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Carla schwimmt für ihr Leben gerne. Doch eines Tages erhält sie einen Drohbrief, der von ihr verlangt, das Schwimmen aufzugeben, sonst muss sie mit Konsequenzen rechnen. Aber wer würde ihr diese Leidenschaft nehmen wollen, und warum? Als auf einmal das Schwimmbad schließen muss und der Ort mit einer Trinkwasserverschmutzung zu kämpfen hat, wird es ernst und Carla geht mit ihren Freunden verdächtigen Hinweisen nach. Doch die Ereignisse überschlagen sich plötzlich und Carla wird entführt! Zur Überraschung ihrer Freunde ist es ausgerechnet die Hauptverdächtige, die ihnen zur Hilfe kommt. Können Ihre Freunde herausfinden, wer Carla entführt hat und gemeinsam das Rätsel um das Trinkwasser lösen? Eine spannende Geschichte über Ungerechtigkeit, Rache und Vergebung, ab 12 Jahren.
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Seitenzahl: 234
Ariane Vaßen
blackforest friends
Für Hanna, Simon und Sarah
© 2024 Brunnen Verlag GmbH, Gießen
Lektorat: Alena Dörr
Umschlagillustration: Andrea Baitz
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: Brunnen Verlag GmbH
ISBN Buch 978-3-7655-2179-9
ISBN E-Book 978-3-7655-7871-7
www.brunnen-verlag.de
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Als Carla aus der Dusche kommt, geht sie zu ihrem Spind. Das war heute wieder anstrengend! Immer muss sie als Letzte schwimmen und den Zeitverlust der anderen im wahrsten Sinne des Wortes ausbaden. Na ja, sie ist ja auch die beste Schwimmerin. Das sagt zumindest ihre Trainerin Lena, und darauf ist sie ganz schön stolz. Sie trocknet sich ab und nimmt das kleine Handtuch für ihre Haare. Wie geschickt das ist, denkt sie jedes Mal. Das Handtuch hat einen Knopf an der Seite und ein Gummiband angenäht. Wenn man es richtig dreht, kann man das Gummiband um den Knopf befestigen und so bleibt der Handtuchturban fest. Geniale Erfindung, findet Carla. Sie lächelt und holt ihre Wäsche aus der Tasche. Nach dem Schwimmen zieht sie bequeme Kleidung an. Eine Jogginghose und ein Hoodie. Da fällt ihr ein kleiner Zettel entgegen.
„Tschüss, Carla, bis Donnerstag“, ruft ihre Freundin Marie, die schon vor ihr in der Umkleide war. Carla schaut kurz auf und ruft: „Ciao, Marie!“
Jetzt erst merkt Carla, dass die anderen Mädchen schon alle weg sind. Wie ruhig es in der Umkleide ist! Aber eigentlich ist das auch mal ganz angenehm, denkt sie. Sonst ist es immer so laut und unruhig, und ein paar Mädels werfen manchmal mit ihren Kleidern oder Handtüchern herum. Das nervt, wenn dann auch die eigene Kleidung auf den Schwimmbadboden fällt. War sie so langsam heute? Sie waren doch alle zusammen in der Dusche und haben herumgealbert. Oft tauschen sie die Shampoos, Spülungen oder Duschcremes aus. Es ist immer interessant, was die anderen Mädchen für Pflegeprodukte dabeihaben.
Ihr Blick senkt sich wieder und sie hebt erstaunt den Zettel auf. Wo kommt der denn her? Ist der von Mama? Hat sie wieder irgendetwas vergessen? Kurz schießen ihr ein paar Gedanken durch den Kopf, was Mama wohl geschrieben haben könnte.
Sie nimmt den Zettel und liest. Schnell faltet sie ihn wieder zusammen und schaut sich erschrocken um. Ein kalter Schauer läuft ihr den Rücken herunter. Was soll das? Wie kommt der Zettel in ihre Tasche? Sie überlegt und starrt erneut auf den Zettel. Da wird ihr noch einmal bewusst, dass sie wirklich ganz alleine in der Umkleide ist. Kein Mucks ist zu hören. Oder kommt ihr das gerade nur so vor? Sie bindet sich das Handtuch erneut um den Körper und läuft zur Tür, Richtung Dusche. Den Zettel hat sie immer noch in der Hand. Sie schaut vorsichtig um die Ecke. Niemand da. Auch in der Dusche ist es ruhig. Normalerweise hört man Wasserlaufen, Mädchenstimmen und lautes Gekicher, aber jetzt: nur eine erdrückende Stille. Auch in den Waschräumen der Jungen scheint niemand mehr zu sein. Sie faltet den Zettel noch einmal auseinander und liest den kurzen Text. Fast rutscht ihr der Zettel aus den Fingern. Das kann doch nicht sein!
