Cancel Culture Transfer - Adrian Daub - E-Book

Cancel Culture Transfer E-Book

Adrian Daub

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Beschreibung

Ein Gespenst geht um in Europa, ja in der ganzen Welt – das Gespenst der Cancel Culture. Glaubt man diversen Zeitungen, dürfen insbesondere weiße Männer jenseits der vierzig praktisch nichts mehr sagen, wenn sie nicht ihren guten Ruf oder gar ihren Job riskieren wollen. Ist da etwas dran? Oder handelt es sich häufig um Panikmache, bei der Aktivist:innen zu einer Gefahr für die moralische Ordnung stilisiert werden, um ihre berechtigten Anliegen zu diskreditieren?
Der Ursprung der Cancel Culture wird üblicherweise an US-Universitäten verortet. Adrian Daub lehrt im kalifornischen Stanford Literaturwissenschaft. Er zeigt, wie während der Reagan-Jahre entwickelte Deutungsmuster über Campus-Romane verbreitet und auf die Gesellschaft insgesamt übertragen wurden. Man pickt einige wenige Anekdoten heraus und reicht sie herum, was auch hierzulande zu einer verzerrten Wahrnehmung führt. Anhand quantitativer Analysen zeichnet Daub nach, wie diese Diagnosen immer weitere Kreise zogen, bis sie auch die Twitter-Kanäle deutscher Politiker erfassten.

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Cover

Titel

3Adrian Daub

Cancel Culture Transfer

Wie eine moralische Panik die Welt erfasst

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2023

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2794.

edition suhrkamp 2794Originalausgabe© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022Alle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Textund Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77465-6

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

5Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorwort Allerlei Gespenster

Einleitung Die Angst vor Cancel Culture als moralische Panik

I

Cancel Culture als Diskursobjekt

Klimawandel

Für wen ist die Cancel-Culture-Panik da?

II

Wortgeschichte

Politische Korrektheit

Von der Call-out Culture zur Cancel Culture

Cancel Culture vor der Panik

Der Weg in den deutschsprachigen Raum

III

Amerikanische Ursprünge

I

: Der fremde Campus

»Inter silvas academi«

Auch ein Campusroman

1968: Eine Art Zäsur

Allan Bloom

IV

Amerikanische Ursprünge

II

: Der Wille zum Melodrama

»Speech codes«

Über das Recht, mit einer Fiktion zu leben

V

Vom Nutzen und Nachteil der Anekdote für die Panik

Das Spiel mit Raum und Zeit

Das Spiel mit der Perfektion

Das Spiel mit der Form

VI

Lokalisierung einer globalen Panik

Cancel Culture und die Unschärfen der Identitätspolitik-Debatte

Satisfaktionsfähigkeit

VII

Zur Poetik des Cancel-Culture-Texts

Stimmung machen

Twitter-Hermeneutik

Falsche Fragen

VIII

Aufmerksamkeit und Ökonomie

Die abonnierte Gesellschaft

Aufmerksamkeitsökonomie

Zur politischen Ökonomie einer Panik

Anmerkungen

Vorwort Allerlei Gespenster

Einleitung Die Angst vor Cancel Culture als moralische Panik

I

Cancel Culture als Diskursobjekt

II

Wortgeschichte

III

Amerikanische Ursprünge

I

: Der fremde Campus

IV

Amerikanische Ursprünge

II

: Der Wille zum Melodrama

V

Vom Nutzen und Nachteil der Anekdote für die Panik

VI

Lokalisierung einer globalen Panik

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Zur Poetik des Cancel-Culture-Texts

VIII

Aufmerksamkeit und Ökonomie

Danksagung

Informationen zum Buch

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7Vorwort Allerlei Gespenster

»Wenn ich ein Wort gebrauche«, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, »dann heißt es genau, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.«

»Es fragt sich nur«, sagte Alice, »ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.«

»Es fragt sich nur«, sagte Goggelmoggel, »wer der Stärkere ist, weiter nichts.«

Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln (1871)

Die Angst vor Cancel Culture hat uns erfasst, eine alte Angst in einem neuen Gewand. Wie viele alte Ängste (und wie viele unserer neuen Gewänder) kommt diese Furcht aus den USA. Harper's Magazine druckte im Oktober 2020 einen offenen Brief, in dem zahlreiche Intellektuelle und Künstler:innen klagten: »Der freie Austausch von Informationen und Ideen, das Lebenselixier liberaler Gesellschaften, wird mit jedem Tag weiter eingeschränkt.«1 Die ehrwürdige New York Times (NYT) fürchtet um die Meinungsfreiheit in den Vereinigten Staaten und berichtet von einer »Last«, die im Alltagsleben der USA auf ihr liege.2 »Keiner – unabhängig von Alter und Beruf – ist sicher«, so das liberale Magazin The Atlantic.3 Slavoj Žižek bezeichnet die »Auferlegung neuer Verbote und Regeln« als »Pseudoaktivität, vermittels derer man sicherstellt, dass sich wirklich nichts ändert, indem man vorgibt, hektisch zu handeln«.4 Gavin Williamson, unter Boris Johnson Bil8dungsminister des Vereinigten Königreichs, wollte Cancel Culture per Gesetz verbieten. Lapidarer formulierte es Elon Musk auf Twitter: »Cancel Cancel Culture!«5

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) fühlt sich an die chinesische Kulturrevolution erinnert. Der Spiegel weiß zu berichten, dass in den USA »im Wochentakt Professoren ins Visier eines erregungsbereiten Internetmobs geraten«.6 Auch in Deutschland sieht DieWelt »die Stunde der Denunzianten und Zensoren« gekommen: »Viele Deutsche haben das Gefühl, ihre Meinung nicht mehr sagen zu dürfen. Tatsächlich werden Menschen daran gehindert, sich zu äußern – von Radikalen, ob in Lehrsälen oder im Internet.«7

Im Präsidentschaftswahlkampf 2020 entdeckte Donald Trump das Thema für sich. Vor dem klassisch amerikanischen Postkartenmotiv des Mount Rushmore warnte er in einer Rede anlässlich der Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli, Cancel Culture »sei die Definition von Totalitarismus«, sie sei »unserer Kultur und unseren Werten völlig fremd«. Sie habe »absolut keinen Platz in den Vereinigten Staaten von Amerika«. Sie sei eine »politische Waffe«, mit der das Ziel verfolgt werde, »Menschen von ihren Arbeitsplätzen zu vertreiben, Andersdenkende zu beschämen und von jedem, der anderer Meinung ist, völlige Unterwerfung zu verlangen«.8

Dieser Diskurs, der einmal so ur-amerikanisch war wie eine Rede am 4. Juli am Mount Rushmore: Er hat sich längst zum internationalen Exportschlager entwickelt. Im Oktober 2021 hielt Wladimir Putin als Teil 9der Drohkulisse im Zuge der Vorbereitungen zum Krieg gegen die Ukraine eine Rede beim Valdai-Diskussionsforum in Sotschi. Dort griff er die »культураотмены« (Stornierungskultur) an. Diese sei ein gefährlicher westlicher Import, mit dem Russland geknebelt und geknechtet werden solle. 2022 dann, während Bomben auf Kiew fielen, verglich Putin die Reaktion des Westens gegenüber Russland mit dem Schicksal der Harry-Potter-Autorin J. ‌K. Rowling. Papst Franziskus warnte Anfang des Jahres 2022 vor der Cancel Culture als »eine[r] Form der ideologischen Kolonisierung, die keinen Raum für Meinungsfreiheit lässt«.9 Harry Potter erwähnte er leider nicht.

