Dunkles Omen – Ein Cainsville-Thriller - Kelley Armstrong - E-Book

Dunkles Omen – Ein Cainsville-Thriller E-Book

Kelley Armstrong

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Beschreibung

Olivia Taylor-Jones führt ein Leben wie aus dem Märchen: Sie ist schön, sie ist reich und sie steht kurz vor ihrer Hochzeit mit einem aufstrebenden jungen Politiker. Doch dann zerbricht ihre heile Welt in tausend Scherben, als sie durch einen Zeitungsartikel in der Boulevardpresse erfährt, dass sie adoptiert wurde und ihre leiblichen Eltern wegen mehrfachen Mordes im Gefängnis sitzen. Um die Wahrheit über ihre Familie herauszufinden, reist Olivia in den Heimatort ihrer Eltern – nach Cainsville. Doch in dem hübschen kleinen Städtchen sind die Dinge so gar nicht, wie sie zu sein scheinen …

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Seitenzahl: 719

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DAS BUCH

Olivia Taylor-Jones hat alles, was sich eine junge Frau nur erträumen kann: Sie sieht gut aus, stammt aus einer reichen Familie und wird in Kürze den aufstrebenden jungen Politiker James Morgan heiraten. Eine Hochzeit, der bereits die gesamte bessere Gesellschaft Chicagos entgegenfiebert. Doch dann kommt der Abend, an dem Olivias heile Welt in tausend Scherben zerbricht: Sie erfährt, dass die Taylor-Jones sie adoptiert haben und ihre leiblichen Eltern Pamela und Todd Larsen heißen. Pamela und Todd Larsen, die wegen mehrfachen Mordes im Gefängnis sitzen. Olivia beschließt unterzutauchen, um der Hetzjagd der Boulevardpresse zu entgehen. Es verschlägt sie ausgerechnet nach Cainsville – dem Heimatstädtchen der Larsens. Der ideale Ort, um Nachforschungen über ihre leiblichen Eltern anzustellen, findet Olivia. Hilfe bekommt sie dabei von dem ebenso attraktiven wie zwielichtigen Anwalt Gabriel Walsh. Doch irgendetwas scheint hier nicht zu stimmen. Merkwürdige, ja, geradezu übersinnliche Phänomene häufen sich. Und Olivia beginnt zu ahnen, dass sowohl Cainsville selbst als auch ihre eigene Familiengeschichte ein düsteres Geheimnis umgibt …

DIE AUTORIN

Kelley Armstrong wurde in Sudbury, Kanada, geboren. Sie studierte Psychologie an der University of Western Ontario und Informatik am Fanshawe College. Weil sie schon als Kind schreiben wollte, wandte sie sich bereits während ihres Studiums der Schriftstellerei zu. Heute ist Kelley Armstrong eine erfolgreiche Autorin, deren magische Thriller New York Times-Bestseller sind. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Ontario, Kanada.

Mehr über die Autorin und ihre Romane erfahren Sie auf:www.kelleyarmstrong.com

KELLEY ARMSTRONG

Titel der amerikanischen Originalausgabe:OmensDeutsche Übersetzung von Frauke Meier Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 07/2017 Redaktion: Diana Mantel Copyright © 2013 K.L.A. Fricke Inc. Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung von shutterstock, SipaPhoto Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-20957-5V001www.heyne.de

Für Jeff,

der wusste, dass ich eine neue Geschichte gebraucht habe, und der mich ermutigt hat, den Sprung zu wagen.

VORBEMERKUNG

Die Stadt Cainsville hat viele Geheimnisse, die sie ungern auch nur einen Moment früher als nötig preisgibt. Verständlicherweise hegen manche Leser den Wunsch, einige Rätsel noch vor Olivia zu lösen. Als ehemalige Programmiererin komme ich dem gern mit ein paar literarischen Easter Eggs entgegen. Verteilt im ganzen Buch werden Sie auf Fremdworte oder Wendungen stoßen, die unklar sind und die sich nicht so einfach anhand des Zusammenhangs interpretieren lassen. Die können Sie entweder einfach ignorieren oder Olivia weiter auf ihrer Reise begleiten und die Geheimnisse mit ihr gemeinsam aufdecken, und, ja, ich hoffe, dass Sie sich für diesen Weg entscheiden. Aber wenn Sie ungeduldig sind, dann, davon bin ich überzeugt, wird das Internet Ihnen eine Übersetzungshilfe bieten können … und ein paar vorzeitige Antworten.

PROLOG

Eden krabbelte ins Wohnzimmer und schürfte sich die Haut an ihren pummeligen Händen und Knien an dem rauen Teppich auf. Als Stiefel durch den Hausflur schritten, hielt sie die Luft an und rührte sich nicht mehr.

Hatte er sie gehört?

Die Schritte stoppten. Sie beugte sich zurück, um den Türpfosten herum, und lugte den dunklen Korridor hinunter. Keine Spur von ihm zu sehen. Noch nicht. Aber er würde sie holen. Das tat er immer.

Sie krabbelte schnell ein Stück weiter, unterdrückte aber das Verlangen, aufzuspringen und loszurennen. Wenn sie rannte, würde er sie hören.

Kaum war sie an dem großen Sessel vorbei, hielt sie inne und schaute sich um. Der lange Tisch vor dem Sofa hatte ein Schrankfach. Sie öffnete die Tür und zuckte kurz zusammen, als sie das leise Klicken hörte. Das Fach war groß genug, dass sie sich hätte hineinquetschen können, aber es war voller Bücher und Zeitschriften.

Dann sah sie sich zu dem großen Sessel um. Er war zu weit von der Wand entfernt. Wenn sie sich hinter ihm versteckte, würde er sie sehen, sobald er um die Ecke kam. Und das Sofa? Ja! Sie legte sich flach auf den Bauch und kroch rückwärts, bis ihre Beine ganz darunter waren, und …

Ihr Popo traf auf das Gestell des Sofas und hielt sie auf. Sie versuchte es erneut, wand sich wie verrückt, aber sie kam nicht darunter. Vielleicht, wenn sie es mit dem Kopf voran versuchte. Schnell zog sie sich wieder nach vorn, und …

Sie steckte fest. Jetzt zappelte sie mit aller Kraft, und der Teppich schürfte ihr die Knie auf, aber sie konnte nicht entkommen, und sie war sich sicher, dass er jetzt jeden Moment …

Doch dann war sie wieder frei. Eine Sekunde blieb sie an Ort und Stelle, um Atem zu holen, dann machte sie kehrt, um mit dem Kopf voran unter das Sofa zu krabbeln, und …

Ihr Kopf passte auch nicht drunter.

Aber was wäre hinter dem Sofa? Wenn sie es nur ein bisschen in den Raum ziehen könnte, dann würde der Platz reichen, um dahinter zu kriechen. Mit beiden Händen packte sie ein Bein und zog. Es wackelte ein wenig, rührte sich aber nicht von der Stelle.

Jetzt waren die Schritte erneut zu hören, langsam und gleichmäßig. Auf dem Weg zu ihr? Sie schluckte, versuchte zu lauschen, aber ihr Herz pochte so heftig, dass sie kaum etwas hören konnte.

Vorsichtig rutschte sie zwischen Tisch und Sofa hervor und schaute sich zu dem Flur um, der zu den Schlafzimmern führte. Da gab es haufenweise Verstecke. Bessere Verstecke. Wenn sie es schaffte …

»Eden?«

Wieder stürzte sie sich auf das Sofa und stieß es gerade weit genug nach vorne, dass sie sich dahinter quetschen konnte. Sie wollte sich umschauen, um sich zu vergewissern, dass ihre Füße auch versteckt waren, aber sie konnte es nicht erkennen. Sicherheitshalber schlängelte sie sich noch etwas weiter in die Lücke und schlug die Hände vor den Mund. Wenn sie einen Laut von sich gab – irgendeinen Laut –, dann würde er sie finden. Ganz flach lag sie auf dem Teppich und bemühte sich, den Geruch von alter Katzenpisse nicht einzuatmen, während sie sich so klein wie möglich machte.

Schritte donnerten in den Raum. Und verharrten. Als Eden die Augen zukniff, konnte sie seinen leisen Atem hören. Sie stellte sich ihn vor, wie er sich das wirre blonde Haar aus den Augen strich, während er den Raum absuchte.

»Eden?«, rief er.

Seine Stiefel raschelten auf dem Teppich, als er noch ein paar Schritte weiterging. Dann holte er seufzend Luft. »Sie ist weg. Oh mein Gott, Pammie, unser Baby ist weg!«

Eden presste die Faust an den Mund, um das aufbrandende Gelächter zu ersticken. Mommys leises Seufzen wehte von der Küche herbei, als sie Daddy – wieder einmal – ermahnte, in Gegenwart ihrer Tochter seine Zunge im Zaum zu halten.

»Aber sie ist verschwunden!«, erwiderte er. »Ruf die Polizei! Ruf die Feuerwehr! Ruf die Clown-Brigade!«

»Da wir gerade bei Clowns sind …«, stichelte ihre Mutter.

Edens ganzer Körper bebte vor tonlosem Gekicher.

»Unser Baby ist weg! Alles, was noch da ist, ist dieser Schuh!« Er ließ sich neben dem Sofa auf die Knie fallen. »Warte mal, da ist ja ein Fuß drin.«

Eden drehte sich um und zog ihr Bein weg.

