die Scheune. Mutterschafe und Lämmer waren zusammen in einem Pferch, und es schien alles in Ordnung zu sein. Bei ihren Tieren handelte es sich in der Mehrzahl um Cheviot-Schafe, eine widerstandsfähige Züchtung, die in der hügeligen Landschaft ideal zurechtkam. Eins der Cheviot-Schafe zeigte Anzeichen der bevorstehenden Geburt, und auch eins der Texelschafe, einer größeren, kurzbeinigen Rasse, von denen sie nur wenige Tiere besaßen. Es lief rastlos in einem abgegrenzten Pferch umher. Auf diese beiden Tiere würde sie ein Auge haben müssen.
Die frischgeborenen Lämmer und ihre Mütter, die in einer eigenen Sektion untergebracht waren, wirkten alle zufrieden. Sie sah bei Nummer achtundneunzig nach den Zitzen – auf einer Seite kam immer noch keine Milch. Gleich musste sie die Abendfütterung vorbereiten und bei den beiden Geburten assistieren, und die drei Flaschenlämmer mussten ebenfalls gefüttert werden, darunter auch Pete. Es gab außerdem vier größere, bei denen sie auch zufüttern musste.
Nachdem alle Tiere versorgt waren und Rachel einen weiteren Rundgang gemacht hatte, machte sie es sich auf einem Strohballen gemütlich und trank heißen Tee aus ihrer Thermosflasche. Im Stall war es nachts herrlich friedlich, vor allem wenn man der einzige Mensch dort war. Moss ließ sich zu ihren Füßen nieder. Rachel ließ den Tag Revue passieren und dachte darüber nach, was die kommenden Wochen bringen würden, welche Pläne sie für die Farm hatte. Manchmal versuchte sie auch einfach, zur Ruhe zu kommen und die Stille zu genießen. Es war ein wunderschöner Tag gewesen, sonnig und warm. In Northumberland war der Frühling in vollem Gang, perfekt für die Ablammsaison. Die Schafe litten unter kaltem und nassem Wetter, vor allem wenn der Winter kein Ende nehmen wollte. Erinnerungen an den letzten Winter, der viel zu lange gedauert hatte, kamen Rachel in den Sinn, und sie erschauderte unwillkürlich. Ihr Herz verhärtete sich, wenn sie an diese Zeit zurückdachte. Der Frühling war zwar allgemein ein Sinnbild für das erwachende Leben, aber für Rachel barg diese Jahreszeit auch bittersüße Erinnerungen.
Sie riss sich von ihren Gedanken los und nahm ein Taschenbuch aus ihrem Rucksack. Für eine Weile versank sie in der Welt eines kitschigen Romans. Eine willkommene Flucht aus ihrem anstrengenden Alltag.
In den frühen Morgenstunden war es bei dem Cheviot-Schaf so weit: Die Geburt setzte ein. Rachel beobachtete das Tier genau. Die Geburt lief problemlos, und das Mutterschaf kam ohne fremde Hilfe zurecht – kurz nach dem ersten Lamm kam auch schon das zweite, und die Mutter leckte beide sauber. Binnen weniger Minuten standen die beiden Kleinen auf ihren Beinchen und fingen an zu trinken. Immer wieder staunte Rachel über dieses Wunder der Natur – die Geburt.
Sie war sich der Tatsache bewusst, dass Landwirte oft als hartherzig verschrien waren, dabei ging es einfach nur darum, pragmatisch zu sein. Sie sorgte sich natürlich um jedes einzelne Tier auf ihrer Farm, aber so ein Hof war nun mal auch ein Wirtschaftsunternehmen, das profitabel arbeiten musste. Man züchtete die Tiere, um sie eines Tages zu verkaufen. Doch eine Farm zu betreiben war noch viel mehr als das. Es ging auch um Tradition. Ihre Familie betrieb seit vielen Jahren Viehzucht, sie besaßen Schafe und eine Handvoll Rinder. Außerdem verstand sich Rachel als Hüterin ihres Farmlands. Ihr Hof und das Tal waren seit ihrer Kindheit fest in ihrem Herzen verankert.
Rachels Magen knurrte, als sie eine weitere Runde durch den Stall drehte. Eins der Texelschafe lief immer noch unruhig im Kreis, aber die Geburt schien nicht unmittelbar bevorzustehen. Deswegen beschloss Rachel, jetzt die Brote zu essen und noch einen Tee zu trinken. Langsam wurde es frisch in der Scheune, sie konnte ihren Atem sehen. Natürlich trug sie vorsichtshalber Thermounterwäsche, zwei Paar Socken, einen Wollpullover und ihre Jacke, damit ihr nicht kalt wurde. Sie wickelte die Brote aus, die ihre Mutter für sie geschmiert hatte. Der Schinken war dick geschnitten und schmeckte köstlich, das frische Vollkornbrot war mit einer dünnen Schicht Honigsenf bestrichen. Lecker. Moss bekam ein Stück von der Kruste, während sie an ihrem Tee nippte. Draußen schrie eine Eule, dann war wieder alles ruhig.