Auch in der Alten Welt hat man Angst vor den Canceler:innen, gerade weil sie angeblich amerikanische Verhältnisse nach Europa einschleppen. Die deutschsprachige Presse hat sich früh für den Begriff »Cancel Culture« interessiert. Er ist in Deutschland vor allem ein Medienbegriff geblieben. Seit 2019 findet sich »Cancel Culture« in Tausenden Artikeln in deutschsprachigen Zeitungen, von der Heilbronner Stimme bis zum Düsseldorfer Handelsblatt. Mindestens 120 Artikel widmete allein die NZZ dem Thema, im Spiegel tauchte der Ausdruck in fast 200 Artikeln auf. Der Philosoph Richard David Precht charakterisiert Cancel Culture als Teil einer »offensichtlichen Wertverschiebung der Linken«: Nach dem Ende des klassischen Marxismus fordere die Linke »heute die uneingeschränkte Deutungsmacht über den Menschen: seine Sprache, seinen Charakter, seinen Körper und seine Sexualität«. Precht sieht in den Debatten um »Gender und Transgender, 10drittes Geschlecht und Cancel Culture« einen »neue[n], divers gefüllte[n] autoritäre[n] Moralismus«.10

Seit 2020 warnt das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit vor der Cancel Culture, das Jahrbuch für Meinungsfreiheit widmet sich ihr ebenso wie die 2020 ins Leben gerufene Buchreihe »Schriften zur Rettung des öffentlichen Diskurses«. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen und in großen Tageszeitungen wird munter über linksidentitäre »Shitstorms« und »Wokeness« debattiert und gefragt: »Wie selbstgerecht sind die Linken?«11

Dieses Buch ist Ausdruck meiner Sorge, dass oft selektiv und partiell argumentiert wird, wenn von Cancel Culture die Rede ist. Aus wichtigen gesellschaftlichen Verschiebungen, auf die wir dringend Antworten benötigen, werden bestimmte Strömungen, Tendenzen und Einzelfälle herausgepickt und andere geflissentlich ignoriert. Im Endeffekt haben wir es nicht mit hilfreichen Lösungsansätzen zu tun, wenn vor Cancel Culture gewarnt wird, sondern eher mit einer moralischen Panik. Diese hängt vor allem mit dem zusammen, was ich Aufmerksamkeitsökonomie nennen werde: Man redet über Cancel Culture, um nicht über anderes reden zu müssen, um bestimmte Diskurse, Positionen und Autoritäten zu legitimieren und andere zu delegitimieren. Das Problem am Diskurs um Cancel Culture ist, dass er reale Probleme in einer Art Jahrmarktspiegel verzerrt. Winston Churchill wird der Satz zugeschrieben: »Ein Fanatiker ist jemand, der seine Meinung nicht ändern kann und das Thema nicht wechseln will.« Es geht mir nicht darum, jene, die gerne noch den nächsten und übernächsten Artikel schreiben würden über das, was 11sie alles angeblich nicht mehr sagen dürfen, von meiner Meinung zu überzeugen. Diese 371 Seiten sind ein Versuch, sie dazu zu ermuntern, zumindest das Thema zu wechseln.

Aber auch dieser Versuch hat seine Geschichte, die hier nicht verschwiegen werden soll. »Ein Gespenst geht um in Europa«, so beginnt der Klappentext dieses Buches. Ein Zitat, ursprünglich ein Marx-Zitat, aber – wie ich während der Arbeit an diesem Buch merken musste – mittlerweile weitaus mehr als das. Wenn ein anderer berühmter Satz von Marx wahr ist und sich »alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen« zwei Mal ereignen, das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce, dann hat sich das Zitat vom umgehenden Gespenst längst von aller tragischen Schwerkraft gelöst und stößt in die unendlichen Weiten der Farce vor. 1992 notierte Dietrich Diederichsen in einem Text zur politischen Korrektheit: »Ein Gespenst geht mal wieder um.«12 1995 beschrieb Michael Bonder einen konservativen Diskurs über Political Correctness, vermittels dessen »der ewige Kampf gegen die Kommunisten umgemünzt« werden konnte – der Titel, Sie ahnen es: Ein Gespenst geht um die Welt.13 Und in einer Metageste schrieb Marc Fabian Erdl 2014 ein Buch über Das Gespenst der politischen Korrektheit.14

Das Sprachspiel um »Diskurspolizisten«, »Tugendterror« und »Moralkollektivierung«: Es wiederholt sich, es rotiert, es tritt seit 30 Jahren auf der Stelle. Aber auch der Diskurs, der es entlarvt, klingt seit über 30 Jahren gleich. Beide Seiten sind vereint in ihrer Ermüdung. Wenn es um angebliche Denk-, Rede- und Auftrittsver12bote, um Diskursrinnen und Tugendwächter:innen geht, sind wir – ob Anti-PC-Panikmacher:innen oder Anti-Panikmache-Abwiegler:innen – die Gespenster, die umgehen. Wie der von Jack Nicholson gespielte Jack Torrance in Stanley Kubricks The Shining, dem der angebliche Hausverwalter Delbert Grady sagt, dass eigentlich er »immer schon der Hausverwalter« gewesen sei, sind wir Geister älterer Diskurse, sobald wir uns in die Untiefen dieses Diskurses begeben. Lebten Adorno und Horkheimer laut Georg Lukács noch im Grand Hotel Abgrund: Wir leben im Overlook Hotel, und wir sind immer schon sein Hausverwalter gewesen.

Jede Analyse des Diskurses um Cancel Culture muss diese Tatsache zumindest mitdenken: Es handelt sich um eine Neubeschreibung altbekannter Ängste, um eingeübte diskursive Kniffe. Ängste und Kniffe, die allerdings Mal ums Mal als neu, als präzedenzlos, als plötzlich erfahren werden. »Bedenkt: der Teufel, der ist alt«, sagt Mephisto in Goethes Faust. »So werdet alt, ihn zu verstehen.« Dieses Buch will zweierlei: alt werden, um diese alten Gespenster zu verstehen. Und die seltsame Amnesie begreifen, vermittels derer alte Gespenster uns mit schöner Regelmäßigkeit erneut erschrecken können. Was sagt die Tatsache, dass diese moralische Panik es schafft, erneut die Welt zu erobern, über unsere Gegenwart aus? Über die neuen Herausforderungen einer globalisierten, digitalisierten Welt und die sehr alten Reflexe, mit denen wir ihnen begegnen?

