Campus Delicti - Katharina Voller - E-Book

Campus Delicti E-Book

Katharina Voller

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Düsseldorf in den frühen 2000ern: Ein Student der Heinrich-Heine-Uni wird ermordet. Steingart Bröcker ist Finanzreferent des politisch äußerst linken AStA der Heinrich-Heine-Uni. Eben noch hat er gegen Neonazis demonstriert, am nächsten Tag wird er ermordet aufgefunden. Für den AStA ist sofort klar: Das war eine politische Tat! Doch ist es wirklich so einfach? Mirko Tomacek, junger Kommissar bei der Kripo Düsseldorf, hätte jedenfall gar nichts dagegen, den Neonazi Kai Peters festzunehmen. Doch der Staatsanwalt besteht auf sicheren Beweisen und Mirkos Chef setzt ihn und seine Kollegin Karin Klein auf das Privat- und Unileben des Opfers an. Als die Studentin Sybille in die Nachforschungen hineingezogen wird, steckt sie bald tiefer darin, als ihr lieb ist – und deckt dabei einen ungeheuerlichen Skandal auf.

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Seitenzahl: 253

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Katharina Voller

Campus Delicti

- Kriminalroman -

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Impressum neobooks

Montag

„Das musst du dir ansehen!“

„Guten Morgen auch.“

„Jetzt mal im Ernst, das glaubst du wirklich nicht.“

„Jetzt lass mich doch bitte erstmal meinen Kaffee trinken!“

In der Spüle stapelten sich die Becher. Sybille kramte den großen blauen unter den anderen hervor, inspizierte den angesammelten Kaffeeschmodder, spülte den Becher kurz aus und bediente sich dann bei der Kaffeemaschine. Ein kurzes Schnüffeln an der Milchpackung überzeugte sie, dass der Inhalt noch zu gebrauchen war. Sie drehte einen Stuhl mit der Lehne zum Küchentisch und setzte sich, stellte den Becher vor sich und sah Baschti an.

„Jetzt, bitte. Aber nicht vor meinem Kaffee. Kennst mich doch.“

„Man könnte meinen, du bist ein Morgenmuffel,“ bemerkte er.

„Bin ich auch. Und jetzt sag schon. Was ist denn.“

Er schlug einige Seiten zurück und zeigte auf einen kleinen Artikel. „Da. Lies selbst. Mir glaubst du's eh nicht.“

Sybille rückte den Stuhl näher zu ihm und las den kurzen Abschnitt.

NACH ASTA-KUNDGEBUNG: STUDENT (24) TOT

Düsseldorf. Nach einer Kundgebung des AStAs der Heinrich-Heine-Universität im Düsseldorfer Süden wurde am späten Samstagabend auf dem Gelände eines Studentenwohnheims die Leiche eines 24-jährigen AstA-Mitgliedes gefunden. Die Kundgebung war gegen rechtsradikale Aktivitäten gerichtet. Während der AStA von einem politischen, rechten Hintergrund ausgeht, warnte die Polizei vor vorschnellen Schlüssen.

„Ja, krass!“, staunte Sybille.

„Mehr als krass. Wird ja noch besser. Oder schlimmer. Sieh dir das an.“ Er drehte seinen Laptop zu ihr herum, den er vor sich auf dem Küchentisch platziert hatte. Der Bildschirm leuchtete rot. Sybille zog den Computer zu sich heran, erkannte die Internetadresse des AStAs und las.

RECHTE GEWALT FORDERT TODESOPFER!

In der Nacht zum Sonntag wurde unser Kommilitone 'Steini' Steingart Bröcker Opfer der rechten Gewalt, gegen die er noch einige Stunden zuvor mit anderen Aktivisten des AStAs protestiert hatte. Wir trauern um unseren Kollegen, Kommilitonen und Freund!

JETZT IST AKTION GEFRAGT!

Erhebt eure Stimmen gegen die Faschisten in unserer Stadt! Wir dürfen uns von den Neonazis nicht einschüchtern lassen!

JETZT ERST RECHT!

Wir rufen zu einer Mahnwache, heute Abend um 18 Uhr vor der Mensa.

Es gilt, auch die Staatsmacht endlich aufzuwecken – auch sie dürfen ihre Augen nicht mehr verschließen vor der rechten Gewalt in unserer Stadt!

Über weitere Aktionen im Angedenken und im Namen von Steini halten wir euch auf dem Laufenden.

„Gibt's ja gar nicht.“ Sybille starrte auf die schwarzen Buchstaben.

„Sag ich doch. Ich sag doch, das glaubst du nie.“

„Jetzt mal ehrlich! Steini?! Wie krass ist das denn!“

„Ja, keine Ahnung. Sehr krass.“

Baschti zog sich Sybilles Kaffee heran, während sie sich noch einmal den Internettext durchlas. Sie schüttelte den Kopf. „Ist echt ein Hammer. Steini...“ Sie schüttelte wieder den Kopf.

