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Camp - Queerfeldein führt auch ein Weg E-Book

L.C. Rosen

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Beschreibung

Der sechzehnjährige Randy Kapplehoff freut sich schon sehr auf die Sommerferien in Camp Outland, einem Ferienlager für queere Teenager. Dort hat er seine besten Freunde kennengelernt. Dort stand er zum ersten Mal in einem Musical auf der Bühne. Und dort hat er sich in Hudson Aaronson-Lim verliebt. Allerdings steht Hudson nur auf maskuline Macho-Jungs, der sensible, exzentrische Randy ist für ihn so gut wie unsichtbar. Dieses Jahr soll jedoch alles anders werden: Randy hat sich als Del neu erfunden. Del ist muskulös, männlich und Single - und fest entschlossen, Hudsons Herz zu gewinnen, auch wenn das bedeutet, dass er auf Musicals, Nagellack und seine Einhorn-Bettwäsche verzichten muss. Als er und Hudson sich tatsächlich näherkommen, muss sich Randy jedoch fragen, ob er wirklich bereit ist, sich im Namen der Liebe selbst zu verleugnen. Kann es überhaupt wahre Liebe sein, wenn Hudson gar nicht weiß, wer und wie er wirklich ist? Und weiß er tatsächlich so viel über Hudson, wie er glaubt?

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Seitenzahl: 477

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L.C. ROSEN

CAMP

QUEERFELDEIN FÜHRT AUCH EIN WEG

Aus dem Amerikanischen von Julia Schwenk

Über das Buch

Der sechzehnjährige Randy Kapplehoff freut sich schon sehr auf die Sommerferien in Camp Outland, einem Ferienlager für queere Teenager. Dort hat er seine besten Freunde kennengelernt. Dort stand er zum ersten Mal in einem Musical auf der Bühne. Und dort hat er sich in Hudson Aaronson-Lim verliebt. Allerdings steht Hudson nur auf maskuline Macho-Jungs, der sensible, exzentrische Randy ist für ihn so gut wie unsichtbar.

Dieses Jahr soll jedoch alles anders werden. Randy hat sich als Del neu erfunden. Del ist muskulös, männlich und Single. Und fest entschlossen, Hudsons Herz zu gewinnen, auch wenn das bedeutet, dass er auf Musicals, Nagellack und seine Einhorn-Bettwäsche verzichten muss.

Als er und Hudson sich tatsächlich näherkommen, muss sich Randy jedoch fragen, ob er wirklich bereit ist, sich im Namen der Liebe selbst zu verleugnen. Kann es überhaupt wahre Liebe sein, wenn Hudson gar nicht weiß, wer und wie er wirklich ist? Und weiß er tatsächlich so viel über Hudson, wie er glaubt?

Über den Autor

Lev Rosen schreibt Bücher für Leser:innen aller Altersgruppen. Sein Buch »Camp« wurde unter anderem von Forbes, Elle und The Today Show als bestes Buch des Jahres ausgezeichnet und für zahlreiche Preise nominiert. Er lebt mit seinem Mann und einer sehr kleinen Katze in New York City.

Die englische Ausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Camp« bei Little, Brown.

Deutsche Erstausgabe Mai 2022

 

© der Originalausgabe: L.C. Rosen

© für die deutschsprachige Ausgabe 2022:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Steinbach-Hallenberg

 

Published by arrangement with Little, Brown and Company,

New York, New York, USA. All rights reserved.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Silke Weniger, 82166 Gräfelfing.

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form,

sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs

unter Verwendung von Motiven von lauritta, blackday

Grafiken im Innenteil: Agus, dmaryashin, alle Adobe Stock

Illustration: MDI Digital

 

Lektorat: Meike Blatzheim

Korrektorat: Daniela Dreuth

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

ISBN: 978-3-98906-013-5

 

www.second-chances-verlag.de

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Danksagung

Für Robin – wo du bist, ist Sommer

KAPITEL 1

Als ich aus dem Bus steige, hüllt mich der vertraute Geruch ein wie die Umarmung eines alten Freunds. Dieser würzige, erdige Duft, unter den sich etwas Frischeres mischt. Etwas Grünes, das mich sofort an Blätter im Regen und Bäume im Wind erinnert. Wie ich diesen Geruch liebe, jeden Sommer aufs Neue. Der Duft der Freiheit. Nicht die Art Freiheit aus einer Viagra-Werbung, in der ein Kerl oben ohne in seinem Kajak zu sehen ist. Die ist für Heteros. Das hier ist anders. Die Art Freiheit, bei der es niemanden interessiert, ob man seine Worte mit klischeehaften Gesten untermalt. Die Art Freiheit, bei der man sich nicht anhören muss, wie zwei ältere Jungs am Nebentisch beim Mittagessen darüber lachen, wie »megaschwul« etwas ist.

Neben dem Parkplatz stehen einige Tische, über denen ein großes Banner hängt: WILLKOMMEN IN CAMP OUTLAND.

Ich muss allerdings zugeben, dass es dieses Jahr ein bisschen anders riecht als sonst. Vielleicht nicht ganz so frei. Aber das war mir bewusst, als ich mich entschlossen habe, meinen Plan in die Tat umzusetzen. Das hier – ein bisschen weniger Kiefer, ein bisschen mehr Gras, ein Hauch Gänseblümchen, was ich mir vielleicht aber auch nur einbilde – ist der Duft der Liebe. Hoffe ich.

»Weitergehen, weitergehen!«, ruft Joan, die Leiterin des Camps uns zu, während wir den Bus verlassen, in dem wir die letzten Stunden verbracht haben. Sie schwenkt die Arme wie ein Verkehrspolizist. »Die Tische sind nach Altersgruppen sortiert. Lasst euch am richtigen eintragen.«

Ich suche nach dem Tisch mit der Nummer sechzehn und reihe mich in die Schlange davor ein, wobei ich mir durch die ungewohnt kurzen Haare streiche. Bis vor zwei Tagen waren sie noch kinnlang, was mir echt gut gestanden hat, wenn ich das mal so sagen darf. Aber sie mussten weichen, damit ich meinen Plan in die Tat umsetzen kann.

Die Schlange rückt auf und dann stehe ich am Tisch und sehe auf Mark hinunter, den Theaterlehrer – meinen Lehrer. Er dürfte so um die vierzig sein, mit ergrauten Schläfen und Haut, die für einen weißen Kerl ein bisschen zu gebräunt ist. Heute trägt er ein Poloshirt mit Camp-Outland-Logo, eine große Fliegersonnenbrille und eine Anstecknadel, auf der in regenbogenfarbenen Glitzerbuchstaben THEATER-SCHWULER zu lesen ist. Das wird der große Test.

Mark schaut zu mir auf, und einen kurzen Augenblick habe ich den Eindruck, dass er mich erkennt, doch dann kneift er verwirrt die Augen zusammen.

»Wie heißt du, Schätzchen?«, fragt er.

Ich lächle. Nicht mein übliches, breites Lächeln – ich habe daran gearbeitet, das abzulegen. Jetzt ist es mehr ein schiefes Grinsen.

»Randall«, antworte ich. »Randall Kapplehoff.«

»Randy?«, entfährt es ihm überrascht. Er steht auf und mustert mich von oben bis unten. »Oh mein Gott, was ist denn mit dir passiert?«

»Pubertät«, erwiderte ich und lächle nun doch richtig. Dann schaue ich mich hastig um und kehre zu meinem schiefen Grinsen zurück.

»Schätzchen, du warst letztes Jahr schon ein Bariton. Das hat nichts mit der Pubertät zu tun«, meint Mark. »Ich erkenne dich ja kaum wieder.«

Gut, denke ich bei mir. Das war ja auch Sinn der Sache.

»Mir war einfach nach Veränderung«, entgegne ich.

»Wurdest du gemobbt?«, fragt er und mustert mich besorgt über den Rand seiner Sonnenbrille hinweg.

»Nein.« Ich schüttle den Kopf. »Ich … wollte einfach mal was Neues ausprobieren.«

»Okay …« Mark setzt sich wieder. »Neu ist das auf jeden Fall. Zum Casting fürs Musical kommst du aber hoffentlich trotzdem?«

»Mal sehen.«

Er runzelt die Stirn und blättert durch die Seiten auf seinem Klemmbrett. »Na, immerhin wohnst du noch bei uns. Du bist in Hütte sieben.« Er nimmt ein Namensschild von der Rückseite des Klemmbretts und bevor ich ihn daran hindern kann, schreibt er ein großes R darauf.

»Del, bitte«, erkläre ich und strecke eine Hand aus.

Erneut schaut er mich über seine Sonnenbrille hinweg an. »Del?«

»Ja.« Ich nicke und achte darauf, dabei das Kinn vorzuschieben. »Ich heiße jetzt Del.«

»Okay«, sagt er, als würde er mir nicht recht glauben, schreibt dann aber Del auf einen neuen Aufkleber und reicht ihn mir.