Da hört sie ein Geräusch. „Hallo? Ist da wer?“, fragt sie leise. „Soll das ein Scherz sein?“ Die letzten Worte kommen kaum hörbar über ihre Lippen.
„Wer ist da?“, will sie rufen, aber vor lauter Zittern kommt kein Ton raus. Schritte! Sie dreht sich in alle Richtungen, entdeckt aber niemanden. Die vielen großen Spinde verdecken die Sicht und sie kann nur erahnen, woher die Schritte kommen. Sie kniet sich hin und schaut unter die Kabinen, doch sieht keine Füße oder Schuhe mehr. Komisch, da waren doch ganz sicher Schritte. Schnell geht sie zurück in die Umkleide und macht die Tür zu. Sie bleibt kurz hinter der Tür stehen und lauscht, aber nichts ist zu hören. Sie geht zu ihrem Spind. Sie will sich jetzt nur noch so schnell wie möglich anziehen und hier raus. Die Hose, das T-Shirt, den Pulli – schnell über den Kopf. Oh nein, sie hat ja noch den Turban auf … Mist! Jetzt hängt sie mit dem Handtuch im Pulli fest. Wieder Schritte. Sie sieht nichts durch das Handtuch-Pulli-Schlammassel. Nur keine Panik bekommen! Wie erstarrt bleibt sie sitzen und lauscht in die Stille. Nichts. Also weiter anziehen, um endlich hier rauszukommen.
Sie setzt sich hin und packt alles eilig in ihre große Tasche. Einfach rein. Der Badeanzug ist noch nass – egal … schnell in das Handtuch wickeln. Schwimmbrille, Bürste, Shampoo, Creme, Haargummi, Portemonnaie, Schlüssel … Dabei fällt ihr wieder der Zettel in die Hand.
Plötzlich vibriert ihr Handy. Sie zuckt zusammen. Es ist eine Nachricht von Mama. „Hallo Süße“, schreibt sie. „Wo bleibst du denn? Ist alles okay?“ Sie war die Letzte, das hat sie schon in der Dusche gemerkt. Irgendwie war sie mit den Gedanken heute woanders, hat immer wieder an den anstehenden Wettkampf gedacht: die Landesmeisterschaft. Die muss sie gewinnen. Dieses Jahr hat sie echte Chancen, doch mit der Zeit heute wird das nichts. Und den Trainerschein will sie ja auch noch machen.
Da vibriert ihr Handy erneut. Noch eine Nachricht. Es ist Elli, ihre beste Freundin, die fragt, ob sie Zeit für einen Videocall hat. Carla verbringt normalerweise jede freie Minute mit ihr, doch jetzt will sie erst mal einfach nur hier raus.
Hastig zieht sie sich fertig an. Sie wird Elli draußen kurz antworten und auch Mama schreiben, dass sie gleich nach Hause kommt. Jetzt erst einmal weg hier. Da hört sie wieder Schritte. Sie bleibt kurz stehen, schaut sich noch einmal um, ob sie alles eingepackt hat, und öffnet langsam die Tür zum Gang. Vorsichtig schaut sie um die Ecke und wagt sich weiter vor. Ihre Schritte hallen laut auf den Fliesen der Schwimmbadhalle. Auf Zehenspitzen wird es etwas leiser, aber mit ihren Sneakers ist das schwierig. Wenn sie jetzt jemand sehen könnte, wie sie hier herausschleicht … Wie peinlich wäre das denn?
Als sie fast am Ende des Ganges ist, öffnet sich eine Tür. Carla zuckt zusammen und schaut entgeistert auf die Gestalt, die herauskommt.
„Ach, da ist ja doch noch jemand“, ertönt eine tiefe Stimme. „Ich dachte, es wären alle weg. Da haben Sie aber ein bisschen getrödelt heute, junge Dame!“ Es ist der Bademeister Herr Kurz, der sie freundlich anlächelt. Ein sehr netter, älterer Mann, der in seinem Ruhestand noch ab und an im Schwimmbad aushilft. Carla atmet beruhigt auf.