13Einleitung Die Angst vor Cancel Culture als moralische Panik

»Ein Angriff auf den Anführer der nicaraguanischen Freiheitskämpfer, Adolfo Calero, an der Harvard University am 2. Oktober und die anschließende Absage seiner Rede durch die Unileitung, trotz Caleros Wunsch zu sprechen, wirft Fragen auf, wie ernst es der Universität ist mit der Wahrung des freien Rederechts von Gastdozenten.«

Campus Report (November 1987)

Das Thema dieses Buches ist nicht die Furcht vor Cancel Culture in den USA, sondern eben das, was Europäer:innen aus dieser Furcht machen. Die Medien in Deutschland, Österreich, der Schweiz und in Frankreich haben alle den US-Diskurs aufgenommen, ebenso jene in Großbritannien und Russland, in Italien und Spanien (auch wenn es mir um diese Länder nur sekundär gehen wird). Ohne die Impulse durch Anekdoten und Stichworte aus den Vereinigten Staaten gäbe es die europäischen Varianten dieser Debatte nicht. Aber wer vor Cancel Culture Angst hat und warum, wo genau die Angst in den Medien grassiert – all das spricht Bände über das Selbstverständnis der jeweiligen Öffentlichkeit, über das Verhältnis zu den USA, die Globalisierung, die Kultur, die Frage der Identität. Die Rede von Cancel Culture ist ubiquitär, das Objekt selbst unscharf und kann in verschiedenen nationalen Kontexten jeweils anders produktiv gemacht werden. Ich werde spä14ter vom Begriff der Cancel Culture immer wieder als »Meme« sprechen. Damit meine ich einerseits, dass er nie weit entfernt von der Internetkultur zu existieren scheint (auch wenn er sie implizit verteufelt), und andererseits, dass er eine Art Gestell anbietet, an das unterschiedliche Gruppen und Individuen alles Mögliche hängen können. Dieses Buch will verstehen, wie eine Panik, die in und für die USA gemacht schien, in Europa verfing. Es geht mir um Formen der Aufmerksamkeit und des Appells, um Formen der Resonanz und der Zustimmung, um den Umgang des Internetzeitalters mit sich selbst.

Um die Thesen dieses Buches klar zu benennen: Ich behaupte erstens, dass sich der Diskurs über Cancel Culture, je länger er andauert, als Neuauflage des Diskurses um Political Correctness entpuppt. Beide sind wenig hilfreich, wenn es um die Beschreibung der Realität geht. Als Diskurse sind sie höchst interessant. Denn so schemenhaft umrissen die Charakteristiken der politischen Korrektheit, der Wokeness, der Identitätspolitik auch sind, so unklar es ist, was jeweils dazu gehört: Der Ton, der Duktus, der Diskurs, in welchem über sie geklagt wird, ist erstaunlich monolithisch und darüber hinaus seit Jahrzehnten konstant. Das Objekt mag instabil sein, das sich an diesem Objekt abarbeitende Subjekt ist verblüffend stabil.

Zweitens: Die Rede von der Cancel Culture scheint vor allem eine aufmerksamkeitsökonomische Funktion zu haben. Sie erheischt und kanalisiert Aufmerksamkeit. Sie stützt sich bevorzugt auf Anekdoten, setzt deren Relevanz bereits voraus und erspart den Leser:in15nen so, Partikulares und Universelles miteinander vermitteln zu müssen. Wenn wir irgendeine Nichtigkeit mit ihr in Verbindung bringen, ist diese Nichtigkeit plötzlich relevant. Ein lokaler, oft mikroskopisch kleiner Kontext wird fast wie durch Zauber entgrenzt, und Vorgänge in irgendeiner Twitter-Nische, an irgendeiner Uni, bei irgendeinem Verlag, von dem bis dato weder der Autor eines Beitrags noch seine Leser:innen je gehört haben, werden mit einem Mal als bedrohlich für »die« Gesellschaft empfunden. Ich werde diesen Aspekt unter dem Stichwort der »moralischen Panik« analysieren. Aber auch der Fundus historischer Vergleiche, der in keinem guten Cancel-Culture-Essay fehlen darf, leistet Ähnliches: Ob McCarthy, die chinesische Kulturrevolution, Robespierre, die RAF, die DDR: Der klassische Cancel-Culture-Aufregertext lebt davon, dass er konstant Verbindungen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Anekdote und System aufbaut, ohne diese wirklich jemals explizit zu untermauern.

Drittens: Der Geburtsort des Ausdrucks »Cancel Culture« ist das Internet, und ohne das Internet wäre auch die Beschreibung des Phänomens undenkbar. Nur hier hat der Ausdruck manchmal einen Hauch von Triftigkeit. Im Onlinediskurs gibt es tatsächlich Phänomene, insbesondere in den sozialen Netzwerken, die auf emotionale Eskalation, die Skandalisierung und auf die Anprangerung von Aussagen vonseiten ganz durchschnittlicher Zeitgenossen abzielen. Allerdings beschreibt der Diskurs über Cancel Culture diese Phänomene unzureichend und zum Teil bewusst verzerrend. Dazu gehört die lemmatische Verbindung von Cancel 16Culture mit Identitätspolitik, der Versuch, durch diskursive Pirouetten die Erregungsmechanismen vor allem links und unter jungen Menschen zu verorten, und das eigentlich Offensichtliche zu verstellen. Dass nämlich in unserer vernetzten Welt Skandalisierungsimpulse breit gestreut sind und sehr viel schneller überspringen können als in der Medienwelt von vor 20 Jahren; dass sich in den sozialen Netzwerken um emotional aufgeladene Themen rasch große kollektive Energie entwickeln kann; dass im Zeitalter der Influencer Menschen prominent sein oder werden können, die darin keinerlei Übung haben und auch nicht über die Ressourcen verfügen, vermittels derer man Prominenz gemeinhin managt; und dass gerade Twitter oder Facebook eine gewisse Entgrenzung des Skandals befördern können, in der ganz normale Menschen plötzlich wie Politiker:innen oder Autor:innen für ihre eigenen Aussagen zur Rechenschaft gezogen werden können.

Nur: Es ist auffällig, dass der Diskurs um Cancel Culture die Analyse solcher Phänomene nicht schärft, sondern fast darauf abzuzielen scheint, ihre Analyse zu erschweren. Denn erstens ist die Kontinuität der Sachbeschreibung, die ja das Vokabular des Diskurses um die Bedrohung durch die »politisch Korrekten« einfach notdürftig abstaubt und auf Twitter anwendet, nicht wirklich dazu geeignet, dem genuin Neuen der Situation gerecht zu werden. Zweitens ist die Fixierung auf die Kultur dem Begriff ja bereits eingeschrieben, was bedeutet, dass das Problem nicht etwa als institutionelles oder eines der politischen Ökonomie begriffen wird, sondern eben als ideologisches. Es geht, mit ande17ren Worten, um den »Twitter-Mob«, der per »Shitstorm« Unliebsame oder Heterodoxe in den »Cancel-Kerker« oder aufs »moralische Schafott« bringt, ohne die Frage zu stellen: Welcher wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bedarf es, damit aufgebrachte Mitmenschen in den sozialen Netzwerken (die ja quasi dazugehören wie das Amen zum Gebet in der Kirche) solche Wirkungsmacht haben? In diesem und in anderen Belangen fällt auf, dass die Rede von der Cancel Culture häufig nur so tut, als würde sie ein Problem benennen, während sie in Wahrheit bestenfalls real existierende (und durchaus triftige) Probleme nach einem altetablierten Muster umdeutet.

Viertens: Steht das Interesse an den Phänomenen um angebliche Zensur, Identitätspolitik und »Wokeness« bereits in den USA in keiner Relation zu ihrer objektiv belegbaren Verbreitung und Gravität, klafft die betreffende Schere in Europa noch weiter auseinander. Warum ein:e Zeitungsleser:in in Esslingen sich so oder so darum kümmern soll, was Studierende an einem College in der Gegend von Seattle treiben, ist noch einmal einen Schritt diffuser, als warum man es von einem Zeitungsleser oder einer Zeitungsleserin in Maryland erwartet. Diese aufmerksamkeitsökonomische Entgrenzung – in der etwas, das mich objektiv gesehen nur marginal tangieren sollte, als ein für mich und meinen Alltag eklatant Wichtiges präsentiert wird – ist in der Angst vor einer angeblich in den USA grassierenden und nun fast unausweichlich nach Deutschland schwappenden Cancel Culture deutlich zu erkennen.