Ich drücke ihn mir auf die Brust und reibe ein paarmal darüber, damit er besser hält.

»Das muss ich später mit meinem Therapeuten besprechen«, murmelt Mark zu sich selbst. Dann wirft er einen Blick auf seine Armbanduhr, bevor er sich noch einmal an mich wendet: »Das Camp trifft sich um elf am Fahnenmast. Also such dir ein Bett aus und komm in zwanzig Minuten dorthin.«

»Danke.«

»Bis später … Del.«

Ich gehe zurück zum Bus, wo unser Gepäck bereits ausgeladen wurde, und sammle den großen Seesack ein, den ich mir online bei einem Militärshop bestellt hatte. Der lila Rollkoffer mit Stickern krönchentragender Katzen wäre diesen Sommer nicht das Richtige gewesen. Und ich wollte auch auf keinen Fall von meinen Eltern hergebracht werden. Ich glaube, das hat sie ein bisschen traurig gemacht. Mich in Camp Outland anzumelden, war ihre Idee, als ich mich vor vier Jahren geoutet habe. Nicht viele zwölfjährige Jungs schwärmten damals für den wahnsinnig süßen Skylar Astin aus »Pitch Perfect 2« und hofften, dass ihr zukünftiger Freund aussehen würde wie er. Also dachten sie, es würde mir guttun, andere queere Teenager kennenzulernen. Camp Outland war perfekt dafür – ein vierwöchiges Sommerferienlager für LGBTQIA+-Jugendliche mitten in den Wäldern im Norden Connecticuts.

Und ehrlich: Die Idee war fantastisch. Jeder Sommer war besser als der davor gewesen. Aber dieser wird der beste werden. Denn diesen Sommer wird sich Hudson Aaronson-Lim in mich verlieben.

Ich schultere meinen Seesack, zucke nicht zusammen, als der kratzige, billige Stoff mein Ohr streift, und folge den anderen den Pfad entlang in den Wald.

Das Camp verteilt sich auf mehrere terrassenartige Ebenen. Vom Parkplatz ganz oben führt eine Treppe hinunter zum Verwaltungsbereich – dem Büro der Campleiterin Joan, der Krankenstation und dem großen Versammlungsraum, in dem Filmabende stattfinden. Von dort aus geht es weitere Stufen hinunter zu einer großen Fläche, an deren Rand die Hütten stehen. Noch weiter unten befindet sich die letzte Ebene – das richtige Camp – mit dem Speisesaal, dem Pool, der Theaterhütte, einem Hindernisparcours, dem Spielfeld für Fahnenraub, der Kunsthütte und einem Bootshaus am Fluss.

Ich bleibe auf der mittleren Ebene stehen. Hinter den Hütten kommt nur noch Wald. In der Mitte der Wiese steht ein Fahnenmast, an dem sich alle regelmäßig treffen und abends Lagerfeuer machen. Frühstück gibt es um neun, Mittagessen um eins und Abendessen um sechs, bevor um zehn das Licht ausgeht. Ansonsten können wir uns unseren Tag ziemlich frei einteilen.

Man kann sich fürs Schwimmen im Pool, verschiedene Sportarten und Wasserski eintragen oder einfach in der Kunsthütte vorbeischauen und den ganzen Tag lästern und Freundschaftsbändchen knüpfen. Aber mein Lieblingsort ist die Theaterhütte.

Jedes Jahr organisiert Mark eine Show zum Abschluss des Camps, und man muss vorsprechen, um mitmachen zu dürfen. Aber anders als in der Schule bekommt nicht immer automatisch das hübsche, blonde Mädchen die Hauptrolle. Im Camp sind Geschlecht und Aussehen egal. Wir sollen einfach Spaß haben, und das klappte auch jedes Jahr. Letzten Sommer habe ich Domina in »Toll trieben es die alten Römer« gespielt und Standing Ovations für meinen grandiosen Auftritt mit »That Dirty Old Man« bekommen.

Aber dieses Jahr wird es kein Theater geben. Dieses Jahr ist … Sport angesagt. Ich schaffe es sogar, bei diesem Gedanken nicht zu erschaudern.

»Hey«, ertönt auf einmal eine Stimme hinter mir.

Eine, die ich kenne. Sie ist tief und ein bisschen rauchig. Ich drehe mich um, und da steht er. Hudson Aaronson-Lim in all seiner Pracht. Groß, muskulöse Arme, um die sich der Stoff seines weißen T-Shirts spannt, und ebenso appetitliche, muskelbepackte Beine in schwarzen Sportshorts. Er hat ein breites, kantiges Gesicht mit markanten Wangenknochen und ein bisschen Bartschatten. Seine kurzen, schwarzen Haare sind zu einer Seite gekämmt, aber nicht besonders ordentlich, so, als wäre ihm total egal, wie er aussieht. Er ist zweifellos der attraktivste Kerl, den ich je im echten Leben gesehen habe. Und attraktiver als die Hälfte der Männer im Fernsehen.

Sein Lächeln ist der absolute Wahnsinn, und genau das lässt er jetzt auf mich los, ein bisschen schief und hintergründig, aber nur gerade so viel, dass es sexy ist. In seiner Nähe fühle ich mich, als wäre ich voller Sterne und könnte alles sein, alles tun, was ich will, und die Welt erobern. Ihm auf Instagram zu folgen ist nicht das Gleiche. Dieses Hoch habe ich das ganze letzte Jahr über vermisst.

»Hi«, erwidere ich nach einer etwas zu langen Pause. Hoffentlich bin ich nicht rot geworden.

»Bist du neu?«, fragt er.

Ich grinse schief. Bisher hat er mich kaum wahrgenommen, also ist es kein Wunder, dass er mich nicht erkennt. Aber jetzt habe ich seine Aufmerksamkeit.

»Könnte man so sagen«, antworte ich, weil ich ihn nicht anlügen will.

Er kommt näher. Mein Outfit habe ich für genau diesen Moment ausgesucht. Ein braun-kariertes Flanellhemd mit kurzen Ärmeln, das ich nicht in die Hose gesteckt habe, olivgrüne Shorts und gelbe Sneaker, die das Gelb im Stoff des Hemds aufgreifen. Außerdem habe ich gut zehn Kilo abgenommen, eine neue Frisur und sorgfältig die »Bros« in der Schule studiert. Jetzt bin ich, glaube ich, Hudsons Traummann. Eine maskuline Fantasie. Na gut, ich muss ständig aufpassen, wie ich mich verhalte, und ich kann dieses Jahr nicht beim Musical mitmachen, aber für die Liebe bringt man doch gerne Opfer.

Sein Duft steigt mir in die Nase, als er noch näher kommt – eine Mischung aus Deo und Ahorn. Ich muss mich zusammenreißen, damit mir die Knie nicht weich werden.

»Ich bin Hudson«, stellt er sich vor.

»Del«, entgegne ich und achte darauf, dass meine Stimme tief genug klingt.

»In welcher Hütte bist du?« Er steht jetzt direkt neben mir, und ich kann die Wärme spüren, die von seinem Körper ausgeht. Merkt er das auch, als würden wir uns berühren?

»Sieben.«

»Oh.« Er zieht eine Augenbraue nach oben. »Hast du dir die ausgesucht?«

»Ist meine Glückszahl.«

»Ich bin in der Vierzehn«, meint er. »Vielleicht bringt dir die Sieben dieses Mal kein Glück.«

»Stimmt was nicht damit?«, erkundige ich mich.

»Nee, die sind nett«, versichert er mir. »Aber wahrscheinlich hättest du mehr Spaß mit mir … in meiner Hütte. Das sind Leute wie wir.« Er deutet zwischen uns hin und her, und in der Geste scheint beinahe die Frage mitzuschwingen, ob da was zwischen uns laufen könnte. Ich muss tief durchatmen, um nicht sofort zu nicken.

»Na ja, ich schlaf ja nur da.«

»Ja.« Er lacht und packt mich kurz freundschaftlich an der Schulter. Das ist das erste Mal, dass er mich absichtlich berührt, und ich habe mir das schon so lange gewünscht, dass es mir schwerfällt, nicht auf der Stelle dahinzuschmelzen. Stattdessen schaue ich ihm in die Augen und lächle ihn an.

Denk dran, ermahne ich mich, du willst, dass er sich in dich verliebt. Wenn ich nur mit ihm vögeln wollte, könnte ich das vermutlich sofort haben – aber ich werde der Erste sein, mit dem Hudson richtig zusammen ist. Das hat noch keiner geschafft, aber ich werde es. Weil ich einen Plan habe.

»Na dann«, sagt er und nimmt die Hand wieder weg. Seine Augen verengen sich ein wenig, als wäre er neugierig. »Dann sehen wir uns hoffentlich.«

»Hoffe ich auch«, erwidere ich, was ihn zum Grinsen bringt.