„Ja, sorry … weiß auch nicht …“, stammelt sie und es ist ihr unangenehm, dass der Bademeister sie noch antrifft. Eigentlich mag sie Herrn Kurz gerne. Er gibt den Mädchen immer Ringe, Bälle, Matten und Flossen, wenn sie danach fragen. Das machen nicht alle Bademeister. Schnell geht sie weiter, bis sie am Ausgang ist. Sie zieht die Jacke noch einmal richtig hoch, legt ihre Mütze über die nassen Haare, die sie schnell zu einem Dutt gebunden hat, und geht nach draußen zu ihrem Fahrrad. Sie braucht eine Weile, bis sie ihren Fahrradschlüssel findet. Die milde Abendluft weht ihr am Fahrradständer entgegen und pustet die Angst, die sie gerade noch erfüllt hat, für einen Moment beiseite. Vor ihr malt die untergehende Sonne den Himmel in den schönsten Farben an. Carla liebt den Sommer! Endlich ist es abends nicht mehr so kalt. Im Mai war es teilweise noch ziemlich kühl, wenn sie nach dem Training heimgefahren ist. Aber jetzt, Anfang Juni, sind die Tage lang und die Abende angenehm. Die Heimfahrt führt an dem kleinen Fluss entlang, der durch den Ort Tannensee fließt. An manchen Stellen sind Stege aufgebaut und sogar ein bisschen Strand aufgeschüttet. Dort sitzen an den warmen Abenden viele Menschen und genießen die letzten Sonnenstrahlen oder spielen etwas.
Die nassen Haare muss sie trotzdem abdecken, sonst bekommt sie wieder sofort einen Schnupfen. Und dafür hat sie gerade gar keine Zeit. Als sie ihr Fahrrad aufgeschlossen hat, liest sie den Zettel noch einmal:
Carla packt die Tasche in den Korb. Rasch steckt sie sich noch ein Kaugummi in den Mund, atmet kurz die frische Abendluft ein und radelt los. Das darf echt nicht wahr sein! Wer schreibt denn so was? In ihrem Kopf ist Chaos. Tausend Fragen schwirren herum und sie muss sich konzentrieren, damit sie nicht vom Weg abkommt, sondern einfach schnell zu Hause ankommt. Sie versucht, ruhig zu bleiben, aber der Zettel hat ihr einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Vor allem ist die große Frage: Wie ist er in ihre Tasche gekommen? War jemand an ihren Sachen, als sie noch geschwommen ist? Es kann nur eines der Mädchen gewesen sein. Sonst darf eigentlich keiner die Mädchenumkleide betreten. Oder ist etwa jemand eingebrochen? Das Haupttor ist immer auf. Aber da sind Kameras. Ein wildes Kopfkino startet … Wer könnte das gewesen sein? Wer will ihr Angst einjagen und was hat der- oder diejenige als Nächstes vor?
Ach, sie wollte Elli noch kurz schreiben, jetzt hat sie nur Mama Bescheid gegeben, denn die hatte sich ein zweites Mal gemeldet. Na ja, jetzt ist sie gleich zu Hause, dann kann sie Elli anrufen. Eigentlich weiß Elli doch, dass sie heute lange Training hat, denkt Carla. Was sie wohl Dringendes zu besprechen hat? Wahrscheinlich muss sie irgendetwas von ihrem Reittraining berichten.
Als sie zu Hause ankommt, macht ihr Bruder Lasse die Tür auf.
„Na, nicht untergegangen?“ Er grinst und geht zurück Richtung Küche.
„Haha“, sagt Carla zu ihrem Bruder. Lasse macht jedes Mal den gleichen Witz. „Hallo“, ruft Carla. „Sorry, bin zu spät. Ich komme gleich.“ Die Familie sitzt am Tisch und isst das Abendbrot. „Hallo“, rufen Mama und Papa. Sie eilt nach oben in ihr Zimmer, damit ihre Mutter nicht die nassen Haare sieht. Dort schreibt sie schnell eine Nachricht an Elli, dass sie später anruft. Sie föhnt die Haare leicht, flechtet sich einen kurzen Zopf und geht zum Essen.