Fünftens: Es ist einigermaßen offensichtlich, dass in 18der Angst vor Cancel Culture immer auch ein gewisses Maß Antiamerikanismus mitschwingt: Deutschland (oder die Schweiz oder Frankreich) sind in diesem Narrativ Fehlentwicklungen in den USA schutzlos ausgeliefert, unschuldige Opfer drohender »amerikanischer Zustände«. An diesem Narrativ ist nicht nur das Bild der ideologischen Gebernation falsch, sondern eben auch das der Nehmer. Denn Erzählungen von politischer Korrektheit und Cancel Culture gelingt wohl auch deshalb so unproblematisch der Sprung aus den USA nach Deutschland, weil sie hierzulande an bestehende Sorgen, Fragen und Diskurse andocken können. Sobald es die Mär vom zensurwütigen linken Amerika nach Deutschland geschafft hat, ist sie, mit anderen Worten, keine Mär von Amerika mehr, sondern längst eine über uns.

Das ist nicht erst so, seit das Internet und globale Verwertungsketten die Welt im 21. Jahrhundert noch stärker globalisiert haben. Vielmehr galt dies schon, als in den frühen neunziger Jahren die Angst vor Political Correctness über den Atlantik kam. Schon damals hatten wahrscheinlich viele Aspekte der Kulturübertragung weitaus mehr mit dem jeweiligen Empfängerland zu tun. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Deutschland ab 1990 einigermaßen bereit war für eine sicher in den fernen USA verortete Debatte über den politischen Diskurs. Am Ende eines Jahrzehnts, in dem sich – ob im Historikerstreit oder in Diskussionen darüber, was »Satire darf« – alle Welt mit Nazi-Vergleichen überzogen hatte und in dem die feuilletonistischen Auseinandersetzungen mit außerordentlich harten Bandagen geführt 19worden waren, bedeutete die Entdeckung des Diskurses um »PC« in den Vereinigten Staaten auch eine Art schöner Amnesie. Helmut Kohl hatte die achtziger Jahre damit verbracht, fast systematisch auszuprobieren, was »man« im Nachkriegsdeutschland (noch? wieder?) durfte – Gräber von Angehörigen der Waffen-SS besuchen zum Beispiel – und was nicht. In dieser Situation versprach die Vorstellung, dass die Grenze zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren von einem amerikanischen oder einem internationalen, auf jeden Fall aber einem ausländischen Diskurs diktiert würde, eine Auszeit vom deutschen Alltagshickhack.

Die USA sind das Ursprungsland des Begriffs »Cancel Culture« und sie sind auch der Exportweltmeister für Anekdoten, die die Existenz des Phänomens belegen sollen. Je intensiver man sich mit dem Imaginarium um politische Korrektheit und Cancel Culture beschäftigt, desto mehr springt das Lokale ins Auge, und es überrascht, dass diese Anekdoten und ihre Deutung den Sprung nach Europa überhaupt geschafft haben. Diese Narrative wurden im Konflikt mit der amerikanischen Campuswelt entwickelt und geschärft. Verbreitet wurden sie von einer in Europa einigermaßen unbekannten Infrastruktur: von Denkfabriken und »gemeinnützigen« Stiftungen, die von wohlhabenden konservativen Spender:innen eingerichtet worden waren und die zwar in Rufweite der Universitäten lagen, sich aber oppositionell zum Universitätssystem positionierten. Die Vorstellung, dass zu jeder auf einem Campus vertretenen Position eine Gegenposition gehört und es Aufgabe der Institution sei, dieser Gegenposition eine Platt20form zu bieten, ja, dass in dieser Pflicht die »Meinungsfreiheit« besteht – diese Idee hat das Geld von Öl-, Tabak- und Finanzmilliardären an die Universitäten gespült.

Auch die Opferlämmer, wie sie in der durchschnittlichen PC- oder Cancel-Culture-Anekdote konstruiert werden, scheinen intendiert für ein Publikum, das an christlich-fundamentalistischen Opfernarrativen geschult ist. Es ist kein Zufall, dass sich in PC-Geschichten die Mächtigen der Gesellschaft als die eigentlichen Opfer entpuppen. Ebendiesen Kunstgriff bringen Amerikas fundamentalistische Christen seit den siebziger Jahren fertig. Auch die Tatsache, dass selbst in Fällen, in denen ein »Opfer« nur mit gegenläufigen Meinungen konfrontiert war, sofort die Sprache von Schuld und Strafe bemüht wird – von »Inquisition«, »Tribunal«, »Gericht« und »Karzer« –, verweist auf die Denke der Fundamentalisten.

Als ich mich zum ersten Mal in den Vereinigten Staaten aufhielt, sah ich ab und zu den folgenden Sticker am Heck eines vorbeifahrenden Autos: »Wenn Sie vor Gericht stünden, weil Sie Christ sind, gäbe es dann genügend Beweise, um Sie zu verurteilen?« Sich vor Gericht zu wähnen, obwohl man es mitnichten ist: Diese imaginative Fähigkeit ist in den USA seit Jahrzehnten äußerst mächtig. Die Anekdoten, vermittels derer sich die Rede von der politischen Korrektheit zuerst im amerikanischen Zeitgeist etablierte, zehren stark von Fabeln und Geschichten, durch die der Reaganismus einer breiten Öffentlichkeit plausibel gemacht wurde. Sogar die Idee, dass die »Woken« in ihre eigenen ideologischen Echo21kammern eingeigelt sind, ist ein alter Topos amerikanischer Konservativer. Er stammt aus der Erfahrung neokonservativer Abtrünniger von der amerikanischen Kommunistischen Partei. Vielleicht ereignen sich ja die großen Paniken zwei Mal. Das eine Mal als sich selbst kaschierender Konservatismus, das andere Mal als sich selbst missverstehender Liberalismus.

Dieses zutiefst ortsabhängige, zutiefst amerikanische Narrativ, das ganz spezifischen generationellen Erfahrungen entspringt, wird in Diskursen um politische Korrektheit und Cancel Culture radikal entgrenzt. Einigermaßen absurd wirkt die Tendenz, aus scheinbar unwichtigen und provinziellen Vorfällen auf das Schicksal »des« Westens, »des« Liberalismus, »der« Aufklärung, Amerikas, Europas usw. zu schließen. Dieser Schluss stellt allerdings keine Überreaktion auf Gegebenes dar. Vielmehr funktioniert die Panik ohne diesen Sprung nicht. Nur durch die rhetorische Maximalisierung werden Sorgen, die sich sonst eindeutig dem rechten Spektrum zuordnen lassen würden, aus ihrem ursprünglichen Kontext gelöst und beginnen, entlang des gesamten Spektrums zu reüssieren. Vielleicht weil die Ablösung vom ursprünglichen Kontext diesen Diskurs überhaupt erst möglich macht, ist er seit Jahrzehnten ein Exportschlager. Je schemenhafter und schablonenhafter das Wissen um jene Objekte, die dieser Diskurs zu charakterisieren vorgibt, desto effektiver ist er.

