Chaos Walking - Der Roman zum Film - Patrick Ness - E-Book
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Chaos Walking - Der Roman zum Film E-Book

Patrick Ness

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Beschreibung

Exklusive Roman-Ausgabe zum Kino-Highlight

Todd Hewitt ist der letzte Junge seiner Heimatstadt. Und diese Stadt ist anders. In ihr gibt es keine Frauen. Nur Männer. Und jedermann hört die Gedanken aller anderen. Rund um die Uhr. Es gibt kein Privatleben. Es gibt keine Geheimnisse. Oder doch? Nur einen Monat vor dem Geburtstag, der auch ihn zum Mann machen wird, stolpert Todd unvermutet über einen Ort, an dem absolute Stille herrscht. Und dort trifft er ein Mädchen. Doch das ist unmöglich. Oder haben ihn alle ein Leben lang belogen? Todd kommt einem ungeheuerlichen Geheimnis auf die Spur. Und nun bleibt ihm nur eines: um sein Leben zu rennen …

Verfilmung durch Lionsgate (»Tribute von Panem«, »Divergent«) mit internationaler Starbesetzung: Daisy Ridley (»Star Wars«), Tom Holland (»Spiderman«), Nick Jonas (»Jumanji«), Mads Mikkelsen (»Hannibal«), David Oyelowo (»Selma«).

Die Chaos Walking-Reihe:
Chaos Walking – Die Mission (E-Short, Prequel 1)
Chaos Walking – Der Roman zum Film (Band 1)
Chaos Walking – Es gibt immer eine Wahl (Band 2)
Chaos Walking – Vor dem Fall (E-Short, Prequel 2)
Chaos Walking – Die Zukunft der Welt (Band 3)
Chaos Walking – Die letzte Grenze (E-Short, Sequel 3)

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Seitenzahl: 584

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PATRICK NESS

CHAOSWALKING

Der Roman zum Film

Buch 1

Aus dem Amerikanischen von Petra Koob-Pawis

Autor

Patrick Ness wuchs in den Vereinigten Staaten und auf Hawaii auf. Für seine Kinder- und Jugendbücher wurde er mehrfach ausgezeichnet, er gewann unter anderem den renommierten Costa Children’s Book Award und als erster Autor überhaupt gleichzeitig die Carnegie Medal und den Kate Greenaway Award sowie neben unzähligen anderen Auszeichnungen den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Von Patrick Ness sind bei cbj erschienen:

Sieben Minuten vor Mitternacht (40191)

Mehr als das (12515)

Das Morgen ist immer schon jetzt (18978)

Chaos Walking – Die Mission (E-Short; 24360)

Übersetzerin

Petra Koob-Pawisstudierte in Würzburg und Manchester Anglistik und Germanistik, arbeitete anschließend an der Universität und ist seit 1987 als Übersetzerin tätig. Sie wohnt in der Nähe von München, und wenn sie gerade nicht übersetzt, lebt sie wild und gefährlich, indem sie Museen durchstreift, Vögel beobachtet und ihren einäugigen Kater daran zu hindern versucht, sämtliche Möbel zu ruinieren.

Mehr über cbj auf Instagram unter @hey_reader

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Erstmals als cbt Taschenbuch Februar 2021

© 2008 Patrick Ness

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel

»Chaos Walking 1 – The Knife of Never Letting Go« bei Walker Books Ltd, London

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Ursprünglich erschienen unter dem Titel »New World 1 – Die Flucht« bei Ravensburger Verlag

Übersetzung: Petra Koob-Pawis

Umschlaggestaltung: geviert.com

Unter Verwendung des Bildes und der Gestaltung von:

©,™ & © 2020 Lions Gate Entertainment Inc. All rights reserved.

MP · Herstellung: UK

ISBN 978-3-641-24294-7V001

Printed in Germany

www.cbj-verlag.de

Für Michelle Kass

KÖNNTEN WIR UNSER ALLTÄGLICHES LEBEN in seinem ganzen Reichtum wahrnehmen, dann hörten wir das Wachsen des Grases und den Herzschlag des Eichhörnchens, und wir würden an dem ungeheuren Lärm vergehen, der jenseits des Schweigens liegt.

George Eliot, »Middlemarch«

TEIL I

1 DASLOCHIMLÄRM

DAS ERSTE, WAS DU HERAUSFINDEST, wenn dein Hund sprechen lernt, ist, dass Hunde nicht viel zu sagen haben. Und das in jeder Beziehung.

»Muss kacken, Todd.«

»Halt die Schnauze, Manchee.«

»Kacken. Kacken, Todd.«

»Ich hab gesagt, du sollst die Schnauze halten.«

Wir gehen über die verwilderten Felder im Südwesten der Stadt, die sanft zum Fluss abfallen und sich bis zum Sumpfland hinziehen. Ben hat mich hergeschickt, damit ich ihm ein paar Sumpfäpfel hole, er hat gesagt, ich solle Manchee mitnehmen, obwohl jeder weiß, dass Cillian ihn nur gekauft hat, um sich gut mit Bürgermeister Prentiss zu stellen, und plötzlich ist er da, dieser neue Hund, ein Geschenk zu meinem Geburtstag im letzten Jahr, obwohl ich mir niemals einen Hund gewünscht habe. Was ich mir dagegen wirklich gewünscht habe, war, dass Cillian endlich das Atomkraftrad repariert, damit ich nicht mehr zu jedem gottverlassenen Platz in dieser blöden Stadt zu Fuß gehen muss, aber nein, alles Gute zum Geburtstag, Todd, hier hast du ein niedliches Hundebaby, und obwohl du es gar nicht haben wolltest, rate mal, wer es jetzt füttern und erziehen und waschen muss und wer mit ihm Gassi geht und wer sich sein Geplapper anhört, jetzt da es in das Alter kommt, in dem der Redebazillus seine Schnauze nicht mehr stillstehen lässt? Dreimal darfst du raten.