„Na, war das Training heute gut?“, fragt Papa und schaut Carla mit einem Lächeln an. Die zögert kurz und denkt an den Zettel. Was soll sie jetzt sagen? Soll sie von der Drohung erzählen? Eigentlich erzählt sie ihren Eltern alles. Na ja, fast alles. Elli weiß noch ein bisschen mehr als ihre Eltern. Als sie in der vierten Klasse in Tom verliebt war, da hat sie es nur Elli erzählt. Weil das einfach zu peinlich war. Aber ansonsten hat sie keine Geheimnisse vor ihren Eltern.
Als sie nach einer Weile immer noch nicht antwortet, hebt auch Mama fragend den Kopf und zieht die Augebrauen hoch.
„Alles okay, Carla? Was ist denn? Ist was passiert?“
„Nein, nein, alles gut.“ Jetzt schauen alle sie an, und selbst Lasse unterbricht sein Essen. Dabei war das gar nicht ihre Absicht, so im Mittelpunkt zu stehen. „Ich … also … nein … ja, das Training war okay. Ich war nicht so schnell, wie ich wollte, aber ich hab ja noch ein bisschen Zeit bis zur Meisterschaft.“ Puh, gerettet. Irgendetwas hält sie davon ab, von dem Zettel zu erzählen. Sie möchte lieber erst mal mit Elli darüber reden.
„Mach dir nicht so einen Druck, mein Schatz. Du schaffst das bestimmt. Du musst einfach immer weiter üben, dann funktioniert das schon.“ Mama streichelt Carla über den Rücken. „Ich weiß noch, wie du immer als Letzte aus dem Schwimmbecken gekrochen bist. Ich musste dich fast zwingen oder mit etwas Süßem locken, dass du aus dem Wasser gekommen bist. Das hat sich wirklich schon damals gezeigt, dass du das Schwimmen liebst!“
„Und du warst schon immer so ehrgeizig“, sagt ihr Vater stolz. „Du schaffst das ganz sicher bei den Meisterschaften, unsere kleine Wasserratte!“
Carla verdreht die Augen.
„Das klingt irgendwie nicht so schön. Ich mochte immer lieber …“
„Meerjungfrau, ja, das wissen wir“, ergänzt ihre Mutter und lächelt.
Lasse macht peinliche Schwimmbewegungen und grinst. Carla versucht ihn geschickt zu ignorieren, aber muss lachen. Lasse kann mit dem Schwimmen nichts anfangen. Er hängt immer vor dem Computer und programmiert. Wenn er in zwei Jahren mit der Schule fertig ist, will er Informatik studieren. Nebenher ist er auch noch im Leichtathletik-Verein, aber das macht er nur, damit seine Eltern ihn in Ruhe lassen. Das meint zumindest Carla, da Lasse kaum an Wettkämpfen teilnimmt. Seine eigentliche Leidenschaft ist das Programmieren.
Für einen Moment scheint die Nachricht vergessen, doch da brummt das Handy ihres Vaters und sie zuckt kurz zusammen. Sie ist wieder im Hier und Jetzt und die Nachricht ist real. Will ihr jemand aus dem Schwimmverein schaden? Sie hat doch keine Feinde. Also klar, die Konkurrenz ist immer groß, aber eigentlich kommen sie alle gut miteinander aus. Die aus dem Nachbardorf sind in ständiger Konkurrenz mit ihrem Team, aber die können ihr doch nicht … Obwohl, heute war eine andere Gruppe im Schwimmbad. Jetzt fällt es ihr wieder ein. Ein anderes Team hatte heute vor ihnen trainiert. Waren es die aus dem Nachbarort? Aber wie kommt dann ein Zettel in ihre Tasche? Das ist doch Quatsch. Sie hängt den Gedanken nach und Mama muss sie ein paarmal daran erinnern, weiterzuessen.
„Keine Handys am Tisch …“, hänselt Lasse und grinst Papa an.
„Ich muss da kurz … sorry“, flüstert er und dreht sich weg. „Doktor von Stein?“, meldet er sich mit ernster Miene.
„Jaja, immer diese Klinik. Die kennen auch keine Privatsphäre“, murmelt Mama genervt. Sie arbeitet in der Praxis und kennt die Erwartungen der Patienten.
„Was ist denn wieder? Hat er einen kritischen Fall?“, fragt Carla und ist froh, etwas von sich abzulenken. Manchmal müssen die Patienten aus der Praxis ins Krankenhaus und dann rufen die Kollegen von dort an. Noch dazu hat er auch Notfalldienste im Krankenhaus.
„Ja, es geht um eine Patientin, die … na ja, da ist es etwas kritisch.“ Ihr Vater kommt nach einer Weile wieder und wirkt ärgerlich.