Baschti nickte bedeutungsschwer. „Ja, das hat man noch nicht einmal ihm gewünscht.“

Sybille schaute vorwurfsvoll vom Laptop hoch. „Also echt.“

„Stimmt doch!“

„Ja, aber wie sich das anhört!“

„Was denn, ich sag doch nur!“ Damit erhob sich Baschti und ging zum Kühlschrank. „Magst jetzt erstmal auch ein Käsebrot?“

#

Vor dem Eingang der Philosophischen Fakultät stand ein junger Mann, der Sybille entfernt bekannt vorkam und der kleine rote Handzettel verteilte. Im Vorübergehen schnappte sie sich einen und las den gleichen Text, den sie heute Morgen schon im Internet gelesen hatte. Einige Studenten standen in kleinen Grüppchen zusammen und redeten aufgeregt über den Inhalt.

„... du hast den bestimmt auch mal gesehen – so'n blonder, mit Pferdeschwanz...“

„... und ich hab gestern noch überlegt, ob ich da auch hin soll...“

„... weiß man denn schon, wie?“

Andere lasen nur stirnrunzelnd oder kopfschüttelnd, die meisten hatten sich erfolgreich an den Zetteln vorbeigedrückt, geübt vom dauernden Abwimmeln der vielen Flyer-Verteiler auf dem Campus.

Sybille eilte an den tuschelnden Gruppen im großen Foyer des 70er-Jahre Baus vorbei ins Treppenhaus und hinauf in den zweiten Stock; sie hatte nie die Muße, auf einen der drei ohnehin überfüllten Aufzüge zu warten.

Im Fachschaftsraum saß Tobias rauchend vor dem Computer. Auf dem Cordsofa saß im halben Schneidersitz Laura neben einer jungen Studentin.

„Guten Morgen,“ grüßte Sybille.

Tobias fuhr herum. „Hey,“ grüßte er zurück, „hast Du's schon gehört?“

Sybille nickte und bemerkte, dass Laura und die junge Studentin die Köpfe gehoben hatten. Mehrere Flyer lagen vor ihnen auf dem Tisch.

„Ja, hab ich.“ Sie hielt den roten Flyer hoch. „Bleibt einem kaum erspart.“

Mit einem Kopfnicken wies Tobias auf den Computerbildschirm. „Und jetzt drehen sie mal wieder vollkommen durch.“

Sybille stellte sich hinter ihn und las.

Liebe FachschaftsrätInnen,

In der Nacht zum Sonntag wurde unser Kommilitone 'Steini' Steingart Bröcker Opfer der rechten Gewalt, gegen die er noch einige Stunden zuvor mit anderen Aktivisten des AStAs protestiert hatte. Wir trauern um unseren Kollegen, Kommilitonen und Freund!

Aus diesem traurigen Anlass rufen wir zu einer Mahnwache, heute Abend um 18 Uhr, vor der Mensa. Im Namen und Angedenken von Steini wollen wir mit euch und unseren Kommilitonen so auch ein Zeichen setzen gegen faschistische Übergriffe und gegen die Blindheit und Untätigkeit der Staatsmacht.

Jetzt brauchen wir eure Mithilfe!

Gebt den Termin auf euren Pinnwänden, Internetseiten und auch in euren Seminaren bekannt und kommt zahlreich heute Abend zur Mensa. Entsprechende Flyer sind im AStA erhältlich.

Über weitere Aktionen halten wir euch auf dem Laufenden.

In Trauer und Wut,

Der AStA-Vorstand

Tobias schüttelte den Kopf. „Jetzt mal im Ernst, „Staatsmacht“, die haben'se doch nicht alle beisammen. Und dann diese tolle Idee, es in den Seminaren weiterzusagen. Ich seh's schon vor mir, wie ich beim Kockel aufstehe und sage: Verzeihung, Herr Kockel, ich bräuchte mal einen Moment, um zur Mahnwache aufzurufen. Wegen der „Blindheit der Staatsmacht“!“

Sybille musste bei der Vorstellung grinsen, wie der allgemein gefürchtete Professor reagieren würde. „Wenn du Glück hast, ignoriert er Dich einfach. Es hat wohl mal einer eine Frage stellen wollen und sich ne halbe Stunde gemeldet, und der Kockel hat einfach weitergemacht.“

„Ja, kann ich mir vorstellen. Beim letzten Streik wollten sie wohl für irgendeine Versammlung oder so seinen Hörsaal haben. So ein AStA-Heini, der sich ganz wichtig vorkam. Und der Kockel ignoriert ihn erst einfach und fängt halt an, seine Vorlesung zu halten. Und der Student sagt so was wie, Also Herr Kockel, jetzt hören Sie doch erstmal, und der Kockel guckt ihn an und sagt, so ganz verächtlich: Nö. Und entweder Sie hören jetzt mir zu oder Sie gehen bitte.“

Sybille lachte und auch Tobias grinste bei der Erinnerung.