»Oh, nein! Jetzt ist sie ganz verschw…«

Eden kam schnell aus ihrem Versteck heraus und warf sich in die Arme ihres Daddys. Der fing sie auf und wirbelte sie herum. Sie schloss die Augen, während Luft an ihr vorbeipeitschte und nach Daddys würzigem Aftershave roch. Viel besser als die Katzenpisse von den früheren Eigentümern, aber solange sie so durch die Luft flog, drehte sich ihr auch von diesem Duft der Magen um. Trotzdem sagte sie ihm nicht, er solle aufhören. Das würde sie nie tun.

Daddy warf sie auf das Sofa. Die leuchtend roten Kissen sprangen in alle Richtungen davon, als sie dort landete. Er nahm eines der Kissen und schob es unter sie. Dann sank er vor ihr auf ein Knie.

»Es tut mir leid, meine Liebste, aber ich muss fort. Ich habe einen großen Tag vor mir, an dem ich einem ganz besonderen Mädchen dabei helfen werde, seinen halben Geburtstag zu feiern.«

»Mir!« Eden hüpfte auf dem Sofa und sang: »Mir! Mir! Mir!«

»Wirklich? Bist du ganz sicher?«

Mehr Gebrüll. Mehr Gehüpfe.

Heute wurde sie nämlich zweieinhalb. Letzte Nacht hatte sie kaum geschlafen, sondern sich nur unter der Decke zusammengerollt und das Deckengemälde angestarrt, das ihre Mommy gemalt hatte, ein Karussell mit Pferden und Schwänen und Löwen. Normalerweise stellte sie sich, wenn sie nicht schlafen konnte, vor, sie säße auf dem schwarzen Pferd mit der weißen Mähne und würde sich immerzu im Kreis drehen, bis sie schließlich doch einschlief. Aber in der letzten Nacht hatte das lange Zeit nicht funktioniert.

Dann, als ihre Mommy gekommen war, um sie zu wecken, hatte Eden vor dem Fenster eine Eule rufen gehört, und ihr Bauch hatte angefangen wehzutun. Eden mochte die Eule nicht – zumindest nicht bei Tag. Sie hörte sich unheimlich an, und Eden bekam Angst, Mommy und Daddy könnten ihren halben Geburtstag vergessen haben. Aber das war dumm. So etwas würden sie nie vergessen.

»Ist es schon Zeit?«, fragte sie immer noch hüpfend. »Ist es Zeit?«

»Ist es. Wir haben eine große Überraschung geplant. Weißt du schon, was?«

»Nein, weiß sie nicht«, sagte Mommy und kam zur Tür herein. »Das ist der Sinn einer Überraschung, Todd.«

Daddy beugte sich zu Edens Ohr herab und flüsterte: »Ponyreiten!«

Eden kreischte vor Freude. Ihre Mutter verdrehte die Augen und tat, als wäre sie verärgert, konnte aber gar nicht aufhören zu grinsen.

»Komm, lass uns dein Haar bürsten«, sagte Mommy, als Eden sich in ihre Arme stürzte. »Wir wollen nämlich ganz viele Fotos machen, wenn du deine große Überraschung bekommst.«

»Ponyreiten!«, warf Daddy ein.

»Ich glaube, wir sollten ihn auf ein Pony setzen«, flüsterte Mommy Eden ins Ohr.

Als Mommy mit dem Bürsten fertig war, schnappte Daddy sich Eden erneut und setzte sie auf seine Schultern. »Ich glaube, ich wäre wirklich ein gutes Pony.«

Er schnaubte und scharrte mit dem Fuß am Boden. Mommy lachte und versetzte ihm einen Klaps auf den Po.

Dann wurde auf einmal die Tür aufgebrochen.

Es ging so schnell, dass niemand sich rührte. Nicht Mommy. Nicht Daddy. Eden hörte das Krachen des berstenden Holzes und sah, wie die Tür aus den Angeln flog, und sie dachte für einen Moment, das liege an einem großen Sturm wie in dem Film mit dem Mädchen und ihrem Hund. Nur war das kein Sturm. Es waren Monster.

Große Monster, ganz in Schwarz mit Helmen auf den Köpfen und Masken vor den Gesichtern. Sie schwärmten durch die zerstörte Tür herein, brüllten und schrien und wedelten mit irgendwelchen schwarzen Dingern herum.

Eden schrie nun, und Daddy wich stolpernd zurück, und Eden rutschte von seinen Schultern. Mommy fing sie auf, ehe sie fallen konnte.

Eines der Monster brüllte etwas, das Eden nicht verstehen konnte. Aber Mommy und Daddy verstanden es. Sie rührten sich auf einmal nicht mehr. Dann wich Daddy zurück, die Arme weit ausgebreitet, und schirmte Mommy und Eden vor ihnen ab, aber zwei Monster packten ihn an den Schultern und warfen ihn zu Boden.

Eden schrie erneut. Schrie, so laut sie nur konnte, den Mund so weit aufgerissen, dass sie die Augen zukneifen musste und nichts mehr sehen konnte. Als Mommy sie mit beiden Armen umfing, konnte sie Mommys Herz klopfen spüren. Sie keuchen hören. Etwas Schlimmes, Saures riechen, das gar nicht nach Mommy roch.

»Schon gut«, flüsterte Mommy. »Schau nicht hin, Baby. Schau einfach nicht hin.«

Dann kreischte plötzlich Mommy, und alles drehte sich. Eden riss die Augen auf. Eines der Monster hatte Mommy. Ein anderes zerrte Eden fort. Mommy griff nach ihr, ihre Fingernägel kratzten über Edens Arm, als sie versuchte, sie zurückzuholen. Eden kämpfte genauso sehr darum, zu ihr zurückzukommen, trat und schrie und kratzte.

Eines der Monster sagte erst die Namen von Mommy und Daddy und dann andere Namen, ganz viele Namen. Da hörte Mommy auf zu kämpfen. Und Daddy, der von den zwei Monstern am Boden festgehalten wurde, auch.

»W-was?«, fragte Mommy, und ihre Stimme klang so piepsig, dass sie Eden in den Ohren wehtat. »Diese armen Paare aus den Zeitungen?« Sie sah sich zu Daddy um. »Was ist hier los?«

»Ich … ich weiß es nicht.« Er schaute Eden an. »Alles in Ordnung, Liebling. Ich weiß, das macht dir Angst, aber es ist nur ein Irrtum. Ein ganz, ganz dummer Irrtum.«

Plötzlich tauchte eine Frau auf. Eine ganz normale Frau mit einem Jackett und einem Rock, so wie Grandma Jean ihn bei der Arbeit trug. Nur half es nichts, dass sie lächelte und eine nette Stimme hatte. Nicht, wenn sie Eden von ihrer Mommy und ihrem Daddy fortbrachte.

Eden kämpfte, trat und heulte.

»Das reicht jetzt«, sagte die Frau. »Du tust dir noch weh …«

Eden biss sie. Bohrte ihre Zähne, so fest sie konnte, in den Arm der Frau, und etwas Warmes, das abscheulich schmeckte, drang in ihren Mund. Laut kreischend ließ die Frau von ihr ab, und Eden purzelte zu Boden und rannte dann zu Mommy und Daddy, als die Monster sie gerade fortschleiften.

Mommy drehte sich um und streckte die Hand nach ihr aus. Eden warf sich ihr entgegen, aber eines der Monster hielt sie an ihrem Kleid fest, während ein anderes Mommy zur Tür hinauszerrte.

01

Ich wartete in der Anlaufstelle der Hilfsorganisation, in der ich arbeitete, auf meinen nächsten Termin. Das Gemurmel von Kinderstimmen wehte aus dem Spielbereich herbei. Leises Gemurmel, stockend, gebrochen. Schuldbewusstes Kichern, das urplötzlich abbrach, als wären die Kinder nicht so sicher, ob sie wirklich etwas zu kichern hatten.

Der schwache Bleichmittelgeruch von den Spielsachen, die jeden Abend gereinigt wurden, ging beinahe unter in dem widerlich süßen Geruch der Lilien. Vasen auf jedem Tisch. Blumen für hundert Dollar. Geld, das die Spender besser für Shampoo und Babyfeuchttücher ausgegeben hätten. Aber die Spender meinten es gut. Das taten sie immer.

Es heißt oft, ehrenamtliche Arbeit zahle sich in einer Weise aus, wie bezahlte Arbeit es niemals könnte. Die Sache mit der bezahlten Arbeit konnte ich nicht bestätigen. Kaum ein Jahr nach dem Collegeabschluss hatte ich noch keine bezahlte Stelle gehabt. Aber ich wusste, was mir die ehrenamtliche Tätigkeit brachte, und das war nicht der übliche frömmelnde Kick, Menschen geholfen zu haben, die weniger gut gestellt waren. Es war der Spiegel, den sie mir vorhielten und der mir Bilder von mir selbst zeigte, die mir nicht immer behagten.

Mein 14:15-Uhr-Termin war Cathy, die sich entschuldigte, weil sie sich verspätet hätte, obwohl ich ihr versicherte, dass sie vollkommen pünktlich war. Mit gesenktem Kopf schlüpfte sie zur Tür herein und schob ihren Zweijährigen vor sich her.

»Hey, Joey«, sagte ich. »Sind das neue Stiefel? Spider-Man, was? Echt cool.«

Ein flüchtiger Blick in meine Richtung. Ein kurzes Nicken. Ich mag Kinder. Aber ich kann nicht sagen, dass sie mir gegenüber genauso empfinden würden. Vielleicht spüren sie, dass ich nicht nur das einzige Kind meiner Eltern war, sondern auch der einzige Enkel meiner Großeltern, aufgewachsen in einer Welt, in der es nur Erwachsene gab.