»Kacken«, bellt Manchee leise vor sich hin. »Kacken, kacken, kacken.«

»Dann kack doch, und hör endlich auf, davon zu kläffen.«

Ich reiße ein Büschel Gras neben dem Weg aus und schlage damit nach ihm. Ich treffe ihn nicht, ich will ihn gar nicht treffen, aber er bellt sein kurzes Lachen und rennt weiter den Weg entlang. Ich laufe hinter ihm her, schlage mit dem Büschel rechts und links ins Gras, blinzle, weil mir die Sonne in die Augen sticht, und versuche an rein gar nichts zu denken.

Die Wahrheit ist: Wir brauchen gar keine Äpfel aus dem Sumpfland. Wenn Ben wirklich welche brauchte, könnte er sie auch im Laden von Mr Phelps kaufen. Ebenso wahr ist: In den Sumpf zu gehen, um ein paar Äpfel zu klauben, ist keine Arbeit für einen Mann, denn Männer dürfen nicht faulenzen. Na gut, offiziell bin ich erst in dreißig Tagen ein Mann. Ich bin zwölf Jahre alt, zwölf Jahre mit je dreizehn langen Monaten und zwölf Monate dazu, und das bedeutet, dass es noch einen vollen Monat hin ist bis zu dem einen, dem wichtigen Geburtstag. Die Pläne dafür sind schon geschmiedet, die Vorbereitungen getroffen, es wird wohl eine Party geben, obwohl mich bei dem Gedanken daran merkwürdige Vorstellungen beschleichen, Bilder, die ganz düster und ganz strahlend zugleich sind, aber egal, ich werde bald ein Mann sein, und Äpfel im Sumpfland zu klauben ist keine Arbeit für einen Mann oder für einen, der schon beinahe ein Mann ist.

Aber Ben weiß, dass er mich darum bitten kann und dass ich dann Ja sage, denn der Sumpf ist der einzige Flecken in der Nähe von Prentisstown, an dem man sich halbwegs erholen kann von dem Lärm, der aus den Männern hervorsprudelt, von ihrem Schnattern und Plappern, das nicht einmal aufhört, wenn sie schlafen. Männer und ihre Gedanken. Gedanken, von denen sie nicht einmal wissen, dass sie sie denken, selbst wenn jedermann sie hört. Männer und ihr Lärm. Ich weiß nicht, wie sie das anstellen, wie sie es miteinander aushalten.

Männer sind lärmende Wesen.

»Eichhörnchen!«, ruft Manchee, und schon ist er auf und davon, rennt querfeldein, egal, wie laut ich hinter ihm herrufe. Also laufe auch ich querfeldein, über die (ich schaue mich um, ob auch wirklich niemand in der Nähe ist) gottverdammten Felder, denn Cillian wird sicher der Schlag treffen, wenn Manchee in ein gottverdammtes Schlangenloch fällt, und natürlich ist es dann meine gottverdammte Schuld, obwohl ich mir diesen gottverdammten Hund eigentlich verdammt noch mal gar nicht gewünscht habe.

»Manchee! Komm zurück!«

»Eichhörnchen!«

Ich muss mich durch das Gras kämpfen, kleine Raupen bleiben an meinen Schuhen hängen. Ich will eine davon abschütteln und zerquetsche sie dabei, sie hinterlässt eine grüne Schleimspur auf meiner Trainingshose, die sich erfahrungsgemäß nicht mehr auswaschen lässt.

»Manchee!«, schreie ich wutschnaubend.

»Eichhörnchen! Eichhörnchen! Eichhörnchen!«

Er rennt bellend um den Baum herum, und das Eichhörnchen saust über den Baumstamm, macht sich lustig über ihn. Komm schon, Zappler, sagt sein Lärm. Komm schon, fang mich, komm schon, Zappler fang mich. Zappler, Zappler, Zappler.

»Eichhörnchen, Todd! Eichhörnchen!«

Verdammt, sind Tiere blöd.

Ich packe Manchee am Kragen und schlage ihn auf die Hinterbeine. »Aua, Todd? Aua?« Ich verpasse ihm noch einen Schlag. Und noch einen. »Aua? Todd?«

»Komm jetzt endlich!«, sage ich, und mein eigener Lärm tobt so laut, dass ich mich selbst kaum denken höre, was ich recht bald bereuen werde, glaub mir.

Zappeljunge, Zappeljunge, denkt das Eichhörnchen über mich. Fang mich doch, Zappeljunge.

»Du kannst dich auch verplustern«, sage ich, nur dass ich nicht »verplustern« sage, sondern das andere Wort.

Aber ich hätte verdammt gut daran getan, mich noch einmal umzuschauen.

