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Cassandras Schwangerschaft wird von Komplikationen überschattet. Sie und ihr Ungeborenes überleben knapp. Zum Schutz ihres Mädchens sind jegliche Anstrengungen tabu, das schließt Cassies Hexenfähigkeiten mit ein. Philipp, ihr Lebensgefährte, zieht sich zurück. Hängt sein abweisendes Verhalten mit einem Fall zusammen, in dem er als Polizist ermittelt? Oder sind alte karmische Wunden aufgebrochen? Die Situation spitzt sich weiter zu. Philipp verpasst die Geburt seiner Tochter und verschwindet spurlos. Schafft es Cassie, zerrissen in Liebe und Schmerz, mit Hilfe ihrer Magie in Erfahrung zu bringen, was mit ihm geschehen ist?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Cassie –
Verbunden in Liebe & schmerz
Band 3
Bridget Sabeth Hexenkrimi
Glossar
Albrecht IV.: Erzherzog von Österreich, Herrscher in den Vorderen Landen und Herzog von Österreich ob Enns und Österreich unter der Enns. Die letzten Tage vor seinem Tod sind bis heute undurchsichtig.
Bezaubernde Jeannie: US-amerikanische Fernsehserie
Dschinn: Ist ein Wesen, das aus rauchlosem Feuer erschaffen wurde. Sie besitzen einen freien Willen, können böse, wohlwollend oder neutral sein.
Energetisierung: etwas mit Energie anreichern
Faschierte Laibchen: Buletten
Fron: Körperliche Arbeit, die Bauern für den Grundherren leisten mussten.
Grammeln: Fett/Speckwürfel werden erhitzt, sie werden „ausgelassen“, bis eine goldig braune Farbe annehmen.
Großtochter: Enkelin
Ghul: Untotes Monster/Dämonen, die häufig Jagd auf menschliches Fleisch machen.
hoppern: auf den Schoß oder in den Arm nehmen
Kabbalistik: Im Zentrum steht hier die Idee, Gott sei grenzenlos und für den menschlichen Verstand nicht fassbar.
Kleriker: Ein geweihter Amtsträger, der eigenen Wald besitzen durfte. Angehöriger des Klerus/der Kleriker (Gesamtheit der Angehörigen des geistlichen Stands.)
Kuei: Böser Dämon, eine tote Seele, die ohne offizielles Begräbnis und ohne Ahnenopfer aus dem Leben scheiden musste.
Kontaktflur: „erdachtes“ Etablissement
Molly: Ecstasy in Pulverform
Oral Jelly: flüssiges Potenzmittel
Seebald Pögl aus Thörl:Freiherr von Reiffenstein, ehemaliger Waffenproduzent für Kaiser Maximilian I.
Eierschwammerl: Pfifferlinge
Parte: Todesanzeige
Posten – Polizeiposten: Polizeirevier
Pöls – Nebenfluss der Mur sowie auch ein Ort im Murtal
spechteln: spähen, spionieren
Erster Weltkrieg: 28. Juli 1914 bis 11. November 1918
Zweiter Weltkrieg: 1. September 1939 bis 2. September 1945
Versailler Diktat: Friedensvertrag, der 1919 von den Siegermächten ausgehandelt wurde. Darin gab man der deutschen Nation und dessen Verbündeten die alleinige Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Das führte zu zahlreichen Gebietsabtretungen und dem Verlust aller deutschen Kolonien.
Wahlkonfrontation: Ist eine Gegenüberstellung im Rahmen einer Einvernahme und kann mit Personen, Fotos, Aufnahmen oder Verfahrensbeteiligten; sowie offen oder verdeckt erfolgen (etwa hinter einem venezianischen Spiegel).
Zuwanderungen von Deutschland nach Polen: Große Zuwanderungen gab es im 12., 15. und 18. Jahrhundert. Politische Versprechungen lockten viele Kaufmänner, Ärzte, Apotheker … nach Polen. Sie wurden von politischer Seite privilegiert, gelangten zu Besitz und Reichtümer. Dadurch gab es Anfeindungen zwischen Eingesessenen und Einwanderer. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs fiel nicht nur die deutsche Nation, sondern auch die deutsche Minderheit in Polen bekam die volle Härte ab. Nur wenige Menschen konnten fliehen, der Rest wurde von der russischen Front überrollt.
Polnische Ausdrücke:
Do widzenia! – Auf Wiedersehen!
Dupa – Arschloch; Do diabła! – Zum Teufel!
Moja kochana – Meine Liebste; Kochanie – Schatz
Kurwa – Hure; Skurwysyn – Hurensohn
Impressum
Texte und Umschlag: © Copyright by Bridget Sabeth
Cover/Coverbearbeitung Bridget Sabeth unter einer License von Shutterstock: https://www.shutterstock.com/de/image-photo/redhaired-woman-vintage-dress-stands-looks-2154939949
Urheberrecht: Ironika
Logo Tirom-Verlag:
Brigitte Kreuzer
Raningerweg 2, 8761 Pöls-Oberkurzheim
Website: https://author-bridgetsabeth.jimdofree.com/
Alle Rechte vorbehalten!
Warnungen – Spätmittelalter
Herrlicher Sonnenschein flirrte über die Natur. Versonnen trat ich in den Garten, wollte zum Essen einen Salatkopf ernten. Ich erfreute mich nicht nur an dem warmen Sommertag, sondern blickte mit stolz geschwellter Brust über das Stück Land, das ich bewirtschaften durfte. Es war nicht groß, aber genug, um Gemüse und Kräuter anzubauen, die eine gute Ernte versprachen. Aus den gewonnenen Vorräten würde ich monatelang schöpfen können. Johannes durfte das Grundstück seit dem Frühjahr sein Eigen nennen. Über Wochen hatte mein Liebster geschmiedet, ein neues Zugangstor und die Einzäunung für das Areal der Kirche und des Friedhofes fertiggestellt. Heroisch ragten dunkle Spitzen mit Goldglanz empor, aufgelockert von feinen Verschnörkelungen. Im gesamten Ort hörte man Lobesworte der Einheimischen, die sich an dieser Kunst erfreuten.
Vom Bischof höchstpersönlich hatte Johannes anstatt von Münzen das Land als Dankeschön für seine herausragende Arbeit erhalten. Im Besonderen freute uns der Umstand, dass unsere Schützlinge – Amalia und Albrecht, der bei der Hochzeit unser Trauzeuge gewesen war, nur zwei Gehstunden entfernt wohnten. Ich blickte auf den Bronzering an meinem Finger. Das geflochtene Muster erinnerte an einen Zopf. Für jeden sichtbar trug ich das Zeichen, dass ich das rechtmäßige Weib an Johannes’ Seite war. Mathilda Waidhütter.