Etwa eine Stunde später war es schließlich auch bei dem Texelschaf so weit. Es war unruhig, wechselte immer wieder seinen Liegeplatz. Rachel hockte sich auf ein paar Strohballen neben dem Pferch, um zur Stelle zu sein. Sie besaßen insgesamt nur zwölf Texelschafe. Zwei von ihnen hatten bereits vor ein paar Tagen erfolgreich gelammt und waren schon wieder draußen auf der Weide. Eine halbe Stunde später war klar, dass die Geburt unmittelbar bevorstand. Aber noch immer schien das Muttertier sich unwohl zu fühlen. Es war nicht gut, wenn es so kurz vor der Geburt panisch herumrannte. Also schnappte sich Rachel das Schaf und versuchte, es zu Boden zu ringen. Die Texelschafe waren große, muskulöse Tiere, die man nur mit der richtigen Technik zu Boden bringen konnte. Rachel musste das Mutterschaf auf die Seite rollen, damit es für Mutter und Lamm leichter wurde.
Doch leider ließ sich das Schaf nicht so einfach von Rachel umwerfen. Es keilte aus und wehrte sich, sodass Rachel auf einen alten Schäfertrick zurückgreifen musste, den schon ihr Vater und ihr Großvater angewendet hatten: Sie zog ihre Jacke aus und legte sie dem Tier über den Kopf. Das beruhigte es ein wenig – zum Glück – und Rachel überprüfte schnell, ob schon etwas zu sehen war. Ja, sie entdeckte Nase und Füße des Lamms. Es sah ziemlich groß aus – diese Geburt würde vermutlich eine Weile dauern. Ein Eingreifen ihrerseits wurde aber nur dann erforderlich, wenn sich die Geburt zu lange hinzog.
Zwanzig Minuten später war immer noch nichts passiert. Rachel holte den Geburtsstrick und versuchte, der kleinen Kreatur herauszuhelfen, indem sie sich mit dem Rücken gegen einen Strohballen stemmte. Dieses Lamm erinnerte sie an die riesige Steckrübe aus Maisys Gutenachtgeschichte. Aber Rachel kam nicht weiter, und das Mutterschaf versuchte, wieder aufzustehen. Es keuchte und blökte. Diese Situation konnte binnen kürzester Zeit ernsthafte gesundheitliche Folgen für das Schaf haben. Rachel musste sofort Hilfe holen. Sie brauchte jemanden, der erfahrener und stärker war als sie. Denk nach! Denk nach! Simon wohnte gut eine Viertelstunde entfernt. Nebenan war Toms Hof, der aber hatte sicher selbst mit seinen Schafen zu tun. Allerdings hatte er auch zwei Farmhelfer, denn sein Hof war größer als ihrer, und einer von ihnen war mit Sicherheit mit ihm im Stall. Rasch zog sie ihr Handy aus der Tasche und versuchte während des Telefonats weiterhin, das Mutterschaf auf den Boden zu drücken.
Es klingelte vier oder fünf Mal, bis Tom endlich abnahm.
»Tom.«
»Rachel, bist du das? Alles okay?« Er klang ziemlich verschlafen, offensichtlich hatte er doch keinen Dienst im Stall geschoben.
»Eins von meinen Texels hat Probleme. Das Lamm scheint festzustecken.«
»Verstehe.« Tom klang alarmiert. »Ich komm sofort rüber.« Sie beide wussten um den Ernst der Lage.
Rachel steckte das Handy wieder ein und versuchte nach bestem Vermögen, das Schaf zu beruhigen und auf dem Boden zu halten.
Erleichtert hörte sie kurze Zeit später, wie sich ein Quad der Scheune näherte. Tom begrüßte sie mit einem knappen »Hallo« und machte sich sofort an die Arbeit. Rachel hielt weiterhin den Kopf des Schafs, während Tom sich mithilfe des Geburtsstricks am hinteren Teil des Tieres zu schaffen machte. Er war ein großer und starker Mann, aber selbst er musste sich mit aller Kraft gegen die Strohballen stemmen. Endlich, nach schier endloser Kraftanstrengung, kam das Lamm. Es war sehr groß, voller Schleim … und bewegte sich nicht. Tom wischte vorsichtig den Schleim von seinem Maul und rieb den Körper beherzt ab. Immer noch rührte sich das frisch geborene Tier nicht – es wirkte leblos und tot. Tom versuchte es mit künstlicher Beatmung und blies ihm ein, zwei Mal ins Maul.
»Komm schon, Kleines, du schaffst es!«
Und plötzlich ein erstes Lebenszeichen, nur ein kleines Zucken des Beins. Dann hob das Lamm den feuchten, wolligen Kopf und erhob sich, um auf wackligen Beinchen zu stehen. Es schüttelte sich, als wäre es erschrocken über seine Ankunft in der Welt. Automatisch rutschte das Mutterschaf näher heran, um es abzulecken.
»Danke, Tom.« Rachel war ein bisschen ergriffen, Stress und Erschöpfung machten sich bemerkbar.