Denn auf einmal steht Aaron vor mir, wie aus dem Nichts ist er plötzlich aufgetaucht, reckt sich und schlägt mir mitten ins Gesicht, schlägt mir mit seinem großen Ring die Lippe blutig, dann holt er wieder aus, diesmal mit der geballten Faust, er streift mein Jochbein, verfehlt zum Glück die Nase, denn ich lasse mich blitzschnell ins Gras fallen, versuche noch im Fallen seinem Schlag auszuweichen, und dabei lasse ich Manchee los, der dem Eichhörnchen hinterherrennt und sich die Seele aus dem Leib bellt, der Verräter, und ich falle mit Knien und Händen voran ins Gras, und das bedeutet noch viel mehr Flecken von den Raupen.

Ich bleibe liegen, schnappe nach Luft.

Aaron steht drohend über mir, sein Lärm bedrängt mich, es sind Fetzen aus der Heiligen Schrift und aus seiner nächsten Predigt und achte auf deine Worte, junger Todd und ein Opfer erwählen und der Heilige sucht sich seinen Weg und Gott hört es und dazu all die unscharfen Bilder, die sich in jedermanns Lärm befinden, von ganz alltäglichen Dingen, aber hie und da auch ein Aufblitzen von …

Von was? Was zum Teufel …?

Aber da wird der Gedanke bereits von einem lauten Predigtschwall zugedeckt, ich schaue hoch in seine Augen, und mit einem Mal will ich es gar nicht mehr wissen. Ich schmecke Blut, wo sein Ring meine Lippe aufgerissen hat, und ich will es gar nicht wissen.

Er kommt doch sonst nie hierher, kein Mann kommt jemals hierher, sie haben alle ihre Gründe, die Männer, mit Sicherheit. Nur ich und mein Hund, wir sind die Einzigen, die herkommen, aber hier steht Aaron nun, und ich will es einfach nicht wissen.

Er lächelt mich durch seinen Bart hindurch an, lächelt herab zu mir, der ich im Gras sitze.

Eine Faust, die lächelt.

»Unsere Worte, junger Todd«, sagt er, »sind es, die uns nach unten ziehen wie die Kette den Gefangenen. Hast du denn in der Kirche nichts gelernt, Bursche?« Und dann sagt er den Satz, den er immer und immer wieder predigt: »Wenn einer von uns fällt, fallen wir alle.«

Ja, Aaron, denke ich.

»Sprich es aus, Todd.«

»Ja, Aaron«, sage ich.

»Und all die liederlichen Worte?«, sagt er. »Und all die lästerlichen Flüche? Glaube ja nicht, ich hätte sie nicht gehört. Dein Lärm verrät dich. Er verrät uns alle.«

Nicht alle, denke ich, während ich gleichzeitig laut sage: »Es tut mir leid, Aaron.«

Er beugt sich zu mir, seine Lippen sind ganz nah an meinem Gesicht, ich rieche den Atem, der schwer wie Blei seinem Mund entströmt, Atem wie eine Hand, die sich nach mir ausstreckt. »Gott hört es«, sagt er. »Gott hört es.«

Wieder hebt er seine Hand und ich zucke zusammen. Er lacht und dann geht er, einfach so, geht in die Stadt zurück und nimmt seinen Lärm mit sich.

Ich zittere am ganzen Leib, weil ich geschlagen wurde, zittere, weil ich so überrumpelt wurde und weil ich so wütend bin und weil ich diese Stadt und die Männer, die darin leben, so sehr hasse. Ich zittere so sehr, dass ich eine Weile brauche, ehe ich wieder aufstehen und meinen Hund einfangen kann. Was, verdammt noch mal, hat er hier draußen überhaupt zu suchen? Ich bin so sauer, ich schäume so sehr vor Wut und Hass (und Angst, ja, auch vor Angst, halt bloß die Klappe), dass ich mich nicht einmal umschaue, ob Aaron meinen Lärm gehört hat. Ich schaue mich nicht um. Ich schaue mich einfach nicht um.

Und dann drehe ich mich doch um und fange meinen Hund ein.

»Aaron, Todd? Aaron?«

»Sag nie wieder diesen Namen, Manchee.«

»Blutet, Todd. Todd? Todd? Todd? Blutet?«

»Ich weiß. Halt die Schnauze.«

»Zappler«, sagt er gedankenlos, er hat einfach gar nichts im Kopf.

Ich verpasse ihm einen Schlag aufs Hinterteil. »Sag das nicht noch mal.«

»Aua? Todd?«

Wir gehen weiter, halten Abstand zum Fluss zu unserer Linken. Im Osten der Stadt fließt er durch einen Talkessel, er kommt von Norden, führt an unserer Farm vorbei und an der Stadt, wird dann immer breiter und morastiger, bis er allmählich in Sumpfland übergeht. Mann sollte sich besonders von dem Teil fernhalten, der dem Sumpfwald vorgelagert ist, denn dort gibt es Krokodile, die so groß sind, dass sie spielend einen Beinahe-Mann samt seinem Hund umbringen können. Die Zacken auf ihren Rücken sehen aus wie Schilf, und wenn du ihnen zu nahe kommst – ZACK! –, schießen sie aus dem Wasser, werfen sich mit gespreizten Klauen und weit aufgerissenem Maul auf dich, und du hast nicht die geringste Chance mehr.

