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Es sind erst ein paar Wochen vergangen, seit Olivia Taylor-Jones in das schaurig-schöne Örtchen Cainsville gezogen ist, als sie prompt schon in ihren nächsten Fall verwickelt wird. In ihrem Auto findet sie die Leiche einer seit Längerem vermissten jungen Frau, die – zu Olivias Entsetzen – auch noch genauso aussieht wie sie selbst. Um den Mord aufzuklären, braucht Olivia nicht nur all ihre neu entdeckten Fähigkeiten, sondern auch die Hilfe des mysteriösen Anwalts Gabriel Walsh. Ein Mann, den sie eigentlich nie wiedersehen wollte ..
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Seitenzahl: 711
DAS BUCH
Es sind erst ein paar Wochen vergangen, seit das Leben der High-Society-Tochter Olivia Taylor-Jones in die Brüche ging. Seit sie erfuhr, dass sie adoptiert ist und ihre leiblichen Eltern verurteilte Serienkiller sind. Um deren Unschuld zu beweisen, kehrte Olivia zurück in ihren Heimatort – das schaurig-schöne Städtchen Cainsville. Dort wird sie schon bald von den Recherchen über ihre Eltern abgelenkt, als sie die Leiche einer jungen Frau in ihrem Auto findet. Gemeinsam mit dem ebenso charismatischen wie zwielichtigen Anwalt Gabriel Shaw beginnt Olivia zu ermitteln. Was gar nicht so einfach ist, wie es zunächst scheint, denn in Cainsville hat jeder Einwohner etwas zu verbergen, und Olivia selbst wird schon bald von düsteren Visionen heimgesucht. Sie beginnt zu begreifen, dass der Tod der jungen Frau mit ihrer eigenen Familiengeschichte zusammenhängt – eine Geschichte, die ein magisches Geheimnis umgibt …
DIE AUTORIN
Kelley Armstrong wurde in Sudbury, Kanada, geboren. Sie studierte Psychologie an der University of Western Ontario und Informatik am Fanshawe College. Weil sie schon als Kind schreiben wollte, wandte sie sich bereits vor Abschluss des Informatik-Studiums der Schriftstellerei zu. Heute ist Kelley Armstrong eine erfolgreiche Autorin, deren magische Thriller New York Times-Bestseller sind. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Ontario, Kanada.
Mehr über die Autorin und ihre Romane erfahren Sie auf:
www.kelleyarmstrong.com
Die Mohnblumen waren kein gutes Zeichen. Ein Todesomen. Schlimmer konnte es nicht kommen.
Wir hatten sie nämlich gar nicht gepflanzt. Vor Jahren hatte ein Gärtner tatsächlich einmal vorgeschlagen, Mohnblumen zu pflanzen, aber meine Mutter war natürlich dagegen gewesen. »Aus Mohnblumen macht man Opium«, hatte sie im Flüsterton des Grauens verkündet, als könnten ihre Freundinnen aus der gehobenen Gesellschaft zu dem Schluss kommen, dass wir in unserem Keller eine Opiumhöhle betrieben. Am liebsten hätte ich damals laut gelacht und ihr erklärt, dass man für Drogen eine andere Mohnart benötigt. Aber das hatte ich nicht getan. Mohnblumen in unserem Garten lehnte ich selbst aus tiefstem Herzen ab.
Ein alberner Aberglaube. So schien es jedenfalls. Aber wenn ich Omen und Zeichen sehe, dann haben sie auch etwas zu bedeuten.
Gerade einmal ein paar Wochen waren vergangen, seit ich das Haus meiner Familie verlassen hatte, geflohen war vor dem Medienwirbel, der ausbrach, als bekannt wurde, dass meine echten Eltern berüchtigte Serienmörder waren. Zwar arbeitete ich momentan daran, mir ein neues Leben aufzubauen, doch hatte ich heute beschlossen, einen Abstecher zu dem derzeit verlassenen Haus zu machen und mir ein paar Sachen zu holen. Ich warf meine vollgepackten Koffer in den geborgten Buick und ging hinaus in den Garten, um schnell noch eine Runde zu schwimmen. Später, ich fuhr mir auf dem Rückweg zur Vorderseite des Hauses gerade mit den Fingern durch das nasse Haar, fiel mir ein roter Farbtupfer im Steingarten auf.
Mohnblumen.
Ich bückte mich und rieb an der seidigen roten Blüte. Sie fühlte sich durchaus echt an. Schnell holte ich mein Telefon hervor, schoss ein Foto und kontrollierte das Ergebnis. Jepp, ich sah immer noch Mohnblumen. Was bedeutete, dass sie auch außerhalb meines Kopfes existierten. Immer ein gutes Zeichen.
Abgesehen davon, dass Mohnblumen ein schlechtes Zeichen waren.
Ich schüttelte den Gedanken schnell ab, bog um die Ecke und …
Da saß jemand auf meinem Fahrersitz.
Blitzartig schaute ich mich zu den Mohnblumen um. Ein Mörder, der mir heimlich auflauerte? Vor drei Wochen hätte ich das als lächerlich empfunden. Das war, bevor ich die Wahrheit über meine Vergangenheit herausgefunden hatte.
Trotzdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass ein Attentäter so gut sichtbar in meinem Wagen auf mich warten würde. Genauso wenig würde sich jemand auf das Grundstück schleichen, um einen fünfzehn Jahre alten Buick zu klauen, wenn doch in der Garage weiter hinten ein halbes Dutzend antiker Sportwagen stand.
Die derzeit wahrscheinlichste Erklärung? Es war ein Reporter, der sich etwas hatte einfallen lassen.
Ich ging langsam um den Wagen herum. Die Seitenscheibe auf der Fahrerseite hatte ich offen gelassen. Hinter dem Steuer saß eine Frau. Unter dem Wagendach lag ihr Gesicht tief im Schatten, und ich konnte lediglich eine Sonnenbrille und blondes Haar erkennen. Aschblond, wie mein eigenes. Sogar die Frisur sah aus wie meine – eher kurz mit strubbeligen Locken.
»Hey«, sagte ich, als ich näher trat.
Die Frau reagierte nicht. Ich packte den Türgriff, riss die Tür auf und …
Sie fiel heraus. Kippte einfach raus, während ich mit einem Aufschrei zurücksprang und noch im selben Moment dachte, dass ich mich lächerlich machte, dass irgendwo jemand lauerte und ein Foto von dem kindischen Streich schoss …
Sie hatte keine Augen.
Die Frau hing aus dem Wagen heraus. Die Perücke war heruntergefallen, die Sonnenbrille ebenfalls, und darunter waren blutverkrustete Höhlen zum Vorschein gekommen.
Fassungslos taumelte ich rückwärts und schloss krampfhaft die eigenen Augen.
Ich halluzinierte. Das hatte ich schon zweimal erlebt, bei einem toten Mann und dann noch einmal bei einer Frau im Krankenhaus. Beide Male hatte ich weiter nichts gesehen als ein Trugbild, ein Omen, dessen Bedeutung ich nicht begreifen konnte.
Wenn ich wieder hinsähe, würde sie ganz normal aussehen. Ich tat es, und …
Die Augen waren immer noch weg. Ausgestochen. Getrocknetes Blut war über ihre Wange verschmiert.
Ich halluziniere nicht. Dieses Mal halluziniere ich nicht.
Ich bückte mich, um ihren Hals zu berühren. Die Haut war kalt.
Da ist eine tote Frau in meinem Wagen. Eine tote Frau, die so ausstaffiert wurde, dass sie aussieht wie ich.
So schnell wie möglich rannte ich zum Haus, fummelte ungeschickt am Schloss herum. Endlich öffnete sich die Tür. Ich stürzte hinein, gab den Sicherheitscode ein, schlug die Tür zu und schloss ab. Dann reaktivierte ich den Alarm, holte meine Waffe aus der Tasche und griff nach meinem Handy, um eine ganz bestimmte Nummer zu wählen.
Ruhelos ging ich im Korridor auf und ab und wartete auf das Geräusch eines Wagens in der Auffahrt. Als ich am Empfangszimmer vorbeikam, nahm ich trotz der zugezogenen Gardinen eine Bewegung draußen wahr. Ich zog eine Gardine zur Seite, schaute hinaus und sah einen dunklen Schatten im Garten. Ein großer schwarzer Hund – genau der Hund, den ich früh an diesem Morgen fünfzig Meilen entfernt von hier in Cainsville gesehen hatte.
Die Meute wird nach Cainsville kommen, und wenn es so weit ist, dann werden Sie sich wünschen, Sie hätten heute eine andere Entscheidung getroffen.
Das hatte Edgar Chandler gestern zu mir gesagt, ehe die Polizei ihn abgeführt hatte, festgenommen wegen seiner Beteiligung an zwei Morden, die man meinen leiblichen Eltern angehängt hatte. Nur wenige Leute wussten, dass ich eine Wohnung in Cainsville gemietet hatte, und er gehörte nicht dazu. Nachdem die Medien ausgeschwärmt waren, hatte ich in diesem verschlafenen kleinen Nest mitten im Nirgendwo Zuflucht gesucht.
Ein verschlafenes kleines Nest mit Gargoyles, die einfach verschwanden, boshaften Raben und, seit heute Morgen, riesigen schwarzen Hunden.
Ein verschlafenes kleines Nest, in dem niemand es auch nur ansatzweise sonderbar fand, dass ich Omen lesen und Zeichen erkennen konnte.