»Immer gerne. Gut, dass du mich angerufen hast.« Tom lächelte.
»Ich weiß. Allein hätte ich es nicht hingekriegt. Zu schwach.« Manchmal war es frustrierend, dass sie nicht die nötige Kraft besaß, die man für die schweren Arbeiten auf der Farm benötigte.
»Na … wir wollen aber auch nicht, dass du wie der Hulk aussiehst«, scherzte Tom. Seine dunkelbraunen Augen leuchteten.
»Hallo, kleines Kerlchen.« Rachel hockte sich neben das Lämmchen, dem es nach diesem nicht ganz reibungslosen Start ins Leben glücklicherweise gut zu gehen schien. Sie ließ es noch für einen Moment in Ruhe bei seiner Mutter, später würde sie es dann untersuchen. Aber jetzt brauchten sie alle erst mal eine Verschnaufpause.
»Möchtest du einen Tee? Ich hab auch was von Mums Sticky-Toffee-Pudding dabei.«
»Na bitte, wer sagt’s denn! Dafür steht man doch gerne um drei Uhr nachts auf«, erwiderte Tom grinsend.
Rachel goss ihm Tee aus ihrer Thermoskanne ein und reichte ihm den dampfenden Becher. Toms Unterarm war noch voller Schleim und Blut, aber sie kümmerten sich nicht darum; so etwas war normal in der Lämmersaison.
Seite an Seite saßen sie auf einem Strohballen.
»Ich weiß deine Hilfe wirklich zu schätzen.« Erleichterung durchflutete Rachel.
»Kein Ding. Du weißt, ich bin jederzeit erreichbar, wenn du Hilfe brauchst. Das hab’ ich dir schon oft gesagt.« Er sah sie ernst an.
»Danke. Du bist wirklich lieb zu uns.« Tom war wirklich ein großartiger Freund der ganzen Familie – auch in ihrer schwersten Zeit hatte er sich rührend um sie gekümmert. Manchmal hatte sich Rachel allerdings gefragt, ob sie ihm nicht vielleicht auch auf die Nerven gingen, die Frauen von der Nachbarfarm. Normalerweise versuchte sie, ihn nicht allzu oft zu belästigen und sich allein durchzuschlagen, aber das heute Abend war wirklich ein Notfall gewesen.
Tom war etwas älter als sie, Mitte dreißig. Sie kannten einander seit ihrer Kindheit. Er war natürlich schon ein Teenager gewesen, als sie noch ein kleines Mädchen war, und war wild auf dem Quadbike über die Feldwege gerast. Er hatte fast sein gesamtes Leben auf dem Hof seiner Familie verbracht – bis er geheiratet hatte und weggezogen war. Als bei seinem Vater vor ein paar Jahren eine schwere Arthritis diagnostiziert wurde, waren seine Eltern in einen Bungalow in Kirkton gezogen, und Tom hatte den Hof mit seiner damaligen Ehefrau Caitlin übernommen. Vor drei Jahren war die Ehe allerdings auseinandergegangen – auf ziemlich unschöne Weise, wie Rachel gehört hatte – und seitdem lebte Tom als Single auf seiner Farm. Da sie Nachbarn waren, liefen er und Rachel sich regelmäßig über den Weg.
»Wie lang bist du noch dran?«, fragte Tom.
»Simon kommt um halb acht. Also eine Zwölf-Stunden-Schicht. Ich sehe Maisy zum Frühstück, dann hau ich mich für ein paar Stunden in die Falle, während sie in der Schule ist.«
»Wunderbar. Ein paar Stunden gesegneter Schlaf.«
»Und morgen Abend geht dasselbe Spiel von vorne los …«
»Es hört nicht auf, was? Aber so ist es nun mal in der Ablammzeit. Kommt einem jedes Mal so vor, als würde sie nie enden. Dabei sind es nur drei Wochen im Jahr.«
»Das kriegen wir schon hin. Wie jedes Jahr. Ist irgendwie so, als wenn man zu viel getrunken und einen furchtbaren Kater hat. Man schwört sich, dass man nie wieder Schafe züchten wird, und wenn dann Verkaufszeit ist, hat man diese schreckliche Zeit und all die Schwüre wieder vergessen – und fängt von vorne an.«
»Genau, so ist es.«
Rachel fing an, in ihrem Rucksack herumzukramen. Sie holte Jills Backwerk heraus und goss sich noch eine Tasse Tee ein.
»Auf die zähen Farmer von Cheviot Hills«, sagte sie und hob den Becher. »Prost.«
Sie reichte Tom eine Portion des saftigen, süßen Biskuitkuchens und einen Plastiklöffel. Ihre Mum dachte wirklich immer an alles.