Wir lassen das morastige Ufer hinter uns und ich versuche die Stille des Sumpfes in mich aufzunehmen. Hier unten gibt es gar nichts mehr zu sehen, wirklich gar nichts, das ist auch der Grund, warum niemand hierherkommt. Und wegen des Gestanks. Ich behaupte ja gar nicht, dass es hier gut riecht, aber es ist längst nicht so schlimm, wie die Leute tun. Sie riechen ihre Erinnerungen und nicht, wie es jetzt hier ist, sie haben den Gestank der Vergangenheit in der Nase. Den Gestank der Toten. Die Spackle und die Menschen hatten nämlich unterschiedliche Vorstellungen davon, wie jemand begraben werden sollte. Spackle gingen in den Sumpf, warfen ihre Toten einfach ins Wasser und versenkten sie, kein Wunder, sie waren geschaffen dafür, im Sumpf beerdigt zu werden. Sagt jedenfalls Ben. Wasser und Dreck und die Haut der Spackle passen gut zusammen, nichts wurde verschmutzt, sie düngten nur den Sumpf, so wie Menschen die Erde düngen.

Doch dann gab es auf einmal viel mehr Spackle, die beerdigt werden mussten, mehr, als selbst ein Sumpf dieser Größe verdauen konnte, und es ist wirklich ein verdammt großer Sumpf. Und dann gab es plötzlich gar keine lebenden Spackle mehr. Nur Berge von Spackle-Körpern, die sich im Sumpf auftürmten, verwesten und stanken, und es dauerte lange, bis der Sumpf wieder ein Sumpf war statt eines Durcheinanders aus Fliegen und Gestank und wer weiß welchen Krankheitskeimen, die die Spackle uns sonst noch zurückgelassen haben.

In diese wirre Zeit bin ich hineingeboren worden, in den überfüllten Sumpf und den überfüllten Friedhof und in die Stadt, in der zu wenige Menschen leben, aber ich erinnere mich nicht mehr daran, ich erinnere mich nicht mehr an eine Welt ohne Lärm. Mein Pa starb an einer Krankheit, noch bevor ich auf die Welt gekommen bin, und dann starb auch meine Mutter, was natürlich kein Wunder ist. Ben und Cillian nahmen mich bei sich auf und zogen mich groß. Ben sagt, meine Mutter sei die letzte Frau gewesen, die gestorben ist, aber das sagt jeder von seiner Mutter. Kann sein, dass Ben die Wahrheit sagt, zumindest glaubt er daran, aber wer weiß das schon?

Ich jedenfalls bin der Jüngste in der ganzen Stadt. Sonst war ich immer mit Reg Oliver unterwegs (sieben Monate und acht Tage älter als ich), wir haben mit Steinen nach den Krähen auf den Feldern geworfen. Liam Smith (vier Monate und neunundzwanzig Tage älter als ich) war auch dabei, und Seb Mundy, der nach mir der Jüngste ist, er ist drei Monate und einen Tag älter, aber nicht einmal er spricht jetzt noch mit mir, seit er ein Mann ist.

Kein Junge macht das, wenn er erst einmal dreizehn ist.

So ist das nun mal in Prentisstown. Jungen werden zu Männern, und dann gehen sie in Männerversammlungen, in denen sie über Gott weiß was reden und zu denen Jungs keinen Zutritt haben, und wenn du der letzte Junge in der ganzen Stadt bist, dann musst du eben ganz alleine warten.

Na ja, allein mit einem Hund, den du gar nicht haben wolltest.

Aber egal, hier ist der Sumpf, und wir gehen hinein, bleiben auf den Pfaden, die an den schlimmsten Morastlöchern vorbeiführen, sich vorbeischlängeln an den großen, knolligen Bäumen mit ihren Nadeldächern, die Meter um Meter aus dem Sumpf in die Höhe wachsen. Die Luft ist stickig, dunkel und schwer, aber diese stickige, dunkle Schwere hat nichts Beängstigendes an sich. Hier gibt es jede Menge Leben. Leben, das sich keinen Deut um die Stadt schert, Vögel und grüne Schlangen und Frösche und Kivits und beide Arten von Eichhörnchen und (ungelogen) ein oder zwei Cassors, und natürlich gibt es auch rote Schlangen, vor denen man sich in Acht nehmen muss. In die Düsternis hier unten dringen immer wieder einzelne Lichtstrahlen durch, sie fallen durch Öffnungen im Blätterdach, und wenn du mich fragst, was du aber auch lassen kannst, mir kommt der Sumpf vor wie ein großes, gemütliches, ruhiges Zimmer. Düster, aber lebendig, lebendig, aber freundlich, freundlich, aber nicht vereinnahmend.

Manchee hebt sein Bein buchstäblich überall, bis ihm wahrscheinlich die Pisse ausgeht, dann rennt er unter einen Busch, plappert etwas vor sich hin und sucht sich einen Platz, wo er, nehme ich an, sein großes Geschäft machen kann.

Aber dem Sumpf macht das nichts aus. Wie sollte es auch? Es ist alles Leben, es vergeht, kehrt immer und immer wieder, verschlingt sich selbst, um zu wachsen. Das heißt aber nicht, dass es hier keinen Lärm gibt. Man kann vor dem Lärm nicht weglaufen, so viel ist sicher, aber hier ist es ruhiger als in der Stadt. Die Geräusche sind anders, sie entspringen nur der Neugier, sie kommen von Tieren, die wissen wollen, wer du bist und ob du eine Gefahr darstellst. Die Stadt dagegen weiß schon alles über dich und möchte immer noch mehr wissen und möchte dich mit dem, was sie weiß, in die Knie zwingen, was soll denn da überhaupt noch von einem Menschen übrig bleiben?