„Und war es wegen Frau Mayer?“
„Nein, es war Frau Willer. Warum ruft die mich jetzt noch an? Die Menschen denken immer, ihr Anliegen sei das Wichtigste.“
Mama schaut mitfühlend zu Papa und zuckt mit den Schultern. Carla ist währenddessen mit den Gedanken schon wieder woanders.
Als sie nach dem Essen oben im Zimmer ist, brummt ihr Handy. „Passt es jetzt?“, fragt Elli – und Carla ruft sofort zurück.
„Hey, du brauchst aber lange heute!“, sagt Elli und wundert sich über Carlas späten Anruf.
„Ich hatte doch Training und hab irgendwie getrödelt und dann …“, Carla stockt.
„Was ist?“, fragt Elli sofort.
„Ach nichts. Was wolltest du denn erzählen?“ Jetzt soll Elli erst mal berichten und sie muss noch darüber nachdenken, ob sie über den Zettel redet.
„Alles okay, Carla? Du klingst so komisch.“
„Ja, alles … na ja, da ist was, aber jetzt erzähl du erst mal. Du hast doch bestimmt was auf dem Herzen, meine Süße.“
„Okay, also …“ Und schon erzählt Elli wie ein Wasserfall von ihrem Wahnsinnssprung mit Sky, ihrem geliebten Hengst, und wie sie alle am Ende beim Wettspringen abgehängt hat.
„Und als wir später in den Stall kamen, haben wir gesehen, dass Ginger Junge bekommen hat. Auf einmal lagen da fünf kleine Kätzchen im Heu. Das war so süß.“ Ellis Stimme macht auf einmal einen ganz hohen Ton. „Dann kam Frida und hat gesagt, dass wir sie aber nicht anfassen sollen. Als ob ich das nicht wüsste. Wenn sich jemand mit Tieren auskennt …“
Carla bekommt nur die Hälfte der Geschichte mit. In Gedanken ist sie weiterhin mit dem Rätsel um den Zettel und die Drohung beschäftigt.
„Carla, bist du noch da?“
Ups, jetzt hat es Elli gemerkt. „Äh, klar … voll super. Toll, dass du das geschafft hast.“
„Ja, danke.“ Elli klingt gekränkt und hört auf zu erzählen.
„Sorry, Elli, ich … da ist was ganz Komisches heute passiert und ich weiß nicht …“
„Jetzt erzähl schon!“
„Also, da lag ein Zettel in meiner Tasche …“, beginnt sie und merkt plötzlich, wie die ganze Last sie übermannt. Sie stockt und beginnt zu zittern. In ihrem Kopf spielen sich verrückte Sachen ab, was alles passieren könnte. Sie schluchzt auf.
„Was ist denn, Carla? Ist es sehr schlimm?“, fragt Elli mitfühlend.
Carla erzählt vom Training, und dass sie danach plötzlich ganz allein war. Sie erzählt von den Schritten und dem Zettel in ihrer Tasche.
„Was könnte das zu bedeuten haben? Was meinst du?“
„Krass, das hört sich nach … ich weiß nicht … nach einem schlechten Witz an. Also entweder erlaubt sich jemand mit dir einen gemeinen Scherz oder …“
„Was – oder? Soll ich etwa aufhören zu schwimmen? Das wäre eine Katastrophe. Elli, das geht nicht! Never ever!“
„Keine Ahnung! Aber … na ja, so ganz ignorieren würde ich die anonyme Botschaft jetzt auch nicht. War da wirklich niemand mehr? Hast du keinen gesehen?“
„Na ja, der Bademeister Herr Kurz war noch da. Ich glaube, die Schritte kamen von ihm.“
„Und … meinst du, er hat …“
„Nein, der ist total nett und … ich glaub nicht, dass er was damit zu tun hat.“
„Wir sollten morgen mal die anderen fragen, okay? Vielleicht haben Kim oder Leo ja noch eine Idee.“
„Ja, du hast recht.“ Carla ist für einen Moment ganz still. „Danke, Elli. Das war jetzt gerade echt gut, mit dir zu reden.“
„Klar! Ich …“
„Ja?“
„Ach, ich … ich wollte sagen, dass ich für dich bete. Dass ich dafür bete, dass sich die Sache einfach schnell klärt und nichts Blödes passiert.“
„Ach, du mit deinem Beten … ich glaub zwar nicht, dass das … na ja, irgendwas bringt, aber es schadet wahrscheinlich nichts, oder?“
„Ganz sicher nicht!“
„Dann bis morgen.“
„Ja, bis morgen“, sagt Elli und legt auf.
