Casablanca im Fieber - Tito Topin - E-Book

Casablanca im Fieber E-Book

Tito Topin

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Beschreibung

Casablanca im Juli 1955, kurz bevor sich die Kolonial-herren aus Marokko zurückziehen. Es duftet nach Orangenbaum, Jasmin, nach Bougainvilleas. Das Gleiten der Buicks auf dem kochend heißen Teer übertönt den Gesang der Grillen. Im Eden wird "Viva Zapata" mit Brando gezeigt; im Vox geben sich in "Fluss ohne Wiederkehr" Mitchum und Marylin Zungenküsse... Um Mitternacht geht man bei duftender Hitze baden. Die Swimmingpools am Meeresufer heißen "Acapulco", "Sun-Beach", "Tahiti-Plage". Ärgerlich nur, dass es in Marokko auch Einwohner gibt: patriotische Araber. Die Stadt gleicht einem Pulverfass. Autos gehen hoch. Plastikbomben sind angesagt. Und die Europäer machen Jagd auf ihre arabischen "Freunde". In dieser angespannten Atmosphäre wird die junge Spanierin Ginette schwerverletzt in eine Privatklinik eingeliefert. Sie wurde von dem Franzosen Georges Bellanger vergewaltigt. Seine Mutter, Chefärztin dieser Klinik, deckt die "kleine Verfehlung" ihres Sohnes und veranlasst den Zivilgouverneur, dessen Geliebte sie ist, den Arabern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Dann kommt Manu, der Freund Ginettes, nach zwei Jahren Militärdienst wieder zurück nach Casablanca… Tito Topin erhielt für diesen Roman den Prix Mystère de la Critique.

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Diese vorliegende Fassung von«Casablanca im Fieber» wurde 2016 von Tito Topinfür den Distel Literaturverlag überarbeitet.

Tito Topin, französischer Grafiker, Illustrator, Schriftsteller und Drehbuchautor, geboren 1932 in Casablanca. Er emigriert 1956 nach Brasilien und kehrt 1962 zurück. 1966 siedelt er nach Paris über, wo er u. a. Comic-strips (als Illustrator), Kinder- und Jugendliteratur veröffentlicht sowie Filmplakate entwirft. Sein erster Kriminalroman erscheint 1982 bei Gallimard in der Série Noire. Zahlreiche weitere Kriminalromane folgen.

Einem breiteren Publikum wird er bekannt als Schöpfer der legendären französisch-deutschen TV-Serie «Navarro» mit Roger Hanin in der Hauptrolle.

Vom französischen Kulturministerium wird er mit dem Orden Chevalier des Arts et Lettres ausgezeichnet. Er erhält zahlreiche literarische Preise, u. a. den Grand prix de littérature policière, den Prix polar de Cognac sowie für «Fieber in Casablanca» den Prix Mystère de la critique. Tito Topin lebt heute in Avignon und Paris.

Im Distel Literaturverlag ist bisher erschienen: «Exodus aus Libyen» (2016).

Tito Topin

Casblanca im Fieber

Überarbeitete Fassung

Aus dem Französischenvon Katarina Grän

Der Roman spielt im Casablanca der 50er Jahre,kurz vor dem Abzug der Kolonialmächte

© 2017 Deutschsprachige Ausgabeby Distel LiteraturverlagGutenbergstraße 37, 74074 HeilbronnÜberarbeitete Fassung des Autors 2016© 2016 Tito TopinFranzösische Erstausgabe1983 beiÈditions Gallimard, ParisTitel der Originalausgabe: «55 DE FIÈVRE»Die ursprüngliche Fassung des Romans erschienerstmals 1992 auf Deutsch unter dem Titel«Casablanca im Fieber» (Berlin)Umschlagentwurf: Yvonne Hennings, HeilbronnDruck und Bindung: Druckerei Steinmeier GmbH, DeiningenISBN 978-3-942136-12-9 (print)ISBN 978-3-942136-14-3 (e-book)

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

1

Der Buick Riviera glitt lautlos über den von der Hitze des Tages noch aufgeweichten Teer und fuhr sanft zu einer Aussichtsplattform, worauf das Zirpen der Grillen abrupt verstummte. Die Weißwandreifen drehten sich ein letztes Mal und kamen im Gras zum Stehen.