Cathy ging zu einem wackeligen Holzstuhl, doch ich klopfte neben mir auf das Sofa, also hockte sie sich auf den Rand des abgenutzten Kunstledersofas. Nicht gerade das schönste Möbelstück, aber es hatte eine heitere leuchtende Farbe und war abwaschbar. Ob unsere Klienten sich all das Kunstleder und Holz und Plastik anschauten und sich vorstellten, wie wir nach Feierabend alles in Sichtweite mit Bleichmittel bearbeiteten, um es von der Kontamination durch ihre verzweifelten Existenzen zu reinigen?

»Haben Sie Amy im Spielzimmer gelassen?«, fragte ich.

Cathy erstarrte regelrecht. »Ja. Die Dame hat gesagt, das sei in Ordnung …«

»Keine Sorge, ich frage nur. Um halb drei wird da gebastelt, und ich weiß ja, dass sie gern bastelt.«

Cathy entspannte sich wieder und nickte. Sie hatte zwei Kinder unter vier Jahren, und das nächste war schon unterwegs. Und sie war drei Monate jünger als ich. Nicht, dass man ihr das angesehen hätte. Wäre ich ihr auf der Straße begegnet, hätte ich sie zehn Jahre älter eingeschätzt. Ganz bestimmt hatte sie ein zusätzliches Jahrzehnt an Lebenserfahrung auf dem Buckel. Zu Hause rausgeflogen mit sechzehn. Verheiratet mit achtzehn und geschieden mit einundzwanzig. Ein Dutzend Jobs im Lebenslauf, häufig mehrere zur gleichen Zeit.

Nichts könnte meiner eigenen Lebenswirklichkeit ferner sein. Ich wohnte mit meiner Mutter in einem Haus, das größer war als die ganzen Räumlichkeiten dieser Hilfsorganisation. Dazu hatte ich einen Masterabschluss von der Yale University. Hier arbeitete ich ehrenamtlich und müsste nicht einmal das tun. Wusste ich das zu schätzen? Nein. An guten Tagen nervte es wie ein Kleid mit einem kratzigen Etikett. An schlechten Tagen kam ich mir vor wie ein Rotluchs in der Falle, bereit, mir sogar den Fuß abzunagen, nur um zu entkommen. Und dann sah ich jemanden wie Cathy, und mein schlechtes Gewissen erstickte meine Rastlosigkeit unter einer Woge aus Scham.

»Danke, dass Sie sich Zeit für mich nehmen, Miss Jones«, sagte sie.

»Sagen Sie Olivia, bitte. Und ich bin hier, wann immer Sie mich brauchen. Das wissen Sie doch.«

Cathy nickte und wickelte eine Haarsträhne um ihren Finger. Sie hatte sich die Haare vor fast einem Jahr blond gefärbt, und die dunklen Ansätze reichten inzwischen bis zu den Ohren. Aber sie hatte sich geweigert, sie wieder nachzufärben, weil die ganze Färberei seine Idee gewesen war. Die von dem Typen, der sie mit den blonden Haarspitzen, einem fehlenden Zahn und einem weiteren Baby im Bauch zurückgelassen hatte.

»Also, Melanie hat Ihnen ja schon bei der Suche nach einem Job geholfen«, sagte ich. »Wie geht es damit voran?«

»Gut.«

Sie fixierte unentwegt mein Kinn. Das tat sie immer, es sei denn, sie regte sich richtig auf, wie beispielsweise damals, als sie mir unaufgefordert erklärt hatte, dass sie sich das Haar eben nicht nachfärben werde. Kurze Trotzreaktionen. Schmerzhaft kurz. Frustrierend kurz.

Aber in diesem gesenkten Blick lag nicht nur Achtung. Ich konnte es spüren. Fühlen, wie es in der Luft zwischen uns vibrierte.

»Hat …?«, setzte ich an.

In dem Moment rannte Joey mit einem Rucksack in der Form einer Eule vorüber, die mich an die Eule erinnerte, die an diesem Morgen vor meinem Fenster gerufen hatte. Ein schlechtes Omen. Wenn man an Omen glaubte. Für einen Moment war ich völlig davon abgelenkt.

»Joey!«, schimpfte Cathy. »Hör auf herumzurennen, und setz dich hin.« Dann, zu mir: »Sorry, Miss Jones.«

»Nein, nein, alles in Ordnung. Ich habe nur gerade seinen Rucksack bewundert.« Ich riss mich von dem Anblick los. »Hat die Bäckerei Ihnen inzwischen das Arbeitszeugnis gegeben?«

Sie schüttelte den Kopf, und ich fluchte im Stillen. Cathy hatte zuletzt in einer Bäckerei gearbeitet, die der Cousine jenes Mannes gehörte, der sie schwanger hatte sitzen lassen. Nun konnte sich ihre alte Chefin offenbar plötzlich nicht mehr daran erinnern, was für eine gute Mitarbeiterin sie gewesen war, und ihr folglich auch keine Empfehlung schreiben.

Ich hatte den Namen der Bäckerei in meiner Brieftasche. Mehr als nur einmal war ich in Versuchung gewesen, der Erinnerung dieser Frau auf die Sprünge zu helfen. Und ich hatte da ein paar Ideen, wie ich das anstellen könnte. Die Vorstellung war durchaus zufriedenstellend, und sie wäre so viel leichter in die Tat umzusetzen, wäre ich nicht Olivia Taylor-Jones, Tochter von Lena Taylor, der bekannten Chicagoer Philanthropin, und Arthur Jones, dem Eigentümer des kultigen Warenhauses Mills & Jones. Aber die bin ich nun mal, und deshalb stehen für mich andere Angriffsmöglichkeiten offen, genauso wirkungsvoll, wenn auch nicht ganz so dramatisch.

»Vergessen wir das für den Moment. Ich bin mir sicher, sie wird ihre Meinung noch ändern.« Sehr sicher. »Wir holen uns jetzt erst einmal einen Kaffee und schauen uns die Jobangebote an.«

Als Cathy gegangen war, blätterte ich in dem Stapel ausgedruckter Stellenausschreibungen und redete mir ein, ich wolle mich nur vergewissern, dass ich wirklich kein passendes Angebot für Cathy übersehen hatte – aber eigentlich sah ich sie um meinetwillen durch. Unnütz, natürlich. Auf so vielfältige Weise.

Meine Mutter hatte immer von mir erwartet, dass ich ihrem Beispiel folgte. Dass ich gut heiraten und mich der Freiwilligenarbeit und der Philanthropie verschreiben würde. Und die bezahlte Arbeit denen überließe, die sie brauchten. Dad war der Vorstellung gegenüber offener gewesen, eine junge Frau in meiner Position könnte eine Laufbahn abseits der bloßen Organisation von Benefizveranstaltungen hinlegen. Meine Mutter stammte aus reichem Hause – sie war die Tochter unbedeutender Adliger, aufgewachsen in der englischen Gesellschaft. Dad war in der Geschäftswelt groß geworden, wo erwartet wurde, dass man arbeitete, bis man nicht mehr konnte. Oder bis man mit einundsechzig einen verhängnisvollen Herzinfarkt erlitt und eine Tochter zurückließ, die es zehn Monate später immer noch nicht fertigbrachte, sich ein Bild von ihrem Vater anzusehen, ohne ihn so sehr zu vermissen, dass es wehtat.

Ich hatte immer angenommen, ich würde eines Tages für Dad arbeiten. Irgendwann das Familiengeschäft übernehmen. Es war nicht wichtig, ob dieser Laden mich zu Tode langweilte. Schließlich hätte ich mit ihm zusammengearbeitet, und das hätte ihn sehr glücklich gemacht. Nur, dass er nicht mehr da war und ich es nicht ertragen konnte, den Laden auch nur zu betreten.

Vorerst beabsichtigte ich, im Herbst wieder zur Uni zu gehen und meinen Doktor in viktorianischer Literatur zu machen. Keine Ahnung, was ich damit in der realen Welt anfangen sollte, aber zumindest gäbe mir das Zeit, herauszufinden, was ich eigentlich wollte.

Meiner Mutter hatte ich noch nichts von meinen Plänen erzählt. Wozu sollte ich sie damit behelligen, wenn ihr Traum doch kurz davor war, sich zu erfüllen – ihr einziges Kind verheiratet, und dazu gut verheiratet, zu sehen. Was nun meinen Verlobten James betraf … dem hatte ich auch noch nichts erzählt. Erst einmal wollte ich meine Möglichkeiten an den hiesigen Instituten prüfen. Wenn das erledigt war, würde ich es ihm – vor der Hochzeit – schon erzählen. Er hätte nichts dagegen. Schließlich erwartete er nicht, dass ich nur daheim herumsaß und ihm den Haushalt führte. Nicht, wenn ich das nicht selber wollte. Und das tat ich ganz bestimmt nicht.

Als ich mit dem Aufräumen fertig war, ging ich zum Haupteingang hinaus, und der Lärm der Stadt prasselte mit einem Mal auf mich ein. Das Quietschen von Rädern und das Knurren der Motoren. Der Gestank von Auspuffgasen und die Ausdünstungen von gebratenem Schweinefleisch. Das Flackern der Farben – bunte Hemden, Neonschilder, blendend blauer Himmel.