Aber der Lärm im Sumpf, das sind nur die Vögel, die ihre ängstlichen, kleinen Vogelgedanken denken. Wo ist Futter? Wo ist das Nest?Wo bin ich sicher? Und dann die wachsbleichen Eichhörnchen, kleine Rabauken, die dich necken, wenn sie dich sehen, wenn nicht, dann necken sie einander, und die rotbraunen Eichhörnchen, die wie einfältige kleine Kinder sind, und manchmal sieht man auch Sumpffüchse im Gebüsch, sie ahmen den Lärm der Eichhörnchen nach, die sie fressen, und ab und zu sieht man sogar Maven, die ihre eigentümlichen Maven-Lieder singen, und einmal, ich schwör’s, habe ich sogar einen Cassor auf seinen zwei langen Beinen staksen sehen, aber Ben glaubt das nicht, Ben sagt, es gibt schon lange keine Cassors mehr im Sumpf.

Ich weiß nicht. Ich habe beschlossen, meinen eigenen Augen zu trauen.

Manchee kommt wieder aus den Büschen und setzt sich neben mich, weil ich so unvermittelt stehen geblieben bin. Er schaut sich um, will herausfinden, was ich entdeckt haben könnte, und sagt dann: »Gut gekackt, Todd.«

»Darauf wette ich, Manchee.«

Wenn ich Geburtstag habe, möchte ich lieber nicht noch einen räudigen Hund. Was ich mir dieses Jahr wünsche, ist ein Jagdmesser, eines, wie Ben immer hinten an seinem Gürtel stecken hat. Das ist ein Geschenk für einen Mann.

»Kacken«, sagt Manchee leise.

Wir gehen weiter. Die meisten Apfelbäume stehen ein Stück im Sumpf; um sie zu erreichen, muss man verschlungene Pfade gehen und über einen umgestürzten Baum springen, Manchee muss ich immer hinüberhelfen. Als wir dort sind, fasse ich ihn um den Bauch und stelle ihn auf den Stamm. Obwohl er schon weiß, was ich mit ihm mache, zappelt er wie wild, fast wie eine Spinne, die von der Decke fällt, und führt sich auf wegen nichts und wieder nichts.

»Halt doch still, du Armleuchter!«

»Runter, runter, runter!«, jault er und strampelt wie verrückt.

»Blöder Hund.«

Ich setze ihn unsanft oben auf den Stamm und klettere selbst hinauf. Dann springen wir beide auf der anderen Seite hinunter, Manchee bellt »Spring!«, während er schon weiterrennt.

Dort, wo man über den Baumstamm springen muss, fängt der düstere Sumpf erst richtig an, und das Erste, was man sieht, sind die alten Hütten der Spackle, sie tauchen aus dem Halbdunkel auf und sehen aus wie geschmolzene Kugeln aus brauner Eiscreme, nur dass sie so groß sind wie eine Hütte. Niemand kann sich mehr daran erinnern, wozu sie einst gedient haben, aber die beste Erklärung hat Ben geliefert, der einfach für alles eine Erklärung parat hat. Er hat gesagt, es hat etwas damit zu tun, wie sie ihre Toten begraben. Vielleicht waren die Hütten so etwas wie eine Kirche – obwohl die Spackle, soweit sich jemand in Prentisstown überhaupt daran erinnern kann, gar keine Religion hatten.

Ich mache einen weiten Bogen um die Hütten und gehe in den kleinen Hain aus wilden Apfelbäumen. Die Äpfel sind reif, beinahe schon schwarz, Cillian würde sagen: einigermaßen essbar. Ich pflücke einen vom Ast und beiße hinein, der Saft läuft mir übers Kinn.

»Todd?«

»Was ist, Manchee?« Ich ziehe die Plastiktasche heraus, die ich zusammengefaltet in meiner hinteren Hosentasche mitgebracht habe, und fange an, sie mit Äpfeln zu füllen.

»Todd?«, bellt er wieder, und diesmal fällt mir auf, wie verändert er meinen Namen bellt, und ich drehe mich um, und er schaut zu den Spackle-Häusern, mit gesträubtem Rückenfell und gespitzten Ohren.

Ich richte mich auf. »Was ist los, alter Junge?«

Er knurrt jetzt, fletscht die Zähne. Mein Blut rauscht. »Ist dort ein Krokodil?«, frage ich.

»Ruhig, Todd«, knurrt Manchee.

»Was ist da?«

»Ist ganz ruhig, Todd«, knurrt er. Er bellt kurz, und es ist ein richtiges Hundebellen, das nichts anderes bedeuten soll als »Wuff!«, und ich stehe noch ein bisschen mehr unter Strom, meine Haut fängt schon zu knistern an. »Horch«, knurrt er.

Also horche ich.

Und horche.

Ich drehe den Kopf ein wenig und horche weiter.

Da ist ein Loch im Lärm.

Was unmöglich sein kann.

Es ist seltsam, wirklich seltsam, und es ist irgendwo hier versteckt. Verdeckt von den Bäumen oder von sonst was, ist da ein Fleck, von dem die Ohren und der Verstand sagen, dass er keinen Lärm aussendet. Es ist wie eine unsichtbare Hülle, man sieht nur, wie alles von außen an ihr abprallt. Wie Wasser in einer Tasse, nur, dass da gar keine Tasse ist. Es ist ein Loch, und alles, was hineinfällt, hört auf, Lärm zu sein, hört überhaupt auf zu sein, ist einfach verschwunden. Das ist etwas anderes als die Stille, die im Sumpf herrscht, die ja niemals wirklich still ist, sondern nur weniger lärmend. Aber das hier ist ein Gebilde aus Nichts, ein Loch, in dem der ganze Lärm aufhört.