Wohlweislich hielt ich mich in der Gemeinde im Hintergrund. Mein verräterisches rotes Haar dunkelte ich mit dem Sud aus Eichenrinde nach, um nicht in das Zentrum des Interesses zu geraten. So konnte ich bei Johannes und fern der ehemaligen Heimat den angestammten Geburtsnamen verwenden. Es gab niemanden in der Gegend, der mich mit der Hexe Mathilda in Verbindung bringen konnte. Eine andere Frau hatte an meiner statt den Feuertod gefunden und diese Qualen für mich ertragen … Ich schluckte und schob eine Haarsträhne hinters Ohr, wollte mich an so einem herrlichen Tag nicht von schweren Gedanken ablenken lassen. Hier und heute gab es für mich ein neues Leben – eine Zukunft! Ich vertraute darauf, dass es die Heiligen waren, die mir dieses irdische Verweilen auf der Erde schenkten.
Ein warmer Sonnenstrahl durchflutete mich. Nach ein paar Schritten bückte ich mich. Mit einem gekonnten Schnitt erntete ich den größten Salatkopf. Wenn alles gutging, würde Johannes zeitiger heimkommen. Heute musste er keine Schmiedearbeiten ausführen, sondern es stand sein Frondienst beim Bischof an. Johannes sah beizeiten in dessen Wäldern nach dem Rechten. Er achtete darauf, wie sich der Wildbestand entwickelte, und teilte dem Geistlichen mit, wie viele Tiere entnommen werden konnten. Leider gab es zuweilen Probleme mit Wilderern. Denen war es egal, was vor die Flinte lief. Sie schossen rücksichtlos und trieben Schwarzhandel mit dem kostbaren Fleisch. Ungeachtet dessen liebte mein Gemahl diese Tätigkeit. Tiere und Pflanzen schenkten ihm Freiheit. Bepackt mit Schätzen der Natur kam er mit glitzernden Augen heim: Harz, Beeren oder Pilze. Er wusste, dass er mir damit Freude bereiten konnte.
Ich richtete mich auf, ein Stich durchfuhr meinen Leib und ließ mich zusammenkrümmen. Mir glitten das Schneidwerkzeug und der Salat aus den Händen. »Johannes?!«, keuchte ich, weil sein Name in die Gedanken schoss. Nach wie vor brannte es in meinen Eingeweiden. Ich presste die Hände auf den Bauch. Nein, die Qual ging nicht von mir aus, sondern lag an unserer Verbindung. Er war es, der litt!
Suchend schaute ich mich um, horchte. Kein Rufen, nicht einmal ein Zwitschern der Vögel oder ein Summen der Insekten. »Johannes!«, schrie ich hysterisch, während mir eiskalter Schweiß ausbrach!
Ich sackte auf die Knie. »Johannes …« Nun war sein Name ein Wispern, eine dunkle Vorahnung, die mir die Nässe in die Augen trieb. Ich fühlte sein klebriges Blut, als würde es an meinem Leib hinabfließen.
»Johannes …«
Anfang Juli 2022
Erschrocken fuhr ich empor!
»Cassandra, was ist mit dir?«, nuschelte Philipp an meiner Seite.
Gut, er war da! Aber der Traum, der Schmerz, dieses klebrige Gefühl! Adrenalin schoss durch meine Adern, der Herzschlag hallte donnernd in den Ohren nach.
Philipp schaltete das Licht ein. »Hattest du einen Albtraum?« Seine Stimme klang mitfühlend.
Ich konnte ihm nicht antworten, blieb wie paralysiert im Bett sitzen. Meine Aufregung wollte nicht weichen. Es stimmte etwas nicht! Ich spürte es genau, zwischen den Beinen! »Blut!«, stieß ich aus, obwohl ich gar nicht nachgesehen hatte.
»Blut?« Philipp schob die Decke zur Seite. »Blut!«, rief er panisch. Er stob aus dem Bett.
»Schafgarbe – hol die Schafgarbentinktur«, wisperte ich mit fremder Stimme, als würde sich jemand anderer meiner Worte bedienen.
»Rühr dich nicht, bleib liegen … ich ruf die Rettung!«
Kraftlos fiel ich zurück in die Kissen. Ich blutete! War ich dabei unser Kind zu verlieren? Jetzt, obwohl die Hälfte der Schwangerschaft geschafft war?
»Bleib bei mir!«, bat ich mein Ungeborenes, legte die Hände auf den Unterbauch. »Bleib bei mir. Meine Kämpferin – Renilda.«
Ungewissheit
Während Philipp in den Keller gelaufen war, hatte er den Notarzt und Gertrude verständigt. ‚Wir kommen sofort!‘, hatte seine Schwiegermutter in spe ins Telefon gerufen.
»Tinktur. Schafgarbentinktur!« Hektisch klapperte Philipp die Regale ab. Ein Fläschchen kippte um, zerbarst und die Flüssigkeit versickerte im Hochflorteppich.
»Mist!« Bange besah er sich das Etikett. Zum Glück war es kein böses Omen, sondern eine andere Tinktur. Eilig suchte er weiter, fand endlich die entsprechende Mixtur. Drei Stufen auf einmal nehmend rannte er nach oben.
Gertrude saß am Bett ihrer Tochter und hielt deren Hand. »Halte durch!«
Philipp vernahm klar den brüchigen Unterton, die Sorge, die seiner um nichts nachstand. Er rang nach Atem. »Schau Süße, hier ist die Schafgarbentinktur.«
Cassies Augen waren angstvoll geweitet. Sie zitterte am gesamten Leib, kalter Schweiß glänzte auf ihrer Haut. Sanft hob er ihren Kopf und flößte ihr zwei Pipetten voll der Flüssigkeit ein, die sie brav schluckte. Statt tröstender Worte brachte er keine Silbe heraus. Stumm schloss seine Liebste die Lider. Ein Beweis dafür, dass die Energie rasend schnell aus ihrem Körper wich.
‚Wann kommen die Einsatzkräfte?‘
»Wieso dauert das so lange?«, jammerte Gerti neben ihm, die so wie er vor Ungeduld verging.
Endlich erklangen Sirenen. »Cassie, Liebes, hörst du? Hilfe ist ganz nah!« Gerti küsste ihre Tochter auf die Stirn.
Stimmen, Schritte. Herbert lotste die Rettungskräfte ins Schlafzimmer. Philipp und Gerti wurden zurückgeschoben. Der Notarzt verschaffte sich einen Überblick. »Schock … Infusion … sie verliert zu viel Blut!« Zügig wurde ein venöser Zugang gelegt, in den bald Flüssigkeit schoss – nicht tropfte – sondern wie ein aufgewirbeltes Rinnsal in die Adern floss. Philipp konnte kaum hinschauen.
»Welche Blutgruppe hat die Patientin?«, fragte der Doktor, während Cassie auf eine Trage gehievt wurde. Ein leises Stöhnen erklang.
»A positiv«, teilte Gerti mit und drückte dem Arzt den Mutter-Kind-Pass in die Hand.