Das liegt an einer Grundstimmung, die den Diskursen um PC und Cancel Culture gemein ist und die wahrscheinlich global, aber auf jeden Fall in der westlichen Welt, weit verbreitete Gefühlslagen bedient. Eine Angst 22vor Verlust von Diskurshoheit; ein verzogenes Einklagen versagter Resonanz; und ein geradezu klassisches Schimpfen über die Jugend, aufgeblasen zum Weltkonflikt. Im Frühjahr 2021 wurde publik, dass einige Diskussionsgruppen innerhalb des größten französischen Studierendenverbands Union nationale des étudiants de France nur Angehörigen bestimmter Minderheiten offenstanden. Eine Praxis, die man kritisieren kann. Aber eine Praxis, die nur deshalb relevant wurde, weil sie eine wahre diskursive Sintflut heraufbeschwor. Dazu befragt, gab der damalige französische Bildungsminister Jean-Michel Blanquer zu Protokoll, die Franzosen seien »auf einem Weg […], der zu Dingen führt, die dem Faschismus ähneln«.1 So unvermittelt Blanquers Sprung von der Posse zur Maximalwarnung logisch betrachtet auch ist: Er zehrt von einer bestimmten Imagination des Übergangs. Denn Blanquer sagt nicht, ein Ausschluss von Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft »sei« Faschismus. Er sagt, er führe »auf einen Weg« zu »Dingen«, die Faschismus »ähneln«.

Überhaupt »erinnert« oder »ähnelt« vieles Historischem, wenn Konservative oder Liberale vor Cancel Culture warnen. Kulturrevolution, McCarthy, DDR, Orwell oder eben die Nazis, in Frankreich ist auch die Rede von »Fatwas« populär. Die Tatsache, dass im Cancel-Culture-Diskurs Bagatellen scheinbar unvermittelt in lächerlich bombastischen Warnungen münden, entspringt nicht – oder nicht nur – der intellektuellen Faulheit. Sie beschwört ein hermeneutisches Einverständnis: Entweder man macht diesen rhetorischen Sprung mit oder eben nicht. Ein Zitat wie das von Blanquer ze23lebriert hermeneutische Solidarität: Entweder entbehrt sein Wortsalat jeder Logik und ist daher unverständlich oder er reflektiert – bei allem Unsinn – zumindest ein zwischen Politiker und Publikum geteiltes Gefühl und ist gerade deshalb identitätsstiftend. Umgekehrt ist dieser Maximalismus eine Art projektiver Narzissmus. Was einen selbst irritiert (Gendern, Debatten über Dreadlocks), muss unbedingt der Untergang der westlichen Kultur sein.

Gleichzeitig spricht der Diskurs einen Kulturpessimismus an, der sich nicht als konservativ und abwehrend verstehen muss, sondern sich liberal und weltoffen gerieren darf. Die Illiberalen sind die anderen; wer wegen einer Änderung in einem Kinderbuch ausflippt, ist hingegen Hüter der heiligen Flamme der Aufklärung. Die »PC«-Panik in den neunziger Jahren und die Cancel-Culture-Panik unserer Tage importieren das zutiefst Resignative des amerikanischen Konservatismus, müssen es aber nicht Konservatismus nennen. Das große Organ der konservativen amerikanischen Intelligenz, die National Review, beschrieb seine Mission 1955 so: Das Magazin stehe »quer zur Geschichte und ruft Stopp«.2 Diese Geste beschreibt die Paniken um Sagbarkeit und freie Meinungsäußerung bis heute außerordentlich gut. Man trauert dem nach, was früher problemloser sagbar war als heute, die allmähliche Veränderung der Sitten erfährt man als Massenwahn. Gerade in der Cancel-Culture-Panik, die in den USA stark unter dem Eindruck der Bewegungen Black Lives Matter und #MeToo und in Deutschland unter dem Eindruck der sogenannten Flüchtlingskrise von 2015 stand, 24wird ein gesellschaftlicher Konsens, den der Einzelne nicht teilt, zur Verschwörung uminterpretiert.

Schuld sind – auch das ist im amerikanischen Diskurs angelegt – nie Strömungen und Entwicklungen innerhalb »des Volkes«. Verantwortlich sind vielmehr Teile der Eliten. »Die größte kulturelle Bedrohung in Amerika«, so heißt es weiter im soeben zitierten Text aus der National Review, »ist die Konformität der intellektuellen Cliquen, die sowohl in der Bildung als auch in der Kunst darauf aus sind, der Nation ihre Modeerscheinungen und Irrtümer aufzuzwingen und dies fast geschafft haben«.3 Konformität, intellektuelle Eliten und ihr unheimliches und schon »fast« realisiertes Umerziehungsprojekt: Diese Ideen entsprangen zwar einem spezifischen US-Kontext, waren aber international eklatant anschlussfähig. Sie erlaubten es, Intellektualismus mit Antiintellektualismus, Elitismus mit Elitenkritik zu verbinden. Der »heterodoxe« Denker, der dem Zeitgeist »Stopp« entgegenbrüllt, ist intellektueller als die Intellektuellen, intelligenter als die Intelligenz, in seiner Heterodoxie ist er aber ebenso Fürsprecher für jene, die von den »Modeerscheinungen« und »Irrtümern« des Zeitgeists vor den Kopf gestoßen worden sind. Und er kritisiert die Eliten, ohne selbst wirklich dem eigenen Populismus glauben zu müssen. Das Problem für ihn ist nicht der Elitismus, sondern die falsche Elite.

Es ist einigermaßen wohlfeil, diesen Diskurs triumphierend der Projektion zu überführen. Es handelt sich, wenn man den Beschreiber:innen der Cancel Culture beim Beschreiben zusieht, um so etwas wie die Kaninchen-Ente-Illusion: Entweder drängt sich der Hase re25gelrecht auf, oder man kann gar nichts anderes sehen als die Ente. Dass sich die Warnungen vor »PC« und Cancel Culture endlos an Charakteristiken von Identitätspolitik abarbeiteten, dabei eindeutig selbst Identitätspolitik für Mitglieder der weißen Mehrheitsgesellschaft darstellen; dass ständig von »Jammern« (grievance) die Rede ist, aber permanent selbst gejammert wird; dass der Gegenseite eine Hysterie und eine rhetorische Eskalation unterstellt wird, die man selbst munter betreibt; dass man in allem einen amerikanischen Import von Cancel Culture entdeckt und sich gleichzeitig permanent an kontextbefreiten amerikanischen Diskursen bedient; dass man von »Kränkung« und »Empfindlichkeit« faselt, aber bei jedem Genderstern oder dem Ausdruck »People of Color« (POC) gleich ausflippt: Aus all diesen Gründen leistet, wer hochseriös vor Cancel Culture warnt, immer auch eine Art unfreiwilligen Offenbarungseid.