Einen Moment lang frage ich mich, ob das vielleicht zu viel war, aber als ich mich umdrehe und in Richtung meiner Hütte gehe, beschließe ich, dass ich genau das richtige Maß erwischt habe. Nach ein paar Schritten schaue ich über die Schulter, und tatsächlich, er beobachtet mich noch immer und lächelt, als er meinen Blick auffängt, bevor er zu seiner eigenen Hütte geht.

Okay, rede ich mir gut zu und gehe langsam weiter. Einatmen, ausatmen. Meine Beine fühlen sich an wie Gummi, mein Herz rast. Okay. Okay, okay, okay. Schritt eins erledigt. Es hat funktioniert. ES HAT FUNKTIONIERT. Möglicherweise wird mein Plan ja wirklich aufgehen? Dann hätte es immerhin einen Sinn gehabt, dass ich auf Kohlenhydrate verzichtet, mir eine neue Frisur verpasst und Stunden damit verbracht habe, meinen Gang zu verändern und mir abzugewöhnen, die Hände beim Sprechen so viel zu bewegen. Oder in jeden Satz ein Musical-Zitat einzubauen. Vielleicht kann ich meinen Traummann tatsächlich für mich gewinnen.

Als ich die Hütte betrete, entfährt George ein Aufschrei. »OH MEIN GOTT!«, ruft er und umarmt mich fest. »Ich hab gerade aus dem Fenster geguckt und hätte dich beinahe nicht erkannt – ich meine, ich hab ja die Fotos auf Snapchat gesehen und weiß, was du mir geschrieben hast, Darling, aber ich hätte nicht gedacht, dass du das mit den Klamotten und dem Stil echt durchziehst.« Er streichelt durch die Luft, wo früher einmal meine Haare waren. »Die armen Haare. Aber du hast gerade mit ihm geredet, und er hat so was von deinen Hintern abgecheckt, als du weggegangen bist! Hast du gemerkt, wie sich der Blick aus seinen dunklen, sexy Augen in dich gebohrt hat?« Er wackelt mit den Augenbrauen.

»Hey«, begrüßt mich Ashley, die auf einem der oberen Stockbetten liegt und in einem Comic blättert.

Ich lasse meinen Seesack fallen und atme theatralisch aus. »Ich glaube, es wird funktionieren.«

George quietscht schon wieder so schrill, dass jede Dragqueen stolz auf ihn wäre.

Grinsend mustere ich die beiden. Meine beiden besten Freunde im Ferienlager. Meine besten Freunde überhaupt. Ist ganz schön traurig, wenn man das über Menschen sagt, mit denen man nur vier Wochen im Jahr verbringt, aber die restliche Zeit mailen und chatten wir miteinander und schauen zusammen »Drag Race« mit Gruppenchat. Ich habe halt keine anderen queeren Freunde. An meiner winzigen Schule im Osten Ohios gibt es nicht mal einen Gay-Straight-Alliance-Club. Bestimmt gibt es noch andere, die vielleicht sogar wie ich ein bisschen geoutet sind – so vor ein paar wenigen Freunden und ihren Eltern –, aber keiner spricht drüber. Wenn man sich erst mal outet, haben plötzlich alle eine Meinung dazu, und in Ost-Ohio sagen sie dann nicht nur nette Dinge.

Meine Veränderung ist auch an der Schule nicht unbemerkt geblieben. Ich gehe immer noch zur Theatergruppe (immer in Neben-, nie in der Hauptrolle – dort zumindest nicht), aber plötzlich fingen die Mädchen an, mich mit anderen Augen zu sehen und fragten mich, ob ich mit ihnen abhängen wollte. Ich tat oft so, als wäre ich krank. Und auch meine Eltern warfen mir komische Blicke zu und fragten, ob alles okay sei, aber ich lächelte nur und versicherte ihnen, dass alles in bester Ordnung sei. Es fühlte sich auf jeden Fall seltsam an. Aber wenn ich nach den Ferien zurückkomme und das Hintergrundbild meines Smartphones Hudson und mich zeigt, wie wir miteinander knutschen, war es die Mühe wert.

»Also«, fragt George schließlich, als er mit dem Quietschen fertig ist. »Wie sieht der Plan aus? Du verbringst doch trotzdem noch Zeit mit uns, oder? Mark hat gesagt, dass wir dieses Jahr ›Bye Bye Birdie‹ aufführen werden, und ich bin schon so aufgeregt! Darling, dir ist schon klar, dass ich alle aus dem Weg räumen werde, die zwischen mir und der Rolle als Kim stehen? Also versuch’s gar nicht erst.«

George spreizt die Finger und präsentiert seine grün lackierten Nägel, auf denen in Goldbuchstaben BCAMP @ CAMP steht – sei theatralisch im Camp, wie passend. Während des Schuljahrs war ich so auf meine eigenen körperlichen Veränderungen konzentriert, dass ich seine auf Snapchat und Instagram gar nicht mitbekommen habe. So anders sieht er auf den ersten Blick auch gar nicht aus. Er ist immer noch »kräftig«, wie wir uns nennen (oder in meinem Fall genannt haben), aber sein Gesicht wirkt ein bisschen kantiger, auf seinen Wangen zeigen sich Bartstoppeln, und aus dem V-Ausschnitt seines violetten Shirts lugt Brusthaar hervor. Das verleiht ihm definitiv mehr Reife. Seine lockigen, schwarzen Haare trägt er immer noch an den Seiten abrasiert und auf dem Kopf mit viel Volumen, aber jetzt sieht es weniger wie ein Kinderhaarschnitt aus, sondern mehr nach Mann. Plötzlich ist er nicht mehr der Kleine, der zu jung für sein Alter wirkt, sondern sieht älter als wir anderen aus. Und es steht ihm gut.

Ashleigh dagegen hat sich kein bisschen verändert. Die gleichen Jeans-Shorts, das gleiche schwarz-weiß-karierte Hemd, das sie sich über einem schwarzen Tanktop um die Hüfte gebunden hat. Der gleiche, etwas ungepflegte Undercut, eine Seite des Kopfs rasiert, während ihr auf der anderen die ungewaschenen Haare in das schmale, blasse Gesicht hängen. Sie ist der ultimative Theater-Techie. Licht, Ton, Bühnenaufsicht – sie macht das alles besser als jeder andere.

»Ich weiß noch nicht, ob ich beim Musical mitmachen kann«, sage ich und versuche, nicht so traurig zu klingen, wie ich mich fühle.

»Darling, nein«, protestiert George. »Ich weiß, dein Plan und so, aber fürs Theater ist doch immer Zeit!« Er vollführt eine Runde Jazz Hands.

Ashleigh schaut von ihrem Comic auf, einer zerlesenen Ausgabe von »Deadly Class«. »Du gibst das Theater für diesen Kerl auf?«, will sie wissen. »Im Ernst?«

»Das ist der Plan«, gebe ich zurück. »Und er ist nicht irgendein Kerl. Er ist Hudson. DER Hudson. Der perfekte Mann.«

In diesem Moment kommen einige andere alte Freunde in den Schlafraum – andere Theaterleute. Wir begrüßen uns, umarmen uns und ein paar kommentieren lobend meine neue Frisur.

Jordan stutzt sichtlich und meint dann: »Wow, ich hab dich gar nicht erkannt. Ist aber ein cooler Look.« Xier wirft mir noch einen leicht besorgten Blick zu, bevor xier sich ein Bett aussucht.

Ich nehme das neben George, unter Ashleigh.

»Bei der neuen Frisur hab ich angenommen, dass du lieber oben liegen willst«, zieht George mich auf.

»Reg dich ab, es sind nur Haare.«

»Und kein Theater«, wirft Ashleigh ein.

»Was willst du denn den ganzen Sommer über machen?«, fragt George.

»Wahrscheinlich Sport«, antworte ich, auch wenn ich selbst noch nicht weiß, welchen genau. »Hindernisparcours oder so. Vielleicht auch Kunst und Werken.«

»Wenigstens das bleibt uns noch«, meint George.

»Ich versteh’s einfach nicht, Randy«, sagt Ashleigh. »Also schon, dass du in den Kerl verknallt bist, aber …«

»Das ist mehr als nur ein bisschen Verknalltsein«, erkläre ich. »Bei ihm fühle ich mich … anders. Er ist was Besonderes.«

Ashleigh seufzt, und ich sehe, wie George zu ihr nach oben schaut und einen Blick mit ihr austauscht.

»Und nennt mich bitte Del«, füge ich noch hinzu. »Zumindest in der Öffentlichkeit.«

»Del«, probiert George gleich aus. »Gar nicht so übel.«

»Finde ich schon«, erwidert Ashleigh. »Das ist nicht dein Name.«

»Das ist der andere Teil von Randall.« Ich hole meine Bettwäsche aus dem Seesack – grau dieses Jahr, nicht regenbogenfarben mit Einhornaufdruck wie sonst – und beziehe mein Bett. »Keine Sorge. Ich vergesse nicht, wer ich bin. Ich ändere nur was an der Art, wie andere mich sehen.«

»Um maskuliner zu wirken«, gibt Ashleigh angewidert zurück. Sie hüpft von ihrem Bett und hilft mit, die Ecken meines Lakens festzustecken. »Als wenn das irgendeine Bedeutung hätte. Gender-essenzialistischer Schwachsinn.«

»Es ist halt ein Typ«, entgegnet George schulterzuckend.