»… bereitet Bluttransfusionen und den Operationssaal vor. Zweiundzwanzigste Schwangerschaftswoche …«
Verwirrt lauschte Philipp den Worten des Notarztes, begriff erst, dass der mit dem Krankenhaus telefonierte.
Onkel Herbert nahm Philipp zur Seite, damit er nicht länger im Weg stand. »Das wird schon, Junge.«
Die Männer schleppten Cassie auf der Trage im engen Treppenhaus hinunter.
Betäubt starrte Philipp auf die blutigen Laken. Nicht einmal einen Kuss hatte er ihr aufdrücken können! Er löste sich aus seiner Starre, flitzte nach unten. Zu spät. Die Türen des Rettungswagens schlossen sich und das Fahrzeug brauste mit Blaulicht und Sirenen los. Bebend sah er ihnen nach.
Herbert legte eine Hand auf seine Schulter. Sein Onkel war der Einzige, der so halbwegs die Ruhe bewahrte. »Zieht euch rasch um, dann fahren wir hinterher. Mit meinem Wagen.«
Philipp schielte auf die Schlafshorts, die er nach wie vor trug. Was war mit Cassie? Mit dem Kind? Würde er beide verlieren? Das viele Blut …! Ein trockener Schluchzer entwich aus seiner Kehle. Sie mussten sich beeilen!
Nie war Philipp die Fahrt nach Leoben so lange vorgekommen, obwohl es keinen nervenaufreibenden Verkehr gab und sie dem Rettungswagen mit überhöhter Geschwindigkeit gefolgt waren. Im Spital herrschte überschaubarer Betrieb. Die Gänge waren abgedunkelt, wirkten wie verwaist. In der Ferne klappte eine Tür. Wo sollten sie hin?
Herbert steuerte auf eine Pflegekraft zu, die ihnen den Weg erklärte, wo sie warten konnten. Sein Onkel trottete vor. Sie gelangten in einen Gang. Entlang der Wand befanden sich Sitzplätze. Gerti ließ sich mit einem leisen verzweifelten Aufstöhnen auf einem Stuhl nieder. Herbert rückte an sie heran und hielt sie liebevoll. Philipp tastete nach einer Zigarettenpackung und unterdrückte einen Fluch. Er hatte nichts zum Rauchen dabei, außerdem herrschte im Gebäudeinneren absolutes Rauchverbot.
Sein Blick glitt zu den Zeigern der Uhr, die kaum vorgerückt schienen und sich doch summierten: Stunde um Stunde ohne Neuigkeiten, weder Informationen noch vorsichtige Entwarnung. Nicht einmal eine Pflegekraft spitzte zur Tür heraus, die sie hätten fragen können. Der Geruch von Desinfektionsmittel zog durch Philipps Nase. Er sprang zum wiederholten Male auf, tigerte auf dem Krankenhausflur hin und her. ‚Cassie darf nicht sterben! Verdammt! Sie darf nicht …‘
»Philipp, nimm bitte Platz«, kam es matt von Gerti.
»Sorry.« Ertappt hielt er in der Bewegung inne. Ihnen setzte die nervenaufreibende Warterei zu, und da war sein ungezieltes Herumgehen gar nicht förderlich. »Was ist? Müsste sie nicht längst …?« Philipp brach ab. Er suchte Gertrudes Blick, entdeckte darin dieselbe Sorge und Angst.
Ächzend ließ er sich neben ihr im Wartesessel nieder. Keiner von ihnen wollte laut aussprechen, was sich wie ein Karussell im Kopf drehte. Würden Cassandra und das Ungeborene die Blutung überstehen? Wieso kam niemand heraus? Wie schlimm stand es um die beiden?
‚Tatütata, tatütata‘, rauschte es beängstigend in Philipps Ohr. ‚Bitte, wenn es einen Gott oder ein Schicksal gibt, Cassie darf nicht sterben! … Wenn, dann nehmt mich! Ich bin im Vergleich alt. Nicht sie! Nicht unser Kind!‘ Es gruselte über Philipps Nacken. Übelkeit wallte in ihm empor und tobte wie ein Feuer hinter seinem Brustbein.
Dumpfe Schritte erklangen. Herbert kam den Flur entlang, in seinen Händen hielt er drei Becher gefüllt mit Kaffee, die er bei einem Automaten herausgedrückt hatte. »Hier bitte. Hat sich in der Zwischenzeit was getan?«
Gerti schüttelte betrübt den Kopf.
Philipp nippte am Kaffee. Zu hastig und unbedacht, was das brennende Gefühl an der Lippe bewies. »Verflucht.« Er räusperte sich. »Cassie ist seit Stunden da drinnen!«
Herbert legte mitfühlend die Hand auf die Schulter des Neffen. »Sie wird es schaffen.«
Gerti erhob sich. Die Warterei war eine Tortur. Beharrlich und mit gähnender Langsamkeit hatte der große Zeiger der Uhr eine dreihundertsechzig Grad Drehung gemacht und zeigte, dass eine weitere Stunde vergangen war. Sie stellte sich an ein Fenster, blickte hinaus. Langsam neigte sich die Nacht dem Ende zu und es würde demnächst der frühmorgendliche Trubel beginnen. Ein Vogel ließ sich am Boden nieder und pickte. Ob das ein positives Zeichen war? »Kleines, wie geht es dir?« Sie spürte in sich hinein. Unverändert, zwischen Bangen und Hoffen. In diesem Ausnahmezustand konnte sie ihrer Intuition nicht recht trauen.
Eine Tür schwang auf. Philipp, Herbert und Gertrude wirbelten herum.
Ein Arzt trat in den Flur. »Ich habe gute Neuigkeiten.«
»Gott sei Dank«, sprach Gerti, während die Männer erleichtert seufzten.
»Es war knapp, aber wir konnten die Blutung stoppen«, fuhr der Doktor fort. »Frau Rosenrauch hatte eine Zyste, die sich in den Wochen der Schwangerschaft mit Blut gefüllt hat und eruptiert – geplatzt – ist. Dabei wurde die Schleimhaut der Gebärmutter verletzt, weshalb die Blutung sich derart ausgeprägt präsentierte. Unsere Patientin ist jetzt stabil und wurde auf die Intensivstation transferiert. Sie hat einige Blutkonserven erhalten.«
»Und … und das Kind?«, hakte Gerti leise nach.
»Ob der Fötus es schafft, werden die nächsten Tage zeigen. Noch ist die Schwangerschaft intakt. Wie massiv sich Blut- und Sauerstoffmangel auf das Ungeborene ausgewirkt haben, vermag ich an dieser Stelle nicht zu sagen. Wir wollen hoffen, dass unsere Manipulation nicht zusätzlich Wehen forciert. Auf alle Fälle wird Frau Rosenrauch in den kommenden Wochen oder eher Monaten Ruhe benötigen, bis sie sich vom Blutverlust und der Anstrengung erholt hat. Auch, um dem Kind in ihr eine Chance zu geben.«
Gerti lehnte sich an Herberts Schulter, der sie schützend umfasste. »Es wird sich alles zum Guten wenden«, raunte er ihr ins Ohr.