Unten lag der Ozean da wie Asphalt, mit jäh hochgehenden, chromblitzenden Wellen, die die Nacht mit fluoreszierenden Strichen schraffierten.

Etwas weiter weg, an der Küstenstraße, glitzerten die Swimmingpools der Etablissements am Meer wie silberne Fische. Allein ihre Namen hätten ausgereicht, um eine ganze Kolonie Albinos braun werden zu lassen: Acapulco, Tahiti-Strand, Miami, Sun-Beach, Kon-Tiki.

Georges drückte auf einen Knopf am Armaturenbrett. Begleitet vom hydraulischen Summen des automatischen Mechanismus hob sich das Verdeck langsam in der Nacht wie die ausgebreitete Schwinge eines Raubvogels. Es zögerte einen kurzen Moment und klappte dann mit einem metallischen Surren auf die Windschutzscheibe herunter. Georges sicherte den Sperrhebel, machte die Scheinwerfer aus und schaltete die Zündung ab.

«Was ist denn in dich gefahren?», fragte Gin.

Nicht ein Stern am Himmel. Wolken spielten mit dem Mond, reichten ihn von einer Wolke zur anderen. Nicht ein Licht in den Fenstern der Luxusvillen des Hügels von Anfa. Ein paar gelbe Köter aus einer benachbarten arabischen Hüttensiedlung, einem Douar, streiften still zwischen den Pinien und Eukalyptusbäumen umher.

Der einzige Lichtpunkt im Wagen kam vom Radio, das auf den amerikanischen Sender der Basis von Nouaceur eingestellt war. Das regelmäßige duh-duh-DUM, duh-duh-DUM, duh-duh-DUM eines Jazzschlagzeugers drang gedämpft aus dem Bakelit. Wahrscheinlich Zutty Singleton.

«Ich mache das Verdeck wieder zu», erwiderte Georges und drückte auf den Zigarettenanzünder. «Bei dieser Wahnsinnshitze, dazu die Schwüle, kann man sich leicht den Tod holen. Wenn einem heiß ist, schwitzt man, verstehst du?»

«Ich verstehe nur, dass du mich zum Schwitzen bringst. Du warst einverstanden, mich nach Hause zu fahren. Punkt, aus! Warum hältst du dann unterwegs an?»

Mit einer ruckartigen Bewegung des Handgelenks schnippte Georges eine lange Zigarette aus der Pall-Mall-Packung.

«Ich merke schon, dass du was gegen mich hast. Aber was?»

«Das bildest du dir ein. Ich habe gegen niemanden etwas, weder gegen dich noch gegen sonst jemanden. Ich will einfach nur nach Hause. Ist das klar?»

«Zigarette?»

Gin schnappte sich die Zigarette mit einer raschen Handbewegung, ohne ihm auch nur zu danken. Sie zündete sie sich selbst mit einem Zippo-Feuerzeug aus ihrer Handtasche an.

Ginette Garcia würde noch vor Ende des Monats neunzehn Jahre alt werden, am 23., dem Tag, an dem die Sonne, des Krebses müde, ins Zeichen des Löwen überging. Ihr volles brünettes Haar fiel in wallenden Locken kaskadenhaft herab und umrahmte ein energisches Gesicht, das von einem finsteren Blick dominiert war, den ein Vorhang aus langen Wimpern filterte. Der zu große, zu stark geschminkte, aber schön gezeichnete Mund war leicht geöffnet mit reizend geschürzter Oberlippe über strahlend weißen Zähnen. Manu hatte sie als Erster Gin genannt, wie den Schnaps, und alle hatten diesen Kosenamen übernommen. Das war ihr nur recht. Sie fand ihren Vornamen weit weniger berauschend.

Wie sie da so in dem schwachen roten Schein der Long-Size auf dem Beifahrersitz des amerikanischen Cabriolets saß, ähnelte sie Jane Russell, nur zierlicher, in The Outlaw. «Tall, terrific … and trouble», wie das amerikanische Plakat des Kinos «Le Triomphe» verkündete, wo der Film in Erstaufführung gezeigt wurde.