»Hudson steht drauf.« Ich setze mich auf mein frisch gemachtes Bett und streiche den grauen Bezug glatt. Immerhin ist er qualitativ hochwertig. Er sieht vielleicht anders aus, fühlt sich aber gleich an.

»Und du bist dir sicher, dass es das wert ist?«, fragt Ashleigh.

»Voll und ganz.«

KAPITEL 2

Wir versammeln uns im Halbkreis um den Fahnenmast und Joan, die konzentriert auf ihr Klemmbrett schaut. Dabei macht sie wie immer diese Sache mit ihrem Mund, bei der sie die Lippen spitzt. Ich sitze zwischen George und Ashleigh. Zum Glück kann ich noch mit ihnen befreundet sein – das wird dem Plan nicht schaden. Wenn Hudson ein Problem mit ihnen hat, ist er nicht der Kerl, für den ich ihn halte. Einer, der denkt, dass jeder von uns was Besonderes ist und alles erreichen kann. Dass George, Ashleigh und ich alte Freunde sind, weiß er natürlich nicht, aber das ist auch egal. Außerdem brauche ich die Hilfe der beiden.

Ich entdecke Hudson auf der anderen Seite des Halbkreises, wo er neben seinem besten Freund Brad sitzt und mir zuwinkt, als er meinen Blick bemerkt. Brad ist groß, schlaksig, hat dunkle Haut und sich die Haare abrasiert. Und er steht wie Hudson auf Sport und trägt keinen Nagellack. Eigentlich komisch, dass er nie eine von Hudsons Eroberungen war. Ist wohl so eins der großen Mysterien des Camps – wie die Frage, ob in Hütte Nummer drei wirklich jemand gestorben ist oder warum die Schlafräume nicht nach Geschlechtern getrennt sind, die Umkleiden am Pool aber schon.

»Ihr müsst mir nachher den Baum zeigen«, sage ich zu George und Ashleigh.

»Den kennst du doch«, erwidert Ashleigh. Sie war schon in der Kunsthütte, um sich Garn zu besorgen, mit dem sie jetzt ein Freundschaftsbändchen knüpft.

»Randy war schon da. Del nicht. Del muss sich den Baum anschauen, wenn Hudson es mitkriegt, damit er mich sagen hört, dass ich mit so einem Playboy nie was anfangen würde.«

»Playboy?«, wirft George ein. »Darling, wir sind nicht mehr in den Sechzigern. Das sagt doch keiner mehr.«

»Ich mache mir mehr Sorgen darüber, dass er von sich in der dritten Person spricht und so, als wäre er zwei verschiedene Menschen«, sagt Ashleigh.

»Das macht es mir leichter, mich reinzufinden«, erkläre ich. »Del ist wie eine Rolle, die ich spiele.«

»Method Acting.« George klingt angewidert. »Okay, okay, ich helfe dir – aber keine Ahnung, wie du es anstellen willst, dass Hudson uns belauscht.«

»Bring mich einfach zum Baum, wenn ich dich darum bitte, okay?«

»Aufgepasst, alle zusammen!« Joan hebt eine Hand, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. »Hebe ich die Hand …«, ruft sie.

»… halten wir den Rand!«, antwortet ihr etwa die Hälfte der Anwesenden.

Ein paar reden noch weiter, doch Joan hält einfach die Hand hoch, bis alle still sind.

»Danke«, sagt sie.

Joan sieht immer aus, als bekäme sie nicht genügend Schlaf. Sie ist so um die fünfzig, hat kurze, lockige Haare und eine große Brille mit Plastikrahmen, die wahrscheinlich schon seit den Siebzigern an einer Kette um ihren Hals hängt. Dazu trägt sie immer ein violettes Camp-Poloshirt und Cargoshorts.

»Hallo, und willkommen in Camp Outland«, begrüßt sie uns mittelmäßig enthusiastisch. Ihr Lächeln würde vermutlich breiter ausfallen, wenn sie die Energie dazu hätte. »Ich bin Joan Ruiz und ich leite das Camp. Ich bin außerdem für die LGBTQIA+-Geschichtsstunde am Montagabend zuständig. Abgesehen davon bekommt ihr hauptsächlich dann mit mir zu tun, wenn ihr was anstellt, also lasst uns kurz darüber reden, wie wir das vermeiden. Erstens: keine Handys, keine Computer, keine Smartwatches oder -gürtel oder sonst so neumodischen Kram. In jeder Hütte gibt es Boomboxen, wenn ihr Musik hören wollt, aber darüber hinaus sind technische Geräte nicht erlaubt. Wenn wir euch mit einem eingeschmuggelten Handy oder irgendwas in die Richtung erwischen, bekommt ihr eine Woche Küchendienst und das Gerät wird konfisziert. Zurück bekommt ihr es erst bei der Abreise. Bis dahin wird allerdings der Akku leer sein, was bedeutet, dass ihr nicht direkt ins Internet kommt – und ich weiß doch, wie sehr ihr das wollt. Das bedeutet auch, dass ihr Briefe – richtige, echte Briefe auf Papier – schreiben müsst, wenn ihr mit eurer Familie oder euren Freunden zu Hause reden wollt. Als Nächstes: Essen. Ihr müsst an allen drei Tagesmahlzeiten teilnehmen. Wenn ihr Veganer oder Vegetarier seid oder nur koscher oder halal esst, hättet ihr uns das im Vorfeld mitteilen müssen. Sollte das aus irgendeinem Grund nicht passiert sein, kommt einfach nach dem Treffen zu mir. Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt. So schlimm ist es nicht, versprochen. Ja, ihr dürft euch Süßigkeiten und Snacks von zu Hause schicken lassen, solange die den Regeln entsprechen. Nichts mit Erdnüssen oder Sesam oder etwas anderem, auf das jemand hochallergisch sein könnte. Eure Betreuer geben euch gerne die Liste. Bekommt ihr ein Paket von zu Hause, schaut sich euer Hüttenbetreuer das an, um sicherzugehen, dass nichts Verbotenes drin ist. Lasst kein Essen offen herumstehen! Damit lockt ihr Ameisen an. Und dann noch mehr Ameisen. Und wenn ihr schon um Süßes spielen müsst, dann bitte beim Kartenspiel. Keine Wette, wer sich übergibt, wenn er zu viel davon gegessen hat, oder wer sein Ei beim Eierlauf fallen lässt. Das wäre einfach nur gemein. Kein Alkohol! Wenn wir euch mit Drogen oder Alkohol erwischen, fliegt ihr sofort raus. Das gilt auch, wenn ihr euch während der Nachtruhe draußen aufhaltet.«

Während Joans kleiner Rede rupfe ich ein paar Grashalme ab. Dabei werfe ich Hudson immer wieder verstohlene Blicke zu und bemerke zufrieden, dass er auch zu mir schaut. Einmal sehen wir uns länger an, und ich muss grinsen. Irgendwie geht das vielleicht ein bisschen zu leicht. Ich muss es schaffen, dass er kapiert, dass ich nicht sein nächster Aufriss werde. Das ist nämlich seine Spezialität. Im Camp hat er alle zwei Wochen einen anderen Typen. Eine Woche, in der er mit ihm flirtet, in der zweiten wird Händchen gehalten, und sie treffen sich heimlich an der Peanut Butter Pit. Dann endet das Ganze unausweichlich in einer tränenreichen Trennung.

Freunde bleiben sie trotzdem. Im Freundebleiben ist Hudson ein wahrer Meister. Ergibt auch irgendwie Sinn, weil er wirklich nett zu seinen Typen ist, sie nie betrügt. Es geht einfach nur … auseinander.

Aber ich werde es den anderen Kerlen schon zeigen, weil Hudson nämlich den ganzen Sommer bei mir bleiben wird. Und danach auch. Wir werden ein Paar werden und uns bei dem Kanuausflug am vorletzten Wochenende ein Zelt teilen.

Nachdem Joan ihre kleine Antrittsrede beendet hat, stellt sie den Krankenpfleger Cosmo vor. Der ist unglaublich dürr, Mitte sechzig und hat schulterlange, graue Haare.

»Bleibt einfach alle hübsch gesund«, ermahnt er uns. »Wasser und Sonnencreme. Ihr wisst schon.« Mit einem Winken wendet er sich zum Gehen.