Sie war dankbar für Herberts optimistischen Worte.
»Kann ich zu meiner Lebensgefährtin?«, fragte Philipp.
Der Arzt nickte. »Eine Person lasse ich gerne kurz zu ihr, weitere Besuche bitte ich aber zu den angestammten Zeiten.«
»Geh du nur!«, sprach Gertrude, obwohl ihr Mutterherz in Flammen stand und sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen wollte, dass es Cassandra besserging.
»Danke.« Philipp folgte dem Doktor.
Wie ein Häufchen Elend lag Cassandra in dem überdimensionalen Bett. Ihre Wangen waren bleich und blutleer. Sie war angeschlossen an Apparate, die ihre Vitalfunktionen überwachten. Zaghaft fasste Philipp nach ihrer Hand und legte diese an seine Wange. Ihre Haut war warm, es pulsierte darin das Leben und die gleichförmigen Atemzüge wirkten beruhigend.
»Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt«, gestand er und zwinkerte die Nässe in den schwimmenden Augen in die Tiefen zurück. Er wollte nicht derart rührselig sein, sondern hoffnungsvoll. Dennoch fühlte er sich verantwortlich für diese Misere. Cassie trug das gemeinsame Kind in sich. Ohne ihn gäbe es keine Schwangerschaft …
»War das eine Warnung an uns?«, wisperte er. »Hast du dich für den falschen Kerl an deiner Seite entschieden?«
Bei den ausgesprochenen Worten zerriss es ihn fast. Niemand war da, der ihn beschwichtigte. Selbst Cassie blieb stumm, die ihn ansonsten stets von seinen Dämonen befreien konnte. Aus dem Hintergrund drangen dumpfe Stimmen durch den Raum. Vermutlich stand die Dienstübergabe an. Somit blieben ihm ein paar Minuten mehr. Er ließ den Kopf an ihre Schulter sinken und schloss die Augenlider. Eine feine Nuance ihres vertrauten Dufts stieg in die Nase. Sein eigener Pulsschlag rauschte intensiver werdend durch die Ohren, Bilder flackerten empor. Zuerst wie Schatten, dann wurden sie deutlicher, zogen ihn mit, in eine andere Welt:
Johannes war in Alarmbereitschaft. Deutlich zeigte sich abtropfender Schweiß eines angeschossenen Viehs am Waldboden. Wilderer waren in der Gegend unterwegs! Und verdammt, nicht nur, dass es nicht rechtmäßig war, sich in den Wäldern an den Wildtieren zu bedienen, diese Stümper hatten auch noch schlecht gezielt! Mit Glück fand er das armselige Wesen vor diesen Halunken und konnte es von seinen Qualen erlösen.
Er folgte dem unwegsamen Gelände, kam zu einem kleinen Felsen. An den Blutstropfen erkannte er, dass das Tier dort hinab geflüchtet war. Behände kletterte er in die Tiefe. Da bemerkte er eine Bewegung, ein Ohrenspiel. Es war ein Reh, das versuchte, sich zu erheben. Die Beine sackten unter dem Körper weg.
In Johannes’ Brust brannte es mitleidsvoll. ‚Schade um das herrliche Tier.‘
Er näherte sich langsam und erkannte an den Zitzen, dass es eine Muttergeiß war. Wut flammte in ihm auf. Bestimmt hatten die Wilderer das Rehkitz nicht verschont. Das war vermutlich der Grund, weshalb sie das Muttertier vorerst entkommen ließen. Mit großen dunklen Augen und heftig atmend schaute das Reh ihn an. Es unternahm keinen neuerlichen Fluchtversuch, sondern spürte wohl, was unvermeidlich war.
Johannes ging neben der Geiß in die Knie. Er strich über das Fell und die sich hebenden Flanken. »Es tut mir leid, ich kann dich nicht retten. Aber ich verspreche dir, bald wird deine Qual zu Ende sein.« Er griff zu seinem Messer.
»Argh!« Johannes glitt das Schneidwerkzeug aus der Hand. Er war in den Rücken getroffen worden, die Wucht hatte dabei einen Knochen in ihm zersplittert. Brennend loderte es in seiner Mitte, er krümmte sich vor Schmerz.
»Ein … Pfeil!«, sprach er erstickt. Johannes schielte in die Richtung, von wo der Schuss gekommen sein musste. Nein, er entdeckte niemanden, war halb verdeckt durch das Gebüsch und den Felsen ringsum. Hatten die Wilderer ihn aus der Ferne für das Reh gehalten? Angeschossen, wie die Geiß, würde er für diese Halunken eine leichte Beute darstellen. Er durfte nicht liegen bleiben! Sonst würden sie ihm den Garaus machen und vergraben.
Johannes warf einen letzten Blick auf das Reh. »Tut mir leid, jemand anderer wird dich erlösen.« Er steckte das Messer ein und zwang sich unter Schmerzen auf die Beine. Das Geschoss vermochte er nicht alleine herauszuholen! Etwas entfernt lag eine Höhle, wenn er es bis zu diesem Unterschlupf schaffte, hatte er eine minimale Chance …
Die Büsche gaben ihm Schutz. Johannes biss die Zähne zusammen, schmeckte Blut auf der Zunge. Das Atmen fiel ihm schwer. Jeder Schritt war eine Tortur, als wären schmiedeeiserne Gewichte an seinen Fesseln befestigt. Diese Verletzung war keine Kleinigkeit, sondern kratzte vehement an seinem Leben!
‚Weiter!‘ Sein kräftiger Geist, beflügelt von Aufregung und Schmerz, spornten ihn an.
Vögel flogen protestierend empor.
Johannes strauchelte. ‚Mathilda!‘, rief er in stummer Verzweiflung. Konnte sie ihn spüren? Kraft schicken? Seine Finger krallten sich in den moosigen Untergrund. Noch hatten ihn die Wilderer nicht eingeholt.
Schwankend kam er auf die Beine, er musste seine Spur verwischen. Er watete durch den Bachlauf, zog sich mehr den angrenzenden Abhang hinauf, als dass er auf den Füßen gegangen wäre. Die nächste Böschung folgte, wirkte schier unüberwindbar … Dennoch setzte er stur einen Schritt vor den anderen, wollte nicht kleinbeigeben. Endlich erreichte er eine Plattform, kroch tiefer in das hinten liegende steinerne Versteck, vor dem Gestrüpp wucherte. Außer Atem rollte er sich auf die Seite. Sein Lebenssaft floss unbeirrbar wie ein Rinnsal davon.