Laura hingegen sah empört aus. „Na, ihr seid mir ja welche! Erzählt hier so Anekdoten, nach so einer furchtbaren Geschichte! Und dann auch noch jemand, den wir kennen! Letzte Woche Montag hab ich noch mit ihm im Hauptseminar gesessen. Ich kann das gar nicht glauben!“ Sie blickte vorwurfsvoll zwischen Sybille und Tobias hin und her. Sybille fühlte sich unbehaglich und warf Tobias einen kurzen Blick zu. Tatsächlich hatten die meisten von ihnen Steini gekannt, durch seine AStA-Tätigkeit und manche auch flüchtig aus Germanistik-Seminaren – aber immer wieder hatte Sybille mit Tobias Witze gemacht über ihn und seine hochtrabenden Reden, nur halbherzig gemäßigt von Laura. Nein, noch nicht einmal im Nachhinein konnte sie jetzt so tun, als habe sie Steini gemocht. Gerade deshalb meldete sich bei ihr ein unbestimmtes, aber deutliches schlechtes Gewissen. Durfte man so über einen Toten denken?

Tobias unterbrach die betretene Stille. „Weißt Du eigentlich, was da genau los war?“ fragte er Sybille.

Sie zuckte die Schultern. „Nicht wirklich. Baschti hat's mir in der Zeitung gezeigt, da steht auch nicht viel. Offenbar gab's am Abend 'ne Demo gegen Neonazis oder so, und dann haben sie ihn später gefunden, beim Wohnheim.“

„Also waren's wirklich Nazis, oder wie?“

„Keine Ahnung. Ich weiß noch nicht mal, was das für ne Demo oder Kundgebung oder was auch immer war. Keine Ahnung. Der AStA ist sich ja offenbar schon sicher.“

Tobias nickte und verzog das Gesicht. „Ja, aber die sind sich ja immer schnell sicher. Und das Theater geht ja schon los.“

Laura schien immer noch empört. „Ihr tut grad so, als ob der AStA uns damit nur ärgern will. Aber sie haben doch recht: Natürlich müssen wir da hin, zur Mahnwache! Und natürlich müssen wir das auch weitersagen! Wollt ihr nicht hingehen, oder wie?“

Tobias und Sybille wechselten wieder einen schnellen Blick, dann gab sich Sybille einen Ruck. „Doch, ich hab' eh Tutorium bis sechs. Kommst du denn auch?“

Laura schüttelte den Kopf. „Ich kann leider nicht, ich muss arbeiten.“

Sie richtete ihren Blick erwartungsvoll auf Tobias, der aber wieder finster auf die E-Mail blickte und dann in Sybilles Richtung sagte: „Gut, dass du gehst. Denn irgendwie kann ich mir auch vorstellen, was los ist, wenn keiner von uns kommt.“

Er blickte auf und traf auf Lauras vorwurfsvollen Blick. „Was denn? Es stimmt doch! Die klopfen hier morgen garantiert an, wenn nicht wenigsten einer von uns da ist. Und ich kann heute Abend wirklich nicht, selbst wenn ich wollte. Und mal im Ernst, wenn ich das hier schon wieder lese: „Die Faschisten in unserer Stadt“, „Staatsmacht“... Ich bitte dich, die immer mit ihrem Polizeistaat, die wissen doch gar nicht, was das ist!“

Sybille schaute ihn fragend an. Solche Ausbrüche waren sonst nicht Tobias' Art. Aber sie kam nicht dazu, vorsichtig nachzufragen. Die junge Studentin, die die ganze Zeit mit großen Augen zwischen den dreien hin und her geschaut hatte, räusperte sich in die eintretende angespannte Stille hinein. „Also, das ist jetzt vielleicht 'ne blöde Frage, aber was macht der AStA eigentlich genau?“

Tobias, sichtlich dankbar, sich nicht weiter mit Laura streiten zu müssen, antwortete in bestem Vortragston: „Dumme Fragen gibt's nicht – und der AStA ist der Allgemeine Studierendenausschuss, so etwas wie unser aller offizielle Vertretung – also jetzt mal abgesehen davon, dass er so wohlformulierte Pamphlete verfasst.“ Er grinste die Studentin an, wurde sich dann Lauras Blickes bewusst und sprach schnell weiter. „Also, die Studierenden der gesamten Uni wählen das Studierendenparlament, kurz SP. Im Grunde kann man sich das vorstellen, wie das Bundesparlament auch: Es gibt Parteien, sogenannte Listen, die zu Wahlen antreten, bei denen alle Studierenden wählen können. Wenn das SP gewählt ist, wählt es wiederum den AStA-Vorstand – wie der Bundestag den Kanzler wählt. Im Moment besteht der Vorstand aus zwei Mitgliedern der Linken Liste, einem Mitglied der Jusos und einem Mitglied der OSC, das steht für Offensive Sozialer Campus. Wie eine Bundesregierung aus verschiedene Ministerien besteht, gibt es im AStA Referate, die sich verschiedener Themen annehmen. Vorgeschrieben sind nur der Vorstand und das Finanzreferat, das den Haushalt überwacht. Übrigens überwachen sie damit unser aller Geld, denn von den Gebühren, die wir zahlen, geht auch immer ein bestimmter Betrag an den AStA. Davon bekommen unter anderem auch die AStA-Mitglieder was, sogenannte Aufwandsentschädigungen. Alles klar?“