Carla legt sich flach auf ihr Bett und starrt an die Decke. Das hat gutgetan, mit Elli zu reden, merkt sie. Sie ist eine echt gute Freundin und hört ihr immer zu. Und auch, wenn sie eigentlich nicht an Gebete glaubt, ist es schön zu wissen, dass Elli sich für sie einsetzen will.
Unruhig wälzt sich Carla in der Nacht von einer Seite zur anderen. Jetzt schlägt sie die Augen auf und starrt auf die dunkle Decke. Ein kleiner Lichtstrahl scheint durch ihren Rollladen. Sie überlegt, wer von ihren Schwimmkollegen so etwas tun könnte. Eigentlich hat sie das Gefühl, dass sie beliebt ist und mit allen gut auskommt, aber da gibt es schon ein paar Mädchen, die sie manchmal etwas komisch anschauen. Im Grunde genommen kann der anonyme Schreiber nur jemand von der Konkurrenz sein. Oder? Über diesen Fragen schläft sie dann doch irgendwann ein.
Als sie am nächsten Morgen aufwacht, geht das Gedankenkarussell gleich wieder von vorne los. Das Brummen ihres Handys lässt sie aufschrecken und sie blickt müde auf den Bildschirm. Elli fragt, wie sie geschlafen hat und schreibt, dass sie selbst immer an die Nachricht denken musste. Carla lächelt. Die liebe Elli, wie nett, dass sie fragt. Sie antwortet kurz mit einem Daumen-hoch-Emoji und schreibt, dass sie sich gleich in der Schule ausgiebiger unterhalten können.
Carla zieht ihre dünne Jeansjacke an, nimmt ihre Tasche und macht sich auf den Weg zur Schule. Mit dem Fahrrad sind es nur zwanzig Minuten über den kleinen Hügel in die Stadt, nach Tannensee.
Carla liebt den Blick auf die Berge, wenn sie die Höhe von Tannenhofen erreicht und auf den Schwarzwald Richtung Tannensee schaut. Wenn sie ein kleines Stück von ihrem Haus auf die Hauptstraße fährt, eröffnet sich ein wunderschönes Panorama des dunklen Waldes mit den Bergen im Hintergrund. Der Blick in den Wald und die Berge bewirken in ihr ein Gefühl der Freiheit. Sie genießt die Nähe zur Natur und besonders, wenn sie im Sommer in den Seen der Umgebung baden kann. Jetzt ist alles grün und ein frischer Sommerwind bläst ihr auf dem Fahrrad entgegen. Ihre Schule und das Schwimmbad sind im anderen Tal, das aber nur durch den kleinen Hügel von ihrem Ort abgegrenzt ist. Die idyllischen Schwarzwald-Orte Tannenhofen, Tannenberg und Tannensee liegen am Rande des Waldes, der mit dem Auto in wenigen Minuten zu erreichen ist.
Carla stellt ihr Fahrrad ab und schließt es mit einem Schloss fest, als Kim und Elli auf sie zugestürmt kommen.
„Erzähl schon! Elli wollte partout nichts verraten. Was ist passiert?“ Nervös trommelt Kim mit ihren schwarzen Nägeln und beringten Fingern auf ihrem Rucksack herum.
Also erzählt Carla von dem mysteriösen Zettel und den Schritten, während sie in das Schulgebäude laufen.
„Ich hab keine Ahnung, wer mir so was schreibt, und warum. Ich komme eigentlich mit allen gut aus.“
„Tja, entweder spielt dir hier jemand nur einen bösen Streich oder es handelt sich tatsächlich um eine ernsthafte Drohung“, rät Leo, der plötzlich neben ihnen läuft. Er hält ein Buch in der Hand und liest, während er sich gleichzeitig an der Unterhaltung der Mädchen beteiligt. „Dann solltest du wirklich vorsichtig sein, liebste Carla.“
„Ja, danke“, sagt sie nickend und grinst etwas verlegen.
Leo ist wirklich nett, findet Carla. Seine kurzen wilden Locken verleihen ihm diesen charmanten Professor-Look und er ist einfach cool. Ein richtiger Kumpel – und vielleicht sogar etwas mehr als das. Seine Liebe zu Büchern bestätigt sich dadurch, dass er immer ein Buch dabeihat und jede freie Minute liest. Nebenbei spielt er Fußball, was die Kombination aus intelligent und sportlich für die Mädchen in der Klasse sehr attraktiv macht.