»Mein Grab.« Die Sicht vor ihm verschwamm. Kälte- sowie Hitzeschauer tobten zeitgleich über ihn hinweg. Er spürte, dass keine Rast und kein Zeitgewinn ihn aus den Klauen des Todes zu reißen vermochten. »Mathilda … ich liebe dich … verzeih.«
»Sie müssen bitte gehen.«
Philipp fuhr erschrocken empor, wäre dabei um ein Haar mit dem Krankenpfleger zusammengeprallt, der an der Seite stand. Er brauchte ein paar Momente, bis er begriff, dass er weder von kühlen Felsen umgeben war noch sich im Anblick des Todes befand, sondern aus einem Traum geweckt worden war.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Rosenrauch ist bei uns in den besten Händen. Am Nachmittag, zur Besuchszeit, sind Sie gerne willkommen.«
»Auf Wiedersehen.« Philipp hastete hinaus. Hektisch schälte er sich aus dem blauen Hygienemantel, desinfizierte sich die zittrigen Hände. Er hoffte, dass ihm der nette Pfleger diese Reaktion nicht krummnahm, sondern seiner Besorgnis zuschrieb. Erst im Flur hielt er kurz inne. Gerti und Herbert waren nicht zu sehen und warteten vermutlich im Freien.
Mit bebenden Beinen lief Philipp Richtung Ausgang. In Gedanken stieg sein geheimer Handel empor. Hatte er nicht selbst darum gebeten, zu sterben, um das Leben von Cassandra und dem Ungeborenen zu retten?
Früher hätte er diese Bilder als verrückten Traum abgetan. Seit er Cassie kannte, hatten sich seine Ansichten und Wahrnehmungen deutlich verschoben. Was war, wenn er damit einen Hinweis erhalten hatte, bald tot zu sein? Gewaltsam dazu? Das war zwar in seinem Beruf als Polizist unterschwellig stets ein Risiko!
In seinen Schläfen pochte es und die Übelkeit war zurückgekehrt! ‚Das ist die Aufregung!‘ Die Schiebetüren öffneten sich vor ihm. Vor dem Gebäude atmete er tief durch, lief weiter und gelangte zum Parkplatz. Neben Herberts Wagen standen sein Onkel und Cassies Mutter.
»Jetzt reiß dich zusammen!«, maßregelte er sich. Die beiden sollten nichts von seinen Sorgen und haltlosen Fantastereien mitbekommen.
‚Ja, Fantastereien – und nicht mehr!‘
Verzweifelt
Mitte Juli 2022
Matt blinzelte ich Richtung meiner Mutter. Sie versuchte, besonders glücklich und aufmunternd dreinzublicken. Es sprudelte aus ihr hervor:
»Liebes, du musst dir absolut keine Sorgen machen. Solange du dich im Krankenhaus befindest, übernehme ich alle Tätigkeiten, ob im Garten oder im Haus. Philipp kommt zu uns zum Essen und um seine Wäsche kümmere ich mich ebenso. Schau, dass du rasch fit wirst.«
Ich brummte. Mir ging es bescheiden. Ich fühlte mich matt, kraftlos und mir war schwindlig, was ich dem Blutverlust zuschrieb. Im Hintergrund pochte es, dass ich mit keinen unbedachten Aktionen das Kind gefährden durfte. Dabei schien vor kurzem mein Glück perfekt. Vor knapp einen Monat – am vierundzwanzigsten Juni – hatte ich mit Familie und Freunden Geburtstag gefeiert. So sehr hatte ich gehofft, Zeit zum Entspannen zu finden. Ich wollte meine Schwangerschaft genießen. Ob die Strapazen bei der Suche nach Alina und meine Hexenhandlungen an dieser Misere beteiligt waren?
Jetzt hieß es für mich: absolute Schonung. Laut dem Rat der Ärzte durfte ich maximal zu Fuß auf die Toilette gehen und ich wurde vom Pflegepersonal akribisch beobachtet. Aufgrund der Operation hatten sich Kontraktionen im Unterbauch gezeigt, weshalb ich an einem Tropf hing und mit einem wehenhemmenden Mittel versorgt wurde, damit ich mein Baby nicht verlor.
Dadurch waren die Chancen für das Ungeborene gestiegen. Ich befand mich inzwischen in der vierundzwanzigsten Schwangerschaftswoche. Damit war die Überlebensfähigkeit meines Kindes auf etwa achtzig Prozent geklettert. Ich wertete es als Fortschritt, dass ich nicht mehr auf der Intensivabteilung liegen musste, sondern mich auf der Normalstation der Gynäkologie befand.
»Ich weiß, du möchtest heim und dass dieses Nichtstun, für dich als freiheitsliebender Mensch, eine Qual ist. Aber du wirst sehen, die Wochen werden verrinnen, schneller als du denkst.«
Ich unterdrückte ein Seufzen. Der anberaumte Geburtstermin war Anfang November, wir sprachen da von knapp vier Monaten! Bei dieser Vorgeschichte musste ich darauf hoffen, die dreißigste bis zweiunddreißigste Schwangerschaftswoche zu erreichen, damit eine Geburt halbwegs gefahrlos für den kleinen Wurm ablief. Ich hatte mich in der Hinsicht online belesen.
Als magische Gewichtsgrenze für das Baby wurden zweitausendfünfhundert Gramm angegeben, was man etwa in der fünfunddreißigsten Woche erreichte. Erst da senkte man deutlich das Risiko von weiteren Komplikationen oder neurologischen Schäden. Und ob der Blutverlust sich nachteilig auf die Gehirnleistung meines Babys ausgewirkt hatte, darüber wagte kein Arzt eine Prognose abzugeben.
»Guck nicht so unglücklich. Philipp hat versprochen, dass er vorbeischaut. Bestimmt ist er aufgehalten worden.«
Ich schielte zur Wanduhr. Die Besuchszeit war in zehn Minuten vorüber. Er verhielt sich seit meiner Blutung seltsam, wich meinen Blicken aus und selbst seine Küsse waren flüchtig. Lag es an mir, oder hatte der Schrecken etwas in ihm ausgelöst? Ich schloss die Augen, zu müde, um darüber nachzudenken und erst recht dafür, eine Verbindung zu ihm aufzubauen.
Mama fasste nach meiner Hand. »Kann ich etwas für dich tun?«
Ihre Stimme war hörbar in tiefe Besorgnis umgeschlagen. So kannte sie mich nicht. Ja, ich war ebenso mal down, aber meist nach kurzer Zeit mit neuem Optimismus beseelt, oder es zeigte sich mein Kampfgeist. Ganz ehrlich – so kannte ich mich nicht einmal selbst! Konnten Bluttransfusionen Wesensveränderungen auslösen? Immerhin floss durch die Adern etwas Fremdes, das zu meinem Eigenen umgebaut werden musste. Als Hexe reichten mir sonst Berührungen, um Emotionen zu spüren. So hielt ich es nicht für abwegig, dass in diesem Fall die Empfindungen intensiver auf mich einzuwirken vermochten.