Ihre Bluse aus Rohseide klebte an der Rückenlehne des Sitzes und ihre Atmung beschleunigte sich durch die geballte Wirkung aus Wut und Hitze. Ihr Busen stand dem des Hollywoodstars in nichts nach.

«Du bist sehr schön», sagte Georges.

«Das ist nicht der richtige Augenblick.»

Ihr eng in der Taille anliegender Rock war über den Knien hochgerutscht, und die Schere ihrer langen Oberschenkel öffnete und schloss sich automatisch – ein Zeichen von Nervosität –, wodurch die Luft jedoch nur noch heißer wurde.

«Du hast alle Zeit der Welt, um nach Hause zu kommen», sagte er und neigte sich vor, um eine Flasche kanadischen Whisky aus dem Handschuhfach zu fischen.

«Das reicht, Georges. Hör auf damit.»

«Reg’ dich nicht auf, brauchst nur nein zu sagen», sagte er und zwang sich zu einem ungezwungenen Lächeln.

«Ich rege mich nicht auf, ich bin ganz ruhig. Ich will nach Hause. Jetzt gleich.»

Er schraubte die Kappe ab, die als Becher diente, füllte sie zu drei Vierteln und reichte sie Gin mit einem Lächeln, das gewinnend sein sollte.

«Was bildest du dir eigentlich ein?», erwiderte sie barsch und stieß ihn mit einer heftigen Handbewegung zurück. «Ich trinke nie.»

Der Mond überzog die Chromteile des Wagens mit zinkfarbenen Tönungen, wie in einem Gedicht von Verlaine.

«Das würde dir gut tun», sagte er, und schüttelte sich wegen der Stärke des Alkohols.

«Was mir gut tun würde, wäre, nach Hause zu kommen.»

«Wir könnten bei mir anhalten, das liegt auf dem Weg, wir könnten etwas trinken, ein Weilchen zusammen sein, unseren Spaß haben, meine Eltern sind nicht da.»

«Spinn nicht rum.»

Im Radio klagte ein schwarzer Bluessänger mit einer von Zigaretten und Fusel rauen Stimme. So schwermütig, dass es einem Überlebenden der Schlacht von Dien-Bien-Phu die Tränen in die Augen getrieben hätte.

«Nach Hause, nach Hause», äffte Georges sie nach. «Was anderes hast du nicht im Kopf … Das reicht jetzt, immer mit der Ruhe …»

«Meine Eltern haben mich schon um Mitternacht erwartet. Jetzt ist es fast zwei … Deshalb muss ich sofort nach Hause», erklärte Gin. «Du hattest mir versprochen, mich direkt heimzubringen, wenn ich dich darum bitten würde …»

«Keine Sorge, ich bringe dich schon heim, aber sag mir, warum hast du nicht mit mir tanzen wollen? Du hast mich vor meinen Freunden blamiert.»

«Ich habe nicht nur mit dir nicht getanzt, ich habe an dem ganzen Abend nicht einen einzigen Slow getanzt. Ich mag nicht, dass man sich an mir reibt, reicht dir das als Antwort?»

Er nahm einen tiefen Schluck Whisky, ohne ihn erst groß in den Becher zu gießen. Direkt aus der Flasche.

«Hör auf zu trinken», sagte sie. «So viel, wie du schon getrunken hast, kannst du bald nicht mehr fahren.»

Er warf seine Zigarette aus dem Fenster.

«Ich möchte dich küssen», sagte er und versuchte linkisch sie zu umarmen.

Sie stieß ihn heftig zurück, hob die Hand, um ihm eine zu langen, aber die Hand zögerte, zog sich schließlich zurück und senkte sich.

«Fahren wir heim, bitte …»

Flehend.

«Küss mich einmal, nur ein einziges Mal, und ich bringe dich nach Hause», säuselte Georges und rückte näher.

«Hör auf, spiel nicht den Blödmann … Ich bitte dich.»

Er richtete sich wieder auf, wirkte zornig.

«Nicht, bevor du mich küsst! Sie haben dich alle geküsst… Pat, Bernard, Manu… Warum ich nicht? Was haben sie, was ich nicht habe, hä? Kannst du mir das sagen? Ich bin besser gebaut als sie, ich bin reicher.»

«Und bescheuerter!»

Sie bereute ihre Worte sofort. Er war besoffen und konnte gefährlich werden, aber sie hatte es sich nicht verkneifen können, ihn zu verletzen.