„Wir müssen später weiterreden“, bemerkt Kim und zeigt auf ihre Lehrerin, die den Gang entlangkommt. Der Unterricht geht los.
In der Pause stürzen Kim und Elli sich wieder auf Carla. Leo ist mit den Jungs Fußball spielen.
„Also, Carla, jetzt erzähl noch mal. Hast du die Nachricht dabei? Was ist das für eine Schrift? Ist sie mit Hand geschrieben oder gedruckt oder aufgeklebt, oder was?“ Kim schiebt ihre Brille hoch und spielt an ihren Ringen.
„Jetzt mal ganz ruhig, Kim“, geht Elli dazwischen. Carla holt den Zettel aus ihrem Rucksack und Kim reißt ihn ihr förmlich aus der Hand. Sie studiert die Schrift und versucht gleich, nach Fingerabdrücken zu schauen.
„Es ist gedruckt. Das ist natürlich nicht so toll. Fingerabdrücke gibt es bestimmt, das könnte ich mit meinem Pulver herausbekommen, aber wir brauchen ja erst einen Verdächtigen, sonst bringt das auch nichts.“
Kim wühlt in ihrem Rucksack. „Hast du eigentlich schon einen Verdacht? Irgendeine Idee wäre hilfreich. Ich kenn deine Schwimmkollegen ja nicht. Gibt es da welche mit kriminellen Zügen oder dunklen Vergangenheiten?“ Elli verdreht die Augen. „Ja, Kim, wir kennen deinen detektivischen Geist. Aber jetzt spinn mal nicht hier rum!“
Kim ist wirklich superschlau und die geborene Detektivin. Ihre Mutter ist Polizistin und hat hier bei der örtlichen Polizei eine neue Stelle gefunden. Daher sind die Zwillinge in der fünften Klasse nach Tannensee gezogen.
Carla lächelt Elli an und überlegt dann ernst: „Ich weiß nicht. Zuerst dachte ich, es ist ja nur ein blöder Scherz, aber wenn ich jetzt darüber nachdenke … ich glaube …“ Carla stockt. „Bald ist die Meisterschaft und man merkt im Training, dass die Stimmung irgendwie angespannter wird. Alle schauen nur noch auf ihre Zeiten. Lena ist total gestresst und dieser Wettkampf ist das Dauerthema. Vor allem steht noch nicht endgültig fest, wer alles mit ins Team kommt.“
„Aber du bist doch dabei, oder? Du bist doch die Beste im Team“, wirft Elli ein.
„Ja, klar. Lena hat es schon gesagt, aber die anderen wissen es wohl noch nicht.“
„Und hast du schon einen Verdacht? Also, wo könnten wir anfangen? Wie könnte eine Verdächtige aussehen? Sich verhalten? Vielleicht belauscht sie uns gerade.“ Kim schaut sich um, als würde die oder der Verdächtige hier in der Schule herumlaufen.
„Gestern waren die Mädchen aus dem Nachbardorf bei uns im Becken, aus Tannenberg. Die haben ein paar Renovierungsarbeiten bei sich im Hallenbad und … na ja, vielleicht ist es jemand von denen?“
Elli schaut sich auf dem Schulhof um und checkt die Lage, ob sie auch niemand belauscht, und flüstert: „Aber wer denn?“
„Weiß ich ja nicht.“
Da hält Carla kurz inne und überlegt. „Gina ist die Einzige, die auch noch schwimmt. Aber mit der habe ich gar nichts mehr zu tun. Vielleicht … ach, ich mach mir da jetzt keinen Stress. Ich hab für so was sowieso keine Zeit.“
„Hä, wieso hast du keine Zeit? Hallo-o! Das müssen wir doch jetzt klären. Du kannst doch nicht einfach weitermachen.“ Kim ist weiter beschäftigt, den Zettel auf Fingerabdrücke oder irgendwelche Spuren zu untersuchen, und schaut fragend auf. Sie hat in ihrem Detektivrucksack, den sie sogar in der Schule dabeihat, alles, was sie braucht: Fingerabdruckmittel, Agenten-Taschenlampe, Notizblock und Stift, Pinzette für kleine Beweisstücke, Lupe zum Vergrößern der Indizien, farbige Tafelkreide zum Markieren von Spuren, UV-Lampe und vieles mehr.