Ich rieb mir die Arme. Nein, ich wollte keine Verbindung zwischen Chandler und Cainsville erkennen. Schließlich liebte ich meine neue Stadt. Ich liebte die Sicherheit in dem Ort, die Gemeinschaft der Menschen, die Art, wie die Gemeinde mich empfangen und mir das Gefühl gegeben hatte, dass ich dazugehörte.
Erneut schaute ich zum Fenster hinaus. Der Hund war immer noch da, und er entsprach exakt meiner Erinnerung an den Hund an diesem Morgen – ein Riesenvieh, beinahe einen Meter groß, mit zottigem schwarzem Fell.
Der Hund konnte mir unmöglich fünfzig Meilen weit gefolgt sein. Andererseits, wie groß war die Chance, dass ich hier einen anderen vor mir hatte, der genauso aussah wie der in Cainsville?
Ich holte mein Telefon. Als ich das Foto schoss, sah der Hund mich direkt an. Dann galoppierte er über den Rasen und verschwand zwischen den Bäumen.
Ein paar Minuten später hörte ich das Dröhnen eines mir vertrauten Motors, und ich rannte hinaus, als gerade ein schwarzer Jaguar mit kreischenden Reifen zum Stehen kam. Die Tür flog auf, und ein Mann sprang heraus, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um nicht gegen den Türrahmen zu stoßen.
Gabriel Walsh, etwa um die dreißig – ich habe ihn nie nach seinem Alter gefragt. Locker eins dreiundneunzig groß – gemessen hatte ich ihn auch nie. Ein Körperbau wie ein Footballspieler – genauso riesig, genauso kräftig –, dazu welliges schwarzes Haar, kraftvolle Züge, dunkle Brille und Maßanzug trotz der Tatsache, dass heute Memorial Day war und er daher eigentlich nicht arbeiten musste. Aber das tat er natürlich doch. Gabriel arbeitete immer.
Als ich dem ehemaligen Anwalt meiner Mutter zum ersten Mal begegnet war, hatte ich ihn für einen Berufsschläger gehalten. Einen Verbrecher im feinen Zwirn. Auch heute, ein paar Wochen später, war ich immer noch der Ansicht, dass die Analogie gar nicht so verkehrt war.
Er stand in dem Ruf, er würde Leute auseinandernehmen, normalerweise aber nur im Zeugenstand. Normalerweise.
Gabriel würdigte meinen Wagen – oder die Leiche, die aus der Tür hing – keines Blickes, stattdessen starrte er mich an und presste die Lippen zusammen, als er auf mich zusteuerte. Auf mich zuhumpelte, um genau zu sein. Man hatte ihm gestern ins Bein geschossen. Und, nein, ich war es nicht gewesen, so verlockend der Gedanke bisweilen auch sein mochte.
»Wo ist Ihr Krückstock?«, rief ich.
»Ich habe Ihnen doch gesagt …«
»… dass ich im Haus bleiben soll. Ich bin erst rausgekommen, als ich gesehen habe, dass Sie vorgefahren sind.«
Grunzen. Ein rascher prüfender Blick. Dann: »Geht es Ihnen gut?« Ein gewisser Unwille schlug sich auf seinen Ton nieder, ganz so, als wäre es ihm zutiefst zuwider, diese Frage zu stellen. Ach, Gabriel.
»Ich bin in Ordnung«, sagte ich. »Und, nein, ich habe nicht die Polizei gerufen.«
»Gut.«
Seine Sonnenbrille schwang zu dem Buick herum, und er setzte sich in Bewegung. Wäre ich irgendjemand anders gewesen, hätte er mich jetzt angewiesen, auf jeden Fall wegzubleiben. Nicht, weil er daran interessiert gewesen wäre, seine Klienten nicht aufzuregen – derartigen Erwägungen wurde in Gabriels stets beschäftigtem Hirn nicht viel Platz eingeräumt. Gabriel würde darauf bestehen, weil der Klient ihn anderenfalls behindern oder etwas Dummes tun könnte, beispielsweise Fingerabdrücke hinterlassen. Seit gestern war ich jedoch nicht mehr nur einfach eine Klientin. Er hatte mich als Ermittlungsassistentin eingestellt, was wohl bedeutete, dass mir auch in der Umgebung eines potenziellen Tatorts zu trauen war.
Ich hielt mich ein paar Schritte hinter ihm und bereitete mich auf den Anblick vor. Auf gar keinen Fall wollte ich vor seiner Nase zusammenzucken.
Er erreichte die Fahrerseite. Blieb stehen. Runzelte die Stirn. Hob die Sonnenbrille. Senkte sie wieder. Schaute mich an.
»Haben Sie …?« Seine Stimme verlor sich, und er schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht.«
Ich ging um den Wagen herum zu der Stelle gleich neben der Fahrertür, an der er sich aufgebaut hatte. Die Leiche …
Die Leiche war verschwunden.
»Nein«, flüsterte ich. »Ich habe …« Ich schluckte. »Ich habe jemanden im Wagen gesehen, und als ich die Tür geöffnet habe, ist die Leiche rausgefallen. Das habe ich mir nicht eingebildet. Ich habe sie sogar angefasst.«
»Das glaube ich Ihnen aufs Wort. Die Frage ist nur …«
Er sah sich um, und ich ging näher heran und beugte mich über die offene Tür.
»Da ist kein Blut«, sagte ich. »Aber die einzige Verletzung, die ich bei der Leiche erkennen konnte, das waren ihre Augen. Und sie war kalt, richtig kalt. Sie war nicht erst vor Kurzem gestorben.«
Er nickte. Ich konnte keinen Zweifel in seinen Zügen erkennen, aber mein Herz pochte trotzdem heftig, und mein Gehirn überschlug sich beinahe auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihm zu beweisen, dass ich mir das nicht eingebildet hatte. Nein, dass ich nicht halluziniert hatte.
»Mohnblumen«, bemerkte ich. »Im Steingarten sind Mohnblumen. Ich habe sie entdeckt, direkt bevor ich die Leiche gefunden habe.«
Hastig lief ich um die Garage herum, und Gabriel humpelte hinter mir her.
Aber da waren keine Mohnblumen im Steingarten.
»Ich habe extra ein Foto gemacht, um mich zu vergewissern, dass ich sie mir nicht nur eingebildet habe«, sagte ich. »Sie waren klar und deutlich …«
Auf dem Foto war der Garten zu sehen. Mit den Steinen. Und Efeu. Und Moos. Und ohne Mohnblumen.
»Sie waren da«, beteuerte ich. »Ich schwöre …«
»Habe ich das etwa infrage gestellt?«
»Nein, aber …«
»Dann hören Sie auf, Panik zu verbreiten.«
»Ich verbreite keine …«
»Doch, das tun Sie. Sie haben eine Leiche gefunden, und Sie haben mich angerufen, und jetzt ist sie weg, und Sie verbreiten Panik, weil Sie nicht beweisen können, dass sie hier war. Ich bezweifle gar nicht, dass Sie etwas gesehen haben. Und wir werden herausfinden, was das war.«
Als ich Gabriel ins Wohnzimmer führte, huschte sein Blick mal hier-, mal dorthin, taxierte diskret die Antiquitäten, von denen jede einzelne locker eine Jahresmiete für mein neues Apartment wert war.
»Ja, das ist das, was ich zurückgelassen habe«, erklärte ich. »Ich weiß, was Sie davon halten.«
»Ich habe nichts gesagt.«
»Aber Sie haben etwas gedacht.«
»Nur, dass das ein sehr schönes Haus ist.«
Gabriel wusste, was es heißt, arm zu sein. Er war von einer drogenabhängigen Taschendiebin großgezogen worden, die ihn im Stich gelassen hatte, als er fünfzehn war, woraufhin er sich allein hatte durchschlagen müssen. Ein Straßenkind, das es geschafft hatte, erfolgreich Jura zu studieren. Also, nein, er war nicht beeindruckt von einer Debütantin, die ihre Villa in Kenilworth verließ, um in einem Diner in Cainsville zu arbeiten.
»Haben Sie Ihre Sachen schon zusammengesucht?«, fragte er.
»Ja, einschließlich meines Laptops, Sie können Ihren also zurückhaben. Aber keine Sorge, ich bezahle die Miete dafür für die ganze Woche.«
Ich lächelte, aber er nickte nur. Dann ging ich zu einem Zweiersofa, dem Lieblingsplatz von meinem Dad, wenn wir früher in diesem Zimmer zusammengesessen hatten, und als ich in die Polster dieses Sofas sank, fing ich endlich an, mich ein wenig zu entspannen.
Gabriel blieb neben dem Stuhl meiner Mutter stehen, einer zierlichen Antiquität.
»Der wird Sie nicht tragen«, bemerkte ich.
»Trägt der überhaupt irgendjemanden?«
»Kaum. Sieht toll aus, ist aber höllisch unbequem.«
Er musterte die anderen Sitzmöbel, die alle für Menschen geschaffen zu sein schienen, die mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner waren als Gabriel.
Ich stand wieder auf. »Nehmen Sie das.«
»Nein, ich …«
»Setzen Sie sich. Legen Sie Ihr Bein hoch. Sie sollen es doch so oft wie möglich hochlegen.«
Grollend ließ er sich auf dem Zweiersofa nieder, drehte sich zur Seite und stützte das Bein auf, was deutlich zeigte, dass er schlimmere Schmerzen ertrug, als er zugeben wollte.