«Und du bist eine Hure!», erwiderte er hart und schenkte sich nach. «Ich hab die Schnauze voll, nur weil ich ein wenig bumsen will. Trotz deinem ‹Fass-mich-nicht-an›-Getues weiß ich wohl, dass du schon x-mal mit Jungs geschlafen hast. Erzähl mir keine Lügenmärchen, und hör auf, die empörte Jungfrau zu spielen, du bist nichts als eine Hure!»

«Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, die Finger von Huren zu lassen?»

Ein Schweißtropfen rann ihr den Rücken hinab.

«Weißt du was?», grölte er. «Ich hab die Schnauze voll davon, so von einem Dreckstück behandelt zu werden, das sich für ich weiß nicht wen hält. Hast du mit Manu geschlafen? Sag mir die Wahrheit.»

«Natürlich habe ich mit ihm geschlafen. Warum auch nicht?»

«Du lügst das Blaue vom Himmel herunter, um mich zu ärgern, aber denk ja nicht, dass ich dir glaube!»

«Lass mich in Ruhe! Bring mich nach Hause, das reicht jetzt.»

«Dann hast du also mit ihm gefickt?», bohrte er nach. «Ist es das, was du mir weismachen willst?»

Er drückte den Zigarettenanzünder. Seine Hand zitterte.

Ganz in der Nähe miaute ein Kater, ein Schrei wie von einem Kind, dem man die Kehle durchtrennt.

«Du verarschst mich», sagte Georges und zwang sich zu lächeln. «Du machst mir vor, dass du mit Manu geschlafen hast, um mich loszuwerden, aber ich weiß sehr wohl, dass du lügst.»

«Frag ihn selbst, er kommt morgen zurück.»

Sie betrachteten sich schweigend.

«Mal im Ernst», fing sie wieder an in dem Versuch, das Thema zu wechseln, «kannst du noch fahren? Geht es besser mit deinen Augen?»

Er zögerte einen Moment, wand sich ein wenig in seinem Sitz, entschloss sich dann und beugte sich über sie.

«Unverändert. Sie wissen nicht, ob es an den Augen oder den Nerven liegt, aber seit ich durch diese verfluchte Windschutzscheibe geflogen bin, kann ich keine Farben mehr sehen. Color-blind, wie die Amerikaner sagen. So wie du dort sitzt, sehe ich dich in Schwarz-Weiß.»

Er setzte ein angemessenes Gesicht auf, legte eine falsche Aufrichtigkeit in seinen Ton und beugte sich erneut zu ihr hinüber. Er sprach jetzt leiser.

«Küss mich nur ein einziges Mal, und ich schwöre dir beim Teuersten, das ich auf der Welt habe – beim Kopf meiner Mutter –, dass ich dich nach Hause bringe.»

«Gib mir das Ganze schriftlich, schick es mir mit der Post, als Einschreiben, und ich werde sehen, was ich für deine Mama tun kann», sagte Gin, die sich nicht reinlegen ließ.

Er wollte eine Pall-Mall aus seiner Schachtel ziehen, stellte sich aber so ungeschickt an, dass die Zigarette auf die Bodenmatte zu Gins Füßen rollte.

Sie bückte sich, um sie aufzuheben, und Georges warf sich auf sie und schloss sie in die Arme. Er legte sein ganzes Gewicht auf sie, damit sie sich nicht aufrichten konnte und grapschte ihr mit beiden Händen voll an den Busen. Eine Brust rutschte aus dem Push-up-BH. Dann wanderte seine eine Hand brutal ihren Bauch hinunter und versuchte, zwischen ihre Schenkel zu gelangen.

«Du tust mir weh! Lass mich los», sagte sie so fest sie konnte.

Jetzt versuchte Georges, ihren Hals zu küssen, aber sie schüttelte heftig den Kopf, um seine Lippen von sich zu stoßen. Sie hatte Bauchschmerzen. Schmerzen. Georges Hand drang gewaltsam unter den Gummizug an ihrem Slip. Während sie sich wehrte, stießen ihre Finger an den noch glühenden Zigarettenanzünder. Sie zog ihn aus seiner Halterung und drückte blindlings mit aller Kraft zu.