Joan runzelt die Stirn, hisst dann jedoch die riesige Regenbogenflagge, die, oben angekommen, bald im Wind weht. Wir beobachten sie schweigend, aber lächeln dabei. Und ja, an dieser Stelle kommen mir immer die Tränen – aber wer kann es mir verdenken? Das hier ist ein besonderes Zuhause für Leute wie uns. Und da ist er wieder, der Duft der Freiheit, der mich die Augen schließen lässt. Aber dieses Jahr kommen Tränen nicht infrage. Hudson beobachtet mich, und maskuline Jungs heulen nicht in der Öffentlichkeit.

»Okay«, sagt Joan, nachdem sie mit der Fahne fertig ist. »Geht eure Sachen auspacken, und stellt eure Aktivitätspläne mit euren Betreuern zusammen. Danach ist Gruppenzeit, Schwimmen und anschließend Abendessen. Heute Abend haben eure Betreuer eine Talentshow für euch vorbereitet. Zeit für Pride!«

Das ist der offizielle Gruß am Ende der Fahnenmast-Treffen.

Alle stehen auf und gehen zurück zu ihren Hütten, aber ich sehe, dass Hudson sich in meine Richtung bewegt. George und Ashleigh schauen mich erwartungsvoll an.

»Wir sehen uns gleich drinnen«, sage ich, was mir einen missbilligenden Blick von George einbringt, aber die beiden gehen.

»Hey«, meint Hudson, als er schließlich vor mir steht. »Haben die Leute aus deiner Hütte dir schon alles gezeigt?«

»Ja«, erwidere ich. »Sieht alles echt cool aus.«

»Ist es auch. Vor meinem Outing konnte ich mir so was noch nicht mal vorstellen. Keiner beschimpft einen, fragt, ob man denn schon mal versucht hat, hetero zu sein, oder macht einen fertig. Kein Mobbing. Es ist echt toll.«

»Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass dich schon mal jemand fertiggemacht hat«, entgegne ich und mustere ihn von unten bis oben.

»Na ja, nicht mehr. Mein Trick ist, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.«

Keine Ahnung, was er damit meint, aber ich nicke trotzdem.

»Egal, ich wollte dir nur sagen, dass du dich für die Outdoor-Abenteuer eintragen solltest.«

»Ach ja«?

»Ja, mache ich immer. Das ist großartig. Wir dürfen auf den Parcours und gehen wandern und so. Übrigens versuche ich immer, den Schwimmkurs vor dem Mittagessen zu belegen. Wenn du mich in Badehose sehen willst …« Er grinst mit voll aufgedrehtem Charme, was mir einen heißen Schauer über den Rücken und durch den ganzen Körper fahren lässt.

»Okay.«

»Und lass uns doch mal zusammen abhängen – nur wir zwei –, wenn wir Freizeit haben.« Er beißt sich seitlich auf die Unterlippe und guckt mich an, als wäre er irgendwie nervös.

»Ja«, bringe ich ein bisschen zu hoch heraus.

»Cool. Dann bis später.«

Ich schaue ihm hinterher, wie er davonjoggt, und spüre mein Herz im Takt seiner Schritte schlagen. »Bis dann«, sage ich, als er längst außer Hörweite ist. Danach drehe ich mich um und gehe zurück in meine Hütte.

Drinnen läuft Instrumentalmusik, die mich vom Stil her an Doo-Wop erinnert. Ich muss sofort an diese altmodischen Tänze denken, bei denen man mit angewinkelten Armen die Hüften hin und her bewegt. Und offensichtlich bin ich da auch nicht der Einzige, weil einige der Leute in meiner Hütte genau das machen.

»Randy«, begrüßt mich Mark, als ich den Raum betrete. Er ist unser Betreuer. »Wie nett, dass du zu uns stößt.«

»Del«, korrigiere ich ihn.

»Richtig, tut mir leid«, entgegnet er. »Ich habe gerade erzählt, dass unser diesjähriges Musical ›Bye Bye Birdie‹ sein wird, deswegen hören wir nur Musik aus den Fünfzigern und Sechzigern in dieser Hütte, damit wir uns ordentlich dafür in Stimmung bringen. Du kannst gerne mittanzen, wenn du willst.« Er gestikuliert in Richtung der anderen, die es inzwischen geschafft haben, eine halbwegs geordnete Choreografie auf die Beine zu stellen, die hauptsächlich daraus besteht, die Hüften zu schwingen und den Kopf in den Nacken zu werfen. »Das gibt dir ein besseres Gefühl für die Musik.«

»Und es inspiriert mich!«, ruft Crystal.

Sie ist die zweite Betreuerin unserer Hütte und die Choreografin der Camp-Aufführungen, während Mark die Rolle des Regisseurs übernimmt. Crystal hat blonde Haare, die ihr in Wellen bis auf die Schultern fallen, und trägt immer weite Röcke und locker sitzende Bauernblusen. Gerade tanzt sie ebenfalls … aber nicht zur Musik, soweit ich das beurteilen kann. Einfach zu … irgendwas in ihrem Kopf.

»Okay.« Ich tippe automatisch den Rhythmus mit dem Fuß – ich will mitmachen. Ich will mit den anderen tanzen. Vorsichtig mache ich einen Schritt nach vorn. Hudson ist in seiner eigenen Hütte, er kann mich nicht sehen.

Also tanze ich. Hüftschwung, Arme hoch, Kopf in den Nacken. Dazu machen wir ein paar Schritte vor und zurück. Das fühlt sich so gut an. Während des ganzen letzten Jahrs habe ich ständig darauf geachtet, dass meine Bewegungen lässig, unauffällig und kantig sind. Es ist schön, wieder ein bisschen Geschmeidigkeit reinzubringen. Einem Takt zu folgen. Mich wieder wie ich selbst zu fühlen.

Mark macht die Box aus, als der Song zu Ende ist und klatscht in die Hände. »Sehr schön! Keiner von euch ist neu hier in der Hütte, also müssen wir keine Kennenlernspielchen machen. Reden wir direkt über den Zeitplan. Die Theaterstunden finden in der ersten Tageshälfte statt, und morgen ist das Vorsprechen. Ich hoffe, ihr habt alle etwas vorbereitet. Was ihr mit dem Rest des Tages anfangen wollt, bleibt euch überlassen. Ihr wisst ja, wie es läuft. Tragt euch bei den Sachen ein, die euch Spaß machen. Wenn es zu viele Anmeldungen gibt, finden wir schon eine Lösung.«

Crystal verteilt Klemmbretter mit einer Auflistung der zahlreichen Aktivitäten, aus denen wir im Camp auswählen können. Ich schaue auf meins runter. Outdoor-Abenteuer ist am Vormittag – genau wie Theater. Also atme ich tief durch und kreuze das Erste an. Das Theater vermisse ich jetzt schon, aber ich weiß, dass das Teil des Plans ist. Das Singen, das Tanzen und das Chaos hinter der Bühne werden mir wirklich fehlen … Erinnerungen vom letzten Jahr schießen mir durch den Kopf, daran, wie wahnsinnig schön das war. Aber das kann ich nächstes Jahr wieder haben. Diesen Sommer verzichte ich für Hudson darauf. Nur so kann ich in seiner Nähe sein.

George schaut zu mir rüber und schnalzt mit der Zunge. »Wenn’s dir Spaß macht, Darling.«

»Hudson hat mich gefragt, ob ich mit ihm hingehe.«

»Und du willst ihn glücklich machen«, meint George. »Klar.«

Ich kreuze die Schwimmstunde vor dem Mittagessen an und versuche mir dann vorzustellen, was Hudson noch auswählen wird – wahrscheinlich irgendwas mit Sport, Touch Football und Kickball vielleicht. Das ist okay, ich habe geübt. Oder habe mich zumindest aktiv am Sportunterricht beteiligt. Zum Glück bleibt noch Zeit für Kunst und Werken am Nachmittag zusammen mit George und Ashleigh. Zum Tagesabschluss haben alle im Camp Freizeit, und wer will, kann den Pool benutzen.

Als ich Crystal mein Klemmbrett zurückgebe, schaut sie mich verwirrt an. »Du hast vergessen, die Theaterstunden anzukreuzen«, sagt sie und will mir die Liste zurückgeben.

»Ich …« Meine Kehle ist so trocken, dass ich mich räuspern muss. »Ich spiele dieses Jahr nicht mit.«

Crystal sieht mich an, als hätte ich ihr gerade den Mord an ihrem Kaninchen gestanden. Ihre Wagen röten sich, und sie klappt den Mund auf, schaut dann über die Schulter zu Mark und wieder zu mir. Das wiederholt sie, bis Mark zu uns rüberkommt und einen Blick auf das Klemmbrett wirft.

»Okay, Del.« Er runzelt die Stirn und zögert einen Moment, doch dann wird sein Gesichtsausdruck verständnisvoll. Und besorgt. »Was … ist los?«, fragte er mit einer Geste in meine Richtung. »Ist alles in Ordnung? Hast du dir den Kopf angeschlagen? Zwingt dich jemand dazu, dich so zu verhalten? Mein Therapeut sagt, dass so plötzliche Veränderungen normalerweise das Resultat eines Traumas sind.«

»Was? Nein. Ich … möchte mich einfach verändern.«

»Er macht das für einen Jungen«, wirft Ashleigh ein.