Unser Hausarzt schrieb meine Überempfindlichkeit, die wirklich alle meine Sinne betraf, meiner Kindheit zu: aufgewachsen in einem ruhigen Haus in der ebenso ruhigen Vorstadt. Aber auch Jahre in der Stadt schienen sie nicht zu lindern. Wenn ich eine verkehrsreiche Straße betrat, wurde ich von dem Anblick, den Geräuschen und Gerüchen jedes Mal beinahe erschlagen, und mein Gehirn schlug Purzelbäume, als würde es versuchen, alldem einen Sinn abzuringen. Ich hatte gelernt, damit umzugehen – es war schließlich ein Teil meines Lebens. Gewöhnlich ließ es gleich wieder nach, genau wie jetzt. Also atmete ich einmal tief durch und ging zum Fitnessstudio.

Der Fotograf wich zurück in den schattigen Durchgang, als die junge Frau sich näherte. Kaum war sie auf einer Höhe mit ihm, hob er seine Kamera und drückte den Auslöser, schoss lautlos Foto um Foto.

Erstaunlich, wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte.

02

»Hast du ein Glück, dass ich dich liebe«, flüsterte ich, während ich mich hinüberbeugte. »Denn anderenfalls wäre ich schon so was von weg von diesem Ort.«

Er lächelte sein strahlendes Lächeln, bei dem jede Frau am Tisch in Verzückung geriet. James Morgan, Geschäftsführer des am schnellsten wachsenden Hightech-Unternehmens von ganz Chicago und Sohn eines ehemaligen Senators, zeichnete sich vielleicht nicht durch umwerfende Schönheit aus, dafür aber durch dieses Lächeln, das ihm drei Jahre nacheinander einen Platz auf der Liste der begehrtesten Junggesellen von Chicago eingetragen hatte. Zu schade, dass er nächstes Jahr kein Junggeselle mehr sein würde. Nun ja, schade für alle anderen.

»Nur noch eine Stunde«, wisperte er. »Penny ist angewiesen, mich dann wegen einer dringenden Angelegenheit anzurufen.«

Gut. In der Rangfolge der Wohltätigkeitsdinner war dieses reichlich durchschnittlich, was bedeutete, dass es irgendwo zwischen ungemütlich und unerträglich rangierte. Der Anlass war dagegen großartig: der Wiederaufbau von New Orleans. Das Essen war ebenso gut – kreolisch und offenbar von jemandem zubereitet, der etwas davon verstand, was hieß, dass es so sehr gewürzt war, dass die älteren Gäste es nicht annähernd so sehr zu schätzen wussten. Das meiste blieb auf den Tellern liegen, was mich dazu verleitete, mich in dem Meer der Tische umzublicken und im Kopf durchzurechnen, wie viele Bäuche man in manchen Vierteln von Chicago mit all den verschwendeten Lebensmitteln wohl füllen könnte. Zumindest hatten die Gäste ein stattliches Sümmchen für das Essen hingelegt, ob sie es nun verschmäht hatten oder nicht, und darum ging es schließlich bei der ganzen Geschichte.

James’ Vater war gebeten worden, an diesem Abend eine Rede zu halten, aber das würde James für ihn übernehmen. In letzter Zeit tat er dergleichen häufig, denn sein Vater war inzwischen so betagt, dass die Organisatoren ziemlich verwundert – und vermutlich enttäuscht – wären, würde James senior tatsächlich in Erscheinung treten.

Folglich war nun James der Ehrengast, was es mit sich brachte, dass jeder am Tisch seine Bekanntschaft machen wollte und er nicht das ganze Essen damit zubringen konnte, mit seiner Verlobten zu plaudern. Während er also der Reihe nach mit jedem der Anwesenden parlierte, unterhielt ich die übrigen. Alle paar Minuten glitt seine Hand über mein Bein, manchmal als anzügliche Streicheleinheit, meist aber nur als Klaps oder sanfter Druck, der mich daran erinnern sollte, wie sehr er meine Gegenwart schätzte.

Endlich wurde das Dessert serviert, Doberge Cake, eine Spezialität aus New Orleans: ein halbes Dutzend Schokoladenbiscuit-Schichten, die abwechselnd mit Schoko- und Zitronenpudding bestrichen waren. Das Mahl kam mit diesem Gang zum Ende, und die Gespräche bekamen jetzt einen verzweifelten Unterton.

»Also, wie haben Sie zwei sich kennengelernt?«, fragte die Frau zu meiner Linken.

»Ihre Familien kennen sich schon länger«, antwortete ein Mann auf der anderen Seite des Tisches, ehe ich irgendetwas sagen konnte. »Mills & Jones Kaufhäuser, James Mills Morgan und Olivia Taylor-Jones.« Mit selbstgefälliger Miene lehnte er sich zurück, ganz so, als hätte er gerade eine geheime – und ein wenig anrüchige – Verbindung aufgedeckt.

»Unsere Großväter haben das Unternehmen gegründet«, erklärte James. »Meine Familie hat unseren Anteil zwar noch vor meiner Geburt an Livs Dad verkauft, aber unsere Familien treffen sich immer noch mehrmals im Jahr. Liv war immer dabei. Und hat sich meist Ärger eingebrockt.«

Eine Runde pflichtschuldiges Gelächter.

Die Frau zu meiner Linken tätschelte meinen Arm. »Ich wette, Sie waren schon immer heimlich in ihn verliebt.«

»Äh, nein«, antwortete James. »Sie musste erst siebzehn werden, um sich auch nur an meinen Namen zu erinnern.«

»Aber nur, weil du deinem Cousin so ähnlich siehst«, verteidigte ich mich.

»Der fünfzehn Zentimeter kleiner ist als ich und fünfzig Pfund schwerer.« James wandte sich den anderen Gesprächsteilnehmern zu. »Sagen wir einfach, Livs absolutes Desinteresse hat mein Ego in Schach gehalten.«

»Du warst schließlich älter«, bemerkte ich und fügte dann hastig hinzu: »Also eine Nummer zu groß.«

»Gerade noch die Kurve gekriegt, Liebling. Die Wahrheit ist, dass ich mich, als sie endlich alt genug war, mich überhaupt wahrzunehmen, gerade von einem unbeholfenen Jugendlichen in einen langweiligen Geschäftsmann verwandelt hatte. Liv bevorzugt Jagdflieger.«

Ich prustete los. »Er war Computertechniker bei der Luftwaffe.«

»Immerhin nah dran. Der Punkt ist, sie war nicht leicht zu umwerben. Ich habe feindliche Übernahmen lanciert, die einfacher waren.«

Nach dem Essen hielt James seine Rede und verknüpfte sie mit einem leidenschaftlichen Appell an alle, noch mehr zu spenden. Ich würde ja behaupten, dass es eine großartige Ansprache war, aber das wäre arrogant, bedenkt man, dass ich sie selbst geschrieben hatte. Natürlich könnte ich darauf verweisen, dass ein Masterabschluss in viktorianischer Literatur mich kaum dazu qualifizierte, Reden über zeitgenössische Katastrophen zu schreiben, doch das tat ich nie. Wenn ich James heiraten sollte, würde ich mehr sein als nur schmückendes Beiwerk.

Ich hatte nie beabsichtigt, so jung zu heiraten. Eigentlich weiß ich nicht recht, ob ich überhaupt zu heiraten beabsichtigt hatte. Meine Eltern hatten ein großartiges Verhältnis zueinander gehabt, aber, na ja, es hat ihnen an dem gemangelt, was ich für eine Partnerschaft als grundlegend erachte. Nämlich an der Partnerschaft. Dad hatte sich ums Geschäft gekümmert, Mom ihre Wohltätigkeitsprojekte verfolgt. Getrennte Welten. James hat mich dagegen in den geschäftlichen Teil seines Lebens von Anfang an mit einbezogen, was ich an ihm zu schätzen wusste. Wenn er mich also bat, ihm eine Rede zu schreiben, dann tat ich das.

Also würde ich mich auch jetzt darauf beschränken zu sagen, dass seine Rede wirklich gut angekommen war. Scheckbücher wurden gezückt. Und während das geschah, bahnte sich James mit mir an seiner Seite einen Weg durch das Gedränge. Dann, so schnell, dass ich kaum wusste, wie mir geschah, waren wir schon in einem rückwärtigen Korridor.

»Ich glaube, zur Party geht es da entlang.«

»Und deswegen gehen wir hier entlang. Du hast ausgesehen, als könntest du eine kleine Pause brauchen.« Er schob mich schwungvoll in eine Nische. »Und ich wollte dir für die Rede danken. Perfekt, wie immer.«

Er drückte mich mit dem Rücken an die Wand, und seine Lippen legten sich in genau der Art von inbrünstigem, hungrigem Kuss auf meine, aufgrund der ich vor einem Jahr zu dem Schluss gekommen war, dass James Morgan erheblich interessanter war, als er aussah.

Als ich schließlich dringend Sauerstoff brauchte, löste ich mich von ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Falls du mir angemessen danken möchtest – mir ist aufgefallen, dass der Ostflügel abgesperrt wurde.«

Er lachte leise. »Darf ich fragen, wie dir das auffallen konnte, obwohl wir doch zur Westtür hereingekommen sind?«

»Ich bin eben ein flatterhaftes Wesen und streife gern herum.«

Er grinste noch breiter, ließ die Hände zu meinem Hinterteil sinken, zog mich an sich und küsste meinen Hals.