Ich thronte inzwischen auf dem Stuhl meiner Mutter. »Also, anscheinend habe ich eine Leiche halluziniert.«
»Das wissen wir nicht genau.«
»Ach, ich denke, das tun wir schon. Anderenfalls hätte jemand eine Leiche in meinen Wagen gesetzt, während ich schwimmen war, und sie dann verschwinden lassen, als ich im Haus auf Sie gewartet habe. Äußerst unwahrscheinlich. Die Tatsache, dass sie eine Perücke trug, mit der sie ausgesehen hat wie ich, besiegelt die Sache. Es war ein Omen. Eine Warnung.« Für einen Moment verfiel ich in Schweigen. »Mohnblumen sind mir lieber.«
Schwaches Stirnrunzeln. »Wenn das wirklich nur eine Erscheinung war, würde es dann nicht viel mehr Sinn ergeben, wenn Sie sich selbst tot im Wagen gesehen hätten?«
»Vielleicht sehe ich immer nur das, was mein Geist aufzunehmen bereit ist.«
Als er nicht antwortete, schaute ich zu ihm rüber. Er hatte die Sonnenbrille abgenommen und starrte tief in Gedanken die Wand an. Als ich Gabriel zum ersten Mal ohne Sonnenbrille gesehen hatte, hatte ich mir gewünscht, er würde sie wieder aufsetzen. Seine Augen waren von einem widernatürlich fahlen Blau. Leere Augen, hatte ich gedacht. Aber dann hatte ich erkannt, dass »leer« nicht das passende Wort war. Mit Frost überzogen verdeutlichte es besser. Immer noch erschreckend genug, dieses fahle Blau inmitten dunkler Ringe. Aber ich war oft dabei gewesen, wenn er in Gegenwart von Fremden die Brille abgenommen hatte, und seine Augen schienen niemandem aufzufallen. Ich fragte mich, was andere Menschen da sahen. Und warum ich, wenn diesen Leuten denn wirklich nichts auffiel, etwas anderes sah.
»Sie haben also erst die Mohnblumen und dann die Leiche gefunden«, resümierte er einen Moment später. »Das hört sich nach einem Übermaß an Omen an.«
Das war keine Frage. Er ging die Sache nur selbst noch einmal durch. Offenbar hatte er weniger Probleme mit meiner »Begabung« als ich. Seine Großtante Rose war Wahrsagerin in Cainsville, und er hatte von Kindheit an gelernt, Dinge wie das Zweite Gesicht hinzunehmen.
»Hätten dann nicht die Mohnblumen das Omen für die Leiche sein müssen?«, sinnierte er. »Was bedeutet, dass die Leiche selbst echt war?«
»Das glaube ich nicht. Die Augen … Na ja, ich habe Ihnen ja von den Augen erzählt. Was ich nicht erzählt habe, ist, dass ich so etwas schon früher gesehen habe. Zweimal in den letzten paar Wochen.« Ich erzählte ihm davon und sagte dann: »Es war beide Male eine Halluzination. Was eher ein Beweis dafür zu sein scheint, dass das hier auch nicht real war und ich Sie gar nicht hätte rufen sollen …«
»Nein«, unterbrach er mich. »Das ist immer das Erste, was Sie unter solchen Umständen tun sollten.« Das sprach er aus, als würden seine Klienten dauernd irgendwelche Leichen in Autos finden. »Sie sind reingegangen, um anzurufen, und haben das Haus gesichert, richtig?«
»Richtig.«
»Haben Sie irgendwelche Geräusche von draußen gehört?«
Ich setzte zu einem Kopfschütteln an, als mir der Hund wieder in den Sinn kam. Also zog ich mein Telefon hervor, fest überzeugt, dass ich nur ein Foto von unserem leeren Vorgarten vorfinden würde. Aber das tat ich nicht.
Ich reichte ihm das Telefon. »Was sehen Sie?«
Er betrachtete den Bildschirm. »Einen Hund.«
Erleichtert atmete ich auf.
»Ist das ein Omen?«, fragte er.
»Ich habe keine Ahnung. Aber ich habe exakt diesen Hund heute Morgen in Cainsville gesehen. Ich bin sicher, dass es derselbe war. Er ist riesig.«
»Und ziemlich unverwechselbar.« Stirnrunzelnd tippte er auf das Telefon. »In Cainsville, sagen Sie?« Er stand auf. »Wir sollten mit Rose sprechen.«
Ehe wir gingen, schaltete ich den Alarm im Haus ein.
»So etwas müssen Sie sich für Ihre Wohnung besorgen«, bemerkte Gabriel.
»Ich habe eine Waffe. Und eine Katze.«
Er bedachte mich mit einem schiefen Blick.
»Ich kann mir keine Alarmanlage leisten, Gabriel. Vielleicht könnte ich ein paar Sachen versetzen. Den Großteil meines Schmucks habe ich oben gelassen. Ich könnte schnell raufgehen und ihn holen …«
»Nein, Sie bekämen nur einen Bruchteil des Wertes, und dafür müssten Sie schon dankbar sein.«
Ich war überzeugt, dass Gabriel genug Erfahrung mit Pfandleihen hatte, um so etwas zu wissen, auch wenn der Großteil dessen, was er in seiner Jugend versetzt haben könnte, kaum ihm gehört haben dürfte.
»Sie brauchen dringend eine Alarmanlage«, erklärte er noch einmal. »Einer von Dons Leuten installiert hervorragende Anlagen zu einem sehr vernünftigen Preis.« Er sprach von Don Gallagher, seinem wichtigsten Klienten. Don war der Boss der Satan’s Saints, und das war keine Heavy-Metal-Band.
»Soso, ein Biker, der Alarmanlagen installiert? Behält er auch immer eine ›Sicherheitskopie‹ des Codes?«
»Geringfügiger Diebstahl ist kaum profitabel genug, als dass sich die Saints damit befassen würden – wenn sie sich überhaupt kriminellen Aktivitäten hingäben, was sie nicht tun. Wenn ich denen eine Alarmanlage abkaufe, wird sie sicher und bezahlbar sein.«
Nachdem sie vom Lastwagen gefallen war, ohne einen Kratzer davonzutragen.
»Ich kann mir trotzdem keine leisten …«
»Ich ziehe sie Ihnen vom Lohn ab. Also, ich meine mich zu erinnern, dass Sie mir einmal erzählt haben, Ihr Vater hätte eine Garage voller Wagen?«
»Ja …«
»Dann sollten Sie sich einen aussuchen.«
»Auf keinen …«
»Schauen wir sie uns mal an.«
Er humpelte davon, und mir blieb keine andere Wahl, als hinterherzudackeln.
Gabriel musterte die in zwei Reihen geparkten Wagen. Sein Jaguar mochte ihn eine sechsstellige Summe gekostet haben, aber er könnte zwei davon für den Preis von irgendeinem dieser alten Sportwagen kaufen.
Ich unterdrückte die aufkeimenden Schuldgefühle. Ja, Dad hatte die Kaufhauskette Mills & Jones geerbt, aber die hatte damals, als er die Familie Mills ausbezahlt hatte, noch kurz vor dem Bankrott gestanden. Er hatte sich also jeden Penny, den er für den Kauf dieser Fahrzeuge gebraucht hatte, verdient, genau wie Gabriel sich seinen Jaguar verdient hatte.
»Mein Dad hat schnelle Wagen geliebt«, erklärte ich und trat zu ihm.
»Genau wie seine Tochter.«
Gabriels Jaguar hatte fünfhundert Pferdchen unter der Haube, aber für ihn war er nur ein Statussymbol, eine fahrbare Visitenkarte, die sagte: »Ich mag jung sein, aber in meinem Job bin ich ein verdammtes Genie.«
»Welcher ist Ihr Liebling?«, fragte er.
Ich öffnete den Mund, um zu sagen, ich hätte keinen, aber er hatte längst bemerkt, wohin mein Blick instinktiv gewandert war, und schon zog er los und baute sich hinter dem Zweisitzer auf.
»Ein Maserati?«, fragte er. »Nicht viel Platz für Gepäck.«
»Man kauft einen 1961er-Maserati-Spyder auch nicht wegen des großen Kofferraums.«
»Also gut. Wo sind die Schlüssel?«
»Ich kann nicht …«
»Benutzt Ihre Mutter diese Autos?«
»Nein, aber …«
»Benutzt irgendjemand diese Autos?«
»Nein, aber …«
»Sie brauchen ein Fahrzeug, Olivia. Die Tatsache, dass Ihre Mutter sich noch immer um den Unterhalt dieser Wagen kümmert, deutet darauf hin, dass sie diesen Fuhrpark als Ihr Eigentum ansieht, genauso wie Ihren Laptop oder Ihre Kleidung. Ich nehme an, wenn Sie sich das Testament Ihres Vaters ansehen, werden Sie feststellen, dass Ihr Vater die Autos Ihnen vererbt hat. Wenn Sie es für nötig halten, Rücksprache mit Ihrer Mutter zu halten, dann tun Sie das.«
»Nein. Aber eine Kellnerin mit einem Maserati? Das ist nicht, wer ich sein will. Ja, ich brauche einen Wagen, und wenn ich erst für Sie arbeite, dann miete oder lease ich einen. Aber im Augenblick …«
»Wessen Auto ist das?«
Er fiel mir einfach ins Wort, als hätte ich schon mehrere Sätze zuvor aufgehört zu reden. Für ihn hatte ich das vermutlich – zumindest hatte ich aufgehört, irgendetwas zu sagen, das anzuhören sich gelohnt hätte. Ich folgte seinem Finger zu einem alten VW Jetta Diesel, der sich hinter einem Rolls versteckte.