Was schlichtweg unmöglich ist.

Diese ganze Welt ist voller Lärm, erfüllt vom Gedankenfluss der Männer und dem anderer Kreaturen, die Gedanken strömen auf mich ein und strömen und strömen, seit damals, als die Spackle im Krieg diesen Lärmbazillus in die Welt gesetzt haben, diesen Bazillus, der die Hälfte der Männer und jede einzelne Frau getötet hat, meine Mutter eingeschlossen, diesen Bazillus, der die restlichen Männer zum Wahnsinn getrieben hat, diesen Bazillus, der den Untergang der Spackle besiegelte, kaum dass die Menschen in ihrem Wahn zum ersten Mal die Waffen erhoben hatten.

»Todd?« Manchee ist verängstigt, das höre ich deutlich. »Was, Todd? Was ist das, Todd?«

»Riechst du irgendetwas?«

»Riecht ruhig, Todd«, bellt er und dann lauter: »Ruhig! Ruhig!«

Da. In der Nähe der Spackle-Hütten bewegt sich die Stille. Das Blut in meinen Adern pocht so stark, dass es mich beinahe umwirft. Manchee rennt kläffend um mich herum, bellt und bellt und jagt mir damit nur noch mehr Angst ein, deshalb gebe ich ihm wieder einen Klaps aufs Hinterteil (»Aua, Todd?«), um mich selbst zu beruhigen.

»Es gibt keine Löcher«, sage ich. »Kein Nichts. Also muss es etwas sein, oder?«

»Etwas, Todd«, bellt Manchee.

»Hörst du, wohin es gegangen ist?«

»Ist ruhig, Todd.«

»Du weißt, was ich meine.«

Manchee nimmt Witterung auf, tapst vorsichtig ein, zwei Schritte auf die Hütten zu und läuft dann in diese Richtung weiter. Also sollten wir wohl besser mal dort nachsehen. Langsam gehe ich auf die größte der geschmolzenen Eiskugeln zu. Ich habe keine Lust, in die Nähe dessen zu kommen, was aus der kleinen, krummen, dreieckigen Tür herausschauen könnte. Manchee schnüffelt am Türrahmen, aber er knurrt nicht, also hole ich tief Luft und schaue hinein.

Drinnen ist alles ausgestorben. Der Raum ist fast doppelt so hoch wie ich. Auf dem Boden liegt Dreck, Sumpfpflanzen haben sich dort ausgebreitet, Kletterpflanzen und solches Zeug, aber sonst gar nichts. Will heißen: kein wirkliches Nichts, kein Loch, keine Spur davon. Nichts deutet auf das hin, was vielleicht vorher hier gewesen ist.

Es mag albern sein, aber ich muss das jetzt sagen.

Ich frage mich, ob die Spackle zurückgekommen sind.

Aber das ist unmöglich.

Ein Loch im Lärm ist allerdings auch unmöglich.

Also muss es etwas, was eigentlich unmöglich ist, dennoch geben.

Ich höre, wie Manchee draußen herumschnüffelt, deshalb gehe ich langsam nach draußen und wende mich der zweiten Kugel zu. Auf deren Außenwand steht etwas geschrieben, es sind die einzigen Wörter, die jemals in der Sprache der Spackle aufgeschrieben wurden, soweit man weiß. Wahrscheinlich waren es die einzigen Wörter, die sie für wert hielten, aufgeschrieben zu werden. Es ist die Schrift der Spackle, und Ben sagt, die Wörter klängen wie »es’ Paqili« oder so ähnlich, das heißt »Spackle« oder, wenn man den Namen mehr ausspuckt, als dass man ihn spricht: »Spaeks«. Und so sprechen ihn alle aus seit dem Unglück. Der Name bedeutet »Menschen«.

Die zweite Hütte ist ebenfalls leer. Ich gehe wieder nach draußen in den Sumpf und lausche mit gesenktem Kopf, ich strenge all meine Gehörnerven an und horche und horche und horche.

»Ruhig! Ruhig!«, bellt Manchee zweimal ganz schnell hintereinander und rast auf die letzte Hütte zu. Ich laufe hinterher, fange an zu rennen, mein Puls trommelt, denn dort ist es, dort ist das Loch im Lärm.

Ich kann es hören.

Na ja, ich kann es nicht hören, das ist es ja gerade, aber als ich darauf zulaufe, klatscht die Leere gegen meine Brust, und die Totenstille zerrt an mir, und es liegt so viel Ruhe, so viel Stille darin, eine so große, unglaubliche Stille, dass ich mich völlig zerschlagen fühle, so als wäre ich im Begriff, das Wertvollste, was ich besitze, zu verlieren, so als wäre er genau da vorn, der Tod. Ich fange an zu rennen, und meine Augen tränen, und meine Lunge zerspringt, und niemand ist zu sehen, aber ich passe immer noch auf, und dann fangen meine Augen an zu tränen, meine scheißbescheuerten Augen, und ich bleibe eine Minute lang stehen und beuge mich vornüber, verdammt noch mal, halt jetzt bloß die Klappe, aber ich verplempere eine ganze blöde Minute, eine ganze stinkig blöde Minute, in der ich vornübergebeugt stehen bleibe, während sich das Loch fortbewegt und fortbewegt, bis es verschwunden ist.