»Einen Jungen?«, entfährt es Mark ein bisschen zu laut. »Bei deiner Typveränderung gehe ich davon aus, dass es einer von denen ist, die als Hetero durchgehen wollen. Die so tun, als wären sie hetero. Honey, wenn er dir einen blä…« Er stockt und setzt ein Lächeln auf. »Wenn er dich küsst, dann ist er nicht hetero. Nichts für ungut, Jen«, meint er zu einem der Mädchen. »Bisexuelle können in einer Heterobeziehung leben und trotzdem superqueer sein. Aber ich meine Männer, die nicht wollen, dass sie jemand für schwul hält, und trotzdem gerne einen Schwan…« Er verstummt erneut und lächelt.

Mark hat schon öfter Ärger bekommen, weil er gerne mal zu explizit wird.

»Und trotzdem knutschen sie gerne mit Jungs. Sie hassen sich selbst genauso wie alle queeren Typen. Keiner von denen ist es wert, dass du deine Zeit mit ihm verschwendest, und schon gar nicht, dass du dich so sehr veränderst.« Inzwischen spricht er so laut, dass man ihn wahrscheinlich auch noch vor der Tür hört. »Ich muss eine Doppelsitzung bei Dr.Gruber buchen«, murmelt er dann zu sich selbst.

»Er tut nicht so, als wäre er hetero«, erkläre ich.

»Er steht offen auf maskuline Jungs, er ist masc4masc«, ergänzt George.

»Und wo ist da der Unterschied?«, erkundigt sich Mark. »Und woher wollt ihr das überhaupt wissen? Erzählt er das so nebenbei am Lagerfeuer?«

»Wir haben sein BoyDate-Profil gefunden«, sagt George. Es stimmt. Als mich meine Eltern letztes Jahr abgeholt haben, haben sie mir mein Handy mitgebracht. Ich wollte nur mal nachsehen, ob ich sein Profil finde – damit ich es abspeichern und vielleicht ein paar Fotos anschauen konnte – und tatsächlich: HudsonRocks, eins achtzig groß, sportlich, masc4masc. Als hätten wir das nicht schon vorher gewusst. Die Kerle, mit denen er im Camp rumgemacht hat, passten genau.

Mark seufzt und beugt sich zu mir runter, um mir in die Augen zu sehen, wobei er mich sanft an den Schultern fasst. »Hör mal, Del, Randy. Mir ist egal, wie du dich nennst. Ich will nur, dass du damit glücklich bist. Bist du das denn? Willst du nicht den lila Pullover anziehen, den du sonst jedes Jahr dabei hast? Willst du nicht bei unserem Stück mitsingen?«

»Ich …« Ich hole tief Luft. Natürlich will ich das. Aber ich will auch noch etwas anderes und beides zusammen geht nicht. »Ich will Hudson.«

Mark lässt mich los und richtet sich wieder auf. »Das ist deine Entscheidung. Aber ich hab schon eine Menge erlebt, Honey, und eins kann ich dir versprechen: Wenn ein Mann von dir verlangt, dass du dich veränderst, um mit ihm zusammen zu sein, ist er es nicht wert.«

»Er ist es«, erwidere ich leise.

Mark ignoriert mich und klatscht in die Hände. »Haben alle ihre Listen zurückgegeben? Wunderbar. Dann können wir ja weitertanzen!« Er dreht die Musik wieder auf und alle tanzen dazu, doch ich lasse mich auf mein Bett fallen und vergrabe das Gesicht in den Händen. Im Moment habe ich das Gefühl, dass mein Plan zwar aufgehen wird, ich dafür aber alle anderen enttäusche. Tief durchatmen. Hudson ist es wert, rede ich mir selbst gut zu. Alles, was ich für ihn aufgebe, ist es wert.

KAPITEL 3

EIN JAHR ZUVOR

Normalerweise interessiert mich der traditionelle Wettkampf, der jedes Jahr im Camp abgehalten wird, nicht besonders. Drei Tage, an denen alle anderen Aktivitäten ausgesetzt werden, um Staffelläufe und Fahnenraub-Spielchen durchzuführen, Banner zu bemalen und nutzlose Punkte anzusammeln wie leere Kondomverpackungen im Bootshaus? Nervig. Mark hasst es – er meint, dass Joan durch die Unterbrechung der Proben und das Geschrei, das unsere Stimmbänder schädigt, sein Stück sabotieren will.

Das Camp wird in zwei Teams aufgeteilt – die Hütten bleiben allerdings zusammen, damit es keinen Streit innerhalb der Hüttengemeinschaften gibt –, und dieses Jahr sind wir Team Grün. Nicht meine Lieblingsfarbe oder eine, die ich normalerweise tragen würde, aber ich besitze weiße Shorts mit grünem Spitzensaum. Die verkörpern zusammen mit einem schwarzen Shirt meinen Teamgeist sehr modisch. Wenigstens bin ich nicht in Team Orange. Dafür hätte ich absolut keine passenden Klamotten.

Außerdem ist Hudson bei uns. Nicht nur als Gruppenmitglied, er ist einer der Captains. Einer von acht, die ihre Gruppen in die Schlacht führen, vier für jedes Team. Sie sind so was wie Generäle und Cheerleader in einer Person. Hudson hat seine Rolle übernommen, als wäre ihm die Mission von Gott höchstpersönlich verliehen worden.

Gerade steht er mit den drei anderen Captains auf der kleinen Bühne. Er trägt ein grellgrünes Poloshirt, das sich fürchterlich mit seinen khakigrünen Shorts beißt. Die grünen Streifen auf seinen Wangen machen ihn zur wahrgewordenen Footballer-Fantasie, und er hat sich sogar auswaschbare grüne Farbe in die Haare gesprüht. Er schwenkt brüllend eine grüne Fahne.

»Los, kühne Grüne!«, schreit er zusammen mit den anderen Captains.

Team Orange wirft uns vom gegenüberliegenden Rand des Fußballfelds finstere Blicke zu. Noch ein Grund, warum ich froh bin, bei den Grünen zu sein: Auf orange reimt sich nichts.

George sitzt rechts neben mir. Er hat grünen Lidschatten aufgetragen, und seinen waldgrünen Overall zieren goldene Sternchen. Ashleigh links von mir trägt ein schwarzes Tanktop und Jeans-Shorts. Aus einer ihrer Hosentaschen hängt ein grünes Bandana, das ihr eine der Betreuerinnen gegeben hat.

»Ich fühle mich wie in einer Sekte«, beschwert sich Ashleigh.

»Wie beim Militär«, korrigiert George sie. »Eine Sekte, die ganz offen eine andere bekämpft, anstatt heimlich gegen alle Außenstehenden zu agieren.«

»Seid doch nicht so.« Ich beobachte Hudson, der auf der auf der Bühne auf- und abspringt. »Ob seine Unterwäsche wohl auch grün ist?«

»Wenn dieser Kerl irgendwas anderes besitzt als ›lustige‹ Boxershorts mit Bildern von Speck drauf oder so, fress ich meine eigene Unterwäsche«, meint George. »Aber ich muss zugeben, dass die Streifen auf seinen Wangen wirklich perfekt aufgetragen sind. An den Kanten ist nichts verschmiert. Wer ihm da wohl geholfen hat?«

»Ein grüner Slip«, denke ich laut. »Ich werde ihn mir in einem grünen Slip vorstellen.«

»Eklig«, gibt Ashleigh zurück. »Ich will nichts über deine Fantasien wissen.«

»Sweetie, du hast gerade einen fünfminütigen Monolog über den lila Bikini von Janice gehalten.«

Ashleigh starrt auf die Grasbüschel vor sich und rupft ein paar Halme aus, während ich den Blick nicht von Hudson abwenden kann. »Er sieht so gut aus. Sogar in diesem Outfit.«

»Darling, das ist ja auch genau sein Ding«, erklärt mir George. »Attraktiv, maskulin, könnte als Hetero durchgehen, nenn es, wie du willst. Und er fängt nur was mit Jungs an, die genauso sind wie er.«

»Ich könnte auch so sein.«

»Ach, komm schon, Randy«, sagt Ashleigh. »Du trägst Mädchenoberteile, Nagellack und manchmal Lippenstift. Deine Haare sind lang, und Muskeln hast du auch keine. Kein Bodyshaming, ich finde dich perfekt so, wie du bist, aber selbst wenn du das mit dem ›hetero‹ plötzlich auf die Reihe kriegst, müsstest du immer noch andere Klamotten anziehen, dir die Haare schneiden lassen, abnehmen und Muskeln aufbauen …«

»Ich könnte mich voll auf die Rolle konzentrieren«, behaupte ich. »Wie ein Method Actor.«

»Und dann macht er nach zwei Wochen mit dir Schluss«, gibt George zu bedenken. »Wie bei allen anderen auch. Du verwandelst dich durch ein Wunder über Nacht, aber wofür? Eine Woche Knutschen und ein bisschen Vögeln in der Peanut Butter Pit, bevor er deinen Namen wieder vergisst?«

Die Peanut Butter Pit ist eine Grube unter den Kletterseilen im Hindernisparcours – tief genug, dass man sie nicht sofort einsehen kann, und deswegen Hudsons Lieblingsort für Horizontalaktivitäten. Oder Aktivitäten in Reiter- und Doggy-Stellung.