»Soll ich dir das nächste Mal etwas mitbringen?«
Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. »Bin müde.«
»Mein Liebes, ruh dich aus.« Sie drückte mir einen zärtlichen Kuss auf den Scheitel. »Morgen besuche ich dich wieder. Wenn was ist, schreib mir und sonst schreibe ich dir mit dem Handy, oder wir telefonieren später, ja?«
Ich nickte und war erleichtert, als Mutter den Raum verließ. Nun konnte ich mich ungeschönt meinem Leid hingeben. Stumm weinte ich ins Kissen. Verwirrt, weshalb das Leben mein Ungeborenes und mich derart prüfte.
»Oh nein!« Lea zupfte ihre Polizeiuniform zurecht. »Wir wollten heute ja bei den Polinnen vorbeischauen.«
Philipp guckte auf die Armbanduhr. Er hätte vor einer halben Stunde losfahren müssen, um die Besuchszeit im Krankenhaus einzuhalten. Aber er tat sich so schwer damit, Cassie derart angeschlagen zu sehen. Er wollte ihr Trost spenden und konnte es nicht. »Ich kann privat nach dem Rechten schauen. Die letzte Beobachtungsrunde ist unauffällig verlaufen. Vermutlich haben die Nachbarn Sandtner etwas überreagiert.«
Seine Kollegin legte den Kopf schief. »Unauffällig ist nicht das richtige Wort, wenn du von Salomea und Marysia Zajac sprichst. Irgendwie habe ich bei den beiden ein ganz dummes Gefühl. Außerdem dachte ich, du wolltest zu Cassie ins Krankenhaus.«
»Ach komm, so ein kleiner Umweg – da schaffe ich es trotzdem rechtzeitig zu ihr.« Philipp hielt dem Blick der Kollegin stand, obwohl er es nicht einmal ohne Umweg rechtzeitig schaffen würde. Wenn es hart auf hart kam, wollte er seinen Beruf in die Waagschale werfen und ein paar zusätzliche Besuchsminuten herausschinden.
Lea baute sich vor Philipp auf. »Was ist los mit dir? Normalerweise konntest du keine Sekunde ohne deine Liebste sein und jetzt schindest du Zeit, als wäre dir ein Treffen gar nicht wichtig.«
Philipp strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Du übertreibst.«
Lea zog eine Augenbraue empor. »Nein, ich übertreibe nicht, sondern habe vom besten Chef gelernt, nämlich von dir. Aber gut, wenn du nicht drüber reden willst, bitte. Doch vergiss nicht, Cassandra benötigt in dieser Situation erst recht deinen Beistand. Nimm ein paar Tage Urlaub.«
Philipp ächzte. ‚Urlaub?! Bloß nicht!‘ Er benötigte Ablenkung von seinen Dämonen und dem vagen Gefühl in der Hinterhand, dass seit seinem Schwur etwas mächtig an der eigenen Lebenszeit kratzte! »Was soll ich jetzt mit Urlaub? Besser ist, wenn ich den nehme, wenn Cassandra daheim ist, beziehungsweise dann, wenn das Kind da ist. So, und nun muss ich wirklich los.«
Er drehte ab und lief nach draußen, um sich nicht länger den musternden Blicken von Lea auszusetzen. Es reichte, wenn Gerti ihn so seltsam anschaute. Bestimmt dachte die ebenfalls, dass er sich zu wenig um ihre Tochter kümmerte.
»Verflucht!« Und sie hatte damit auch noch Recht! Er schwang sich auf das Motorrad und brauste davon.
Philipp reduzierte die Fahrtgeschwindigkeit. Er war in die Parkstraße eingebogen. An sich befand sich hier eine angenehme Wohngegend. Es reihten sich schicke Familienhäuser aneinander. Fuhr man weiter entlang, kam man zu einem Hallenbad, einer Minigolf-Anlage, einem Park und es gab nette Cafés zum Einkehren. Alles wirkte eher traditionell. Da fielen die Polinnen mit ihrer freizügigen Optik aus dem Rahmen und wurden allein deshalb kritisch vom Umfeld beäugt.
Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte er, wie sich Salomea mit dem Rasenmäher abmühte. Ob es da Probleme gab? Er stoppte mit seiner Maschine und nahm den Helm ab.
»Oh, kommt denn da mein Retter?«, flötete sie ihm entgegen.
‚Was mach ich da? Wie unprofessionell!‘, rügte er sich stumm. Nun verschenkte er noch mehr Zeit, wenn er sich mit ihr auf ein Gespräch einließ. Räuspernd trat er näher. »Retter?« Sein Blick glitt über ihre blanken Oberschenkel, die ölig verschmierte Spuren zeigten. Ihre sonnengelbe Bluse war kess zusammengebunden und ihre Brustansätze begrüßten ihn verlockend. Das war nichts Neues, sondern ihr Kleidungsstil.
Salomea schüttelte ihr langes Haar zurück. »Aus irgendeinem Grund springt der Rasenmäher nicht an.«
»Befindet sich denn genug Benzin im Tank?«
»Süßer. Ich bin zwar blond, aber nicht blöd.«
Verlegen kratzte sich Philipp am Kinn. »Das wollte ich keineswegs unterstellen. Ist er denn zuvor gelaufen?«
»Letzte Woche drehte der Mäher anstandslos seine Runden, aber er ist nicht mehr das neueste Teil. Wobei, oft haben die älteren Dinge ihren Reiz.«
Philipp presste die Lippen aufeinander. So, wie Salomea ihn ansah, sprach sie keineswegs bloß vom Rasenmäher. Normalerweise wäre das der ideale Zeitpunkt, sie darauf hinzuweisen, dass er kein Mechaniker war. Außerdem würde er sich hoffnungslos bei Cassie verspäten. Er sollte bei seiner Liebsten gleich die Arbeit vorschieben und den Besuch im Krankenhaus ausfallen lassen! Strenggenommen log er Cassandra diesbezüglich nicht an. Durch den enormen Blutverlust war sie meist schläfrig. Er würde eine kurze Nachricht schicken, um sie nicht mit einem Telefonat zu stören. Damit beruhigte Philipp sein Gewissen und konzentrierte sich auf Salomea. »Hast du einen alten trockenen Lappen und Werkzeug? Mal schauen, womöglich ist das Teil ein bisschen verschmutzt.«
»Ja, im Schuppen, ich hol es dir.« Salomea stolzierte mit schwingenden Hüften davon.
Verdammt, die Frau sah von der Rückseite knackig aus. Cassie hatte ebenso eine tolle Figur, aber sie würde sich nie in enge Hot Pants pressen. Worüber er froh war, denn keinesfalls wollte er, dass sich seine Freundin wie Frischfleisch am Buffet präsentierte. Sein Blick glitt weiter über den Garten. Alles war akkurat gepflegt, nur der Rasen benötigte einen Schnitt. Weshalb er davon ausging, dass das Problem mit dem Rasenmäher nicht fingiert war. An der Grundstücksgrenze stand ein großes Gewächshaus, davor wuchsen Kräuter und zig unterschiedliche Blumen. So eine Naturliebe fand er wiederum sonderbar. Aber es zeigte ihm, dass man anhand des Äußeren nicht auf die Hobbys schließen konnte.