Manchee ist hin- und hergerissen, er will dem Loch nachrennen, aber er will auch zu mir zurückkommen. Schließlich kommt er zu mir zurück.

»Weinen, Todd?«

»Halt die Schnauze«, sage ich und trete nach ihm. Ich trete daneben, absichtlich.

2 PRENTISSTOWN

WIR MACHEN UNS DAVON und schlagen den Rückweg zur Stadt ein. Die ganze Welt kommt mir schwarz und grau vor, egal was die Sonne sagt. Sogar Manchee sagt kaum etwas, als wir über die Felder laufen. Mein Lärm zischt und brodelt wie ein Eintopf auf der Herdplatte, bis ich schließlich für eine Minute stehen bleibe, um mich ein wenig zu beruhigen.

Vollkommene Stille gibt es einfach nicht. Hier nicht und woanders nicht. Nicht, wenn man schläft, und nicht, wenn man wach ist, einfach nie.

Ich bin Todd Hewitt, denke ich leise mit geschlossenen Augen. Ich bin zwölf Jahre und zwölf Monate alt. Ich lebe in Prentisstown in New World. In genau einem Monat werde ich ein Mann sein.

Das ist ein Kniff, den mir Ben beigebracht hat, um meinen Lärm zu beruhigen. Man schließt die Augen, und dann sagt man so deutlich und so ruhig wie nur möglich zu sich selbst, wer man ist, denn das vergisst man in all dem Lärm.

Ich bin Todd Hewitt.

»Todd Hewitt«, murmelt Manchee leise, der neben mir hertrottet.

Ich hole tief Luft und mache die Augen wieder auf.

Genau der bin ich. Ich bin Todd Hewitt.

Wir laufen bergauf, weg vom Sumpf und dem Fluss, den Hang mit den brachliegenden Feldern hinauf bis zu dem kleinen Hügel im Süden der Stadt, wo sich einst für kurze Zeit und völlig nutzloserweise die Schule befunden hat. Als ich noch nicht auf der Welt war, wurden die Jungen von ihren Müttern zu Hause unterrichtet, und später, als es nur noch Jungen und Männer gab, setzten wir uns vor den Videoapparat und schauten Unterrichtsstunden an, bis Bürgermeister Prentiss derlei als »unserer geistigen Disziplin abträglich« brandmarkte.

Der Bürgermeister hat seine Grundsätze, wie man sieht.

Deshalb sammelte der stets schwermütig dreinblickende Mr Royal fast ein albernes halbes Jahr lang alle Jungen regelmäßig ein und sperrte sie hier draußen in ein Nebengebäude, weit ab vom gröbsten Lärm der Stadt. Nicht dass es was geholfen hätte. Niemand kann in einem Klassenzimmer unterrichten, das voll vom Lärm der Jungen ist, und es ist völlig ausgeschlossen, irgendwelche Prüfungen abzuhalten. Die Schüler schummeln, selbst wenn sie’s gar nicht wollen, aber wer will schon nicht schummeln?

Und dann hat Mr Prentiss eines Tages beschlossen, alle Bücher zu verbrennen, jedes einzelne Buch, sogar die Bücher, die die Leute zu Hause stehen hatten, denn offensichtlich waren Bücher ebenfalls schädlich, und Mr Royal, ein sanfter Mann, der einen harten Kerl aus sich machen wollte, indem er selbst im Klassenzimmer Whisky trank, gab auf, nahm eine Flinte und setzte seinem Leben ein Ende, und dann war’s vorbei mit meinem Schulunterricht.

Alles Weitere hat mir Ben zu Hause beigebracht. Handwerken und Essen kochen und Kleider flicken, dazu die wichtigsten Dinge, die ein Farmer wissen muss, und dergleichen mehr. Auch jede Menge zum Überleben in der Wildnis, übers Jagen zum Beispiel. Er hat mir beigebracht, welche Früchte genießbar sind, wie man anhand der Monde die Himmelsrichtung bestimmt, wie man mit einem Messer und einem Gewehr umgeht, was gegen Schlangenbisse hilft und wie man seinen Lärm so gut wie möglich kontrolliert.

Er hat auch versucht, mir Lesen und Schreiben beizubringen, aber Bürgermeister Prentiss hat eines Morgens durch meinen Lärm davon Wind bekommen und Ben für eine Woche eingebuchtet, und das war’s dann mit meiner Schulgelehrsamkeit. Und weil ich auch noch die vielen anderen Dinge lernen und auf der Farm arbeiten musste, was ich noch immer tagein, tagaus tue, weil man einfach überleben muss, deshalb habe ich nie richtig lesen gelernt. Aber das macht nichts. Kein Mensch in Prentisstown wird jemals ein Buch schreiben.

Manchee und ich gehen am Schulhaus vorbei und den kleinen Hügel hinauf und schauen nach Norden. Vor uns liegt sie, die besagte Stadt. Nicht dass von ihr noch allzu viel übrig geblieben wäre. Ein Geschäft, früher waren es mal zwei. Eine Kneipe, früher waren es mal zwei. Ein Krankenhaus, ein Gefängnis, eine Tankstelle, die außer Betrieb ist, ein großes Haus für den Bürgermeister, eine Polizeiwache. Dann die Kirche. Ein kleines Stück Straße, das durch die Ortsmitte verläuft, sie ist vor vielen Jahren gepflastert und seither niemals repariert worden, sie verfällt jetzt schnell zu Sand und Kies. All die Häuser und dergleichen liegen weitverstreut, Farmen, die nur so aussehen, als wären sie Farmen, einige sind es tatsächlich noch, andere sind verlassen, wieder andere sind nicht nur verlassen, sondern auch verfallen.