„Na, weil ich mich auf die Meisterschaft vorbereiten muss und dann will ich ja auch noch den Trainerschein machen. Der ist nächste Woche. Ich weiß auch nicht, warum Lena den jetzt noch vor die Meisterschaft setzt.“
Da läuft Gina an ihnen vorbei.
Carla lächelt und will gerade „Hallo“ sagen, als Gina ohne einen Blick oder ein Wort an ihr vorbeiläuft. Carla sieht irritiert in Ginas Richtung und dann zu Elli. „O-oh, ich glaube jetzt wissen wir, wer gerade nicht so gut auf dich zu sprechen ist.“
„Hä, ich versteh nur Bahnhof!“ Kim schaut abwechselnd zu Elli und Carla.
„Meinst du echt?“ Carlas Augen verfolgen Gina.
„Nee, Elli, was sollte sie denn … meinst du, die schreibt mir solche Drohbriefe? Wir sind doch in ganz verschiedenen Vereinen und ich hab doch mit ihr gar nichts zu tun! Also schon, weil der andere Verein manchmal bei uns im Hallendbad schwimmt, aber immer seltener. Und …“
„Eben! Du hast dich mal gut mit ihr verstanden und jetzt ist es schon eine ganze Weile komisch zwischen euch, hast du gesagt. Du bist ihre Konkurrenz. Klar will sie dich einschüchtern.“
„Na ja, vielleicht ist sie ja jetzt in meiner Liga. Also ich meine, sie war immer eine Gruppe unter mir, aber vielleicht …“
„Frag sie doch mal!“, schlägt Kim vor.
„Was? Ich kann doch nicht zu ihr gehen und sagen: ‚Hey, Gina, hast du mir gestern einen Drohbrief geschrieben?‘ Das wird sie sowieso abstreiten, selbst wenn sie es war.“
„Vielleicht ja nicht“, meint Elli, als sie plötzlich merkt, wie Gina nun doch auf die drei zukommt und vor Carla stehen bleibt: „Hey, Carla, sag mal, wann ist noch mal die Bewerbungsfrist für den Trainerschein?“
„Bis zum dreißigsten Juni kann man sich anmelden. Ähm, willst du auch Trainerin werden?“
Blöde Frage, denkt Carla sofort. Das klang echt überheblich und sie hatte es gar nicht so gemeint. Aber sie will Gina irgendwie hinhalten.
„Ja, klar. Du etwa nicht?“
„Ähm, doch, ich wusste nur nicht …“
„… dass ich auch infrage komme?“, beendet Gina den Satz und stellt sich direkt vor Carla. Mit ihren kühlen blauen Augen schaut sie auf Carla herab – und diese hält plötzlich unbewusst die Luft an.
„Doch! Cool, klar. Dann sind wir ja vielleicht zusammen im Kurs.“
„Vielleicht ja, vielleicht nein. Wir werden sehen. Wenn wir dann alle noch schwimmen können …“ Gina dreht sich auf dem Absatz um und stürmt davon. Die drei Freundinnen bleiben irritiert stehen.
„Wenn wir dann alle noch schwimmen können?“, wiederholt Kim die Worte von Gina. „Okay, da ist irgendetwas faul.“
„Das denke ich auch“, stimmt Carla zu, die fassungslos den Kopf schüttelt wegen dieser unwirklichen Situation gerade.
„Echt jetzt, meinst du, Gina ist die Verfasserin des Briefes? Also eigentlich ist sie doch eher unauffällig, oder? Wobei der Auftritt gerade sie in ein ganz anderes Licht stellt.“ Kim runzelt die Stirn und kratzt sich durch ihre braunen Locken am Kopf.
„Ja, das stimmt. Gina war immer ruhig und ziemlich schüchtern. Aber in letzter Zeit ist sie wirklich komisch zu mir. Und …“ Carla schaut sich um, ob auch niemand zuhört. „Ich habe gehört, dass ihre Eltern sich getrennt haben oder gerade trennen. Und jetzt hat sie wohl voll den Stress zu Hause. Die Mutter scheint ihr richtig Druck zu machen mit der Schule und dem Schwimmen.“
„Ist der Vater nicht so ein …“, flüstert Elli.
„Erfinder, genau! Der ist … na ja, manche sagen, er ist ein bisschen verrückt.“