Ich werde mich im Folgenden bemühen, auf billige Pointen zu verzichten, aber eine der Grundannahmen dieses Buches lautet, dass solche oberflächlichen Widersprüche für eine Analyse des liberalen und konservativen Diskurses um die »woke« Cancel Culture wichtiger sind, als man zunächst annehmen könnte. Denn es gibt diese Widersprüche, und trotz oder gerade wegen ihnen scheint die Warnung vor Cancel Culture doch für eine außerordentlich große Zahl gut informierter Menschen einigermaßen zu funktionieren. Man kommt in der Ideologiekritik dieses Diskurses nicht sehr weit, wenn man nicht die simple, aber fundamentale Tatsache mit bedenkt, wie viel es von diesem Diskurs gibt. Inmit26ten von »Sprachpolizei« und »Schere im Kopf« fließt ein nicht versiegen wollender Strom ungemein gleichförmiger Artikel durch unsere Tageszeitungen. Vielleicht ist Wolfgang Thierse sich nicht einer gewissen Ironie bewusst, wenn er sich in jeder Talksendung darüber beklagen darf, was er als alter weißer Mann nicht mehr sagen darf. Um das zu wissen, müsste man in seinen Kopf schauen können. Was man aber auf jeden Fall sagen kann, ist: Jemand, der Thierse in allen Medien verfolgt und dennoch findet, dass Menschen wie ihm der Mund verboten würde, darf sich, damit dieser Diskurs für ihn funktioniert, dieser Ironie entweder nicht bewusst sein oder muss sie zumindest anders akzentuieren.

Der Diskurs um Cancel Culture zeichnet sich weniger durch klare Definitionen und genaue Beschreibungen gesellschaftlicher Dynamiken aus, sondern weitaus mehr durch ein generelles Gefühl der Bedrohung. Deswegen analysiere ich ihn in diesem Buch als »moralische Panik«. Der Diskurs besteht aus einer Fülle von Erzählungen: Wenn auch der oder die durchschnittliche Zeitungsleser:in in Deutschland, Österreich oder der Schweiz keine Definition von Cancel Culture geben kann, so kennt er oder sie doch Beispiele für Cancel Culture und die Namen prominenter Gecancelter. Oder – und auch das ist für meine Argumentation zentral – er oder sie weiß zumindest, wie Erzählungen über das Canceln aussehen. Die Art Vorfall, auf die sich Texte, die vor Cancel Culture warnen, beziehen, hat eine klare Gestalt. Wir alle kennen sie: An einer »University« wurde ein Professor von seinen Student:innen ge27cancelt, nur weil er einen Brief unterschrieben, »Indianer« gesagt oder einen Artikel verfasst hat ‌… Ob sich die Episode so zugetragen hat, der oder die Autor:in genau recherchiert hat, wichtige Details unterschlagen oder auch nur nachgeprüft wurden – all das ist im Grunde genommen sekundär. Wie Giordano Bruno sagen würde: »Se non è vero, è molto ben trovato« – wenn es nicht wahr ist, ist es doch gut erfunden.« Um es klar zu sagen: Es gibt solche Vorfälle. Die Frage ist, inwiefern und wie sie der Rede wert sind. Und genau diese Frage wird in Cancel-Culture-Alarmtexten nicht gestellt, eben damit sie alarmieren können.

Eine breitere Öffentlichkeit spricht seit 2018 von Cancel Culture. Ich werde mich in den folgenden Kapiteln noch den verschiedenen Definitionsversuchen widmen und ihre beachtliche Evolution in der kurzen Zeitspanne bis heute nachzeichnen. Aber man kann generell von drei miteinander verzahnten Bedeutungsebenen des Begriffs ausgehen. Erstens gibt es neue mediale Rituale, die in der Tat unheimlich anmuten können. Sie werden insbesondere durch die sozialen Netzwerke und das Internet verbreitet und befeuert. Menschen, die auf halb verstandene Tweets mit massiven Vorwürfen reagieren. User:innen, die prinzipiell bei Onlinediskussionen emotional aufdrehen und das dann als Aktivismus missverstehen. Twitter-Polizist:innen, die andere durch Kommentare oder bloßstellende Neukontextualisierung der Aggression anderer aussetzen. Wie gesagt, all das gibt es, und die verschiedenen digitalen Plattformen scheinen jeweils ihre eigenen Formen dieser diskursiven Pathologien hervorzubringen.

28Wie wir in Kapitel II sehen werden, sind die Umgangsformen auf Twitter und Tumblr als Fokus der Cancel-Culture-Debatte sehr schnell nach dem ersten Aufkommen des Begriffs 2018 verschwunden. Stattdessen wurde eine zweite Bedeutungsebene wichtiger: die Behauptung, Rituale in den sozialen Medien seien Teil einer breiteren kulturellen Verschiebung, die nicht nur das Internet, sondern auch die übrige Kultur und Öffentlichkeit erfasst hätte. Cancel Culture habe zwar in den sozialen Netzwerken ihren Ausgang genommen, sie etabliere sich aber mehr und mehr in »woken« Bürger:innen-Bubbles, an Universitäten, im Verlagswesen, in der Bundesliga. Hier wird der Versuch, eine einigermaßen präzedenzlose medientechnische Entwicklung, die Entstehung der sozialen Netzwerke, begrifflich zu fassen, ersetzt durch einen altbekannten Diskurs, nämlich die Warnung vor der politischen Korrektheit.

Die dritte Bedeutungsebene ist die weiter reichende Behauptung, die implizit zum Beispiel von Yascha Mounk und explizit von Wolfgang Thierse vertreten wird: Die Kultur des linken Cancelns treibe die Spaltung der Gesellschaft voran. Diese These scheint mir vor allem in Deutschland verbreitet, wo die Angst vor der »Spaltung« der Gesellschaft gerade wegen des Aufstiegs der Alternative für Deutschland (AfD) und der Covid-19-Pandemie ohnehin stark grassiert und sozusagen für eine Fusion mit Ängsten um Cancel Culture bereitstand.

Die moralische Panik um eine angeblich drohende Cancel Culture verläuft häufig so, dass sich Warnungen schleichend und rhetorisch oftmals verschleiert zwi29schen der ersten und der zweiten Bedeutungsebene bewegen. Dass jemand, der online sehr aktiv ist, sich Sorgen machen könnte, ein unbedachter Tweet oder Facebook-Post könnte negative berufliche Konsequenzen nach sich ziehen, ist noch keine Panik. In den meisten Fällen mag diese Angst nicht wohlbegründet sein, irrational ist sie aber beileibe nicht.

Die Panik fängt an, wenn die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse – wer über Macht verfügt und wer nicht, wer verwundbar ist und wer nicht, was man sagen darf und was nicht – umgedreht werden: wenn transgender Studierende, die in den Medien nie zu Wort kommen, zur »Translobby« erklärt werden, während Bundestagsabgeordnete, Präsident:innen, Milliardär:innen und die Russische Föderation als machtlose Opfer gelten; wenn aus Lappalien maximale Diagnosen abgeleitet werden; wenn angeblich neu aufziehende Gefahren an jahrzehntealten Zwischenfällen festgemacht werden; wenn in holzschnittartigen Erzählungen ein wichtiger Teil des Kontextes weggelassen, aber den Rezipient:innen dennoch das Gefühl vermittelt wird, sie hätten eine komplexe Situation bestens verstanden.

Der Begriff der moralischen Panik wurde 1972 von dem Soziologen Stanley Cohen eingeführt. In seinem Buch Folk Devils and Moral Panics untersuchte er »Mods« und »Rockers« als Diskursobjekte. Im Vereinigten Königreich der sechziger Jahre waren diese beiden Subkulturen bei Jugendlichen beliebt, wurden aber auch – und zwar in einem überraschenden Ausmaß – als Bedrohungen für die öffentliche Ordnung verstanden. Die Frage »Mod oder Rocker?« war in Bezug auf die 30Kleidung, den Lebensstil und die Ausdrucksweise in bestimmten jugendlichen Milieus enorm wichtig. Aber in der Folge einiger Schlägereien, in die junge Menschen mit Mods- und Rockers-Ästhetik verwickelt waren, wurde die Frage plötzlich für die ältere Generation, für die Obrigkeit, für die Politik wichtig: Mods und Rockers waren nun nicht mehr ausschließlich auf der hippen Carnaby Street ein Thema, sondern in den großen Tageszeitungen, im Parlament in Westminster, sogar die Justiz beschäftigte sich mit ihnen.