Die Haut direkt unter Georges rechtem Ohr zischte in einem Gestank versenkter Haare. Er schrie auf und löste sich von ihr, seine Hand erstarrte zwei Zentimeter vor der Brandwunde.

«Du Schlampe! Dafür wirst du zahlen …»

«I’ll be glad when you’re dead you rascal you», sang im Radio eine Stimme wie ein Lastenaufzug, der seit Jahren kein Schmierölkännchen mehr gesehen hatte.

Gin öffnete schnell die Tür und hielt nach einem Fluchtweg Ausschau, während sie ihren Rock und BH in Ordnung brachte.

Sie hatte kein Vertrauen zu ihm. Rennen. Querfeldein den Hügel hinunter bis zur Küstenstraße. Mit ein bisschen Glück ein Taxi in der Nähe einer der noch geöffneten Nachtbars finden oder irgendjemanden auf dem Nachhauseweg, einen Freund, wer weiß.

«Gin! Komm zurück!», brüllte Georges als er sie über den Seitenstreifen der Straße laufen sah. «Du bist ja verrückt!»

Sie lief langsamer, damit sie nicht den steilen Hang hinunterstürzte. Die Gegend war zu dunkel, als dass sie den Steinen ausweichen konnte, die unter der dünnen Sohle ihrer Ballerinas wegrollten. Das Gefälle war steiler, als sie sich vorgestellt hatte, und sie hatte auch nicht an die Dornensträucher gedacht. Sie bemühte sich, im Zickzack von Baum zu Baum zu laufen und sich an den Stämmen festzuhalten, um ihr Tempo zu drosseln. Sie stieß einen überraschten Schrei aus, als ein Jujube-Strauch sie im Vorbeilaufen kratzte, und der brennende Schmerz brachte sie so sehr aus dem Gleichgewicht, dass sie ungeschickt auf die Seite fiel und ein Geröll scharfer Feuersteine etwa zehn Meter mit sich riss. Keuchend kam sie an einer Pinie zum Halten, deren Stamm fast waagerecht auf dem steilen Hang wuchs. Ihr Herz schlug wie verrückt.

Sie blieb regungslos liegen, um wieder zu Atem zu kommen, und bemühte sich, mithilfe trockener Erde das Harz zu entfernen, das an ihren Fingern klebte. Ihr Oberschenkel tat weh, blutete aber nicht. Wie ein großer Fleck zog sich die Schürfwunde vom Knie bis zur Hüfte hinauf. Nur keine Panik, nur keine Panik. Sie stand wieder auf, staubte sich ein wenig ab und warf einen besorgten Blick hinter sich.

Georges war ihr nicht gefolgt.

Das hatte er durchaus versucht, hatte aber nach einigen Metern aufgegeben. Es kam gar nicht in Frage, dass er seine mit Troddeln verzierten Mokassins ramponierte, die er erst heute Nachmittag bei Manfield gekauft hatte, dem modischen Schuhhändler am Place Edmond Doutté, wo die gesamte vornehme Jugend aus Casablanca vorbeidefilierte und großen Pomp zur Schau stellte.

Er war zum Wagen zurückgekehrt, hatte mit schnalzender Zunge einen großen Schluck Whisky hinuntergekippt, die hässliche Brandblase unterm Ohr aufmerksam im Rückspiegel betrachtet, das Wort Schlampe mindestens ebenso oft wie das Wort Hure ausgestoßen und das Gesicht verzogen, als er seine Wunde behutsam mit einem in 45%igen Getreidealkohol getunkten Finger abtupfte.

Morgen gehe ich zum Arzt, nahm er sich vor.

Er hatte den Wagen wieder auf die Straße gelenkt und war mit der Nase an der Windschutzscheibe, um seine schlechte Sicht zu kompensieren, der Straße gefolgt, die den Hügel von Anfa Richtung Küstenstraße hinabführte.

Das Geräusch des V8-Motors mit gut eingestellten Kipphebeln wurde von einem Klarinettensolo begleitet. Der Moderator hatte Artie Shaw angekündigt. Georges kannte den Musiker nicht, aber über den Namen musste er lachen. Klang wie artichaut, das Gemüse.