»Der hat unserer ehemaligen Haushälterin gehört«, sagte ich. »Sie hat bei uns gewohnt und hatte keinen eigenen Wagen, also hat Dad ihr den Jetta gekauft.«
»Und jetzt fährt ihn niemand mehr?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie ist im Ruhestand, und unsere neue Haushälterin wohnt nicht bei uns.«
»Dann nehmen Sie ihn.« Als ich den Mund zu einem Protest aufklappte, fragte er: »Finden Sie den zu pompös für Cainsville?«
»Nein, aber …«
»Glauben Sie, Sie finden einen Leasingwagen oder einen Gebrauchtwagen mit geringeren Versicherungskosten oder einem niedrigeren Kraftstoffverbrauch?«
»Nein, aber …«
»Dann entspricht er Ihren Anforderungen, womit Ihre Einwände hinfällig wären. Wir holen ihn später ab.«
Wir gingen zur Tür. Ich sah mich noch einmal zu dem VW um. Gabriel hatte recht. Für den Augenblick wäre ich mit dem Wagen ganz sicher nicht schlechter bedient als damit, mir den Buick der Clarks zu leihen.
Als ich zu ihm aufschloss, sagte Gabriel »Fangen Sie« und warf seine Wagenschlüssel über die Schulter nach hinten. »Nehmen Sie den Jaguar. Wenn Sie wirklich eine Vision von sich hatten, wie Sie tot in diesem Wagen da gesessen haben, dann sollten Sie sich nicht an sein Steuer setzen. Ich folge Ihnen nach Cainsville, und dann reden wir mit Rose.«
»Sie müssen nicht …«
»Ich habe dort zu tun.«
Als ich immer noch unschlüssig in der Einfahrt stand, wedelte er mit der Hand in Richtung seines Wagens. »Nehmen Sie ihn. Los.«
Ich reichte ihm den Schlüssel der Clarks. »Danke.«
Dabei wollte ich ihm für mehr danken als nur dafür, dass er mich seinen Wagen fahren ließ. Danke, dass Sie alles haben stehen und liegen lassen und hergekommen sind. Danke, dass Sie mir nicht das Gefühl gegeben haben, ich wäre wegen eines falschen Alarms unnötig in Panik geraten. Aber Gabriel kam mit Dankbarkeit nicht gut zurecht – er zog Bargeld vor. Also begnügte ich mich mit einem simplen »Danke«, das er mit einer knappen Handbewegung wegfegte, als er zu dem Todesmobil humpelte.
Cainsville, Illinois, war eine Autostunde von Chicago entfernt, eine absolut vertretbare Pendlerentfernung, was eigentlich dafür hätte sorgen müssen, dass sich der Ort zu einer sogenannten Schlafgemeinde für die große Stadt entwickeln hätte müssen. Doch auch wenn ein paar der Einwohner tatsächlich in der Stadt arbeiteten, war die Strecke nicht leicht zu bewältigen. Kein Zug. Kein Bus. Nicht einmal ein Taxiservice vor Ort. Pendler mussten schon selbst fahren, was zunächst für langsame zwanzig Minuten über eine Landstraße von Chicago weg führte, um zur nächsten Highwayauffahrt zu gelangen – »nächste« ist ein relativer Begriff. Zu allem Übel stünden jene, die gegen die Pendelei nichts einzuwenden hätten, vor großen Schwierigkeiten, wenn es darum ging, ein Haus in Cainsville zu finden. Eingepfercht zwischen dem Highway, einem Fluss und einer Sumpflandschaft blieb nicht viel Platz, auf dem sich der Ort hätte ausbreiten können.
Es war eine kleine, abgeschottete Gemeinde, die, wie die Älteren zu sagen pflegten, immer noch »Wert auf die alten Sitten legte«. Doch war für alle, die es wünschten, auch jeder moderne Komfort zu haben, sogar ein bemerkenswert schneller Internetzugang. Eine sonderbare kleine Stadt. Und ich war ganz verrückt nach ihr.
Als ich an diesem Nachmittag zurückfuhr, sog ich alles in mich auf, als wäre ich wochenlang fort gewesen. Die einzige Straße, die in den Ort hineinführte, wurde zur Main Street, dem kommerziellen Zentrum von Cainsville … wenn man ein Dutzend Händler und Dienstleister als Zentrum bezeichnen wollte. Ich wollte das. Beinahe alles, was ich mir wünschen konnte, fand ich hier, gerade ein paar Minuten zu Fuß von meinem Apartment entfernt.
Die Main Street vermittelte den Eindruck, als gehöre sie in eine für touristische Zwecke erhaltene oder wiederaufgebaute Kleinstadt. Nur dass Tourismus in Cainsville, wo es nicht einmal eine Frühstückspension gab, kein Thema war. Aber so war es nun einmal – Fassaden, die aussahen wie gemalt, überwiegend im Neorenaissance-Stil. Die Straßen so schmal wie in einer Zeit, in der Pferde Traberwagen durch die Ortschaft gezogen hatten. Im Gegensatz dazu waren die Bürgersteige breit und aufgehübscht mit überquellenden Blumentrögen, frisch gestrichenen Bänken und kunstvollen eisernen Mülleimern.
Das war, wie die Bürgersteige andeuteten, ein Ort zum Schlendern. Niemand hatte es eilig. Niemand war besonders geneigt, mit dem Wagen zu fahren, solange er nicht vorhatte, die Stadt zu verlassen, oder das Pech hatte, zu weit vom Lebensmittelgeschäft entfernt zu wohnen. Ungefähr ein Dutzend Leute war auf der Straße unterwegs, und wenn einige von ihnen nicht winkten, dann nur, weil sie zu sehr in das Gespräch mit der Person in ihrer Begleitung vertieft waren.
Auf der Fahrt in den Ort hielt ich Ausschau nach Gargoyles. Das war mir zur Gewohnheit geworden. Für die jährliche Gargoylejagd am Maifeiertag, an dem die Kinder darum wetteiferten, wer die meisten Gargoyles entdeckt hatte, war ich zu alt. Trotzdem hoffte ich immer, ich würde einen neuen entdecken, denn in Cainsville war nicht jeder Gargoyle zu jeder Zeit sichtbar.
Ich bog in die Rowan ein. Meine Straße. Vor meinem Wohnhaus fuhr ich rechts ran, und Gabriel parkte direkt hinter mir vor dem kleinen Puppenhaus im viktorianischen Stil, in dem seine Tante lebte. Roses Wagen war nicht da. Gabriel schlug gar nicht erst vor, sie anzurufen, um nachzufragen, wann sie zurück wäre. Täte er es, würde sie sofort zu Hilfe eilen.
Roses Beziehung zu ihrem Großneffen war nicht einfach. Gabriel pflegte emotionale Bindungen abzuwehren, wie die meisten von uns wohl Klinkenputzer abwehren. Sie sind schließlich lästig, zudringlich und drängen einem am Ende zweifellos irgendetwas auf, das man eigentlich gar nicht gewollt hatte, und das dann auch noch zu einem Preis, der weit höher war als alles, was man zu zahlen bereit gewesen war.
Wenn Gabriel eine Bindung zu irgendeinem anderen Menschen hatte, dann war das Rose. Doch sogar als seine Mutter ihn verlassen hatte, hatte er ihr nichts davon erzählt. Und als Rose dahintergekommen war, war er einfach davongelaufen, bis sie am Ende aufgehört hatte, ihn zu suchen. Das ist nicht leicht zu verstehen, aber etwas in Gabriels Psyche, vielleicht ein Überbleibsel aus der betrügerischen Vergangenheit seiner Familie, sagte ihm, dass man von denen, an denen einem lag, nichts nehmen durfte. Die Unglücksraben, von denen man dagegen sehr wohl nehmen durfte, hatten gefälligst Fremde zu sein. Hätte sie erfahren, dass Seanna einfach verschwunden war, hätte Rose ihn unter ihre Fittiche genommen, und das konnte er nicht akzeptieren. Oder vielleicht konnte er sich auch einfach nicht vorstellen, dass sie das wirklich wollte.
Gabriel blieb noch eine Stunde bei mir, streifte durch das Apartment, kontrollierte die Fenster und maß sich mit der Katze in der Disziplin des gegenseitigen Niederstarrens. Dann erklärte er, Rose würde wohl nicht so bald zurückkommen, und stapfte davon, um mit Grace, meiner Vermieterin, über die Alarmanlage zu sprechen, ehe er nach Chicago zurückkehrte.
Am nächsten Morgen hatte ich die Sieben-bis-drei-Schicht im Diner. Meine Wochentagskollegin Susie hatte noch einen anderen Job, weshalb wir unseren Schichtplan im Diner an ihren anderen Dienstplan anpassten. Was bedeutete, dass mein Dienstplan aus einem Durcheinander aus Früh- und Spätschichten bestand, an die sich mein Körper bisher noch nicht so ganz gewöhnt hatte.
Ich liebte diesen Job wirklich nicht. Ach, verdammt, seien wir ehrlich – ich mochte ihn nicht mal sonderlich. Aber so beeindruckend ein Masterabschluss von der Yale auch sein mag, er qualifizierte zu gar nichts, ganz besonders, wenn man keine Arbeitserfahrung vorweisen konnte und im Hauptfach viktorianische Literatur studiert hatte.