Die Studentin nickte schwach, Laura und Sybille starrten Tobias überrascht an. Der grinste nur, zuckte die Schultern und sagte: „Hab's erst im letzten Tutorium mit meinen Erstsemestern besprochen. Außerdem,“ er zwinkerte Laura noch breiter grinsend zu, „muss man den Feind ja kennen.“

Laura warf ihm einen vernichtenden Blick zu, erhob sich von der Couch und nahm ihre Tasche. „Du bist echt... Ach was weiß ich. Ich muss jetzt ins Seminar.“ Sie wandte sich an die Studentin. „Ich kann Dir zeigen, wo Du hin musst.“

Tobias grinste den beiden hinterher und wandte sich dann Sybille zu. „Du willst da also wirklich hingehen heute Abend?“

Sybille nickte. „Ich hoffe nur, es wird nicht völlig unerträglich...“

„Na, dein Wunsch in Gottes Ohr. Gehst Du nachher in die Mensa?“

„Ja. Was hast Du denn jetzt? Kockel?“

Tobias verzog das Gesicht. „Nee, 'Die deutsche Grammatik'. Ich freu mich schon. Und du?“

„Middle English Drama, Hauptseminar. Wir können uns ja dann in der Mensa treffen.“

„Klar. Und jetzt müssen wir auch los, ist schon fast viertel nach. Geh mal schon, ich schließ ab.“

#

„Juut, wollen wir dann mal? Meine Herren, meine Damen...“

Die halblauten Gespräche verstummten, als Kriminalhauptkommissar Ludwig die zur Besprechung versammelten Beamten in seinem breiten Rheinisch zur Ordnung rief. Kriminalkommissar Mirko Tomacek sah sich neugierig um. Es war erst die zweite Mordkommission, in die er berufen worden war, und bei der ersten war er so aufgeregt gewesen und hatte sich so fehl am Platz gefühlt, dass sein Beitrag zur Lösung des Falles wohl zu vernachlässigen gewesen war. Dieses Mal wollte er es besser machen. Die einberufene Mordkommission bestand nicht nur aus den Kriminalkommissaren des Kommissariats 11, das sich unter anderem mit Tötungsdelikten beschäftigte, sondern auch aus Beamten mit anderen Schwerpunkten, die in diesem Fall vielleicht relevant werden konnten. Mirko entdeckte einige bekannte Gesichter, bevor Ludwig wieder seine Aufmerksamkeit einforderte.

„Also, isch möschte misch janz kurz halten,“ begann er. „Foljendes: Die Rechtsmedizin jibt für's Erste an, dat es sisch wahrscheinlich um Mord handelt - dat Opfer war vermutlisch bereits bewusstlos, als die Tötung erfolchte. Näheres hören wir dazu wohl morjen. Isch bin der Leiter dieser Moko, nee, kein Applaus, danke.... Jedenfalls müssen Se die nächste Zeit mit mir viel Zeit verbringe, na juut, mache mer schon. So. Vier Gruppen à zwei Kollegen koordinieren dat Janze. Mündig und Tomacek, Sie bleiben an den Nazis dran. Mündig, Sie werden einije der hier Anwesenden aus Ihrer ST 1-Zeit wiedererkennen.“

Horst Mündig, der vor anderthalb Jahren aus dem Polizeilichen Staatsschutz der Kripo Düsseldorf in das Kriminalkommissariat 11 gewechselt war, drehte sich zu seinen früheren Kollegen um und lächelte. Mirkos Begeisterung hielt sich allerdings in Grenzen. Die Neonazi-Spur schien zwar die erfolgsversprechendste zur Zeit, Horst Mündig war mit seiner peniblen und rechthaberischen Art allerdings nicht unbedingt sein Lieblingskollege. Er würde sich wohl damit arrangieren müssen.

„Juut - Brinkmann und Klein, Sie konzentrieren sisch weiter auf den privaten Bereich. Familie, Uni, Liebhaberinnen und Liebhaber - allet, wat dazu jehört. Klar?“

Christoph Brinkmann und Karin Klein nickten synchron, wobei es Mirko schien, als sähe auch seine Kollegin Karin nicht gerade begeistert aus. Karin hatte ihn bei seinem Beginn in der Kripo unter ihre Fittiche genommen und sie hatten gemeinsam einige Todesfälle und Brände bearbeitet. Er warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu, das sie freundlich erwiderte.

„Arnie, Osterrath, Sie beschäftigen sich mit den anderen Abteilungen, Drogen, Sitte, Wirtschaft - irjendwas zum Opfer oder zu irjendwem, den er irjendwann mal jekannt hat. Stecken Sie Ihre Nasen richtich in den Dreck. Klar?“

Sebastian Arnold, den selbst der Chef nur noch beim Spitznamen nannte, und Steffen Osterrath nickten ebenfalls, sahen aber wenig angetan aus, da sie zu recht von wenig begeisterten Kollegen aus den anderen Abteilungen ausgehen durften, die sie nun um vermutlich tonnenweise Akten bitten sollten.