»Aber das sollte vielleicht besser warten«, sagte ich. »Du bist Ehrengast, da wäre es unanständig …«

»Ich bin gern unanständig.«

Er stellte mich wieder auf die Füße, und wir huschten durch den Korridor in Richtung Ostflügel.

Ich lehnte mit dem Rücken an der Wand, den Rock hochgeschoben, die Beine immer noch um ihn gewickelt.

»Ich muss eindeutig mehr Reden schreiben«, stellte ich fest.

Heiseres Lachen. »Ich muss definitiv mehr Gelegenheiten finden, die es erforderlich machen, dich um eine Rede zu bitten.«

Wir ruhten uns aus. Es war friedlich hier – die weißen Wände, die fernen Stimmen, die sich zu einem monotonen Gemurmel vermischten, der würzige Duft seines Aftershaves, der nun nicht mehr in der Übelkeit erregenden Mixtur aus Parfüm und leichteren Düften im Raum vorher unterging. Ich verbarg mein Gesicht an seinem Hals, atmete tief ein und entspannte mich.

Dann küsste er mein Haar. »Da wir gerade bei Reden sind …«

Ich hob den Kopf. Er korrigierte seinen Stand und ließ mich vorsichtig runter.

»Ich muss dich etwas fragen.« Er räusperte sich. »Das ist nicht so ganz die Art, wie ich das eigentlich geplant hatte. Ich dachte, ich lade dich zu einem noblen Abendessen ein und stelle dir die Frage …«

»Oh, oh. Dass der Sex gut genug war, um eine temporäre Amnesie auszulösen, schmeichelt mir ja, aber wir sind bereits verlobt.«

Er lächelte. »Ja, ich weiß. Das ist eine andere Art von Antrag, aber auf seine Weise genauso erschreckend. Neil Leacock kam heute zu mir. Der ehemalige Wahlkampfleiter meines Dads … Er – sie – das ganze Team und seine Anhängerschaft – wollen, dass ich darüber nachdenke, mich zur Wahl zu stellen.«

Es dauerte einen Moment, bis ich meine Stimme wiederfand. »Als Junior Senator?«

»Ja, aber nicht sofort. Sie wollen warten, bis ich fünfunddreißig bin. Vorerst wollen sie nur, dass ich schon mal anfange, die passende Richtung einzuschlagen, damit sie mich in Ruhe aufbauen können.« Mit beiden Händen umfasste er mein Gesicht. »Ich wollte dich damit nicht erst nach der Hochzeit überraschen, Liv. Mir ist klar, dass du von einem Leben voller endloser Ansprachen und Abendveranstaltungen wohl nicht so begeistert wärst.«

Ich, eine Senatorengattin? Wirklich, ich hätte schwören können, dass ich hören konnte, wie die Falle um mein Bein zuschnappte. Um meine Reaktion zu verbergen, lehnte ich mich bei James an.

Entspann dich. Sag gar nichts. Du brauchst Zeit, um darüber nachzudenken. Spiel jetzt erst mal einfach mit.

Es dauerte einen Moment, aber dann kramte ich ein Lächeln hervor, das geeignet war, James zu täuschen. Ich hatte während des Bachelorstudiums immerhin Schauspiel im Nebenfach belegt. Meine Dozenten hatten immer gesagt, ich sei ein Naturtalent. Was nicht so überraschend war. Manchmal kam ich mir vor, als würde ich mein ganzes Leben nur spielen.

Ich strahlte ihn an. »Mit anderen Worten, kein Sex mehr in abgelegenen Korridoren?«

»Äh, nein … eigentlich hatte ich gehofft, ich könnte dir die ganze Geschichte etwas schmackhafter machen, wenn ich dir mehr Sex in abgelegenen Korridoren verspreche.«

Ich legte die Arme um seinen Hals. »Wenn du zu so problematischen Zugeständnissen bereit bist, kann ich vermutlich auch welche machen.«

»Und das ist problematisch.«

»Das weiß ich, und ich nehme es einfach mal als gegeben an.«

Er lachte und küsste mich.

03

Wir hatten es gerade zurück zu der Veranstaltung geschafft, als mein Mobiltelefon piepste. Meine Mutter hasste Kurznachrichten, aber wenn die Alternative lautete, dass ich etwas tun müsste, was so grob unhöflich war wie das Telefonieren während eines Wohltätigkeitsdinners, machte sie gelegentlich eine Ausnahme.

Ich muss dich sprechen, Olivia. Kommst du nach dem Essen nach Hause? Mom ließ sich nie dazu herab, etwas Konkretes auf diesem Wege zu besprechen.

»Was gibt es?«, fragte James.

»Mom will mit mir über irgendetwas reden.«

»Dann wirst du heute nicht mit zu mir kommen?«

»Sorry, aber du weißt ja, wie sie ist.«

Als mein Vater gestorben war, war ich gerade aus dem College nach Hause zurückgekommen und wollte eigentlich in eine eigene Wohnung ziehen. Doch dann brauchte meine Mutter mich daheim. Damit hatte ich gerechnet. Nicht gerechnet hatte ich mit den endlosen verzweifelten Anrufen, mit denen sie mich nötigte, jeden problematischen Ball abzuwehren, den das Leben ihr zuwarf. Letzte Woche hatte sie mich um zwei Uhr nachts in James, Wohnung angerufen und nach Hause beordert, weil sie daheim »etwas gehört« hatte. Wie sich herausstellte, hatte sich ein Waschbär auf der hinteren Veranda herumgetrieben. Ich hätte weit mehr Verständnis für meine Mutter aufgebracht, wäre die Haushälterin nicht gerade eine Treppe unter ihr gewesen. Wie in jeder Nacht, die ich bei James verbrachte.

Wir hatten bereits Vorkehrungen getroffen, damit die Haushälterin nach meiner Hochzeit dauerhaft bei meiner Mutter im Haus wohnen konnte, und wir hatten beschlossen, einen Vollzeitchauffeur anzuheuern, der zugleich als Wachmann dienen konnte. Trotzdem war ich noch lange nicht davon überzeugt, dass das reichen würde.

»Na los«, sagte James. »Ich schicke dir einen Wagen zum Hinterausgang. Soweit ich gehört habe, ist vorne irgendwas los.«

»Proteste?«

Er schüttelte den Kopf. »Nur ein paar Paparazzi. Anscheinend ist irgendeine prominente Persönlichkeit hier.«

Dann griff er zu seinem Mobiltelefon, hielt aber noch einmal inne. »Ist es dir denn recht, hinten rauszugehen? Ich meine, das ist nicht die Tür, durch die du reingekommen bist.«

Ich bedachte ihn mit einem finsteren Blick.

»Sorry«, sagte er grinsend. »Ich wollte nur sichergehen, weil ich durchaus weiß, dass das Unglück bringt …«

»Einmal«, fiel ich ihm ins Wort und reckte einen Finger hoch. »Das war ein einziges Mal, und du sorgst dafür, dass ich es nie vergesse, obwohl wir da gerade unsere Verlobung mit einer Flasche Cristal gefeiert hatten und ich die Tür kaum finden konnte.«

»Und als wir auf Cozumel waren und du darauf bestanden hast, die Kissen umzudrehen, damit wir keine Albträume bekommen?«

»Tequila.«

»Alkohol ist dafür nicht verantwortlich. Der offenbart nur dein bezaubernd abergläubisches Wesen.«

Ich wusste selbst nicht, woher ich diesen ganzen Aberglauben hatte. Vielleicht von einer Kinderfrau. Und es war wirklich Alkohol nötig – in größerer Menge –, damit ich etwas davon erwähnte. James fand es bezaubernd. Mir jedoch blieb in solchen Momenten nur, so schnell wie möglich das Thema zu wechseln, was ich folglich auch jetzt tat.

Zwanzig Minuten später glitt ich auf die lederbezogene Rückbank des Wagens und fühlte mich inzwischen etwas unwohl. James wollte also als Senator kandidieren. Das hätte ich kommen sehen müssen. Wir hatten gerade angefangen, uns häufiger zu treffen, da hatte ich ihn schon gefragt, ob er vorhabe, seinem Dad in die Politik zu folgen. Er hatte gelacht, mir aber keine richtige Antwort gegeben, und ich hatte nicht nachgehakt. Weil ich es nicht gewagt hatte. Damals war ich gerade dabei gewesen, mich in James Morgan zu verlieben, und ich hatte nichts hören wollen, was dem im Wege hätte stehen können.

Ich konnte in eine Menge Rollen schlüpfen. Aber ob ich eine Politikergattin spielen konnte? Das würde ich vielleicht für ein oder zwei Monate schaffen. Aber Jahre? Womöglich ein Leben lang? Bestimmt nicht. Schließlich war ich in diesen Kreisen aufgewachsen. Daher wusste ich, was so eine Position mit sich brachte. Was von mir erwartet werden würde. Und das konnte ich einfach nicht. Das war, als hätte ich mich als Sanitäterin verkleidet und wäre urplötzlich zur Leiterin der Chirurgie befördert worden.

Als der Wagen Richtung Vorstadt fuhr, rief ich James an.

»Ich gehe zurück an die Uni«, sagte ich, kaum dass er sich gemeldet hatte.

Lange Pause. Dann: »Du gehst …?«

»Zurück an die Uni. Um zu promovieren. Im Herbst, wenn möglich.«

»Okay.«

Das war alles, was er sagte. Okay. Mein Puls wurde langsamer.