Wenn es an meinem Job überhaupt etwas gab, das mir zusagte, dann waren es die Leute. Der Eigentümer – ein Exknacki namens Larry – war ein traumhafter Chef. Die Stammgäste waren überwiegend Senioren – ich schwöre, die Hälfte der Stadt bezog Rente –, und sie hatten mich empfangen wie eine heimgekehrte Ausreißerin. Auch als sie herausfanden, wer meine leiblichen Eltern waren, hatte sich daran nichts geändert.
Das war meine erste Schicht seit Edgar Chandlers Festnahme. Alle hatten bereits gehört, was passiert war, und sie waren alle so erfreut, so enorm erfreut. Was ein bisschen sonderbar erscheint, aber »ein bisschen sonderbar« war in Cainsville die Norm.
»So ein aufregendes Abenteuer«, sagte Ida Clark, als ich ihr das Mittagessen servierte. Ida und ihr Mann Walter waren vermutlich in den Siebzigern. Der Wagen, den ich mir ausgeliehen hatte, gehörte ihnen.
»Ein schrecklich aufregendes Abenteuer, findest du nicht?«, fragte sie Walter, der nickte und erklärte, es sei in der Tat schrecklich aufregend.
»Man hat auf Liv geschossen«, verkündete eine Stimme auf der anderen Seite des Diners. »Sie hat einen Mann sterben sehen und musste sich im Keller verstecken, während draußen ein Mörder gelauert hat. Ich glaube, ›aufregend‹ ist nicht das Wort, das hier passt.«
Das war Patrick, der hauseigene Romanautor des Diners. Und die einzige Person unter vierzig, die es wagte, so mit den älteren Bürgern des Ortes zu reden.
Ida musterte ihn finster. »Das ist aufregend. Sie hat immerhin den Beweis dafür gefunden, dass ihre Eltern unschuldig sind.«
»An zwei von acht Morden«, wandte ich ein.
»Trotzdem ist das immerhin ein Grund für ein Berufungsverfahren. Aber was genau ist denn dem jungen Paar zugestoßen? Die Zeitungen waren in dem Punkt nicht sehr mitteilsam. Hat …«
»Guter Gott, nun lassen Sie sie doch in Ruhe«, schimpfte Patrick. »Sie belegen die einzige Kellnerin mit Beschlag, und einige von uns brauchen Kaffee.«
Er hob einen leeren Becher, und ich nutzte die Ausrede, um davonzuhuschen.
Als ich Patricks Becher nachfüllte, murmelte er: »Erzählen Sie denen nichts. Ich bin sicher, das war eine abscheuliche Geschichte, und wir wollen ihre alten Herzen nicht überstrapazieren.«
Ida konnte seine Worte unmöglich gehört haben, dennoch bedachte sie ihn mit einem überaus finsteren Blick. Er jedoch lächelte nur und hob seinen Becher wie zu einem Salut.
Als der Mittagsansturm vorbei war, brachte ich den Clarks frisches heißes Wasser für ihren Tee. Mehrere andere hatten sich nun zu ihnen gesellt, darunter auch Veronica. Unter den älteren Personen in Cainsville war sie eine derer, die ich am besten kannte, selbst wenn ich nicht sagen konnte, dass ich irgendeinen von ihnen auch nur gut gekannt hätte, trotz des stundenlangen Geplauders. Überwiegend wollten sie sowieso über mich reden, und wann immer ich das Thema in ihre Richtung schob, wichen sie aus. »Wir sind alt und langweilig, Liebes«, sagten sie dann meistens. »Erzählen Sie uns lieber von sich.«
Bei Veronica konnte man schon eher von einem wechselseitigen Gespräch reden, aber nur, weil sie gern über die Stadt und ihre Traditionen sprach. Eine Amateurhistorikerin. Und, wie alle Senioren hier, ein Profi darin, die Nase in alles und jedes zu stecken, was ich aber gar nicht böse meinte. Sie schnüffelten nicht – sie waren nur endlos neugierig.
Veronica hatte ein Bündel Papiere mitgebracht. Ich hatte nur einen kurzen Blick auf das Foto einer dunkelhaarigen Frau erhaschen können. Als ich ihre Teetassen füllte, sagte sie: »Sie sind ziemlich oft in der Stadt, nicht wahr, Olivia?«
»Ach, damit sollten wir sie nicht belasten!«, meinte Ida.
»Womit?«, fragte ich.
»Plakate aufhängen wegen Ciara Conway«, erklärte Veronica. »Ich bin überzeugt, die Polizei tut, was sie kann, aber jede Kleinigkeit, die wir beitragen können, ist hilfreich.«
»Olivia war seit Freitag nicht hier«, erinnerte Ida sie. »Bei allem, was los war, nehme ich an, sie hat noch gar nichts von unserer vermissten jungen Frau gehört.«
Es gab nur sehr wenige »junge Frauen« in Cainsville, und eine mit Namen Ciara war mir bisher nicht begegnet. Als ich das zur Sprache brachte, klärte Ida mich auf: »Ihre Mutter ist hier aufgewachsen.« Was bedeutete, dass Ciara vermutlich wohl nur dann in Cainsville gewesen war, wenn sie ihren Großeltern mütterlicherseits einen Besuch abgestattet hatte – was sie aber in den Augen der Älteren schon zu einer echten Einheimischen machte. Das war eben Cainsville. Gabriel hatte nie hier gelebt, trotzdem betrachteten sie ihn als einen der Ihren.
»Wann ist sie verschwunden?«, fragte ich.
»Samstag.«
Ich musterte die Blätter. »Und Sie wollen … Flugblätter verteilen? Früher war das sicher eine übliche Vorgehensweise, aber heutzutage …«
»Gibt es andere Methoden«, sagte Ida. »Das wissen wir. Aber das Althergebrachte ist immer noch nützlich.«
Veronica schob den Papierstapel zu mir herüber und sagte noch etwas, doch ich war schon viel zu sehr damit beschäftigt, das Foto auf dem Flugblatt anzustarren, um ihr weiter zuzuhören.
Ciara Conway war die tote Frau, die ich im Wagen gesehen hatte.
»Liv?«, sagte Walter.
»S-sorry.« Ich riss mich von dem Anblick los. »Klar, ich nehme ein paar davon mit in die Stadt. Morgen arbeite ich für Gabriel, dann bin ich wieder dort. Lassen Sie mir einfach einen Stoß da.«
So schnell ich konnte zog ich mich zurück. Ich nahm die Bestellung eines anderen Tisches entgegen, aber kaum war ich damit fertig, starrte ich die Worte auf meinem Notizblock an, als hätte ich in einer fremden Sprache geschrieben.
»Olivia?«, sagte Ida, »ist alles in Ordnung, meine Liebe?«
Ich nickte, doch auf dem Weg zur Küche fiel mir auf, dass Larry mich mit besorgter Miene beobachtete.
»Liv hat doch erst vor Kurzem den Tod junger Leute untersucht«, sagte Patrick zu den Älteren. »Da müssen Sie ihr nicht auch noch Bilder von vermissten Mädchen unter die Nase halten.«
Ich erklärte, alles sei bestens, kein Problem, aber Larry nahm mir einfach den Notizblock aus der Hand und wies mich an, nach Hause zu gehen und mich erst mal auszuruhen. Der Mittagsansturm war vorbei. Den Rest meiner Schicht würde er übernehmen.
Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich protestiert. Aber ich wurde das Bild von dem lächelnden Mädchen auf dem Foto als augenloser Leiche in meinem Auto nicht los.
»Ich bringe Sie heim«, sagte Patrick. »Sie sehen ein bisschen wackelig aus.«
»Wir gehen sowieso in die gleiche Richtung«, mischte Ida sich ein. »Wir können …«
»Schon erledigt.« Patrick lächelte Ida an. »Ruhen Sie nur Ihre alten Knochen aus.«
Wenn Blicke töten könnten, dann hatte der, mit dem Ida nun Patrick bedachte, das Potenzial, seinen Empfänger auf einen Rahmen zu spannen und anschließend zu vierteilen. Was viel schlimmer war als die üblichen Blicke, die ihm lediglich einen raschen und relativ schmerzlosen Tod wünschten.
Olivia lief mit ausholenden Schritten den Bürgersteig hinunter, schnell genug, dass er in Laufschritt verfiel, um mitzuhalten. Er fragte sich, was ihr wirklich zu schaffen machte. Zwar war er überzeugt, dass die Feuerprobe im Keller traumatisch gewesen war, doch lag ihr die Resilienz im Blut. Sie sollte inzwischen darüber hinweg sein.
Als Olivia auffiel, dass er kaum mitkam, bremste sie sich ein wenig. Gemeinsam durchquerten sie den winzigen Park und gingen dann den Fußweg hinunter, der zu ihrer Wohnung an der Rowan Street führte.
»Wie geht es Gabriel?«, fragte er.
Das hatte er nicht fragen wollen. Eigentlich zog er es vor, nicht zu fragen, und falls doch, dann sollte es wenigstens in Form einer Zurschaustellung vorgetäuschter Besorgnis geschehen. Er hatte bereits eine sehr lange Zeit gelebt, ohne das geringste Interesse an seiner epil zu hegen. Aber Gabriel war etwas Besonderes – oder Patrick wurde ganz einfach langsam alt. Milde.