Gins Atmung ging jetzt, wo sie sich in Sicherheit wusste, wieder leichter. Sie hatte die schwierigste Strecke bewältigt. Ihr blieben nur etwa zwanzig Meter steil bergab, bis sie weiter unten eine kleine Straße erreichen würde.

Danach bräuchte sie diese nur zu überqueren, um auf weniger wildes Gelände zu gelangen, das mit einigen in extravagante Vegetation eingebetteten Villen, aus denen weder Licht noch sonst ein Lebenszeichen drang, sanft bis zum Meer abfiel.

In einem ganz nahe gelegenen Douar bellte sich ein Hund die Lunge aus dem Leib.

Mit äußerster Vorsicht begab sie sich auf eine steinige Böschung, die steil zur Straße hinabführte. Ihr Gewicht zog sie hinab, die letzten Meter nahm sie mit großen Schritten, um das Gleichgewicht zu wahren. Sie landete ohne allzu große Schwierigkeiten auf der Straße, aber ihr Schwung trug sie unweigerlich weiter auf die andere Seite.

Sie war gerade wieder auf der Straßenmitte, als zwei Scheinwerfer auftauchten und sie mit ihrem blendenden Licht erfassten.

Sie schrie auf vor Schreck. Georges bremste und katapultierte den schweren amerikanischen Schlitten brutal in den Straßenrand auf die Gefahr hin, ihn da nicht mehr herauszubekommen. Er sprang aus dem Wagen.

Gin rannte so schnell sie konnte in Richtung einer großen Villa im Kolonialstil, die hinter einem Wahnsinnsbewuchs von Bougainvilleen versteckt lag. Sie konnte Georges’ Atem deutlich zwischen ihren beschleunigten Herzschlägen hören. Die Villa war von einer großen, kalkweißen Mauer umgeben, unterbrochen durch die Spitzen eines schwarzen Torgitters, das mit einem schweren Vorhängeschloss verschlossen war.

Sie stürzte ungebremst auf das Gitter zu, und sah die Klingel in dem Moment, in dem sie gegen das Schmiedeeisen prallte. Keuchend streckte sie den Arm aus, um sie zu drücken, als durch das Gitter die schwarze Schnauze eines Dobermanns auftauchte mit einem Gebell, das aus den Tiefen der Hölle kam.

Sie sprang zurück, um den Zähnen des Wachhunds zu entkommen und lief wieder an der Kalksteinmauer entlang, wobei sie ein klagendes Wimmern von sich gab. Ihr Atem wurde immer kürzer, ihr Herz geriet in Panik, ihre Kräfte verließen sie. Die schwarze Silhouette des Dobermanns rannte auf der Maueroberkante entlang, weniger als ein Meter über ihrem Kopf.

Sie spürte, wie Georges näher kam, sie glaubte seinen Atem zu spüren.

Hier und da antworteten einige herumstreunende Hunde auf das wilde Gebell des Wachhundes. Zwischen den losen Brettern einer Hütte des Douars ging das schwache, flackernde Licht einer Petroleumlampe an.

Dem Ersticken nahe, schwankend und mit brennenden Lungen schlug Gin diese Richtung ein. Sie stolperte über den Stumpf einer Palme, der aus einem Schotterhaufen ragte, unterdrückte einen Schmerzensschrei, rappelte sich sofort wieder auf, verlor erneut das Gleichgewicht auf einem wackeligen Stein, fiel auf die Knie und stand erneut auf, als eine kräftige Hand sie am Nacken packte und zu Boden drückte.

Sie rutschte in den Staub, Georges’ Körper fiel über sie her.

Schnaufend wie ein See-Elefant schob er ihren Rock hoch, ohne seinen Griff zu lockern.

Warme Schweißtropfen regneten auf Gins nackte Schultern. Der Ekel verlieh ihr die Kraft, sich auf einen zerschrammten Ellenbogen zu stützen und sich aus dem widerlichen Griff zu befreien, um ihm ins Gesicht zu spucken.

Georges schlug ihr die Faust ins Gesicht, und sie spürte nicht einmal, wie ihr Wangenknochen brach. Die Feuersteine unter ihrem Nacken drangen durch ihre Haut. Mit den Fingernägeln zerkratzte sie seine Kopfhaut bis auf die Knochen.