»Wo kommt dieser Plan plötzlich her?«, fragte er.

»Darüber denke ich schon eine ganze Weile nach. Ich wollte es dir erzählen, sobald ich Genaueres weiß, aber jetzt, nach deiner Neuigkeit …« Ich holte tief Luft. »Da wollte ich mit meinen Plänen auch nicht hinterm Berg halten. Ich möchte wirklich zurück zur Uni und meinen Doktor in Englischer Literatur machen.«

»Okay.«

Erleichtert schloss ich die Augen und lehnte mich zurück.

»Da spricht nichts dagegen, Liv. Wie ich schon sagte, es wird noch ein paar Jahre dauern, bis ich kandidiere. Bis dahin werde ich dich nicht Vollzeit beanspruchen.«

Ich riss die Augen auf. »Aber ich gehe aus beruflichen Gründen zurück an die Uni. Ich will meine eigene Laufbahn einschlagen.«

»Mit einem Doktor in Englischer Literatur?«

»Ja. Mit einem Doktor in Englischer Literatur«, blaffte ich.

»Entschuldige«, sagte er. »Natürlich kannst du etwas damit machen. Vielleicht kannst du ja schreiben.«

»Schreiben?«

»Krimis. Ich weiß doch, dass du Krimis liebst. Du könntest der nächste Arnold Conan Doyle werden.«

Ich unterdrückte das Verlangen, ihn zu korrigieren. Arthur Conan Doyle war das Thema meiner Masterarbeit gewesen. James hatte seit dem College keinen Roman mehr gelesen, aber als er von meinem Studienschwerpunkt erfahren hatte, hatte er gleich zwei Bände Sherlock Holmes gelesen, nur für mich.

»Belletristik zu schreiben ist nicht so mein Ding«, entgegnete ich.

»Sei nicht so bescheiden, Liv. Du wärst eine tolle Schriftstellerin.«

Eigentlich hatte ich damit sagen wollen, dass ich an einer solchen Laufbahn nicht interessiert war. Ich wollte rausgehen und etwas tun, keine Geschichten darüber erzählen, was andere Leute taten. Aber wenigstens hatte er begriffen, dass ich einen Job brauchte. Das war immerhin ein Anfang.

Als wir beide kurz danach aufgelegt hatten, lehnte ich mich wieder entspannt zurück. Ich hatte überreagiert. Selbst wenn er sich zur Wahl stellte, hieß das noch lange nicht, dass er auch gewinnen würde. Außerdem war das alles sowieso erst in fünf Jahren so weit. Haufenweise Zeit für mich, um ihn davon zu überzeugen, dass das nicht der richtige Weg für uns war.

Ich war völlig in Gedanken versunken, als der Fahrer mich fragte: »Ist es das, Miss?«

Durch die Seitenscheibe sah ich das vertraute Tor zu unserem Zuhause. Zugeschnittene blühende Sträucher milderten die abweisende Wirkung des Zauns. Das war der Stil meiner Mutter. Dad hatte immer gesagt, wenn dir die Botschaft, die so ein wuchtiger Zaun sendet, nicht behagt, dann solltest du verdammt noch mal auch keinen aufstellen.

»Ja, das ist es.«

»Hübsch.«

Tatsächlich war unser Haus, gemessen an der Nachbarschaft, recht bescheiden. Der Fahrer gab sich jedoch beeindruckt, was bedeutete, dass ich ihm zusätzlich zu dem Standardtrinkgeld auf James’ Rechnung noch eine großzügige Zuwendung in die Hand drücken musste, wollte ich vermeiden, dass er sich über das »knausrige Mills-&-Jones-Gör« beklagen würde.

Während der Fahrer noch mit seinem Papierkram beschäftigt war, ging ich zur Haustür. Der schwere Duft des Flieders schwebte vorbei, und ich nahm mir einen Moment Zeit, um ihn zu genießen. Das war ein Geruch, der Erinnerungen an Gartenpartys und nächtliches Schwimmen wachrief.

Ich schaute zum Himmel hinauf. Es war ein perfekter Maiabend, warm und klar. Und es war noch früh genug, um eine Runde zu schwimmen, sofern es mir gelang, das Problem meiner Mom schnell genug zu lösen. Vielleicht konnte ich sie sogar überzeugen, mit mir in den Pool zu springen, wenn ich versprach, meinen Badeanzug zu tragen.

Ich wühlte immer noch nach meinem Schlüssel, als unser Familienanwalt schon die Tür aufriss und mich mehr oder weniger ins Haus zerrte, was keine leichte Aufgabe für einen Mann war, der aussah wie Ichabod Crane und so blass und ausgezehrt war, dass er bereits einen Schweißausbruch hatte, wenn er nur eine Treppe hinaufsteigen musste.

»Howard?«, sagte ich und entzog mich seufzend seinem Griff. »Lassen Sie mich raten. Der Vorstand möchte Moms Meinung zu irgendwas hören, und sie dreht durch. Wie oft haben wir denen schon gesagt, sie sollen sie in Ruhe lassen?«

»Das ist es nicht. Es ist … eine persönliche Angelegenheit, Olivia.«

Meine Mutter erschien auf der Schwelle zum Arbeitszimmer.

»Olivia«, sagte sie mit ihrem schwachen britischen Akzent. »Ich hoffe, du hast deinen Abend wegen meiner Nachricht nicht vorzeitig beendet.«

»Nein«, log ich. »James musste weg, und ich wollte ohne ihn auch nicht bleiben.«

Normalerweise hätte sie mich dafür gelobt, die gesellschaftlich betrachtet korrekte Entscheidung getroffen zu haben, was bei mir nicht immer zum Standard gehörte. Aber nun nickte sie nur geistesabwesend. Und sie sah erschöpft aus. Ich ging zu ihr, um sie in die Arme zu nehmen, aber sie hastete in diesem Moment zur Haustür und kontrollierte das Schloss.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Komm mit ins Wohnzimmer.«

Während ich ihr den Flur hinunterfolgte, klingelte es, und als ich mich umdrehte, konnte ich im Verandalicht die Silhouette einer Person mit einer Mütze erkennen.

»Der Fahrer ist wieder da«, murmelte ich. »Was habe ich dieses Mal im Wagen liegen lassen?«

Meine Mutter seufzte. »Du musst wirklich besser aufpassen.«

»Ich weiß, ich weiß.«

Als ich die Hand nach der Klinke ausstreckte, hastete Howard herbei.

»Olivia, wenn Sie gestatten …«

»Schon dabei.«

Ich öffnete die Tür und sah nicht den Fahrer vor mir, sondern einen Mann in mittleren Jahren, der einen Filzhut trug. Gleich hinter ihm war eine Frau mit einer Kamera.

»Eden«, sagte der Mann. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

04

Ich hob die Hände, um mein Gesicht abzuschirmen, als der Blitz einer Kamera aufflammte.

»Hier gibt es keine Eden«, sagte ich. »Sie müssen sich in der Adresse geirrt haben.«

»Nein, habe ich nicht.« Er hob das Aufnahmegerät. »Sagen Sie, Miss Larsen, wie fühlt es sich an, die verloren geglaubte Tochter von Amerikas berüchtigtstem …«

Howard knallte die Tür zu und schloss hastig ab.

»Was …?«, setzte ich an. »Hat der gerade gesagt, was ich glaube, dass er gesagt hat?«

Howard zog den Vorhang vor dem gläsernen Seitenteil der Haustür zu. Ehe ich meine Mutter fragen konnte, ob wir vielleicht eine Nachbarin namens Eden hatten, sagte sie zu mir: »Ich muss mit dir reden, Olivia.«

»Okay«, erwiderte ich und ließ mich von ihr ins Wohnzimmer führen. »Ignorieren wir eben die Irren vor der Tür. Was ist los?«

Howard blieb an der Schwelle stehen. Ich setzte mich auf das Zweiersofa und klopfte auf den Platz neben mir, aber sie war schon auf dem Weg zu »ihrem« Sessel – einem wirklich hübschen antiken Stück, das so stramm gepolstert war, dass es sich anfühlte, als würde man auf einem Felsen sitzen. Den Zweisitzer konnte sie dagegen nicht leiden. Er passte zu nichts in dem ganzen Raum. Aber er war bequem, und in einigen meiner frühesten Erinnerungen hatte ich mich auf diesem Sofa neben Dad zusammengerollt, während er mir etwas vorgelesen hatte.

»Was ist los?«, wiederholte ich.

»Da gibt es etwas, das ich dir sagen muss. Etwas, das wir dir vermutlich schon vor Jahren hätten sagen sollen.«

»Okay …«

Einen Moment lang schwieg sie, um dann herauszuplatzen: »Du bist adoptiert.«

»Ich bin …?«

Sie nickte. Sprach das Wort nicht noch einmal aus. Nickte nur.

Ich starrte sie an. Das konnte nicht sein. Schließlich sah ich genauso aus wie meine Eltern. Alle sagten das: Ich hatte das aschblonde Haar und die grünen Augen meiner Mutter und die Größe, den breiten Mund und das markante Kinn von meinem Dad.

»Hast du gerade wirklich gesagt, ich sei … adoptiert?«

Ich wartete darauf, dass sie mich jetzt verwirrt anstarren würde. Vielleicht sogar in Gelächter ausbrach. Denn das konnte sie doch auf keinen Fall gesagt haben.

Aber stattdessen saß sie mindestens fünf Sekunden wie erstarrt da, ehe sie erneut nickte.