»Und auf diesen wunderbaren Kuchen!« Er lächelte und lud sich den Löffel voll. »Mein Gott, ist der lecker. Der richtige Treibstoff für uns Landwirte!«
»Wem sagst du das!«
Nachdem sie noch eine Weile geplaudert hatten, fuhr Tom zurück nach Hause, um noch ein bisschen zu schlafen. Tatsächlich hatte Rachel ihn mit ihrem Anruf aus dem Tiefschlaf gerissen. Es war eine der seltenen Nächte in der hektischen Zeit der Lämmergeburten gewesen, in der er mal nicht im Stall hatte sein müssen. Rachel fühlte sich schuldig, weil sie seine kostbare Nachtruhe gestört hatte – zumal er am nächsten Tag wieder alle Hände voll zu tun hatte.
Bald drang das goldene Morgenlicht durch die Ritzen im Scheunentor. Rachel war wieder allein und musste sich um die nächste Geburt kümmern. Ein einzelnes gesundes Lämmchen kam ohne Probleme zur Welt. Nicht viel später konnte sie zurück ins Haus und zu ihrer Familie gehen.
Zum Glück war am Ende alles gut ausgegangen für das kleine Texelschaf. Rachel schaute hinauf in den klaren Himmel, während sie über den Hof ging, und war dankbar für einen weiteren warmen und trockenen Frühlingstag. Der Wettergott meinte es gut mit ihnen in diesem Jahr. Das war weiß der Himmel nicht immer so gewesen. Rachel passierte das alte Steingebäude, das nicht mehr genutzt wurde. Wenn sie sich an den schicksalhaften Frühlingstag vor zwei Jahren erinnerte, überkam sie ein Schauer.
Maisy war schon auf, als Rachel das Farmhaus betrat. Zusammen mit Jill deckte die Kleine den Frühstückstisch. Gerade kämpfte sie mit zwei großen Packungen Frühstücksflocken, die sie schnell auf den Tisch stellte, als ihre Mutter hereinkam.
»Mummy! Wie geht’s Pete?«
»Alles bestens, Maisy. Er hat gut geschlafen und trinkt auch gut.«
»Oh! Darf ich ihm die Flasche geben?«
»Nach der Schule. Jetzt musst du dich erst mal fertig machen und selbst was frühstücken.«
»Das ist gemein.«
»Pete hat schon gefrühstückt«, erklärte Rachel.
»Einen Tee, Liebes?«, fragte Jill und schaltete im selben Moment den Wasserkocher ein, denn sie kannte die Antwort.
»Ja, gern. Ein Tee wäre jetzt toll.«
»Ist alles gut gelaufen? Mir war so, als hätte ich heute früh ein Fahrzeug gehört?« Ihre Mutter sah sie besorgt an.
»Ja, ich musste Tom herbitten. Eins der Texelschafe hatte Probleme.«
»Und? Habt ihr es hingekriegt?« Als Frau eines Schafzüchters wusste Jill natürlich, welche Komplikationen auftreten konnten. Sie hatte selbst oft genug im Stall geholfen, wenn die Lämmer kamen. Erst in letzter Zeit erledigte sie nur noch die weniger anstrengenden Arbeiten und kümmerte sich dafür mehr um Maisy.
»Das Lamm war stecken geblieben. Die Geburt dauerte zu lange, das hat mir Sorgen gemacht. Deswegen habe ich Tom um Hilfe gebeten. Er hat es super gemacht, Mutterschaf und Lamm geht es gut. Das Lamm war ein echter Brocken.«
»Dann bin ich ja beruhigt. Ende gut, alles gut.«
»Dem Himmel sei Dank für Tom«, fügte Rachel hinzu. »Der Arme, ich hab’ ihn auch noch geweckt. Er hatte sich gerade für ein paar Stunden ins Bett gelegt.«
»Oh, er ist ein netter Junge. Ich wüsste gar nicht, was wir ohne ihn machen würden. Er ist wirklich ein Geschenk des Himmels.«
Junge. Rachel musste lächeln. Tom war Mitte dreißig, aber bei ihrer Mum klang es, als wäre er gerade mal dreizehn. Trotzdem hatte sie recht – er hatte sich als wahrer Freund und unverzichtbarer Helfer erwiesen, vor allem seit dem Tod ihres Vaters.
»Darf ich Tom mal besuchen, Mummy?«, meldete sich Maisy zu Wort, die sich gesetzt hatte und ihre Frühstückscerealien löffelte.
»Aber nicht jetzt.« Rachel setzte sich neben ihre Tochter. »Wahrscheinlich hat er sich wieder schlafen gelegt, oder er ist schon in der Ablammscheune. Weißt du, im Moment hat er zu viel zu tun, Maisy. In einer Woche oder so, wenn die Lämmergeburten vorbei sind, kannst du ihn aber gerne besuchen gehen.«
»Diese Lämmerzeit ist so langweilig.«
»Was sagst du denn da? Du hast Pete und die anderen Schäfchen doch gern?«
»Ja, aber alle Erwachsenen sind dann immer so beschäftigt.«
»Das stimmt. Weil es eine wichtige Zeit ist. Hab noch ein bisschen Geduld, mein Schatz. Das ist nun mal unsere Arbeit.« Und von dieser Arbeit leben wir und bezahlen unsere Rechnungen, fügte sie im Geiste hinzu.