»So ist er doch gar nicht«, verteidige ich Hudson und reiße auch einen Grashalm ab, den ich zwischen den Fingern drehe. »Ich meine, er tut so als ob, aber da steckt mehr dahinter.«

»Woher willst du das wissen? Weil du ihm tief in die Augen gesehen hast?«

»Nein«, antworte ich. »Wir waren in meinem ersten Jahr in derselben Hütte. Seine Grandma war da gerade gestorben, und Hudson hat im Schlaf geweint, weil er von ihr geträumt hat. Ich hab ihn aufgeweckt, und wir haben ein bisschen geredet. Über seinen Traum. Darüber, wie er sich an sie erinnern will. Wie man der bestmögliche Mensch werden kann. Es war … tiefgründig.« Ich senke den Blick.

Davon habe ich noch nie jemandem erzählt, weil es ein besonderer Moment war, und ich weiß, dass die beiden ihn nur zerlegen werden. Aber sie müssen eins verstehen: Hudson ist nicht einfach nur ein heißer Kerl. Er ist der Einzige, der mir das Gefühl gibt, nicht nur hier frei und ich selbst sein zu können – sondern überall. Scheiß auf die Leute, die mir was anderes einreden wollen.

»Hat er überhaupt gesehen, wer du bist?«

»Das Licht war aus.« Vielleicht klinge ich ein bisschen defensiv. »Aber er ist ein guter Mensch. Er hat nur noch niemanden kennengelernt, der ihn lange genug interessiert, um richtig mit ihm zusammen zu sein.«

»Ach so«, sagt George. »Klar. Und dieser Typ wirst du sein?«

»Ja.« Ich schicke den Wunsch zeitgleich ans Universum. »Werde ich.«

»Wir machen die Orangen platt!«, ruft Hudson und zieht die Aufmerksamkeit des Teams auf sich. »Ich weiß, dass das für euch wahrscheinlich nur ein dummer Eierlauf ist, nur ein paar blöde Punkte für ein blödes Spiel. Und das verstehe ich. Aber wisst ihr was? Wir rocken das Ding trotzdem. Warum? Weil wir toll sind. Wir sind queer und wir sind großartig. Da draußen in der echten Welt sagt uns ständig jemand, wie wir zu sein oder nicht zu sein haben. Wir werden gemobbt, wir werden beschimpft und runtergemacht. Die sagen uns, dass nie was aus uns wird, weil wir sind, wie wir sind. Aber hier können wir Kraft tanken. Hier können wir dran arbeiten, alles zu werden, was wir ihrer Meinung nach nicht sein können. Hier beweisen wir uns selbst, wie toll wir sind, damit wir es danach denen da draußen beweisen können. Und wir können alles schaffen und sie bei jeder Herausforderung schlagen! Wir können sein, was immer wir sein wollen! Wir sind was Besonderes!«

Sein Blick fällt einen intensiven Augenblick lang auf mich. Es fühlt sich an, als würde er nur zu mir sprechen. Ich kann alles sein, was ich will. Ich kann alles tun, was ich will.

»Und ja, vielleicht heißt das, heute mit einem Ei auf einem Löffel durch die Gegend zu rennen, ohne es fallen zu lassen. Aber hier Erfolg zu haben, bereitet uns darauf vor, da draußen Erfolg zu haben, selbst wenn es nur bei einem lächerlichen Eierlauf ist. Also gehen wir aufs Feld und zeigen denen, zu was wir fähig sind!«

Alle jubeln. Mich eingeschlossen. Ich weiß nicht, ob mich Hudsons Nähe zu einem besseren Menschen macht oder ich mich einfach nur anders wahrnehme, aber auf einmal ist alles, was mich sonst runterzieht, wie weggeblasen. Niemand sonst auf meiner Schule ist queer, ich habe keine engen Freunde außerhalb des Camps, meine Eltern unterstützen mich, behandeln mich aber oft, als käme ich von einem anderen Stern. Ich muss immer aufpassen, was und wie ich es sage und dass ich nicht zu viel Aufmerksamkeit errege. All das fällt von mir ab wie wie die Kleidung einer Dragqueen, die sich dramatisch enthüllt, und da bin ich, ein neuer, grandioser Superheld: Queer Randy. Jedes Mal, wenn das passiert, will ich Hudson unbedingt küssen. Weil mir noch nie jemand anderes dieses Gefühl gegeben hat.

Ich weiß, dass ich Ashleigh und George viel bedeute und Mark und Crystal auch. Und dass meine Eltern mich lieben. Aber Hudson schenkt mir etwas, das ich nirgendwo anders bekomme. Bei ihm fühle ich mich, als wäre ich etwas Besonderes. Als könnte ich der, der ich hier im Camp bin – wo ich meine Hände nicht im Bus zu Fäusten balle, um den Nagellack zu verstecken, wenn irgend so eine Sportskanone an mir vorbeigeht, und wo ich eine schlagfertige Antwort auf alles habe –, auch dort draußen sein.

Mir ist natürlich klar, dass Hudson nicht zu mir persönlich spricht, aber es kommt mir so vor. Und ich glaube, er würde dasselbe sagen, wenn ich allein vor ihm stehen würde. Ich kann mir vorstellen, dass er an mich glaubt, und das fühlt sich an, als hätte ich Sterne, eine ganze Galaxie in mir, die ihr strahlendes Licht verbreiten.

»Also stellt euch auf, und lasst uns einen fantastischen Eierlauf machen!«, ruft Hudson, was mich jubelnd aufspringen lässt. Ich beeile mich, um der erste Läufer zu sein.

KAPITEL 4

Irgendwann haben wir genug vom Tanzen und ziehen uns um, weil unsere freie Zeit ansteht, in der wir den Pool benutzen dürfen. Ich bin so stolz auf meine Badehose. Sie ist schwarz mit weißen Ziernähten und sitzt ein bisschen zu eng. Ashleigh stutzt, als sie sieht, wie ich sie aus meinem Seesack hole.

»Hör mal.« Sie legt mir eine Hand auf die Schulter. »Ich finde diesen Plan immer noch durchgeknallt, aber wenn du das wirklich durchziehen willst, solltest du es richtig machen.«

»Wieso?«, will ich wissen. »Stimmt was nicht mit meiner Badehose?«

»Shorts«, sagt Ashleigh. »Deine Shorts. Und deine Schuhe.«

»Ich liebe diese Schuhe.«

»Das sollte dir schon mal zu denken geben«, erwidert sie. »Du siehst aus, wie … ein schwuler Hetero. Das Karomuster zu den Schuhen? Die Badehose, die Sean Connery in einem alten Bond-Streifen tragen würde? Du siehst aus, als würdest du versuchen, einen Hetero in einem Theaterstück zu spielen.«

»Theater ohne Schwule geht, aber Schwule ohne Theater nicht«, mischt sich George ein und kommt zu uns rüber. Er trägt eine weiße Badehose mit Regenbogenaufdruck quer über dem Hintern und kein Shirt, was den Blick auf seine behaarte Brust und den Bauch freigibt. So sah er letztes Jahr noch nicht aus.

»Und was mache ich jetzt?«, frage ich. »Ich habe die in Schwarz, Rot und Blau. Was anderes gibt’s nicht.«

»Die sollten schon gehen«, entgegnet Ashleigh. »Aber lass mal den Rest deiner Klamotten sehen.«

Ich führe sie zu meinem Regalfach, in dem ich meine Kleidung sauber gefaltet nach Farben sortiert habe.

»Du musst die Sachen nur anders kombinieren. Zufälliger«, erklärt Ashley.

»Machen wir eine Modenschau?«, erkundigt sich George.

Die anderen aus unserer Hütte, die gerade noch dabei waren, sich umzuziehen, schauen uns mit großen Augen an.

»Modenschau?«, wiederholt Montgomery, ein schmaler Rothaariger, der ein Jahr älter ist als wir. Er hat uns Geschichten aus seinem Schuljahr in L. A. erzählt und sich selbst dabei schon viermal als »diese Bitch« beschrieben.

»Mach’s nicht so spannend«, sagt Paz, die ebenfalls ein Jahr älter ist als wir. Sie hat dunkle Haut und trägt die Haare abrasiert.

»Modenschau! Modenschau!«, rufen die anderen.

Ashleigh grinst, und George wirft mir ein paar Kleidungsstücke zu, nachdem er mit ihr meine Auswahl durchwühlt hat.