Der Reporter vor der Tür kam mir in den Sinn. »Dann hat der sich gar nicht in der Adresse geirrt. Jemand hat herausgefunden, dass ich adoptiert wurde, und es der Presse verraten. Du wolltest mich warnen, ehe jemand vor unserer Haustür steht.«

Wieder nickte sie.

»Und jetzt sagen die, ich sei die Tochter von Amerikas berüchtigtstem … was Schauspieler? Rockstar? Politiker? Oh Gott, bitte sag mir, es ist kein Politiker.«

Sie sagte gar nichts. Während wir schweigend dort saßen, kamen ihre Worte allmählich richtig in meinem Kopf an. Wen interessierte es, wessen Kind ich war? Ich war das Kind von jemandem anderen. Nicht ihres. Nicht Dads.

»Es tut mir leid«, sagte sie endlich. »So hättest du das nicht erfahren sollen.«

»Nein, hätte ich nicht.«

Ich sah sie an, und der Schock ebbte ab. Schmerz trat an seine Stelle, harter, wütender Schmerz. »Du hattest überhaupt nicht die Absicht, mir je zu erzählen, dass ich adoptiert wurde, bis du dazu gezwungen warst.«

Howard trat näher. »Olivia, Ihre Eltern konnten keine eigenen Kinder bekommen, darum haben sie beschlossen, einem Kind in Not ein wunderbares und liebevolles Zuhause zu schaffen.«

»Ich stelle ihre Motive gar nicht infrage«, erwiderte ich. »Was mir zu schaffen macht, ist, dass sie mir vierundzwanzig Jahre lang nichts davon erzählt haben.«

»Eigentlich einundzwanzig. Sie …« Howard brach ab, und seine eingefallenen Wagen liefen rot an. Dann räusperte er sich und trat zurück. »Es tut mir leid. Das geht mich wirklich nichts an.«

»Ohne Scheiß«, murmelte ich.

Meine Mutter ermahnte mich nicht einmal, ich solle meine Zunge hüten, wie sonst immer. Sie zuckte mit keiner Wimper.

»Also bin ich gar nicht vierundzwanzig?«, fragte ich.

»Doch«, entgegnete meine Mom. »Nur warst du kein Säugling mehr, als wir das Sorgerecht für dich bekamen. Du warst etwas älter als zweieinhalb. Ich wollte ein Krabbelkind. Alle wollen Babys, dabei gibt es so viele ältere Kinder, die ein Zuhause brauchen.«

Und es war sicher auch viel einfacher, unter den etwas älteren Kindern eines zu finden, das euch ähnlich sieht. Scham regte sich am Rande meines Zorns und sagte mir, dass ich unfair sei.

Ohne ein Wort zu sagen, saßen wir beisammen, ganz still. Aber ich wollte keine Stille. Ich wollte wüten und brüllen und mit allem um mich werfen, das in meiner Reichweite war.

Und ich wollte Dad. Wäre er hier, dann könnte ich wüten und brüllen und Sachen herumwerfen. Er hätte nichts anderes von mir erwartet. Solange Mom mich jedoch mit ihrem besorgten Blick fixierte, konnte ich mir keinen Tobsuchtsanfall leisten. Aber schweigend dazusitzen tat weh. Körperlich.

»Okay«, sagte ich schließlich, »ich bin also nicht deine Tochter …«

»Natürlich bist du das. Sei nicht so melodramatisch, Olivia. Ich wollte das nur geheim halten, weil ich mir Sorgen darüber gemacht habe, wie andere dich behandeln könnten. Wenn man so ein privilegiertes Leben führt, wollen die Menschen einfach glauben, man hätte es nicht verdient. Ich hatte eine jüngere Cousine, die adoptiert war, und alle haben sich ihr gegenüber immer verhalten, als würde sie nicht dazugehören. Dein Vater musste mir schwören, dass dir so etwas niemals passieren würde.«

»Also schön.« Rasselnd holte ich tief Luft, und der Atem brannte in meiner Lunge. »Aber jetzt ist es raus, und die Presse macht eine große Sache daraus. Muss wohl ein Sauregurkentag sein. Wir werden mit einer Erklärung dagegenhalten müssen. Ich nehme an, du weißt, wer meine richtigen Eltern sind?«

Stille. Ich sah meine Mom an. Dann Howard. Beide wichen meinem Blick aus.

»Also wisst ihr es«, konstatierte ich. »Ihr wollt nur nicht, dass ich es weiß, weil ich womöglich Kontakt zu ihnen aufnehmen könnte. Tja, offensichtlich weiß aber die Presse auch Bescheid, also werdet ihr …«

»Das ist es nicht«, fiel mir meine Mom ins Wort. »Weder dein Vater noch ich hatten die geringste Ahnung, wer deine biologischen Eltern waren, als wir dich adoptiert haben. Ich habe es erst heute Abend herausgefunden. Laut Howard …« Sie warf ihm einen hastigen Blick zu, »… hat dein Vater die Wahrheit allerdings bereits vor zwei Jahren erfahren und beschlossen, sie uns beiden vorzuenthalten.«

»Er hat eine Menge dafür bezahlt, sie von Ihnen fernzuhalten«, fügte Howard hinzu.

Mom nickte, und beide schauten mich erwartungsvoll an, ganz so, als sollte ich mich dankbar zeigen, während ich nur dachte: Mein Dad hat Schweigegeld bezahlt, um etwas vor mir zu verheimlichen. Mein Dad. Der mich nie verhätschelt hatte. Mich nie vor den dunkleren Seiten des Lebens abgeschirmt hatte. Und dafür hatte ich ihn geliebt. Und dieser Mann soll Schweigegeld bezahlt haben? Nein, unmöglich. Nicht mein Vater, der schon Zeter und Mordio geschrien hatte, als ich mich einmal dafür eingesetzt hatte, gegenüber jugendlichen Ladendieben im Geschäft Milde walten zu lassen.

»Ich … ich verstehe kein Wort«, sagte ich nach einer Weile.

Howard übernahm an dieser Stelle: »Ihr Vater war das Opfer eines Erpressers, der inzwischen anscheinend erkannt hat, dass er noch mehr Geld kassieren kann, wenn er die Geschichte einfach den Online-Boulevardmagazinen verkauft.«

Mehr Geld, als er meiner vermögenden Familie abnehmen konnte? Das musste ja eine Wahnsinnsstory sein.

Es fiel mir schwer zu schlucken, weil ich einen Kloß im Hals hatte. »Wer sind meine biologischen Eltern?«

Für einen Moment musterte Howard meine Mutter, flehte sie stumm an, mir zu antworten. Als sie das nicht tat, räusperte er sich vernehmlich. »Pamela und Todd Larsen. Die Namen werden Ihnen wahrscheinlich nichts sagen …«

»Ich weiß, wer das ist.« Geflüsterte Worte, hervorgepresst aus einer Lunge, die kollabiert zu sein schien, so als hätte mich ein schwerer Golfschläger an der Brust erwischt.

»Sagten Sie …?«, fing Howard an.

»Ich weiß, wer das ist. Jeder weiß, wer die sind.«

Tiefe Atemzüge. Ein und aus. Nicht denken. Nur atmen.

Ich verlagerte meinen Blick auf meine Mutter. Sie schaute weg.

Sie schaute weg.

Oh Gott. Meine eigene Mutter konnte es nicht ertragen, mich anzusehen.

»Also ist …« Ich schüttelte den Kopf und wandte mich an Howard. »Nein, die behaupten, dass das meine Eltern wären. Es ist aber nur ein Gerücht. Das muss erst bewiesen werden. Ich muss eine DNS-Probe abliefern, damit sie mit den Akten dieser … Leute abgeglichen werden kann.«

Howard schüttelte den Kopf. »Meinen Sie nicht, Ihr Vater hätte diesen Beweis bereits eingefordert, als er davon erfahren hat? Der Erpresser hat Testergebnisse geliefert, und das hat ihm noch nicht gereicht. Ihr Vater hat eines Ihrer Haare aus Ihrer Bürste genommen und ein unabhängiges Labor beauftragt, Ihre DNS anhand der Proben, die im Zuge des Verfahrens genommen wurden, mit der der Larsens zu vergleichen. Es steht zweifelsfrei fest. Das sind Ihre biologischen Eltern.«

»Das hat nichts zu bedeuten, Olivia«, schniefte meine Mutter. »Du bist unsere Tochter. Nicht ihre.«

Nicht die Tochter von Pamela und Todd Larsen. Nicht das Kind dieser … Oh Gott! Mir drehte sich der Magen um.

»Ich … ich brauche eine Minute«, ächzte ich und rannte hinaus.

05

Die Namen werden Ihnen wahrscheinlich nichts sagen.

Na klar. Niemand, der im Mittleren Westen lebte, hatte je von Pamela und Todd Larsen gehört.

Eheleute. Serienmörder.

Ich war die Tochter zweier Soziopathen.

Voller Entsetzen starrte ich meinen Laptop an. Ja, ich wusste zwar, wer die Larsens waren, aber viel mehr auch nicht. Das sollte ich ändern.

Aber wozu?

Sie waren Mörder. Verurteilte Serienmörder. Wollte ich mich wirklich mit Details ihrer Taten herumquälen? Oder hoffte ich vielleicht, dass es gar nicht so schlimm war, wie ich gehört hatte? Oh, sie haben nur sechs Leute umgebracht, nicht acht, wie ich gedacht hatte. Na, das ist ja dann gar nicht so schlimm.