»Vielleicht können wir Tom ja für Sonntagabend zum Essen einladen, als kleines Dankeschön?«, schlug Jill vor. »Darüber würde er sich bestimmt freuen. Selbst wenn es nur für ein Stündchen wäre, weil so viel zu tun ist.«
»Das ist eine schöne Idee«, sagte Rachel. »Ich sag ihm Bescheid, wenn wir uns in den nächsten Tagen über den Weg laufen.«
Maisy nickte begeistert. Sie fand die Idee auch toll.
Aber jetzt musste sie sich beeilen. Pünktlich um 8:20 Uhr hielt der Schulbus an der Zufahrt zur Farm. »Maisy, iss auf und dann geh hoch und putz dir die Zähne. Schuhe an, Rucksack fertig packen, dann bring ich dich zum Bus.«
»Das kann ich doch machen, Rachel«, bot ihre Mutter an. »Willst du dich nicht lieber schlafen legen?«
»Nein, ist schon gut, Mum. Ich mach das gerne.« Egal, wie müde sie war, sie genoss es, vor und nach der Schule Zeit mit ihrer Tochter zu verbringen.
»Hast du Hunger? Du hast noch gar nichts gegessen. Soll ich dir ein Rührei machen, wenn du zurückkommst?«
»Klingt perfekt. Danke.«
Sie hatten ein Dutzend Hühner, die frei auf dem Grundstück herumlaufen und herumpicken konnten. Tagsüber zumindest, nachts musste man sie in den Stall sperren, damit der Fuchs oder andere Wildtiere sie nicht holten. Die Eier dieser Hühner waren köstlich, das Eigelb hatte eine sattorange Färbung – perfekt für Rührei oder pochiertes Ei auf Toast.
Zehn Minuten später hatten Rachel und Maisy das Haus verlassen und überquerten den Hof.
»Darf ich Pete besuchen, bevor wir gehen?« Maisy schenkte ihrer Mutter ein unschlagbar süßes Lächeln.
»Maisy, du hast deine Schuluniform und deine besten Schuhe an. In der Scheune machst du dich nur schmutzig.« Rachel selbst trug ihre Gummistiefel, und sie konnte diesem Lächeln einfach nicht widerstehen. »Na gut, aber nur kurz. Nichts anfassen, nur gucken, denn wir haben keine Zeit, noch mal die Hände zu waschen. Komm, ich trag dich.« Sie setzte sich Maisy auf die Hüfte und steuerte die Ablammscheune an.
Die Flaschenlämmer befanden sich in einem abgetrennten Bereich gleich neben dem Eingang. Rachel hob Maisy hoch, damit sie sie sehen konnte.
»Hallo, Petie! Und bis später!«, rief das Mädchen und winkte dem kleinen Lamm zu.
Pete sah auf und blökte zur Antwort, dann hüpfte er auf sie zu in der Hoffnung auf Futter. Die anderen Flaschenlämmer lagen zusammengekuschelt neben einem großen Strohballen. Sie machten alle einen guten Eindruck, obwohl eins – Nummer vierunddreißig – viel kleiner war als die anderen. Rachel würde es im Auge behalten müssen. Immerhin wirkte es munter genug, um aus eigener Kraft auf die Beine zu kommen.
Im hinteren Teil der Scheune entdeckten sie Simon und winkten ihm zu.
»Viel Spaß in der Schule, Maisy!«, rief er.
»Hallo, Simon. Danke!«
»Guten Morgen. Alles okay, seit ich gegangen bin?«
»Alles bestens.«
»Wir müssen los, Maisy, Du willst ja nicht den Bus verpassen.«
Sie liefen Hand in Hand den Feldweg entlang bis zur Schulbushaltestelle. Zum Glück ging Maisy gern in die Vorschule. Sie war vor einem halben Jahr eingeschult worden und hatte sich gut eingelebt. Die Kleinstadt Kirkton, in der sich die Schule befand, war rund sechs Kilometer von der Primrose Farm entfernt. Maisy war ein offenes, kontaktfreudiges Kind, und sie freute sich morgens genauso sehr auf ihre Freunde wie auf den Unterricht.
Der Feldweg war gesäumt von einer grasbewachsenen Böschung, auf der jetzt im Frühling unter den Weißdornhecken jede Menge hellgelbe Schlüsselblumen blühten. Zur Straße hin wiegten sich Nester von Osterglocken im Wind – eine schöne Begrüßung für alle Besucher der Farm. Rachel sorgte dafür, dass das Gras auf beiden Seiten des Zufahrtstors kurz und gepflegt war. Schon ihr Vater hatte darauf bestanden, dass dieser Bereich picobello war. »Der erste Eindruck zählt«, hatte er immer mit seiner tiefen Stimme gesagt. Rachel holte tief Luft, um die Traurigkeit zu verscheuchen, die sie bei diesem Gedanken befiel.