»Ich habe gehört, er wurde bei der Geschichte in Evans’ Haus verwundet«, fuhr er fort.
»Ein Schuss ins Bein.« Kurze Pause. Dann: »Er will seinen Krückstock nicht benutzen. Wahrscheinlich macht er es so nur noch schlimmer.«
Patrick musste sich zurückhalten, um nicht laut loszulachen angesichts der Art, wie sie das sagte. Erst warf sie beinahe lässig hin, dass er angeschossen wurde, dann beklagte sie sich wegen des Krückstocks. Sie war besorgt wegen Gabriel, wollte es aber auf keinen Fall zugeben.
Ein paar Schritte weiter fragte sie: »Was wissen Sie über Hunde? Also über ihre Symbolik, meine ich. Volksglaube, Okkultismus, was auch immer. Geben Ihre schriftstellerischen Recherchen etwas dazu her?«
»Irgendwelche bestimmten Unterarten der Hundeartigen?«
»Große, schwarze.«
Er gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Glücklicherweise marschierte sie immer noch weiter, den Blick stur nach vorn gerichtet.
»Mmm, es kommt auf die Kultur an«, sagte er. »Wenn Sie an die Britischen Inseln denken …«
»Das wäre am wahrscheinlichsten.«
»Der alte Shuck.«
Ehe er zu einer Erklärung ansetzen konnte, nickte sie. »Der Hund der Baskervilles. Ich habe meine Abschlussarbeit an der Uni über Conan Doyle geschrieben. Dieses Buch basiert auf der Legende des alten Shuck.«
»Dann hätten Sie mich ja gar nicht fragen müssen.«
Mit verlegener Miene zuckte sie mit den Schultern. »Ich wollte nicht … Es schien nicht …«
Es schien nicht zu passen. Weil der alte Shuck ein Todesomen war, und die konnte sie instinktiv interpretieren. So manifestierte sich in ihrem Fall das alte Blut. Hätte sie ein Todesomen gesehen, hätte sie ihn nicht konsultieren müssen.
»Geben die Überlieferungen noch irgendetwas anderes her?«, fragte sie. »Außer dem alten Shuck?«
»Nein«, log er.
Patrick begleitete Olivia bis zu ihrer Haustür. Grace saß gerade auf der Veranda, und er war klug genug, nicht an ihr vorbeizugehen. Ehe sich ihre Wege trennten, versuchte er, aus Olivia herauszulocken, warum sie ihn nach dem schwarzen Hund gefragt hatte, aber vergeblich.
Hatte sie einen cŵn gesehen? Das kam ihm am wahrscheinlichsten vor. Sie hatte in Chicago einen entdeckt und erkannt, dass das kein gewöhnliches Schoßtier war – und vor allem kein gewöhnliches Omen.
Wenn sie wirklich einen cŵn gesehen hatte, dann bedeutete das … nun ja, es bedeutete Ärger. Für sie. Für Gabriel. Für sie alle.
Grace, meine Vermieterin, saß an ihrem üblichen Platz – auf einem Klappstuhl auf der vorderen Veranda. Sie sah aus wie einer der vielen Gargoyles in dieser Stadt, ein verschrumpelter Kobold, der die Welt finsteren Blickes anstarrte und nur darauf wartete, dass diese Welt es wagen würde, Ärger zu machen.
Ich rief ihr ein knappes Hallo zu, als ich nach dem Türknauf griff.
»Scone?«, fragte sie.
»Was?«
»Sie kommen von der Arbeit, nicht wahr? Wo ist mein Scone?«
Nein, kein Kobold, eher ein Troll. Eine ergraute und zahnlose Bestie, die über ihr Tor wachte und eine gichtige Hand erhob, um den Wegzoll zu kassieren.
»Vergessen«, gestand ich. »Tut mir leid. Ich bringe Ihnen morgen zwei dafür. Mit Kaffee.«
Sie kniff die Knopfaugen zusammen. »Was ist los, Mädchen?«
»Nichts.«
»Wenn Sie sich entschuldigen und mir eine Beigabe anbieten, dann stimmt etwas nicht.«
»Ich bin heute nur … nicht ganz da.«
Ich öffnete die Tür und ging ins Haus.
»Tja, dann ruhen Sie sich aus, und essen Sie was. Sie sind viel zu blass. Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.«
Vielleicht habe ich das, dachte ich, als ich die Tür hinter mir schloss.
Als ich meine Wohnung betrat, thronte DK auf der Rücklehne des Sofas. Ich ließ meine Tasche mit einem dumpfen Geräusch fallen, und der Kater gähnte grollend und kniff die gelben Augen zusammen, als wollte er mich tadeln, weil ich ihn in seiner Ruhe gestört hatte. Dann sprang er auf den Boden und wickelte sich um meine Beine, vollends blind gegenüber der Tatsache, dass ich gerade Richtung Schlafzimmer hastete.
»Künftig nenne ich dich VK«, grollte ich. »Verdammter Kater.«
DK war kein Name, wie ich jedem, der fragte, sofort zu erklären pflegte. Es war ein Akronym für »Der Kater«. Ich weigerte mich, dem Tier einen Namen zu geben, weil ich die Möglichkeit, dass ich an dem Vieh hängen blieb, noch nicht ganz akzeptiert hatte.
DK war eine schwarze Katze, was mir eigentlich jegliche benötigte Munition liefern sollte, um das Vieh umgehend loszuwerden. Nur dass schwarze Katzen in manchen Teilen der Welt, zu denen eben unter anderem Cainsville zählte, als Glücksbringer galten. Und es war schließlich auch nicht so, dass ich das Mistvieh freiwillig reingelassen hätte. Dieser Kater war ein Streuner, der einer Maus nachgesetzt hatte und sich dann nicht mehr hatte vertreiben lassen.
Die Koffer, die ich von daheim mitgebracht hatte, standen immer noch unausgepackt in der Ecke. Ich legte einen auf die Seite, nahm Stück für Stück heraus und stapelte alles aufeinander. Dann hob ich DK – unter Protest – von dem zweiten Koffer, holte meine Kleider und die eingewickelten Schuhe heraus und vergewisserte mich penibel, dass ich keine anderen Kleider dort hineingesteckt hatte. Dann betrachtete ich die Stapel um mich herum auf der Suche nach etwas Bestimmtem, etwas, das ich nicht sah.
Als ich die Leiche in meinem Wagen entdeckt hatte, hatte ich ihrer Bekleidung wenig Beachtung geschenkt – was vermutlich nicht besonders überraschend war. Aber die Vermisstenplakate hatten mir den Anblick der toten Frau in Erinnerung gerufen. Mir war aufgefallen, dass die Leiche ein grünes Shirt trug. Ich hatte ein grünes Shirt eingepackt. Und jetzt war es weg.
Ich drehte mich im Kreis, und mein Blick fiel auf die Schuhe, vier Paar, die in einer Reihe nebeneinanderstanden. Sportschuhe, High Heels, Pumps und Stiefel. Ein Paar fehlte. Meine grünen Jimmy-Choo-Schnürsandalen. Total unpraktisch, aber ich liebte sie, und ich war absolut sicher, dass ich sie eingepackt hatte.
Ich holte mein Telefon hervor. Und legte es weg. Nahm es wieder in die Hand. Und legte es erneut weg. Schließlich gab ich auf und drückte die Schnellwahltaste.
Allerdings landete ich direkt bei der Mailbox, und da fiel mir wieder ein, warum ich meinen neuen Job bei Gabriel nicht bereits heute antrat – weil er im Gericht zu tun hatte.
»Sorry«, sagte ich nach dem Signalton. »Nichts Wichtiges. Wir reden später.«
Ich hatte gerade aufgelegt, als ich einen Anruf von Howard erhielt, dem Anwalt meiner Mutter. Er wollte sich nach meinem Befinden erkundigen, was ja wirklich süß gewesen wäre, wäre er nicht nur dem Ruf der Pflicht gegenüber meiner Mutter gefolgt. Auch das hätte süß sein können – von ihr –, wäre sie selbst die Person am anderen Ende. Doch ich kannte sie gut genug, um nicht allzu viel hineinzuinterpretieren. Meine Mutter kam mit Stress nicht gut zurecht. Teufel auch, meine Mutter kam mit dem ganzen Leben nicht gut zurecht. Und dann fand die ganze Welt auch noch heraus, dass die leiblichen Eltern ihrer Adoptivtochter Serienmörder waren. Und besagte Tochter bestand außerdem darauf, die Verbrechen ihrer Eltern zu untersuchen. Das war die Art von Stress, die meine Mutter in einen Herzanfall treiben konnte … zumindest schien sie davon überzeugt zu sein.
Als unsere ersten Telefonate sich als problematisch erwiesen hatten, hatte sie Howard mit der Vertretung ihrer Seite beauftragt. War sie erst wieder bereit, mit mir zu sprechen, dann war sie auch bereit, nach Hause zu kommen. Vorerst versteckte sie sich – in jeder Hinsicht.
Ich sagte Howard, er solle ihr sagen, dass ich zu Hause gewesen war, um meine Sachen zu holen, und mir den Jetta ausgeliehen hatte. Sollte sie mich deswegen sprechen wollen, dann sollte sie anrufen. Was sie nicht tat.