Er packte einen großen, flachen Stein, drückte ihn brutal auf das geschwollene Gesicht und presste ihn auf die klaffende Wunde an ihrem Wangenknochen.

Sie unterdrückte den heftigen Drang, sich zu übergeben, und verlor das Bewusstsein.

2

Die beiden Zeiger zeichneten eine glühende geknickte Linie in der Dunkelheit. Halb vier, nach Manus Uhr.

Seine kakifarbene Uniform der Sahara-Kompanien der französischen Fremdenlegion war nach der langen Reise zerknittert und feuchte Flecken hatten Ränder hinterlassen sowie salziger Schweiß länglich weiße Spuren.

Der Araber ihm gegenüber am Fenster schlief nicht. Er hielt seinen achtjährigen Sohn quer auf den Knien, an das billige Tuch des Militärmantels geschmiegt. Der Kopf des schlafenden Kindes ruhte voller Vertrauen in der einzigen Hand des Vaters.

Neben ihm, an seine Schulter gelehnt, saß seine Tochter Fattiya und schlief ebenfalls, ihren jüngsten Bruder fest in den kleinen Armen. Ihr Kopftuch mit den fremdländischen Motiven hatte sich gelöst, und eine Flut schwarzer, von Henna glänzender Haare quoll daraus hervor. Die bezaubernden Locken verbargen nicht die großen, mit reichlich Kajal geschminkten, geschlossenen Augen, das einzelne blaue Tattoo auf der Stirn, die schmale Nase, den kindlichen Mund und die zinnoberrot angemalten Wangenknochen. Gerade mal zwölf Jahre alt, trug sie schon die Verantwortungen einer Frau.

Der Araber war in Guercif in den Zug gestiegen und auf dem Weg nach Casablanca, um seine Kinder einer Schwester anzuvertrauen, während er sich darum kümmern würde, die Rente für Veteranen und Kriegsinvaliden zu bekommen, die die Militärverwaltung ihm seit mittlerweile zehn Jahren verweigerte.

Seine Frau war letztes Jahr gestorben, hatte er Manu anvertraut, als dieser den Kindern während des langen Aufenthalts im Bahnhof von Fez Süßigkeiten gekauft hatte, und die Armee war unfähig gewesen, ihm Arbeit zu verschaffen, trotz zwanzig Jahren bei den Goums – wo er als französischer Kolonialsoldat gedient hatte – und einem mit Schrapnellen gespickten Bein, einem wie ein Fußball zusammengeflickten Schädel und der amputierten linken Hand. Ihretwegen hatte er nicht einmal eine Stelle als Parkwächter bekommen.

Daran hatte auch die Medaille des Militärs, die er mit einer einfachen Sicherheitsnadel am Revers seiner Jacke befestigt hatte, nichts ändern können. Verblasstes Anhängsel.

Manu hatte ihm versprochen, bei einem Freund in einflussreicher Position ein Wort für ihn einzulegen. Ohne große Überzeugung. Woher sollte der alte Kämpfer das Bakschisch nehmen, das man ihm abverlangen würde, wenn er nicht auf eine sichere Rente zurückgreifen konnte?

Ein Lichtstrahl von draußen warf ein Streifenmuster auf das Foto eines Landsitzes mit Schieferdach, das in einem Rahmen aus verchromter Zierleiste war, der direkt an die Wand des Waggons geschraubt war. Manu kam nicht dazu, den Bildtext zu lesen. Das verschimmelte Schloss versank wieder in der Dunkelheit.

Das Licht hatte das Gesicht des Mädchens angestrahlt. Es war vollkommen. Wäre er ein Berber aus dem Atlas gewesen, hätte Manu gegen eine bescheidene Summe um ihre Hand angehalten und sie mitgenommen, nachdem sie ihre Brüder umarmt und um den Segen ihres Vaters gebeten hätte. Er ertappte sich dabei, wie er für einen Moment von einer fügsamen Frau träumte, die er aus ihren tristen Lebensbedingungen der Unterdrückten riss und die ihm dankbar die Hand küssen und ihn «mein Gebieter» nennen würde.

Sinnlose Träumerei … Gin ist kein ergebenes Mädchen und wird es nie sein. Sie wird mir weder die Hände noch die Füße küssen, ich sollte besser zur Vernunft kommen… Er lächelte vor Freude bei dem Gedanken, sie morgen wieder zu sehen.