Es dauerte nicht lange und Salomea kam mit dem Gewünschten zurück. »Ich hoffe, da ist etwas Passendes dabei.«
»Sicher.« Philipp öffnete den Werkzeugkoffer und griff zielgerichtet nach dem Kerzenschlüssel. Er widmete sich dem Rasenmäher und drehte ratzfatz die Zündkerze heraus.
»Und?«, hakte sie nach.
»Wie vermutet, sie ist verschmutzt. Ich werde sie säubern. Wenn das nicht reicht, musst du die Zündkerze erneuern. Aber vielleicht haben wir Glück.«
»Bei deinen Zauberhänden bin ich ganz optimistisch.« Sie lächelte einnehmend.
Für seinen Geschmack trug Salomea etwas zu dick auf. Dennoch klang es, als käme jedes Kompliment von Herzen und er fühlte sich geschmeichelt.
Philipp montierte die Zündkerze an der ursprünglichen Stelle. Er richtete sich auf. »So, Probelauf.« Schwungvoll zog er am Starterseil und grinste, als das vertraute Motorengeräusch erklang.
Salomea klatschte in die Hände. »Wie schön!«
Philipp stellte den Motor aus.
»Sag, wie kann ich dir danken? Magst du auf ein Getränk hereinkommen? Deine Hände musst du sowieso säubern.«
Philipp schüttelte abwehrend den Kopf. Er entfernte so gut wie möglich mit dem Tuch die öligen Spuren. Räume, die auf ihn momentan beengt wirkten, hielt er gar nicht aus. Da hatte er lieber klebrige Hände. Er drückte ihr den Lappen entgegen. »Vielleicht ein anderes Mal.«
»Ein anderes Mal?«, wiederholte sie. »Das lässt mich hoffen. Vielen lieben Dank.«
»Gern geschehen.« Philipp wandte sich ab und marschierte auf sein Motorrad zu. Er setzte den Helm auf, blickte Richtung Salomea, die ihm zum Abschied winkte.
»Mist!«, knurrte er. Irgendetwas an dieser Frau zog ihn an. War es die Mischung aus Weiblichkeit und dem Geheimnis, das sie umgab? Das erinnerte ihn ein wenig an Cassandra. Auch sie war keine gewöhnliche Frau.
»Wahre Distanz!«, sprach er stur. Instinktiv wusste er, dass ihm dieser Vorsatz nicht leichtfallen würde. Verärgert gab er Gas.
Aus dem Schatten trat Marysia. Ihre Augen funkelten wütend. »Musst du diesen Skurwysyn derart anhimmeln? Und bist du noch bei Trost, die Polizei ins Haus zu holen? Was ist, wenn sie erfahren, was wir tatsächlich tun?«
»Pst. Momentan sind wir brav und tun gar nichts.« Salomea schob ihr Gegenüber in den Schatten. Sie senkte ihre Stimme. »Außerdem erfüllt es einen guten Zweck. Wir erhalten eine Übersicht darüber, was für Fahrzeuge sie nutzen und welche Gesichter sich hinter den Beamten verbergen. Von den gewöhnlichen Streifenpolizisten geht keine Gefahr aus, wir müssen auf jene achten, die dem Kriminalamt unterstehen. Dieses Wissen können wir nutzen, für uns und für unsere Komplizen.«
Marysia zog eine Grimasse.
»In den nächsten Wochen wird es keine Übergabe geben. Aber wir können ein perfektes Doppelleben aufbauen.«
»Du bist bloß scharf auf diesen Kerl!«
Salomea zog Marysia an sich und blickte ihr in die Augen. »Nein, ich bin scharf auf dich. Das, was ich abziehe, ist reines Schauspiel.« Entschlossen schob sie die Hand unter das Höschen ihrer Freundin und suchte nach deren Perle. Sie wusste genau, was Marysia gefiel. Wenn ihre Liebste halb in Rage war, konnte ihre Leidenschaft in wenigen Sekunden ins Unermessliche gesteigert werden.
»Wir … sollten … hineingehen«, kam es stoßweise von Marysia.
»Stimmt, sonst denken die Nachbarn, wir würden Inzest betreiben.«
»Ich bin nicht deine Schwester!« Salomea schmunzelte, als sie dieses warnende Glitzern in Marysias Augen sah. »Stimmt. Nur die anderen sollen das noch eine Weile denken, zumindest, solange wir hier unsere Zelte aufgeschlagen haben. Nun komm.« Salomea zog ihre Liebste mit. Sie spürte das verlangende Pochen zwischen ihren Schenkeln. Im Gegensatz zu Marysia, die lesbisch war, floss in ihr eine bisexuelle Ader. Und Philipp reizte sie! Gut, dass Marysia nicht in ihren Kopf hineinschauen konnte, dann hätte sie erst recht Erklärungsnot!
Verdächtigungen
Endlich ratterte es draußen. Darauf hatte Gertrude gewartet. Sie eilte hinaus, um Philipp abzufangen. Allein an seinem Blick erkannte sie, dass ihm ihr Auftauchen gar nicht passte.
»Weshalb warst du nicht im Krankenhaus?«, fragte sie schärfer als beabsichtigt. Normalerweise war sie von ihrem künftigen Schwiegersohn angetan, aber seine Aura hatte sich verändert. Er verbarg etwas und das zeigten ihr nicht nur die verschmierten Hände.
»Es gab ein Problem mit der Maschine«, stieß Philipp aus. »Denkst du ernsthaft, ich tanze derart verdreckt im Spital auf?«
»Welche Maschine?«, konterte Gertrude. »Deine wohl nicht, denn die ist wie aus dem Ei gepellt, ohne jegliche Ölreste! Außerdem sind beide Hände dran. Du hättest Cassie Bescheid geben können!«
Philipp zuckte zusammen. »Denk doch, was du willst!« Er drehte ab und stapfte ins Haus.
Gerti brauchte ein paar Momente, bis sie sich fasste. Derart ablehnend kannte sie Philipp nicht. Was war da los? Zum ersten Mal in ihrem Leben verfluchte sie, dass sie nicht dieselben Fähigkeiten ihrer verstorbenen Mutter oder jene ihrer Tochter besaß.
Herbert kam auf Gertrude zu. »Weshalb hat es denn mein Neffe derart eilig?«, fragte er verwundert.