„M und M koordinieren wie gewohnt In-House,“ schloss Ludwig mit sichtlicher Genugtuung, einen derart modernen Begriff verwendet zu haben. „Danke schön, bis später.“

Martin Grosske und Mira Ivanova, die im Abteilungsjargon nur noch in gemeinsamer Abkürzung geführt wurden, lächelten in die Runde, in der es schon wieder unruhig wurde, als die ersten sich zum Gehen aufmachten.

Mirko stand auf und wollte gerade zu Horst Mündig hinübergehen, als er sah, wie Karin sich ihren Weg zu ihm bahnte.

„Ich wär sehr viel lieber mit dir im Team,“ sagte sie leise mit einer Kopfbewegung zu Christoph Brinkmann hinüber.

Mirko grinste sie an. „Danke, ebenso. Was ist denn mit Christoph?“

„Nix, außer dass er'n Chauvi ist, der jede Frau behandelt wie eine Sekretärin. Bestenfalls.“ Sie seufzte. „Naja, werde mich wohl arrangieren müssen.“

Mirko merkte ein Tippen auf seiner Schulter und drehte sich herum. „Wir sprechen uns nachher,“ rief er Karin noch nach, bevor er ganz bei Horst Mündig angekommen war. „Ach, Horst, hallo.“

„Hallo Mirko. Wir haben da schon einen Tatverdächtigen im Anmarsch,“ sagte Horst Mündig ohne Umschweife.

„Wow!“

„Ja, und einen um den sich der Chef selber mit kümmern will. Wird bestimmt'n großer Auftritt werden.“

#

Professor Wilhelm Rainer schaute ernst in die Runde des Seminarraums. „Guten Morgen, meine Damen und Herren. Lassen Sie mich zu Beginn bitte etwas außerhalb des Seminars sagen. Die Nachricht über den Tod Ihres Kommilitonen wird sich bei Ihnen sicherlich herumgesprochen haben.“

Ein Flüstern erhob sich in der Fensterreihe, wo offenbar eine Studentin die Neuigkeit unerklärlicherweise noch nicht gehört hatte. Nach ein paar eindringlichen Sätzen ihres Nachbarn weiteten sich ihre Augen und sie blickte wieder auf den Professor, der gewartet hatte, bis das Flüstern erstarb.

„Natürlich ist dies auch für die Lehrenden ein schockierendes Ereignis. Mir ist auch bewusst, dass viele von Ihnen Herrn Bröcker gekannt haben. Trotzdem bin ich überzeugt, es ist in Ihrem besten Interesse, das Seminar wie geplant fortzuführen. Ich hätte aber natürlich Verständnis, falls es Ihnen heute an Konzentration fehlt – das gilt natürlich vor allem für den heutigen Referenten. Herr Teuber, Sie wären heute mit Ihrem Referat an der Reihe – wären Sie bereit, es zu halten?“

Der gesamte Raum drehte sich zu Lars Teuber um, der rot anlief, aber nickte. „Natürlich.“

„Gut,“ fuhr Herr Rainer fort.

Er schaute wieder in die Runde, als ob er auf Widerspruch oder Kommentare wartete, doch es herrschte nur gespannte Stille. Der Professor hob wieder an, jetzt in seiner sonorsten Vortragsstimme. „Let me first remind you of what we have heard so far. As you will remember, last week Miss Gerlich told us about the Christmas Plays as one of the earliest forms of English drama. However...“

Papier raschelte, als reihum die Mitschriften aufgeschlagen wurden. Sybille versuchte, sich zu konzentrieren. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab zu Steini und sie überlegte, was wohl passiert war. Vielen anderen schien es nicht anders zu gehen. Lars gab sich alle Mühe, doch das Seminar blieb unruhig und schließlich entließ Professor Rainer sie schon um kurz nach halb eins. Zerstreut packte Sybille ihre Sachen zusammen und machte sich eine gedankliche Notiz, den Inhalt des heutigen Referates unbedingt noch einmal nachzulesen.

#

Auf dem Weg zur Mensa herrschte wie gewohnt dichtes Treiben. Sybille hatte sich in den Strom der Studenten eingereiht und ließ sich über den welligen Campus, weg von der philosophischen Fakultät, an der Buchhandlung vorbei über die kleine Brücke bis zum Vorplatz vor der Mensa spülen. Rechts hatte der AStA einen kleinen Stand aufgebaut. Von einem Plakatständer starrte ein schlecht kopiertes Foto von Steini herunter, neben das ein dickes schwarzes Kreuz gemalt worden war. Drei AStA-Mitglieder versuchten, Handzettel an die vorbeiströmenden Studenten zu verteilen. Sybille erkannte Stefan, mit dem sie mal ein Referat gehalten hatte und seitdem hin und wieder die Seminare in Germanistik gemeinsam bestritt. Er war ein netter Typ, groß, dunkelblond, und er wäre wohl attraktiv gewesen, wenn er nicht so ungelenk gewirkt hätte. Intelligent war er außerdem und Sybille hatte sich schon des öfteren gefragt, was er bei der Linken Liste zu suchen hatte. Augenscheinlich war diese eher ein Treff cholerischer Radikaler und merkwürdiger Dauerstudenten, die nicht über den Umstand hinwegkamen, dass sie '68 nicht dabei gewesen waren. Dies war wohl ein Grund, warum sich nie eine wirkliche Freundschaft zwischen ihnen ergeben hatte. Sybille war diese Linke Liste einfach zu suspekt. Aber sie mochte Stefan und freute sich im Allgemeinen, ihn zu sehen. Ihr schoss durch den Kopf, ob sie einem Gespräch mit einem AStA-Mitglied nicht lieber aus dem Weg gehen wollte, aber er hatte sie bereits erspäht.