Als Nächstes informierte ich mich über den Fall Ciara Conway, auch wenn es da nicht viel zu informieren gab. Wie Veronica gesagt hatte, war Ciara am Samstag als vermisst gemeldet worden. Wann sie tatsächlich verschwunden war, war jedoch schwer zu sagen. Bis vor einem Monat war sie noch eine zweiundzwanzigjährige Studentin an der Northwestern gewesen, die mit ihrem langjährigen Freund zusammengelebt hatte. Dann hatte sie ihn verlassen.
Weder ihre Eltern noch ihr Ex waren imstande, eine Liste mit Freunden zu liefern, deren Sofas sie vielleicht gekapert hatte, und ich bekam den Eindruck, dass Ciara ihren Freund nicht einfach so »verlassen« hatte. Ich hatte lange genug in Anlaufstellen gearbeitet, um die Zeichen zu deuten. Ciara hatte ein Problem – Drogen oder Alkohol. Ihre Eltern und ihr Freund hatten sich schließlich auf liebevolle Strenge verlegt – er hatte sie rausgeworfen und ihr gesagt, sie solle clean werden. Ihre Eltern hatten sie nicht aufgenommen. Sie fand dann Orte, an denen sie bleiben konnte, während die, die ihr am nächsten standen, tägliche Kontrollanrufe machten. Bis zum letzten Mittwoch, als Ciara aufhörte, die Anrufe entgegenzunehmen. Am Freitag war dann auch ihr Telefon außer Betrieb, der Akku leer. Nun machten sich die Eltern und der Freund bittere Selbstvorwürfe, waren halb verrückt vor Schuldgefühlen und Angst, und die Polizei war keine große Hilfe, weil die Beamten dieses Szenario schon hundertmal gesehen hatten und davon ausgingen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis Ciara endlich ihre Sauftour beendet hätte, sich ein Telefon leihen und um Geld betteln würde.
Doch das würde sie nicht. Ciara Conway war tot. Und die einzigen Leute, die davon wussten, waren ich und ihr Mörder.
Ich recherchierte immer noch, als Gabriel zurückrief. Im Hintergrund konnte ich Straßenlärm hören, was bedeutete, dass er irgendwohin eilte. Oder humpelte.
»Tut mir leid, dass ich angerufen habe«, sagte ich. »Ich habe nicht daran gedacht, dass Sie heute einen Gerichtstermin haben.«
»Keinen Gerichtstermin. Ich war nur im Gerichtsgebäude, um mit ein paar Leuten über den neuen Berufungsantrag Ihrer Mutter zu sprechen, aber darüber können wir uns später unterhalten. Was ist los?«
»Nichts Dringendes. Kümmern Sie sich einfach um was immer Sie gerade auf dem Schirm haben und …«
»Abgesehen davon, dass ich mir ein Abendessen besorgen möchte, habe ich gerade nichts auf dem Schirm.«
Ich erzählte ihm von Ciara Conway und meinen fehlenden Kleidungsstücken.
»Ich habe meine Schuhe nicht an ihr gesehen«, erzählte ich. »Teufel, ich könnte mich auch wegen des Shirts irren. Und vielleicht hat die Leiche Ciara auch nur ähnlich gesehen …«
»Olivia.«
Ich holte tief Luft. »Nicht zurückrudern, ich weiß. Die Leiche war Ciara Conway, und sie hat mein Shirt getragen, das Shirt, von dem ich weiß, dass ich es eingepackt hatte. Trotzdem begreife ich nicht, wie jemand sie anziehen, in dem Wagen in Szene setzen und dann wieder verschwinden lassen konnte.«
»Wie lange waren Sie im Pool?«
»Vielleicht eine Stunde.«
»Und danach haben Sie zwanzig Minuten lang im Haus auf mich gewartet. Der Hof ist Privatgelände, das mit einem Zaun und Pflanzen von der Straße und den Nachbarn abgeschirmt ist. Es ist riskant, aber nicht unmöglich. Ohne Leiche gibt es wenig, was wir tun können, aber ich möchte mit Chandler reden.«
»Chandler?«
»Wenn Sie eine Leiche finden, die gekleidet ist wie Sie, dann ist das kein Omen. Das ist eine Drohung. Edgar Chandler hat am Sonntag eine ziemlich deutliche Drohung gegen Sie ausgesprochen. Ergo möchte ich ihn sprechen. Bis dahin sollten Sie mit Pamela über Omen reden.«
Mein ganzes Leben lang schon hatte ich abergläubische Liedchen und Reime im Kopf gehabt, die bei bestimmten Reizen plötzlich aufzutauchen pflegten. Ich hatte angenommen, dass ich sie von einer Tagesmutter oder einer anderen Betreuungsperson aufgeschnappt hatte. Dann war ich Pamela Larsen begegnet, hatte ihre Stimme gehört und genau gewusst, wer diese Reime in meinem Kopf hinterlassen hatte. Mit ihr darüber zu sprechen hatte ganz oben auf meiner To-do-Liste gestanden. Doch als ich sie am Sonntagabend besucht hatte, um ihr zu sagen, dass wir bewiesen hatten, dass sie und mein Vater Jan Gunderson und Peter Evans nicht ermordet hatten, war mir definitiv keine Zeit geblieben, um anzumerken: »Ach, und übrigens, ich kann Omen lesen.«
Um sechs holte Gabriel mich ab. Er wollte mich begleiten und mich anschließend zum Haus meiner Eltern bringen, um sicherzugehen, dass ich den VW mitnahm. Unterwegs erzählte ich ihm, dass ich noch einen Gefangenenbesuch machen wollte. Einen, der mir, als ich es allein versucht hatte, unmöglich gewesen war. Einen Besuch bei meinem leiblichen Vater Todd Larsen.
Der Gedanke, Todd zu begegnen, machte mir schwer zu schaffen. Meine neu erwachten Erinnerungen an ihn vermischten sich ständig mit denen an meinen Adoptivvater, bei dem ich aufgewachsen war – perfekte Erinnerungen an einen perfekten Vater, und das machte das Ganze irgendwie kompliziert. Ich hatte mich vor ein paar Tagen entschlossen, ihn endlich zu besuchen. Gabriel davon zu erzählen war der erste Schritt dazu, es auch wirklich zu tun.
Pamela zu besuchen war viel einfacher gewesen. Ich hatte zwar am Anfang Gabriels Hilfe benötigt, aber seither konnte ich sie besuchen, wann ich wollte, und wir hatten auch heute keine Probleme, zu ihr zu gelangen. Als ich eintraf, fixierte sie schon die Tür des Besucherraums, und kaum trat ich ein, da leuchtete ihr Gesicht, und sie erhob sich. Wir konnten einander nicht umarmen – das war nicht gestattet –, aber sie breitete trotzdem die Arme aus, ganz so, als könnten wir das doch.
Ich war herangewachsen, ohne je zu wissen, dass ich adoptiert worden war, und die Leute hatten mir stets erzählt, ich würde meinen Eltern sehr ähnlich sehen. Schließlich hatte ich Lena Taylors aschblondes Haar, ihre schmale Statur und ihre grünen Augen und Arthur Jones’ Größe. Sie hatten mich erst adoptiert, als ich fast drei war, und bis dahin dürften sie gewusst haben, dass ich als ihr Kind durchgehen würde. Doch nachdem ich Pamela Larsen kennengelernt hatte, war mir klar geworden, dass jegliche Ähnlichkeit mit meinen Adoptiveltern absolut oberflächlich war. Pamela hatte zwar dunkle Haare und Augen, aber wir hatten die gleiche Gesichtsform. Sie war ungefähr zwei, drei Zentimeter kleiner als ich mit meinen eins dreiundsiebzig und knappe zwanzig Kilo schwerer, aber es konnte kaum ein Zweifel daran bestehen, dass wir eindeutig Mutter und Tochter waren.
Als ich zu ihr ging, lächelte ich, worauf sie noch mehr strahlte. Nicht einmal Gabriels Anblick lockte den sonst schon gewohnten finsteren Blick hervor, aber kaum hatten wir uns gesetzt, da fixierte sie ihn auch schon.
»Falls Sie hier sind, um mich dazu zu überreden, Sie wieder zu engagieren …«
»Bin ich nicht. Ich begleite lediglich Olivia.«
Sie presste für einen Moment die Lippen zusammen. »Ich schätze es gar nicht, wenn Sie meine Tochter missbrauchen, um an mich heranzukommen. Ich habe noch nicht entschieden, wer mich vertreten soll. Wenn es so weit ist, werde ich es Sie wissen lassen. Derzeit spreche ich noch mit anderen Anwälten.«
»Wunderbar.«
Wieder presste sie die Lippen zusammen.
Ich ging dazwischen. »So unterhaltsam es auch ist, zuzusehen, wie ihr zwei euch gegenseitig niederstarrt, deswegen bin ich nicht hier. Gabriel ist deine beste Chance für die Berufung, aber das ist am Ende allein deine Entscheidung.«
»Hat er dich gebeten, für meine Vertretung zu bezahlen?«, wollte sie wissen.