Abgeordnete überschlugen sich mit extremen historischen Vergleichen und apokalyptischen Warnungen. Ein Repräsentant sprach von den jungen Menschen als »marodierender Wikinger-Armee, die massakrierend und plündernd durch Europa zieht und sich mit Gemetzeln und Raubgier durchschlägt«.4 Nach jedem angeblichen Zwischenfall, bei dem jemand unter 30 Jahren beteiligt gewesen war und ein anderer vielleicht eine Lederjacke getragen hatte, berichtete die Presse von dem eskalierenden Problem: »Ein Dorf in Angst! Was können wir tun, um weitere Schlägereien zu verhindern?« Bald stellte sich das ein, was Cohen die »Erweiterung des Netzes« der Sensibilisierung nannte: War es am Anfang um Schlägereien und öffentliche Sicherheit gegangen, gerieten plötzlich alle möglichen anderen Praktiken junger Menschen ins Schlaglicht der Öffentlichkeit. In Brighton wurden junge Frauen, die in warmen Sommernächten am Strand kampierten, von der Polizei festgenommen. Ganze Musik- und Kleidungsstile waren auf einmal suspekt.

Beeinflusst wurde der Diskurs von älteren Men31schen, die Cohen als »moral entrepreneurs« bezeichnete, also moralische Unternehmer:innen. Sie interpretierten die Zwischenfälle für das breite Publikum, erklärten, warum eine Schlägerei in Margate und Mädchen am Strand in Brighton eine:n Zeitungsleser:in in Leeds etwas angingen. Manche waren Entscheidungsträger:innen, Journalist:innen oder Politiker:innen, aber ihre Währung war weniger das Gesetz als die Aufmerksamkeit. Sie verlangten, dass die Eliten endlich das Problem erkennen sollten, dass die Staatsgewalt endlich etwas tun müsste. Sie riefen nach Kontrollinstanzen, während sie gleichzeitig einem breiten Publikum das Gefühl eines Kontrollverlusts verkauften.

Cohen wies darauf hin, wie vorhersagbar jede neue Kapriole dieses Diskurses war. Wenn man sein Buch heute liest, ist man beeindruckt davon, wie passgenau sich sein Modell auf spätere mediale Hysterien – von der um Heavy Metal bis hin zu der um Killerspiele – anwenden lässt. Cohen definierte »moralische Panik« wie folgt:

Ein Zustand, eine Episode, eine Person oder eine Gruppe von Personen wird als Bedrohung gesellschaftlicher Werte und Interessen definiert; die Natur dieser Bedrohung wird von den Massenmedien stilisiert und stereotyp dargestellt; die moralischen Barrikaden werden von Redakteuren, Bischöfen, Politikern und anderen rechtschaffenen Menschen besetzt; gesellschaftlich anerkannte Experten sprechen ihre Diagnosen und Lösungen aus.5

Die Objekte, die sich solche Paniken konstruieren, sind, wie Cohen schreibt, »einigermaßen vorhersagbar«. Mehr noch, Presse und »moral entrepreneurs« verpassen der 32Panik, fast ungeachtet ihres vorgeblichen Objekts, ihre verblüffend gleichförmige Grammatik. Die jeweiligen Objekte

sind neu (vielleicht latent, aber schwer zu erkennen; täuschend gewöhnlich und reine Routine, ziehen aber fast unbemerkt auf am moralischen Horizont) – aber auch alt (getarnte Versionen traditioneller und bekannter Übel). Sie sind an sich schädlich – aber gleichzeitig auch lediglich Warnzeichen für die wirkliche, viel tiefere und weiter verbreitete Bedrohung. Sie sind transparent (jeder kann sehen, was passiert) – aber auch undurchsichtig: Akkreditierte Experten müssen die Gefahren erklären, die sich hinter dem oberflächlich Harmlosen verbergen (den Text eines Rocksongs entschlüsseln, um zu sehen, wie er zu einem Schulmassaker führte).6

Junge Menschen betrachteten die Panik rund um die Mods und die Rockers von Anfang an skeptisch. In A Hard Day's Night fragt eine Reporterin Ringo Starr, welcher der beiden Subkulturen er sich zugehörig fühle. Der Beatles-Schlagzeuger antwortet spöttisch: »I'm a mocker.« Aber junge Menschen wurden eben nur im Film gefragt und nur wenn sie Ringo Starr hießen. Der Untertitel von Cohens Buch lautet »Die Erfindung der Mods und Rockers«. Dabei gab es die beiden Gruppen natürlich. Aber was in den Medien aus ihnen wurde, war etwas ganz Eigenes. Die Jugendlichen waren der Deutungshoheit über ihre eigene Kultur verlustig gegangen. Die moralische Panik löste sich von »bestimmten missbilligten Verhaltensweisen (wie Drogenkonsum oder Gewalt)« und machte sich stattdessen an »sozialen Typen« fest.7 Wer beobachtet, wie der Begriff »canceln« im gegenwärtigen Diskurs immer seltener für 33Handlungsbeschreibungen und immer öfter zur Identifikation ganz bestimmter Menschentypen verwendet wird (Linke, Junge, Woke usw.), der erkennt ein spätes Echo der von Cohen beschriebenen Panik aus den sechziger Jahren: Bald hatten die Brit:innen keine Angst mehr vor bestimmten Handlungen der Mods oder Rockers, sondern vor Mods und Rockers als Menschen.

Cohen war sich sehr wohl bewusst, dass es gewissermaßen eine Angst hinter der Angst gab. Denn tatsächlich etablierte sich ja in jenen Jahren eine Jugendkultur, die politische Wirkungen entfalten und die Welt verändern sollte. Die Rebellion der Babyboomer und die Verwerfungen der späten sechziger Jahre kündigten sich an. Die Mods/Rockers-Panik war ein verzerrter Blick auf diese Gemengelage: Was sie zeigte, war einerseits purer Unsinn, es gab keinen Bürgerkrieg zwischen Jugendlichen mit gegelten Haaren und solchen ohne. Dennoch: Die gesellschaftlichen Ängste, denen diese Panik Ausdruck verlieh, waren real. Sie hatte eine politische Dimension und wichtiger noch eine politische Funktion.

Eine moralische Panik ist keine bloße Massenhysterie. Sie hat politische Wirkmacht und artikuliert ein im Normalfall affirmatives Verhältnis zu existierenden Macht- und Privilegienstrukturen. Die Held:innen und Retter:innen, nach denen die Mods/Rockers-Panik implizit rief, waren: Eltern, Politiker:innen, Richter:innen und Polizist:innen. Die Schurken waren junge Menschen mit wirrem Haar und lauter Musik. Auch die Cancel-Culture-Panik lebt von der Vorannahme, dass diejenigen, die Macht haben – von Politiker:innen bis hin zu 34Redakteur:innen und etablierten Autor:innen –, sie verdienen. Die Schurken sind junge Menschen mit »they/them pronouns« in ihrer Twitter-Bio.