„Bille! Du hast bestimmt schon einen.“ Er hielt ihr nichtsdestotrotz hoffnungsvoll einen Zettel hin.

Sybille trat aus dem Menschenstrom heraus in den unsichtbaren Bannkreis, der den AstA-Stand zu umgeben schien, und nickte. Dabei setzte sie ein gezwungenes Lächeln auf: So nett Stefan auch war, sie hasste es, wenn man sie 'Bille' nannte. „Ja, hab ich. Und im Internet hab ich's auch schon gesehen.“

„Hat Schuffe ganz früh heute morgen geschrieben. Wurden natürlich gleich alle zusammengetrommelt. Ich bin seit halb sieben in der Uni.“

Sybille musste ein Grinsen unterdrücken. Bei Stefan konnte sie es sich noch vorstellen, dass er sich so früh in die Uni begab – aber wenn sich sogar der dicke Schuffe am Morgen vor den Computer bequemen musste! Markus „Schuffe“ Schufenberger war ein unangenehmer, cholerischer Typ, dem andere AStA-Mitglieder auf Demos des öfteren mal das Megaphon abnehmen mussten, wenn er zu beleidigend oder geschichtsvergesslich wurde. Bei einer legendären Vollversammlung hatte er sich mit einem Mitglied der Jungen Liberalen übel über die Frage gestritten, ob der AStA eine Berechtigung oder, in Schuffes Worten, sogar eine Verpflichtung hatte, sich auch außerhalb der Uni politisch zu engagieren. Mehrere Jungs hatten Schuffe mit vereinten Kräften in der Sitzreihe festhalten müssen – und er hatte schließlich lauthals die Internationale angestimmt, was zwar inhaltlich unpassend, aber doch effektvoll war. Er war bei jeder Uni-Party dabei und stierte zu fortgeschrittener Stunde die anwesenden Erstsemesterinnen an. Sybille hegte den Verdacht, dass auch der AStA ihn nur aufgenommen hatte, weil er in grauer Vorzeit mal mit einem Informatikstudium begonnen hatte und halbwegs passable Homepages zustande bekam.

Sybille schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken an Schuffe und versuchte gleichzeitig, ihren Blick von dem übermächtigen Foto Steinis zu reißen.

„Das ist aber auch'ne Geschichte,“ sagte sie. „Weißt Du eigentlich was Genaueres? Warst du dabei am Samstag?“

Stefans Blick verfinsterte sich. „Ja, kurz. Aber ich bin früher weg. Alles andere weiß ich auch nur von den anderen.“

„Was war das denn jetzt genau? Diese Kundgebung meine ich, was habt ihr denn da gemacht?“

„Naja, wir haben ein paar Flyer verteilt, in der Nachbarschaft von so'nem Nazi. Die wohnen da ganz normal! Und keiner weiß was, und stören tut's erst recht keinen.“

Sybille erinnerte sich an einen Artikel in der AStA-eigenen Campuszeitschrift, der eine Woche zuvor erschienen war und sie furchtbar aufgeregt hatte. Darin wurde im gleichen Tenor über Neonazis geschimpft – und dann deren Namen und volle Adresse genannt. Damit es auch jeder verstanden hatte, endete der Artikel mit der rhetorischen Frage, ob man sich diese Neonazis in der Stadt wirklich gefallen lassen müsse und ob es nicht etwas gebe, was man tun könne. Natürlich war auch Sybille gegen Nazis – aber so deutlich dazu aufzurufen, ihnen etwas anzutun, das ging ihr doch zu weit. Was war denn das für eine Methode? Es ärgerte sie, dass die Linken auf diese Weise ihre moralische Überlegenheit verspielten. Ihr schien es allerdings klüger, jetzt eine ausgewachsene Diskussion mit Stefan zu vermeiden, also versuchte sie, nur unverfänglich zu nicken.

Stefan fuhr fort. „Die Leute sollen schließlich zumindest wissen, neben wem sie so leben und wer bei dem Supermarkt einkauft, bei dem auch sie immer einkaufen gehen. Naja, ich war wie gesagt nicht bis zum Schluss da; als ich ging, war alles noch recht friedlich. Ab und zu wurden wir ein bisschen angepöpelt, aber das kennt man ja.“

„Aber später ist dann richtig was passiert, oder wie?“, fragte Sybille.