Da entdeckte sie ihre Freundin Eve, die mit ihrer kleinen Tochter Amelia ebenfalls zur Bushaltestelle ging. So ersparten sie dem Busfahrer die mühsame Einfahrt in die enge Zufahrtsstraße zu ihrem Cottage ganz in der Nähe. Amelia war Maisys beste Freundin.
»Hallo Eve, hallo Amelia!« Rachel winkte den beiden fröhlich zu.
»Hey Rachel. Geht’s dir gut? Was machen die Lämmer?« Eve verzog das Gesicht. Jeder Landbewohner wusste, dass die Ablammsaison die anstrengendste Zeit des Jahres war.
»Wird schon. Letzte Nacht gab es ein paar Probleme …«
Der Schulbus, ein Minibus, kam und hielt neben ihnen an. Die Mädchen stiegen ein, ihre Schultaschen mit Büchern und Pausenbroten gefüllt. Auch die Erwachsenen stiegen kurz ein, um dem Fahrer Ted einen guten Morgen zu wünschen und um sicherzugehen, dass die Kinder nichts vergessen hatten und sich ordentlich anschnallten. Ein schnelles Küsschen und ein »hab ’nen schönen Tag«, und schon waren sie wieder draußen und winkten dem Bus hinterher.
»Also, was hast du gesagt? Letzte Nacht war viel los?«, hakte Eve nach.
»Ja, in der Ablammscheune ging’s rund. Ein Texelschaf hatte Probleme, das Lamm wollte nicht rauskommen. Aber zum Glück ging am Ende alles gut aus, auch dank der Hilfe meines lieben Nachbarn Tom.«
»Ah, der reizende Tom. Dein sexy Nachbar.« Es war bekannt, dass Eve, die glücklich mit Ben verheiratet war, seit Jahren für Tom schwärmte. Rachel amüsierte sich darüber. Eve hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als Tom, ihr Freund aus Kindheitstagen, damals in die Stadt gezogen war – wohl stark unter dem Einfluss seiner Frau Caitlin, wie man munkelte. Aber seit er auf den elterlichen Hof zurückgekehrt und wieder Single war, sah Eve ihn mit neuen Augen. »Ich raff immer noch nicht, wieso ihn sich noch keine geschnappt hat«, sagte sie jetzt verträumt. »Seine Scheidung ist doch inzwischen Jahre her.«
»Tja … gebranntes Kind scheut das Feuer, würde ich sagen.« Rachel kannte dieses Gefühl nur zu gut. »Ich versteh überhaupt nicht, wieso du dich so für ihn interessierst – du bist doch vergeben. Und außerdem ist Tom mindestens zehn Jahre älter als wir.« Die beiden Freundinnen waren nicht in die gleiche Klasse gegangen, Eve war ein Jahr älter, aber sie hatten immer in der Nähe voneinander gewohnt und waren schon als Teenager befreundet gewesen. Jetzt hatten sie das reife Alter von vierundzwanzig beziehungsweise fünfundzwanzig erreicht … obwohl Rachel sich nach dem Schlafentzug der letzten zehn Tage wie eine Frau von vierundsechzig fühlte.
»Er ist nur acht Jahre älter als ich. Dreiunddreißig.«
»Ach so? Und woher weißt du das so genau?«
»Er hatte vor ein paar Wochen Geburtstag. Hat er Ben im Pub erzählt.«
Tom sah gut aus, das fand Rachel auch, aber für sie war er einfach ein Freund der Familie. Sie kannte ihn, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war. Im Gegensatz zu Eve, die ihn attraktiv fand, kam Rachel nicht mal auf den Gedanken, ihn unter diesem Aspekt zu sehen.
»Und? Was hast du heute noch auf dem Zettel?«, fragte Rachel, um das Thema zu wechseln.
»Ich habe ein neues Projekt, das ich sehr spannend finde. Du weißt ja, wie gerne ich Dinge selbst herstelle.«
Eve war die begabteste Kunsthandwerkerin, die Rachel kannte. Sie machte wunderschöne, weiche Kuscheltiere aus Filz, und ihre Strickwaren waren der Hammer. Vor allem ihre Pullover mit dem süßen Traktordesign kamen gut an. Außerdem entwarf sie Babyschuhe und Strickjacken für Kinder und Hüte und Schals. An Weihnachten und an den Geburtstagen tauchte sie üblicherweise mit einem wunderschönen handgemachten Geschenk auf. Außerdem stellte sie Grußkarten her, arbeitete mit Holz, stickte, nähte und so weiter. Seit sie im vergangenen Jahr zu Maisys Geburtstag eine traumhaft schöne Girlande gebastelt hatte, eine Wimpelkette aus verschiedenen pastellfarbigen Elementen und Rosen im Vintage-Look, nannte Rachel sie die »Wimpelkönigin«.