Cohens Begriff der »folk devils« legt nahe, dass es sich bei moralischen Paniken immer auch um Folklore handelt: Sosehr sie auch von öffentlichen Stellen, von der Presse oder gar von Politiker:innen verbreitet werden, sie verfangen nur, weil sie auf ein Reservoir an symbolischen Ängsten und Bedeutungen in ihrem Zielpublikum zurückgreifen. Das heißt auch, dass man, wenn man die Furcht vor der Cancel Culture als moralische Panik analysiert, auf einen anderen Begriff verzichtet, nämlich den der Propaganda. Moralische Paniken als Folklore sind nie so eindeutig wie Propaganda und sind nicht so offen abhängig von Machtstrukturen von der Politik und der Medienwelt. Die Furcht vor Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen im Vorlauf zum zweiten Irakkrieg war keine moralische Panik, obgleich die mediale Aufbereitung der falschen Vorwürfe auf ähnliche Mechanismen zurückgriff. Aber bewusste Falschinformationen, die von getreuen Lakaien im Verteidigungsministerium erfunden, vom Außenminister im UN-Sicherheitsrat vorgetragen und ständig im Brustton der Überzeugung von angeblich seriösen Medienmenschen diskutiert werden, konstituieren keine moralische Panik. Eine moralische Panik ist agiler, stärker von Instinkt geleitet und ein Stück weit auch einfach schrulliger. Im Rückblick wirkt sie häufig bizarr und peinlich, statt unehrlich und manipulativ.

Wenn überhaupt zurückgeschaut wird. Denn moralische Paniken sind auf eine gewisse Amnesie angewiesen. 35»Eine Panik«, so Cohen, »ist per definitionem selbstbegrenzend, vorübergehend und krampfhaft, ein Wutausbruch, der sich selbst verbrennt.«8 Wenn die nächste, ähnlich gelagerte moralische Panik die Welt erfasst und plötzlich statt Heavy-Metal-Musik Hip-Hop die Kinder verderben oder die Gefahr von Killerspielen statt von Killervideos ausgehen soll, dann ist es sogar essenziell wichtig, dass der letzte Zyklus der Erregung schnell wieder vergessen wurde. »Jeder Appell«, heißt es bei Cohen, »ist ein Taschenspielertrick, Magie ohne den Zauberer.«9 Die Soziologen Erich Goode und Nachman Ben-Yehuda haben in den neunziger Jahren auf die charakteristische Entwicklung moralischer Paniken hingewiesen: Eine Gefahr wird schnell und intensiv heraufbeschworen, aber »die extreme Angst, Ablehnung und Sorge, die sich während einer moralischen Panik entwickeln, sind normalerweise von relativ begrenzter Dauer«.10

Cancel Culture mag anders heißen, aber jene, die vor ihr Angst schüren, beschreiben im Endeffekt dasselbe Objekt wie jene moralische Panik, die es 1991 auf die Titelseite des New York Magazine schaffte: »Are you politically correct?« Die Behauptung, dass Unis »jetzt« das auf dem Campus Sagbare immer weiter eingrenzen würden, steht in dieser Form seit mindestens den späten achtziger Jahren im Raum – untermauert jeweils von den üblichen selektiven und häufig falsch interpretierten Anekdoten. Was heute »trigger warnings« sind, waren damals »speech codes«. Warum ist die zeitliche Ausdehnung dieser Panik so anders? Warum schieben wir, nach all den Jahrzehnten, immer noch dieselbe Panik?

36Eben hier setzt dieses Buch ein. Es soll erklären und nachzeichnen, wie und warum die deutschsprachige Öffentlichkeit sich so schnell davon überzeugt hat, dass es Cancel Culture gibt, dass man weiß, was sie ist, und dass sie ein existenzielles Problem darstellt. Was haben wir vergessen, damit die Debatte um Cancel Culture möglich werden konnte? Ich möchte dem Diskurs seine Geschichte zurückgeben. Gewiss: Die Feststellung, dass wir schon vor 20, 30, 40 Jahren vor dem bösen Wolf gewarnt wurden, bedeutet nicht, dass er diesmal nicht kommt. Aber darum geht es mir in diesem Buch nicht. Ich will das wiederholte »Wolf«-Rufen erforschen und die Öffentlichkeit, die ihm immer wieder von Neuem Gehör schenkt.

Meine These lautet, dass das Aufkommen der Panik kurz nach #MeToo kein Zufall ist. Ihre Struktur und ihr zeitlicher Verlauf ahmen jene von #MeToo und Black Lives Matter ziemlich genau nach. Zum einen wird ein relativ transhistorisches Problem identifiziert (Rassismus/Sexismus hier, Zensur und Illiberalität dort), zum anderen wird eine krisenhafte Häufung betont. In beiden Fällen wird von Anekdoten auf das System geschlossen, und in beiden Fällen wird neu bewertet, wessen Anekdoten und Einzelfälle überhaupt systematisierender Interpretation wert sind. #MeToo und Black Lives Matter entwickelten ihre ungeheure gesellschaftliche Kraft in der Resonanz, in der Wiedererkennung gesellschaftlicher Missstände in der Alltagswelt vieler Frauen und People of Color. Also machen sich die Warner:innen vor Cancel Culture auf die Suche nach Schweigespiralen und Scheren im Kopf, die Ähnliches 37für eine unangenehme Interaktion auf Twitter leisten sollen. Die Angst vor Cancel Culture ist #MeToo für Menschen, die vor #MeToo Angst haben. Die Tatsache, dass sowohl bei #MeToo als auch bei Black Lives Matter die Anzahl der Anekdoten ungleich größer ist als bei Cancel Culture, ist dabei kein Manko, sondern wahrscheinlich hilfreich: Der Cancel-Culture-Warndiskurs entwertet schließlich ein Stück weit seine Anekdoten, die ihm erstens einigermaßen egal sind und bei denen sich die einzelnen Autor:innen zweitens nur selten die Mühe machen, sie zu überprüfen oder zu kontextualisieren. Die Angst vor Cancel Culture ist eine Art hämische Parodie. Die Verbindungen von Anekdote und System, die Black Lives Matter und #MeToo voraussetzen, sind über jahrzehntelange Theoriearbeit, von Intersektionalität bis feministischer Theorie, etabliert worden. Anhand von Begriffen wie »Mikroaggressionen« oder »white privilege« (egal ob man die Begriffe selbst triftig findet oder nicht) lässt sich klar sagen, wie der Schritt von der Anekdote zum System aussehen soll. Die Warnungen vor Cancel Culture sparen sich diese Arbeit und wollen auch zeigen, dass sie sich diese Arbeit sparen. Einmal mehr tut der Diskurs über die »Woken«, was er diesen ankreidet. Hier wird tatsächlich ein Glaube vorausgesetzt und sogar gefordert. Das Mantrahafte der Verbindung von Einzelfall und System, das in PC- und Cancel-Culture-Alarmtexten vorliegt, ist reines Exerzitium. Es simuliert eine Verbindung durch ritualisierte Wiederholung, die nicht rational plausibel gemacht werden kann. Die Fadenscheinigkeit der Analogien, mit denen die Warner:in38nen operieren, die oft miserable Qualität der Texte, in denen die Warnungen vorgetragen werden, sie sind das heimliche Prinzip des Panik-Diskurses. Macht muss sich keine Mühe geben, um sich zu rechtfertigen; ja, gäbe sie sich Mühe, sie wäre keine Macht mehr.