„Naja, der Nazi und ein paar seiner Kumpel sind wohl aufgetaucht, so richtig mit Stiefeln und dem ganzen Drum und Dran. Es gab wohl keine richtige Prügelei, eher so ein Wortgefecht. Einer von den Nazis hat Frauke die Flyer aus der Hand gerissen, Schuffe ist beinahe auf ihn los – aber Steini ist wohl dazwischen, zusammen mit noch anderen. Das ging dann ne Weile so hin und her, die Nazis wohl immer bedrohlicher, Schuffe kurz vor der Explosion – da ist es den anderen zu gefährlich geworden und sie sind abgezogen. Die Nazis aber hinterher. Mit Abstand, aber immer hinterher, und weiter gedroht und gelacht und so, wohl richtig bedrohlich. Sie haben sich dann in Gruppen aufgeteilt, weil sie dachten, so werden sie die Nazis los. Aber die sind halt immer hinter der kleinen Gruppe mit Steini hinterher, bis zum Wohnheim. Steini und die anderen sind auf Steinis Zimmer hoch. Die Nazis haben da wohl noch 'ne Weile rumgelungert und sind dann wohl irgendwann abgezogen. Die anderen sind schnellstens abgehauen, weil sie Angst hatten, dass die nur Verstärkung holen – und Steini war ja drinnen, alle dachten, dem kann nix passieren.“

Stefan zuckte die Schultern.

Sybille schaute ihn erwartungsvoll an, aber er schwieg.

„Und dann? Sind die Nazis wiedergekommen, oder wie?“

Stefan zuckte wieder die Schultern. „Offenbar ja.“

Sybille versuchte wieder, ihn aufmunternd anzuschauen. Nach einer kurzen, aber unangenehmen Pause seufzte er schließlich, sah sich um, beugte sich näher zu Sybille und fuhr mit gesenkter Stimme fort. „Irgendein Student hat ihn gefunden und bei der Polizei angerufen. Er ist wohl erstickt worden, oder so ähnlich zumindest. Aber –“ Stefan zögerte, sah sich wieder um und dann Sybille ernst an. „Wir haben heute morgen beschlossen, erstmal nichts weiter zu erzählen. Ich – ich hätte dir gar nicht so viel erzählen sollen.“

„Wieso das denn?“

„Jetzt nimm's bitte nicht persönlich, jemand anderem hätte ich gar nicht so viel gesagt. Aber – naja, wie sagt man: Die Ermittlungen laufen. Und wir müssen ein bisschen aufpassen, wie das so läuft und was wir, ähm, sagen, naja....“

Stefan war rot geworden.

„Schon ok,“ sagte Sybille. „Ich muss jetzt eh los, ich bin verabredet zum Essen.“

Das hatte sich nun doch beleidigter angehört, als sie gewollt hatte. Stefan sah sie betreten an.

Schnell fügte sie hinzu: „Ist echt ok. Ich werd' auch keinem sagen, dass du mir was gesagt hast. Bis später, ja?“

Stefan sah etwas erleichtert aus und er verabschiedete sich, indem er mit den Handzetteln winkte. Die Geste wirkte so hilflos und vor dem riesigen Steini-Poster so fehl am Platz, dass Sybille sich schnell zur Mensa umdrehte. Sie winkte noch zurück, dachte aber gleichzeitig darüber nach, ob sie es seltsam finden sollte, dass der AStA sich selbst ein Redeverbot gab. Zumindest hatte es ja offenbar die Anordnung gegeben, nicht zu viel nach außen zu geben. Sie konnte sich schon lebhaft vorstellen, was Tobias dazu sagen würde. Aber wahrscheinlich war es sogar wirklich ganz klug, nicht zu viel von den Geschehnissen an bisher Unbeteiligte weiterzugeben. Damit handelte der AStA wohl nicht nur im eigenen Interesse, sondern womöglich auch – unwillkürlich und sozusagen zufällig – auch im Sinne der Polizei.

#

Obwohl einige Studenten offenbar zur Mahnwache unterwegs waren, wirkte der Campus um kurz vor sechs wie ausgestorben. Vor der Mensa stand immer noch der Infostand vom Mittag, der jetzt von Studenten umringt wurde, die sich leise unterhielten. Sybille erspähte Stefan in einer Gruppe von AStA-Mitgliedern, der ihr zuwinkte und zu ihr herüber kam.

„Da bist du ja! Kommst du allein?“

„Ja, die anderen hatten alle keine Zeit.“

Sybille blickte zum Infostand. Frauke und Schuffe beugten sich mit einem großen Dunkelhaarigen über einige Seiten Papier. Stefan folgte ihrem Blick. „Jan und Frauke haben ein paar Texte rausgesucht, die gleich vorgelesen werden.“

„Genau, Jan – ich wusste doch, dass ich den kenne. Der ist im Vorstand, oder?“

„Ja, er ist sogar der Vorstandsvorsitzende. Dort drüben steht der Rest vom Vorstand. Und das,“ er nickte in Richtung eines blassen, kleinen Blonden, „ist Kopps, also Frank Kopps, der übriggebliebene Finanzreferent.“

Sybille zog die Augenbrauen hoch. „Ach, Steini war im Finanzreferat? Das wusste ich gar nicht.“

Stefan schaute sie verwundert an, kam aber nicht mehr dazu, etwas zu erwidern. Jan hatte sich aufgerichtet und schaute erst in die Runde, dann auf seine Uhr. Unwillkürlich folgte Sybille seinem Beispiel. Es war viertel nach sechs. Jan nickte den anderen zu und stellte sich dann vor den Infostand.