»Das würde ich nicht tun«, sagte Gabriel. »Ich habe zwar ein paar einleitende Erkundigungen in Ihrem Fall eingezogen und in Hinblick auf die Berufung die Lage sondiert, aber darüber können wir später noch reden. Für den Moment hat Olivia Fragen, die damit gar nichts zu tun haben.«
»Ich …« Ich atmete einmal tief durch. »Es gibt keine Möglichkeit, das auszusprechen, ohne mich anzuhören wie eine Verrückte, also bringe ich es einfach hinter mich. Ich kann Omen sehen. Sehen, lesen, deuten.«
Ich erklärte ihr, was geschehen war, kam aber nicht weit, ehe sich ihre Augen erkennbar weiteten und sie sich an Gabriel wandte. »Ich möchte, dass Sie gehen.« Dann brach sie ab. Einen Moment später fügte sie, auch wenn es sie zu schmerzen schien, hinzu: »Bitte.«
Er sah mich an. Ich nickte. Als er fort war, schloss ich meinen Bericht ab. Danach saß sie nur da und sagte gar nichts.
»Du weißt, wovon ich spreche, richtig?«, fragte ich.
»Nein, ich glaube, das weiß ich nicht, Olivia.«
Ich beugte mich vor und sprach mit sanfter Stimme: »Ich weiß, es ist nicht leicht, über so etwas zu sprechen, aber ich muss es verstehen können. Es …« Mit aller Kraft bemühte ich mich um ein Lächeln. »Es macht mir schon ein bisschen Angst, und ich könnte wirklich etwas Hilfe brauchen.«
Das zuzugeben fiel mir schwer. Ich hatte bewiesen, dass meine leiblichen Eltern in zwei Fällen unschuldig waren, und daran hätte ich mich so gern festgehalten und sie in allen Fällen für unschuldig erklärt, aber das konnte ich nicht. Das wagte ich nicht, denn wenn ich es täte, dann, so fürchtete ich, würde ich nicht mehr damit umgehen können, sollte ich herausfinden, dass ich falschlag.
Zwanzig Jahre lang hatte ich einen Vater gehabt, den ich vergöttert hatte, und eine Mutter, die ich liebte. Dann hatte ich von den Larsens erfahren, und all die verlorenen Erinnerungen waren zurückgekehrt. Ich hatte mit Todd schon einmal einen anderen Vater gehabt und vergöttert. Und eine Mutter, die mich mit solch einer leidenschaftlichen, tief gehenden mütterlichen Hingabe liebte, wie Lena Taylor sie nie so recht hatte entwickeln können.
Derzeit wahrte ich Distanz, nutzte sie als Puffer. Zum Schutz meiner geistigen Gesundheit und, ja, meines Herzens – selbst wenn ich mich bei dem Gedanken regelrecht krümmte. Ich war kein gefühlsduseliger Mensch. Aber ich war jemand, der aus tiefster Seele liebte. Und folglich auch jemand, der in tiefster Seele verletzt werden konnte.
Ich ging schon ein Risiko ein, indem ich ihr offenbarte, wie dringend ich ihre Antworten benötigte. Indem ich ihr offenbarte, wie sehr ich sie brauchte.
Als ich von meiner Begabung erzählte, sah ich, wie etwas in ihr sich öffnete – und verschloss, so schnell und unabänderlich, wie ich es von Gabriel kannte, wenn sich hinter seinen Augen die Mauer schloss.
»Es tut mir leid, Baby«, sagte sie und streckte die Hände aus, als könnte sie meine ergreifen. »Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Ich zuckte zurück, als hätte sie mir eine Ohrfeige versetzt. »Du bist diejenige, die mich all diesen Aberglauben gelehrt hat. Ich höre deine Stimme in meinem Kopf, wie sie abergläubische Phrasen aufsagt.«
Ihre Lippen bewegten sich, als bereite sie eine Lüge vor, doch einen Moment später sagte sie: »Ja, das war ich.« Sie beugte sich über den Tisch, auf dem ihre mit Handschellen gefesselten Hände ruhten. »Ich war jung, Olivia. So jung, wie du es jetzt bist, und nicht annähernd so gebildet oder weltgewandt. Meine Mutter hatte mir diese abergläubischen Flausen in den Kopf gesetzt, und ich dachte, das wäre lustig. Dumm und lustig und harmlos. Also habe ich sie an dich weitergegeben.«
»Was ist mit der Tatsache, dass die Omen, die ich sehe, wirklich auf zukünftige Ereignisse verweisen?«
Sie rutschte auf ihrem Stuhl herum, als wäre ihr unbehaglich zumute. »Das Problem mit dem Aberglauben ist, dass es sehr einfach ist, Rechtfertigungsgründe zu finden. Wenn man nur eifrig genug sucht …«
»Ich weiß. Da findet man einen Glückspfennig und gewinnt zwei Mäuse mit einem Rubbellos. Voilà, hat funktioniert.«
Genau das sagte ich mir schon mein Leben lang. Omen waren wie Horoskope – wenn man daran glauben will, findet man auch »Beweise«. Diese Argumentation hatte ich von Gabriel erwartet, der stets logisch und rational dachte. Nicht aber von Pamela, und noch schlimmer wurde es dadurch, dass ich ihr ansah, dass sie log. Sie log, nachdem ich mich ihr geöffnet hatte.
»Ich weiß, dass das der Grund ist, warum Leute an Aberglauben und Magie glauben«, fuhr ich fort. »Wenn ich aber ein Todesomen sehe, dann stirbt jemand. Aber ich bin die Einzige, die sie sieht. Ich bemerke acht Krähen auf einer Stromleitung, wenn jeder andere nur sechs wahrnimmt.«
Ihr Kopf ruckte hoch. »Hast du mit jemandem darüber gesprochen?«
»Nein«, log ich. »Ich habe in solchen Situationen nur gefragt, was andere Leute sehen.«
Sie beugte sich noch weiter über den Tisch. »Weißt du, warum ich hier bin, Olivia? Weil ich ein dummes Mädchen war, das eine gute Hexe sein wollte und mit Amuletten und Gebräuen herumgespielt hat, um seine Familie vor Erkältungen und Unglück zu schützen. Dann hat jemand der Polizei einen Tipp gegeben und behauptet, wir wären für diese rituellen Morde verantwortlich, und mein blöder Wicca-Schnickschnack hat uns mehr belastet, als es irgendeine DNS-Spur jemals könnte. Was immer du da zu erleben glaubst, du darfst es niemandem erzählen. Um deinetwillen.«
Ich begegnete ihrem Blick. »Was erlebe ich aber in solchen Momenten?«
Sie wich zurück. »Ich habe keine Ahnung. Du stehst ziemlich unter Stress, und …«
»Tut mir leid, dass ich dich damit belästigt habe«, sagte ich und erhob mich steif.
Sie legte ihre Hand auf meine, und schon räusperte sich die Wärterin warnend. »Sei nicht wütend, Olivia«, sagte sie. »Ich kenne diesen Blick. Deine Großmutter hat dann immer gelacht und gesagt, jetzt haben wir sie wieder auf die Palme gebracht. So guckst du immer, wenn …«
»Lass es.«
»Ich sage doch nur …«
»Ich bin hergekommen, um mit dir darüber zu sprechen. Wenn du mir nicht hilfst, dann gehe ich wieder.«
Ich konnte den Schmerz in meiner eigenen Stimme hören, konnte ihn in meinem Zögern spüren, als ich darauf wartete, dass sie es sich anders überlegte. Ein paar Sekunden zogen scheinbar endlos langsam dahin, und dann wurde mir klar, dass ich meinen Worten Taten folgen lassen und gehen musste.
»Ich möchte mit Gabriel sprechen«, sagte sie.
Weitere drei Sekunden herrschte Schweigen, bis ich meine Stimme wiederfand und mich bemühte, ruhig zu sprechen: »Du willst mit …«
»Er weiß es, nicht wahr? Du hast ihm von diesen Omen erzählt.«
Meine Enttäuschung verglühte in einem Ausbruch brennenden Zorns. »Ob ich …«
»Er weiß es. Das erkenne ich.« Sie beugte sich erneut über den Tisch. »Ich habe mich bemüht, mich da rauszuhalten, Olivia, aber nun muss ich dich fragen: Welcher Natur ist die Beziehung zwischen dir und ihm?«
»Ich habe ihn engagiert, damit er mir bei den Ermittlungen in deinem Fall hilft.«
»Und ansonsten?«, hakte sie nach.
»Ansonsten?«
»Irgendetwas geht da zwischen euch vor, und ich werde das jetzt ganz unverblümt aussprechen, weil ich dir diese Frage stellen muss. Schläfst du mit ihm?«
»Nein.«
»Gibt es irgendeine romantische …?«
»Nein. Gabriel hat nie auch nur ansatzweise versucht, sich an mich ranzumachen. Was immer du von seiner Ethik hältst, die Gründe für einen Ausschluss aus der Anwaltskammer kennt er. Teufel auch, vermutlich hat er eine laminierte Liste dieser Gründe in seiner Brieftasche.«
»Also ist das eine reine Anwalt-Klient-Beziehung?« Mit einem Wink deutete sie auf die Tür mit der kleinen Glasscheibe, hinter der Gabriels Rücken wie eine Mauer aufragte. »Er ist gleich dort. Da war er die ganze Zeit, seit er hinausgegangen ist, und er ist nur rausgegangen, weil du das gewollt hast. Er tanzt nach deiner Pfeife, und jetzt lungert er da herum und wartet auf ein Zeichen, dass du ihn brauchst.«
»Gabriel tanzt nach niemandes Pfeife, und er lungert nicht herum.«
»Und er opfert seinen Feierabend nicht, um eine gewöhnliche Klientin zu einem Besuch bei ihrer inhaftierten Mutter zu begleiten. Bezahlst du ihn für die Zeit, die er jetzt da draußen verbringt, Olivia?«