Ich wandte mich von meinem Laptop ab.

Es klopfte an der Tür. »Olivia?«

Als ich nicht reagierte, ging meine Mutter wieder, und ich lag alleine da und überlegte, ob sie wirklich gewollt hatte, dass ich die Tür öffne. Oder ob sie nur deshalb raufgekommen war, weil das nun einmal von einer Mutter erwartet wurde.

Ich dachte daran, wie sie sich unten verhalten hatte. Sie hatte einen ängstlichen Eindruck gemacht, und ich hätte mir gern gesagt, sie wäre meinetwegen besorgt gewesen, aber dann fiel mir ein, wie sie vorhin ausgewichen war, als ich sie zur Begrüßung hatte umarmen wollen. Und wie ich auf den freien Platz auf dem Zweisitzer geklopft hatte … und zuschauen musste, wie sie stattdessen zu ihrem Sessel ging.

Belastende Beweise, wenn man außer Acht ließ, dass unsere Beziehung nie sonderlich innig gewesen war. Dad war derjenige, der sich immer mit mir auf den Zweisitzer gekuschelt hatte. Mein Dad, der mich stets so ungestüm umarmt und huckepack genommen hatte, der mich hochgehoben und durch die Luft gewirbelt hatte, noch lange, nachdem ich zu groß geworden war, um so herumgewirbelt zu werden. Meine Mutter war lieb und fürsorglich. Sie war nur distanziert gegenüber jedem. Erzogen, ihre Liebe auf andere Art zu zeigen.

Ich ging in mein Badezimmer und drehte das kalte Wasser am Waschbecken auf, um mich damit ein bisschen aufzurütteln und wieder in die Spur zu bringen. Als ich das Handtuch ins Wasser hielt, blickte ich auf und sah meine Reflexion im Spiegel, und ich erstarrte. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich nicht die angenehme Mischung aus Arthur Jones und Lena Taylor. Ich sah …

Panisch riss ich mich von meinem eigenen Anblick los, zerrte mir das Kleid vom Leibe, trat in die Dusche, drehte das Wasser auf und duschte so heiß, wie ich es aushalten konnte.

Als ich fertig war, mied ich den Spiegel. Mein Kleid ließ ich achtlos auf dem Badezimmerboden liegen und schnappte mir lieber die Jeans und den Pulli, die ich davor getragen hatte. Dann ging ich in mein Zimmer zurück, um mir frische Unterwäsche und Socken zu holen. Vor der Kommode blieb ich stehen.

Hier gab es keinen Spiegel, nur Reflektionen anderer Art: Fotos, die sich in nicht zusammenpassenden Rahmen auf der Kommode drängelten. Das Durcheinander machte meine Mutter wahnsinnig. Ständig rückte sie die Bilder zurecht und versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Meine Fotos. Aufzeichnungen meines Lebens. Von allem, was wichtig war. Nana, die vor vier Jahren gestorben war, die einzige Person aus der Generation der Großeltern, die ich überhaupt gekannt hatte. Der Vater meines Dads war schon lange tot, und das Interesse, das meine Großeltern mütterlicherseits mir entgegengebracht hatten, war nie über die üblichen alljährlichen Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke hinausgegangen. Unpersönliche Gaben für ein Kind, das sie nicht kannten.

Ein Kind, das sie überhaupt nicht kannten, wie mir nun klar wurde. Früher hatte man mir erzählt, meine Eltern und ich hätten in England gelebt, bis ich drei gewesen war. Dann sei mein Großvater gestorben, und Dad habe zurückkehren müssen, um das Geschäft zu übernehmen. Was aber nicht stimmte. Die Larsens waren Amerikaner. Also hatten meine Eltern mich erst adoptiert, als sie bereits wieder hergezogen waren. Eine bequeme Methode, um so zu tun, als wäre ich ihr leibliches Kind. Nur war ich das nicht. Und die Familie meiner Mutter wusste das und wollte deshalb nichts mit mir zu tun haben.

Erneut betrachtete ich die Fotos. Meine Eltern waren häufiger abgebildet als jeder andere, aber nicht häufiger, als ich selbst auf den Fotos auftauchte, die sie überall im Haus verteilt hatten. Wir drei, die perfekte kleine Familie.

Es gab auch Fotos von Freunden. Kindheitsfreunde, Collegefreunde. Keine beste Freundin – ich hatte nie das Bedürfnis nach so etwas verspürt und Quantität der Qualität vorgezogen. Ob das etwas zu bedeuten hatte? Zeigte es womöglich meine Unfähigkeit, echte, enge, freundschaftliche Bindungen einzugehen?

Mein Blick glitt über die Bilder auf der rechten Seite. Die neuesten Bilder. Alle anderen waren ein wenig zur Seite gerückt, um Platz für eine neue Phase in meinem Leben zu schaffen.

James.

Hastig ging ich zum Schreibtisch und schnappte mir mein Handy. Ich wollte gerade die Kurzwahl drücken, als ich innehielt.

Wie würde er reagieren?

Dann schüttelte ich den Kopf. Hatte ich ernsthaft Zweifel? Es würde nicht leicht werden, aber wir würden das durchstehen. Doch zuerst musste ich es ihm sagen, ehe es jemand anderes tun konnte.

Also drückte ich die Taste. Der Anruf landete allerdings direkt auf seiner Mailbox.

Ich kontrollierte die Uhrzeit. Kurz nach Mitternacht. Wahrscheinlich war er schon zu Bett gegangen, also hinterließ ich eine Nachricht und sagte ihm, dass ich ihn sprechen müsse. Dann legte ich auf und trat ans Fenster.

Vor dem tintenschwarzen Hintergrund des wolkenlosen Himmels leuchtete ein Halbmond, umgeben von funkelnden Sternen. Ich öffnete das Fenster. Eine sanfte Brise wehte herein, angefüllt mit dem Geruch von Holzfeuer aus dem Nachbargarten, in dem jenseits der Hecke immer noch der schwache Gluthauch eines heruntergebrannten Feuers erkennbar war.

Eine herrliche Nacht für ein Feuer. Und auch eine herrliche Nacht, um schwimmen zu gehen, während der Mondschein sich kräuselnd im Pool spiegelte. Das könnte ich immer noch tun. Vielleicht sollte ich es tun. Durch das kühle Wasser fliegen, spüren, wie es über mich hinwegspülte und alles andere mit sich nahm.

Dann legte ich die Finger an das Glas. Licht blitzte im Garten auf. Blinzelnd schirmte ich die Augen ab und starrte hinaus. Noch ein Lichtblitz. Und noch einer. Das Stakkato der Kameraverschlüsse. Ich zerrte so grob an den Vorhängen, dass sich schließlich die Vorhangstange halb löste. Schließlich ließ ich sie einfach hängen, lief zum Bett und ließ mich hineinfallen.

»Olivia?« Meine Mutter war wieder an der Tür. »Da draußen sind Leute. Noch mehr Presse.«

Ich setzte mich auf und warf instinktiv einen Blick in den Spiegel, um mich zu vergewissern, dass ich ruhig und gefasst aussah. Als ich aber mein Spiegelbild erblickte, verkrampfte sich mein Magen so heftig, dass ich zusammenzuckte.

»Olivia? Ich weiß, das ist ein Schock für dich, aber du musst dich der Sache stellen.«

Ich musste mich stellen? Nicht einmal wir?

Tief holte ich Luft und glaubte, die Stimme meines Dads nach seinem Herzinfarkt zu hören. Als er gewusst hatte, dass er im Sterben lag.

Sie ist nicht wie wir beide, Livy. Sie ist es einfach nicht. So unfair das sein mag, du wirst für zwei stark sein müssen. Schaffst du das?

»Ist Howard noch da?«, rief ich.

»Ja.«

»Sag ihm, ich bin in einer Minute unten. Wir …«

Das Klirren zerbrechenden Glases unterbrach mich.

Sofort riss ich meine Tür auf. Dann war ein dumpfer Schlag im Erdgeschoss zu hören. Ich schob meine Mutter hinter mich, um sie mit meinem Körper abzuschirmen.

»Howard?«, schrie ich.

»Sie sind hier eingebrochen«, wimmerte meine Mutter. »Oh mein Gott, sie sind eingebrochen!«

»Das sind Journalisten, Mom, kein Lynchmob. Ganz egal, wie dringend sie die Story haben wollen, sie würden nicht einbrechen, um sie zu kriegen. Bleib einfach ruhig.«

Ich ging in Richtung Treppe.

Sie packte meinen Arm. »Lass mich hier nicht allein.«

»Okay, dann bleib direkt hinter mir …« Verdammt, das würde auch nicht funktionieren. Zwar war ich mir sicher, dass wir es nicht mit einer Invasion verrückter Paparazzi zu tun hatten, doch wollte ich meine Mutter nicht mit hinunternehmen, solange ich nicht wusste, was da wirklich los war.

»Howard?«, rief ich vom Kopf der Treppe.

Er tauchte am Fuß auf. »Sie haben eine Scheibe in der Balkontür zur Veranda zerbrochen.« Seine Miene wirkte gelassen, aber seine Stimme zitterte. »Ich glaube, das war ein Versehen. Sie haben sich gegenseitig angerempelt, um ein Foto zu machen, und dann ist die Scheibe zerbrochen.«

»Okay, und haben Sie die …?«

Gebrüll von unten. So laut und deutlich, dass ich erstarrte.

»Sind die im Haus?«