„Liebe Kommilitonen,“ begann er mit lauter, vortragsgewöhnter Stimme. „Vielen Dank, dass ihr alle gekommen seid.“

Sybille blickte sich um. Etwa 150 Leute hatten sich inzwischen auf dem Mensavorplatz versammelt.

„Wir kommen hier heute Abend zusammen, um unseres Kommilitonen Steingart Bröcker zu gedenken, den wir alle als 'Steini' gekannt und geschätzt haben. Am Samstag Abend wurde er heimtückisch ermordet – von Neonazis, wie inzwischen auch die Polizei eingesehen hat.“

Ein Raunen erhob sich, das Jan mit erhobenen Händen zum Ersterben brachte.

„Die Polizei hat heute Kai Peters festgenommen – der kein anderer ist als der Neonazi, vor dessen Haus Steini noch am Samstag mit uns anderen demonstriert hat.“

Das Raunen erhob sich wieder. Sybille dachte daran, was Tobias dazu sagen würde, dass es tatsächlich ein Neonazi gewesen war.

Stefan murmelte ihr zu: „Jan hat es mir vorhin schon erzählt. Gut, dass sie ihn schon haben. Hätte nicht gedacht, dass sie so schnell auf uns hören.“

Er sah triumphierend aus und auch auf Jans Gesicht spiegelte sich Genugtuung. Sybille fand es merkwürdig, dass der AStA den vollen Namen des Tatverdächtigen nannte, dann fiel ihr wieder der Artikel in der Campus-Zeitschrift der letzten Woche ein. Unbehagen machte sich in ihr breit.

Dieses Mal wartete Jan, bis sich die Zuhörer von selbst wieder beruhigt hatten, bevor er wieder das Wort ergriff.

„Bei aller Freude darüber, dass die Polizei den Täter gefunden hat, ist dies natürlich ein Tag der Trauer. Steini war ein von uns allen geschätzter hervorragender Student und Kollege, der für die gute Sache eintrat und doch immer einen kühlen Kopf bewahrte. Heute Abend möchten wir zu seinem Gedenken einige Texte lesen und später in einem Lichtermarsch gemeinsam zum Studentenwohnheim laufen, um dort einige Kerzen aufzustellen.“

Sybille stöhnte leise. Ganz sicher würde sie nicht den ganzen Weg zum Studentenwohnheim zurücklegen, zumal es schon ohne diesen „Marsch“ ein langer Abend zu werden drohte. Es schien ihr, als würde auch ein guter Teil der anderen Anwesenden bei Jans Ankündigung unruhig.

„Zunächst aber,“ fuhr Jan ungerührt fort, „wollen wir eine Schweigeminute einlegen für unseren ermordeten Kommilitonen und Freund, 'Steini' Steingart Bröcker.“

Die Anwesenden senkten die Köpfe. Nur entfernter Verkehrslärm und ein paar Vögel waren nun zu hören. Sybilles Nase fing an zu jucken und sie versuchte krampfhaft, nicht auf die Uhr zu sehen. Verstohlen linste sie zu Stefan hinüber, der die Augen geschlossen hatte. Sie versuchte, sich ebenfalls zu sammeln und sich an etwas Nettes über Steini zu erinnern. Doch vor ihrem inneren Auge erschienen nur seine langatmigen Reden bei Vollversammlungen und sein gockelhaftes, wichtigtuerisches Auftreten bei den Ersti-Einführungen des AStAs. Sie fühlte sich schlecht. Immerhin, sagte sie sich, war er für seine Überzeugungen eingetreten und hatte sich in der Unipolitik engagiert. Das war doch was!

„Danke!“, riss Jan sie aus ihren Gedanken und erleichtert blickte sie auf. Jan räusperte sich, sichtlich betroffen.

„Vielen Dank. Frauke wird nun den ersten Text lesen.“

Er trat zur Seite und lies Frauke an seine Stelle treten.

Nach einigen Minuten wurden die ersten in der Gruppe unruhig und auch Sybilles Aufmerksamkeit begann zu schwinden.

„Hey,“ flüsterte sie Stefan zu, „gehst du gleich mit auf diesen Lichtermarsch?“

Stefan sah ungehalten aus, antwortete dann aber doch, ohne den Blick von Frauke zu lösen und so leise flüsternd, dass Sybille ihn kaum verstand. „Klar. Du nicht?“

Sybille schüttelte den Kopf, was Stefan nicht weiter kommentierte.

Schließlich beendete Frauke ihre Lesung. Sie trat in den Hintergrund und Schuffe trat nach vorne.

„War er gut mit Steini befreundet? Er sieht so mitgenommen aus,“ fragte Sybille leise.

„Ja, ich glaube schon. Steini hat ihn jedenfalls oft in Schutz genommen,“ flüsterte Stefan zurück.

Schuffe begann, seinen Text vorzulesen, und Sybille blickte verstohlen auf ihre Uhr.

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