»Ja? Erzähl mal!«
»Ich habe vor, ein kleines Start-up mit Handarbeiten zu gründen und bei einer Internetplattform einzusteigen, bei der man online selbstgemachte Produkte kaufen und verkaufen kann«, erklärte Eve. »Dort will ich meine Sachen anbieten. Eine Aufbesserung der Haushaltskasse schadet nie. Und einen ›richtigen‹ Job zu finden, der mit den Schulzeiten vereinbar und nicht zu weit weg ist, ist bekanntlich nicht so leicht. Das Beste an dieser Idee ist: Ich kann von zu Hause arbeiten und von dort auch gleich alles verschicken, ohne dauernd zur Post zu rennen wegen des Portos. Was sagst du?«
»Klingt genial. Wahrscheinlich hast du alles schon genauestens recherchiert, so wie ich dich kenne – wieso also nicht? Hört sich nach einer super Sache an. Ich hab auch schon solche Dinge übers Netz gekauft. Ich freu mich für dich!« Rachel versuchte, ein Gähnen zu unterdrücken. »Entschuldige, hat nichts mit dir oder deinem Projekt zu tun. Ich hab nur seit gestern Nachmittag nicht mehr als ein paar Stunden geschlafen …«
»Ach du Schande! Dann leg dich aber schnell mal hin! Hast du heute wieder Nachtschicht?«
»Leider ja. Keine Ruhe für die Gottlosen.«
»Beziehungsweise Farmer.«
»Wohl wahr. Und viel Glück mit deinen Handarbeiten, Eve! Sobald die Ablammsaison vorbei ist, werde ich wieder unter den Lebenden auftauchen, versprochen. Dann trinken wir einen Kaffee zusammen und bringen uns mal wieder auf den neuesten Stand!«
»Das machen wir. Oder wir gehen zusammen einen trinken. Ich vermiss meine Freundin! Mach’s gut, Rach.«
»Bis dann, Eve.«
»Und süße Träume!«
»Danke.«
Als sie zurück zum Haus ging, dachte Rachel, wie toll sie Eves Projekt mit dem Onlineshop fand. In ihr keimte bereits eine eigene Idee auf. Auch sie mussten sich überlegen, was sie zusätzlich machen konnten, um Geld zu verdienen. Eine neue Richtung einschlagen, das Angebot erweitern. Etwas, das sie in ihren Alltag mit dem Hof und mit dem Kind integrieren und mit dem sie gleichzeitig ihr Einkommen steigern konnten. Nur was? Das war die große Frage.
Wie herrlich es doch war, in die Kissen zu sinken. Rachel kuschelte sich unter ihre weiche Decke; die Vorhänge im Schlafzimmer waren zugezogen, damit der strahlende Frühlingstag sie nicht wachhielt. Das Vogelgezwitscher trat immer mehr in den Hintergrund, als Rachel in den wohl verdienten Schlaf glitt.
Als sie aufwachte, hörte sie in der Ferne einen Traktor dröhnen, und die Vögel zwitscherten immer noch. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet Rachel, dass es fast vierzehn Uhr war. Sie hatte fünf Stunden geschlafen, doch es fühlte sich an wie gerade mal fünf Minuten! Sie gähnte und streckte sich. Zeit aufzustehen, ihrer Mutter zur Hand zu gehen und nachzusehen, was bei Simon im Stall los war. Mist, nur noch eine Stunde, bis der Schulbus Maisy wieder oben an der Straße ausspuckte.
Rachel schlüpfte in eine Jogginghose und ein T-Shirt und zog einen alten Fleecepullover drüber. Die dicken Steinmauern sorgten dafür, dass es im Farmhaus immer kalt war. Nur in der Küche, wo der Herd stand, war es kuschelig warm. Ihr Vater war in diesem Haus geboren worden. Als kleines Mädchen, daran erinnerte sich Rachel, hatte sie die meiste Zeit in der warmen Küche verbracht. Dort hatte sie auf einem Hocker gestanden und ihrer Mutter Jill dabei zugesehen, wie sie Scones, den englischen Teegebäckklassiker, zubereitete. Die süßen Brötchen entwickelten beim Backen einen betörenden Duft und wurden mit Erdbeerkonfitüre und Streichrahm gegessen. Manchmal half sie ihrer Mum, wenn diese die leckere Teigmischung für Pancakes mit Zitrone und Zuckerstreuseln anrührte.
»Hallo, Schatz! Willkommen zurück im Land der Lebenden«, begrüßte Jill sie, als sie in die Küche kam. »Auf dem Herd steht Suppe und knuspriges Brot, das ich gerade gebacken habe.«
»Oh, danke. Das ist ja toll.« Rachel lüpfte den Deckel des Kochtopfs – Lauch und Kartoffeln. Lecker, ihre Lieblingssuppe. Sie dampfte herrlich und wartete nur darauf, von ihr gegessen zu werden. Ihre Mutter hatte sie extra warmgehalten. Jill war echt die Größte. Sie war das Zahnrad, das alles am Laufen hielt. Sie versorgte ihre Familie mit Essen und Trinken und half, soweit sie es noch konnte, auch bei der Farmarbeit. Rachel konnte sich glücklich schätzen, in ihrer Mutter eine so große Unterstützung zu haben. Sie bewunderte ihre Mum dafür, wie sie stoisch immer weitermachte, auch gerade in Anbetracht ihrer veränderten Lebensumstände. Alle drei hatten sie auch jetzt noch ab und zu Schwierigkeiten, sich auf diesem unbekannten Terrain zu bewegen. Aber vielleicht war genau das der Trick – immer etwas zu tun zu haben.