»Weil er offenbar ein schlechtes Gewissen hat.«
»Was meinst du damit?«
Gerti marschierte missmutig in die Richtung ihres Zuhauses. »Heute war er nicht einmal im Krankenhaus. Hallo, es geht nicht nur um Cassie, sondern auch um das gemeinsame Kind! Wieso ist er so kalt? Das begreife ich nicht!«
Herbert fasste sanft ihren Arm und stoppte sie ab. »Philipp ist manches Mal ein Einzelgänger. Vielleicht muss er sich erst mit den neuen Umständen arrangieren. Er hat ziemlich gelitten, als seine Ex ihn verlassen hat. Nun, das ist eine andere Situation – aber ich glaube, ihm ist aufgegangen, dass er Cassie und das Kind jederzeit verlieren könnte. Ich denke, das ist seine größte Angst und er braucht Zeit, damit klarzukommen.«
»Sorgen machen wir uns alle. Eher ist mit ihm etwas nicht in Ordnung!« Gerti schüttelte den zärtlichen Arm ab. »Er wirkt nicht, wie er selbst. Eine negative Energie haftet an ihm.«
Herbert zog eine Augenbraue hoch.
»Du denkst, ich bin verrückt.«
»Nein, das tue ich nicht. Ich habe in den letzten Monaten genau mitbekommen, wie feinfühlig du bist. Aber Philipp in der jetzigen Situation auf den Zahn zu fühlen, halte ich für kontraproduktiv, da macht er weiter dicht.«
»Aber wir können ihn beobachten. Außerdem … du und Philipps Kollegin Lea … ihr habt einen guten Draht zueinander. Sie hat uns stets geholfen, da könnten …«
»Du willst, dass ich Lea über Philipp aushorche?«, fasste Herbert zusammen, ehe sie es ausgesprochen hatte.
Gerti schaute zum gegenüberliegenden Gebäude, das einmal ihr Zuhause gewesen war. Sie hatte gedacht, dass Cassandra und Philipp dort glücklich miteinander zu leben vermochten. Im oberen Stock wackelte der Vorhang. Bestimmt war ihr Beinahe-Schwiegersohn dahinter zurückgewichen. »Aushorchen klingt zu negativ. Es ist die Sorge, die mich treibt.«
»Wichtig ist, dass Cassie auf uns zählen kann. Ich verspreche dir, dass ich meine Fühler Richtung Lea ausstrecken werde. Mag sein, dass am Posten eine ungute Ermittlung am Laufen und mein Neffe deswegen neben der Spur ist.«
Das glaubte Gerti nicht. Philipp war in den letzten Ermittlungen zuverlässig geblieben, maximal etwas überreizt oder überarbeitet, aber nie so ablehnend, wie er sich jetzt gab.
Sanft zog Herbert Gerti mit ins Haus. »Gibt es denn bei Cassandra ein Entlassungsdatum?«
»Das ist abhängig davon, ob sich mit dem Aussetzen der wehenhemmenden Mittel die Kontraktionen zurückmelden oder nicht.«
»Dann lass uns davon ausgehen, dass alles gut geht.«
Ja, darauf hoffte sie! Gerti küsste Herbert und war froh, in ihm einen so wunderbaren Beistand gefunden zu haben. Egal, wie seltsam sich Philipp verhielt, sie beide würden nie als Unterstützer von Cassies Seite weichen!
Nach Hause?
»Johannes? – Johannes!« Ich lief durch den Wald. Kreuz und quer. Seit Tagen fühlte ich meinen Mann nicht mehr! Nein, er durfte nicht … konnte nicht … oder doch? Der kirchliche Forst war riesig. Zudem konnte ich nicht einmal sicher sein, dass Johannes in diesem Gebiet verschollen war, sondern irgendwo auf dem Weg heimwärts.
Erschöpft hielt ich auf einem Baumstumpf inne – ausgelaugt, durch zu wenig Schlaf, zu wenig Nahrung und voller Sorge. Es war ein Raubbau meines Leibes. Aber ich durfte nicht zu spät kommen! Ihn nicht im Stich lassen!
»Mathilda«, erklang es da mitfühlend hinter mir.
Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. »Antonius?!«, stieß ich überrascht aus. Er war mein Helfer und Unterstützer gewesen, als ich nach Albrechts Großtochter gesucht hatte. »Was … du hier?«
Er kam auf mich zu. »Albrecht hat einen Boten zu mir geschickt, mit der Bitte, dir bei der Suche beizustehen. Der Forst ist riesig. Was ist, wenn dein Mann einer Spur gefolgt ist? Zumindest hat mir der Bischof das Gebiet benannt, das du dir heute vornehmen wolltest. Er hat eigens einen Trupp zusammengestellt. Seit Tagen sind Männer auf seine Weisung unterwegs. Ich bin mir sicher, sie geben ihr Bestes und drehen jedes Blatt um.«
Ich nickte bekümmert. »Es gibt seit zehn Tagen keinen Hinweis über Johannes’ Verbleib. Dass sie nicht aufgegeben haben, zeigt, wie sehr sie ihn schätzen.«
Antonius’ Hand lastete schwer auf meiner Schulter. »Du bist schmal geworden.«
Ich sah hoch in sein Gesicht. »Nicht nur ich«, stellte ich fest. »Trauer ummantelt deine Augen, sie ist bestimmt nicht in meinem Kummer begründet.«
»Du hast recht.« Antonius ließ sich neben mir nieder. »Im ersten Moment wollte ich eine Nachricht schicken, dass ich mich außerstande fühle, dir zu helfen.«
Ich fasste nach seiner Hand, spürte einen unsäglichen Schmerz in ihm und wartete, bis er von sich aus weitersprach.
»Mein liebes Eheweib ist vor drei Monaten gestorben, gemeinsam mit dem ungeborenen Kind – es gab für beide keine Hilfe. Seit Wochen habe ich weder mein Zuhause verlassen noch Handelsfahrten unternommen.« Er suchte meinen Blick.
»Johannes und mir war genauso wenig ein gemeinsames Kind vergönnt … Vielleicht sollte ich froh darüber sein, denn wenn er nie mehr kommt … Ich allein mit einem Balg«, sprach ich derb, während es mir das Herz zerriss. Alle Bürden würde ich auf mich nehmen, wenn mir ein Stück von Johannes bliebe!
»Ich weiß, welche Qualen im Moment in dir lodern. Sag, trägst du in dir Hoffnung, Johannes lebend zu finden?«
‚Ja!‘, wollte ich schreien, ehe ein Schluchzer meiner Kehle entwich. »Ich spüre ihn nicht mehr. Aber ich muss ihn finden! Um ihm ein würdiges …«
»… Grab zu geben«, griff Antonius meine Worte auf. »Dabei darfst du nicht auf dich vergessen«, erinnerte er mich in einem sanften Ton. Er stand auf. »Lass dich heimbringen, damit du dich stärken kannst. Wenigstens eine Nacht und einen Tag. Ab dann werde ich dich als dein Unterstützer begleiten.«
»Genauso gut könnte ich bleiben. Für wen soll ich meine Kräfte zusammenhalten?«