Die Schienen übertrugen die langsame, von Vibrationen durchsetzte Bewegung auf seinen schläfrigen Körper … ein wahrer Bauchtanz. Die heiße Nacht, die Dunkelheit, das Heraufbeschwören von Gins Körper, die Enthaltsamkeit in diesen letzten Monaten in der Armee in Verbindung mit dem Schaukeln des Zuges verursachten ihm schließlich einen Ständer. Er schlug die Beine übereinander, um seine Erektion loszuwerden. Sein Glied brannte an der Haut seiner Oberschenkel.

Eine Tempodrosselung kündigte einen großen Bahnhof an. Die Lichtmasten, die neben dem Bahnsteig aufleuchteten, entflammten die Bougainvilleen, die sich an den Wänden entlang rankten und streiften die Fenster des Abteils leuchtend rot.

Der Araber beugte sich zum Fenster, darauf bedacht, seinen Sohn nicht zu wecken. Er riss bewundernd die Augen auf.

«R’bat?», fragte er ganz leise, als hätte er einen mythischen Namen ausgesprochen wie Hollywood oder Copacabana.

«Rabat», bestätigte Manu.

Der Zug kam mit quietschenden Rädern zum Stehen. Im Waggon entstand ein heftiges Gerangel zwischen den Reisenden, die ihr Ziel erreicht hatten und aussteigen wollten, und den Gepäckträgern, die eilig eingestiegen waren, um sich des Gepäcks anzunehmen.

Eine alte Dame von mindestens siebzig, prächtig ausstaffiert von einem Versandhauskatalog, die perfekt arabisch sprach, sah rechts einen ihrer Koffer auf der Schulter eines schmächtigen Jugendlichen verschwinden und links den anderen auf dem Kopf eines vergnügten Schwarzen. Sie überhäufte sie mit Grobheiten in deren Sprache und beschimpfte sie mit Flüchen, die so bunt ausgeschmückt waren wie der letzte Breitwandfilm, der im «Vox» lief. Fluss ohne Wiederkehr.

Neue Passagiere drängten sich hinter ihren Gepäckträgern in den Fluren auf der Suche nach Sitzplätzen. Der Zug war brechend voll.

Plötzlich öffnete sich die Abteiltür brutal von der autoritären Hand eines Schaffners. Ein weißes, erbarmungsloses Licht fiel von der Deckenleuchte, heftete schwankende Lichtflecken auf die vom schlechten Schlaf verquollenen Gesichter, provozierte Weinkrämpfe bei dem jüngsten Jungen, den das kleine Mädchen wiegte und so zu beruhigen versuchte.

Der Schaffner warf einen Blick in das Abteil. Auf einer Bank: zwei Flieger, darunter ein Unteroffizier, dessen berufliche Laufbahn seine Schulterklappen zierte, dann ein Araber mit drei Kindern. Auf der anderen: ein spanisches Paar (der schwarzen Mantilla nach zu urteilen, die die Frau um die Schultern trug), eine schweißgebadete Ordensschwester der Heimsuchung Mariä und ein Gefreiter in der Uniform der Sahara-Kamelkavallerie.

«Du», bellte der Schaffner und zeigte mit dem Finger auf den Araber. «Raus hier!»

Manu taxierte den Mann. Ausdrucksloses Gesicht, dunkelhaarig, grobschlächtig, stumpfer Blick, breiter Kiefer, hängende Unterlippe, zu große, schlecht gebügelte Uniform, schmutzige Mütze, Umhängetasche aus Leder, vergoldete Knöpfe, korsischer Akzent.

Wehrlos blickte der Araber auf den Repräsentanten der französischen Eisenbahn, klopfte seinem älteren Sohn auf die Schulter, um ihn zu wecken, und stand mühsam auf, wobei er sein Kind auf seinen Stumpf schob, um einen alten, verschnürten Tragekorb zu packen, der wahrscheinlich seine ganzen Habseligkeiten enthielt.

Der Schaffner drehte sich um und wandte sich an Personen, die unsichtbar im Korridor standen.

«Sie haben Glück. Das sind die letzten Sitzplätze …»