»Während du geschlafen hast, war ich einkaufen und bin auf dem Rückweg zufällig Tom begegnet. Ich hab ihn für Sonntag eingeladen. Er schien sich zu freuen. Ich wüsste ja nur zu gern, was er sich selbst kocht. Der arme Mann, so ganz allein die ganze Zeit.«
»Ich bin mir sicher, dass er sehr gut kochen kann, Mum. Wir leben ja nicht mehr im Mittelalter! Und garantiert ist er auch oft bei Jim und Barbara.« Seine Eltern wohnten ja nur ein paar Kilometer entfernt.
»Ja, aber trotzdem. Er freut sich bestimmt, mal verwöhnt zu werden. Auf dem Hof ist so viel zu tun. Und man macht sich ja keinen Sonntagsbraten für sich allein.«
»Eher nicht, das stimmt. Danke, dass du ihm Bescheid gesagt hast.« Das war doch ein nettes Dankeschön für seine Hilfe und Unterstützung in der vergangenen Nacht und in den ganzen letzten Monaten.
»Es ist auch schön, mal wieder einen Gast im Haus zu haben«, meinte Jill.
Ja, das Farmleben konnte auf die Dauer einsam machen, vor allem hier oben, im abgelegenen Norden von Northumberland. Es war wunderschön hier, keine Frage, ruhig und sehr besonders, aber man war eben auch ziemlich weit weg von größeren Städten, Kinos oder Flughäfen. Doch es lohnte nicht, darüber nachzudenken, denn so war es nun mal. Tatsächlich waren sie fast die ganze Zeit nur zu dritt: Rachel, Jill und Maisy. Manchmal kam auch Granny Ruth vorbei, die Mutter von Rachels Vater und ihre letzte lebende Verwandte aus der Großelterngeneration. Sie wohnte nicht allzu weit weg auf der anderen Seite von Kirkton. Sie, Simon, Eve und der Busfahrer waren oft wochenlang die einzigen »fremden« Gesichter, denen Rachel begegnete – vor allem jetzt, in der hektischen Zeit der Ablammsaison.
Schon war es Zeit, Maisy vom Schulbus abzuholen. Rachel schlenderte zur Straße und ließ auf dem Weg den Blick über die Weiden schweifen. Dabei kontrollierte sie automatisch, ob es den Schafen und Lämmern gut ging, die schon wieder draußen waren. Der Minibus hielt gerade an, als sie an der Straße ankam, und Maisy sprang heraus, rannte auf sie zu und schlang die Arme um sie. Rachel wechselte noch ein paar Worte mit Eve und Amelia, dann machten sie sich auf den Weg zurück zum Haus.
Rachel erkundigte sich, wie es in der Schule gewesen war und was sie heute gemacht hätten. Malen, Lesen, echt schwere Rechtschreibübungen, Seilspringen und Spielen lautete die Antwort. Als sie auf dem höchsten Punkt des Feldwegs ankamen, wurde Maisy plötzlich ungewöhnlich still, dann blieb sie auf einmal stehen und sah Rachel mit ernster Miene an.
»Mummy … wieso hab’ ich eigentlich keinen Dad?«, platzte es aus ihr heraus.
»Oh …« Die Frage traf Rachel völlig unvorbereitet.
»Amelia hat einen Dad und Nell auch, und sogar Harry erzählt von seinem Dad, obwohl er ihn immer nur samstags sieht.«
»Oh, Maisy … natürlich hast du einen Dad. Wie die anderen Kinder auch. Es ist nur so …« Rachel wusste, dass sie ihre Worte mit Bedacht wählen musste. Auf keinen Fall sollte Maisy das Gefühl bekommen, nicht gewollt zu sein. »Dein Dad kann einfach nicht so oft kommen. Er wohnt sehr weit weg.«
»Aber wieso wohnt er nicht bei uns … wie Amelias Vater? Mag er mich nicht?«
Rachel tat ihre Tochter leid. Weil er ein verantwortungsloser, unreifer, egoistischer Mistkerl ist.
»Natürlich hat er dich lieb, mein Schatz. Es ist einfach ein bisschen kompliziert bei uns. Dein Daddy und deine Mummy sind nicht mehr zusammen – so wie Harrys Eltern. Aber weil dein Daddy so weit weg ist, ist es nicht so einfach für ihn vorbeizukommen und dich zu besuchen, nicht mal samstags.« Sie versuchte, ihrer Vierjährigen möglichst kindgerecht zu erklären, dass Erwachsene Fehler machten und Beziehungen scheitern konnten. »Vor einem Jahr war er hier und hat uns besucht, weißt du das nicht mehr?« Es war zwar etwas länger her, aber »ein Jahr« hörte sich besser an.