»Bildmontage!«, brüllt Montgomery, und in den folgenden zwanzig Minuten führe ich ihnen verschiedene Outfits vor.

Das bringt mir Zurufe wie »Oh, Honey, so männlich!« und »Das geht beinahe als Kerl durch!« ein. Sogar Mark, dem das alles eher auf die Nerven zu gehen scheint, macht irgendwann mit. Allerdings fühle ich mich ein bisschen ausgelacht, als er »How Lovely to Be a Woman« auflegt. Vielleicht hat er das aber auch nur ausgesucht, weil es aus dem diesjährigen Musical ist.

Trotz des kontraproduktiven Soundtracks genieße ich jede Sekunde und strenge mich bei jedem Outfit an, die Maskulinität zu zeigen, die ich ein Jahr lang geübt habe. Beine breit beim Laufen, das Becken nach vorne schieben, mit dem Kinn nicken. Ich zeige sogar meine Bauchmuskeln und präsentiere stolz den auftrainierten Bizeps. Ein paar der Jungs schauen mich danach anders an, als wäre ich ein Neuer in der Gruppe. Das war ja auch irgendwie Sinn der Aktion.

Nach meiner kleinen Show habe ich eine ganz andere Auswahl an Outfits. Die sind … ehrlich gesagt nicht so toll. Ja, ich verstehe schon. Wenn man aussehen will, als würde man sich morgens nach dem Aufstehen einfach das Erstbeste anziehen, sind sie schon ganz sexy. Aber nichts ist ordentlich, und überhaupt fühlt es sich total zusammengewürfelt an. Wenn das ein Stil ist, dann verstehe ich ihn nicht. Oder er entspricht halt nicht meinem Geschmack. Die anderen versichern mir allerdings, dass es seinen Zweck erfüllen wird. Und was ist schon Kleidung im Vergleich zu Liebe?

»Da wir jetzt hier fertig sind, können wir zum Pool«, sagt Mark. »Kommt schon. Keiner wird zurückgelassen.«

Ich ziehe mir die schwarze Badehose an, schnappe mir mein Handtuch und gehe zusammen mit den anderen die Treppe zur untersten Camp-Ebene hinunter. Dort merkt man erst so richtig, wie groß das Gelände eigentlich ist. Ich weiß gar nicht, wie viele Quadratmeilen es umfasst, aber es sind sicher einige. Von den Stufen aus kann man den Fluss nicht sehen, der sich am anderen Ende des Camps befindet. Allerdings kann man von der Theaterhütte aus den Speisesaal sehen, das sind die beiden anderen Punkte, die am weitesten voneinander entfernt liegen.

Der Pool ist direkt neben der Treppe, und es tummelt sich schon ein Haufen Leute lachend darin und spritzt sich gegenseitig nass. Das Wasser lockt mich, doch als wir uns dem Becken nähern, packt Ashleigh George und mich am Arm. Sie starrt in Richtung der Rettungsschwimmerin, die heute Aufsicht hat, und ich folge ihrem Blick. Da sehe ich erst, wer das ist.

»Janice«, flüstert Ashleigh.

»Darling, alles ist gut«, beruhigt George sie.

Fast alle, die in Camp Outland arbeiten, sind ebenfalls queer – bis auf die Badeaufsicht und das Küchenpersonal. Die müssen staatlich geprüft sein, und es ist wohl echt schwer, queere Mitarbeiter zu finden, die hier in der Gegend wohnen. Zumindest hat Mark uns das vor ein paar Jahren so erklärt. Deswegen beauftragt Joan eine Firma damit, diese Posten zu besetzen, auch wenn sie die Leute, die eingestellt werden, vorher genau unter die Lupe nimmt. »Die Frau wittert Homophobe aus hundert Metern Entfernung«, sagt Mark immer. »Was glaubt ihr denn, warum sie immer so müde aussieht?«

Die meisten der Rettungsschwimmer sind also hetero. Sogar Janice Uncas mit ihren langen, lavendelfarbenen Locken und dem Lippenpiercing, die gar nicht so viel älter ist als wir. Es ist also total okay, wie Ashleigh uns versichert hat, dass die beiden sich letztes Jahr angefreundet haben. Es ist nichts zwischen ihnen passiert, aber trotzdem hat sich Ashleigh ein bisschen in Janice verliebt. Und ein bisschen verliebt in ein Hetero-Mädchen bedeutet – soweit ich das mitbekommen habe – ganz schön viel Schmerz über den Sommer.

»Ist schon okay«, sage ich zu Ashleigh. »Ihr seid befreundet. Du bist drüber weg, oder?« Zumindest hat sie uns letzten November eine ellenlange E-Mail geschickt, wie sehr sie mit Janice abgeschlossen hat.

»Ja«, erwidert sie. »Ich … ich hatte nur nicht erwartet, dass sie wieder da ist. Ich dachte, sie verbringt den Sommer bei ihren Großeltern und macht so traditionelles Mohegan-Zeug. Das hat sie zumindest erzählt.«

»Ihre Pläne haben sich wohl geändert«, meine ich.

»Sie winkt uns zu«, ergänzt George. »Winkt zurück.«

Wir gehorchen und gehen dann weiter.

»Ich will das nicht noch mal«, sagt Ashleigh. »Dieses Mal halte ich Abstand. Freundlich, aber keine besten Freundinnen mehr wie letztes Jahr.«

»Guter Plan«, entgegne ich.

»Wir werden dich dran erinnern«, verspricht George ihr.

»Okay.« Ashleigh zupft an den Trägern ihres schwarzen, mit Totenköpfen bedruckten Badeanzugs.

Wir umrunden den Sicherheitszaun um den Pool, kommen an den Umkleiden vorbei und gehen zum Becken, in das George auch direkt hineinspringt. Hudson in seiner blauen Badehose – in seinen Badeshorts, meine ich – fällt mir sofort auf. Ich wate bis zur Hüfte ins Wasser, bevor er mich bemerkt, sodass er meine nicht-ausreichend-maskuline Badehose nicht sieht. Es ist ein bisschen kalt, aber die Luft ist warm, was die Kühle des Wassers angenehm macht, und einen Moment später lasse ich mich bis zum Hals hineinsinken.

»Darling, zeig deine Bauchmuskeln«, weist George mich an. »Er kommt rüber.«

Hudson schwimmt tatsächlich zusammen mit Brad auf uns zu. Seine dunklen Haare kleben ihm nass an der Stirn, und einen Moment später ist er schon da. Ich nehme mir die Zeit, ihn oben ohne zu bewundern – ausgeprägte, aber nicht zu ausgeprägte Bauchmuskeln und breite Schultern, die sich vermutlich auch als Kissen gut machen würden. Und mir geht auf, dass auch er mich abcheckt und sein Blick der feinen Spur aus Haaren folgt, die von meinem Bauchnabel abwärts führt. Meine Wangen werden heiß, und ich tauche ab, um mich zu verstecken, komme aber gleich wieder hoch.

»Habt ihr euch jetzt lange genug angestarrt?«, fragt George.

»Ich habe dich angestarrt«, meint Brad zu ihm.

»Da bekommt man ein paar Haare auf der Brust, und plötzlich wird man interessant«, sagt George zu Ashleigh. Die schaut immer noch zu Janice und scheint nichts um sich herum mitzubekommen.

»Ich fand dich vorher schon interessant, George«, erklärt Brad.

George wirkt ein bisschen überrascht, dass Hudsons Freund überhaupt weiß, wie er heißt.

»Aber ja … die Haare stehen dir gut. Ich würde gerne mal mit der Zunge …«

»Manchmal ist weniger mehr, Darling«, unterbricht George ihn. »Aber danke.« Er schenkt Brad einen Augenaufschlag, woraufhin dieser sich grinsend auf die Unterlippe beißt.

»Klar doch. Wie war euer letztes Jahr?«, erkundigt sich Brad.

Das kommt Hudson wohl komisch vor. »Alter, Del ist neu.«

»Del?«

»Darling«, wendet sich George an Brad, »warum unterhalten wir uns nicht noch ein bisschen am tiefen Beckenende über das Wunder, das die Pubertät an meinem Körper vollbracht hat?«

»Ja?« Brad grinst erneut. »Klar.«

Ich werfe George einen dankbaren Blick zu. Hoffentlich kann er Brad davon abhalten, meinen Plan zu ruinieren.

Sie schwimmen weg und Ashleigh, die immer noch voll auf Janice fixiert ist, entfernt sich ebenfalls von uns.

»Ich werde mit Janice reden«, meint sie.

»Nein, du hast doch gesagt …«, setze ich an, aber da legt Hudson mir einen Arm um die Schultern – meine nackten Schultern – und ich kann nicht weitersprechen. Ich drehe mich zu ihm um. Er lächelt mich an. Seine Augen sind dunkelgrau mit einem Hauch von Blau, und das Wasser lässt sie funkeln.

»Ich bin froh, dass sie uns allein gelassen haben.«

»Ja«, erwidere ich.