Mehr gibt es nicht in Prentisstown. Einwohnerzahl: 147, und die sinkt und sinkt und sinkt. 146 Männer und ein Beinahe-Mann.

Ben sagt, es habe noch andere Siedlungen gegeben, die über ganz New World verstreut lägen, und dass alle Raumschiffe ungefähr zur selben Zeit gelandet seien, ungefähr zehn Jahre bevor ich auf die Welt gekommen sei, aber dann habe der Krieg gegen die Spackle angefangen, und die Spackle hätten die Krankheitserreger freigesetzt, und alle anderen Siedlungen seien ausgelöscht worden. Auch Prentisstown wäre beinahe ausgelöscht worden, es hat nur dank des militärischen Geschicks von Bürgermeister Prentiss überlebt, und obwohl Bürgermeister Prentiss wie ein immer wiederkehrender Albtraum ist, verdanken wir letztlich ihm, dass wir als Einzige in der großen, frauenlosen Welt überlebt haben, in einer Welt, die nichts Gutes zu bieten hat, in einer Stadt mit 146 Männern, die mit jedem Tag, der ins Land geht, ein kleines bisschen mehr stirbt.

Denn manche Männer halten es einfach nicht aus und man kann’s ihnen nicht mal verübeln. Sie hauen ab wie Mr Royal, manche von ihnen verschwinden einfach wie Mr Gault, unser alter Nachbar, der die zweite Schaffarm im Ort besaß, oder wie Mr Michael, unser zweitbester Zimmermann, oder wie Mr Van Wijk, der an demselben Tag abtauchte, an dem sein Sohn zum Mann wurde. Das ist gar nicht so ungewöhnlich. Wenn die ganze Welt nur aus einer einzigen lärmenden Stadt besteht, die keine Zukunft hat, dann muss man manchmal einfach gehen, selbst wenn es gar keinen Ort mehr gibt, an den man gehen könnte.

Während ich, der Beinahe-Mann, auf die Stadt schaue, höre ich die 146 Männer, die noch da sind. Ich höre sogar den Allerletzten, Lausigsten von ihnen. Ihr Lärm überspült den Hang wie eine Flutwelle, wie ein Feuer, wie ein Ungeheuer, das bis zum Himmel reicht und das dich holt, weil du nirgendwohin fliehen kannst.

So wie hier ist es immer. So wie hier war jede Minute an jedem Tag meines blöden, beschissenen Lebens in dieser blöden, beschissenen Stadt. Und man braucht gar nicht erst zu versuchen, sich die Ohren zuzuhalten, es hilft rein gar nichts.

Und das sind nur die Worte, die Stimmen, die sprechen und klagen und singen und weinen. Aber da sind auch noch die Bilder. Sie drängen sich in deine Gedanken, egal, wie sehr du dich dagegen sträubst, Bilder von Erinnerungen und Fantasien und Geheimnissen und Plänen und von Lügen, Lügen und nochmals Lügen. Denn man kann in seinem Lärm auch lügen, selbst wenn jedermann weiß, was man denkt, man kann Dinge unter anderen verstecken, oder noch viel einfacher, man braucht sich die Gedanken einfach nicht so genau auszumalen, oder man redet sich ein, dass das Gegenteil von dem, was man zu verbergen sucht, wahr ist, und wer ist dann noch in der Lage, in dieser ganzen Flut zu unterscheiden, welcher Gedanke Wasser ist und dich benetzt und welcher nicht.

Männer lügen und sich selbst belügen sie am meisten.

Beispielsweise habe ich noch nie eine leibhaftige Frau oder einen leibhaftigen Spackle gesehen. In Videofilmen natürlich schon, die stammen aus den Zeiten, in denen die Spackle noch nicht geächtet waren, aber im Lärm der Männer sehe ich sie immerzu, denn was haben Männer anderes im Kopf außer Sex und ihre Feinde? Im Lärm sind die Spackle viel größer und gemeiner als in den Filmen, stimmt’s? Und die Frauen haben blondere Haare, größere Brüste, sind spärlicher bekleidet und gehen mit ihren Gefühlen viel freier um als in den Videos. Man darf also nie vergessen, dass der Lärm nicht die Wahrheit zeigt. Im Lärm hört man jene Wahrheit, die die Männer sich wünschen, und zwischen Wahrheit und Wunsch ist ein großer Unterschied, so groß, dass er dich verdammt noch mal umbringen kann, wart’s nur ab.

»Nach Hause, Todd?« Manchee bellt ein bisschen lauter zu meinen Füßen, denn anders geht es nicht bei diesem Lärm.

»Ja, wir gehen«, sage ich. Wir wohnen auf der anderen Seite, im Nordosten, und um dorthin zu kommen, müssen wir quer durch die ganze Stadt gehen, deshalb kann ich dich, wenn du willst, auf eine kleine Besichtigungstour mitnehmen, die so lange dauert, wie ich für den Weg brauche, wenn ich ganz schnell gehe.

Als Erstes kommen wir zum Geschäft von Mr Phelps. Der Laden steht kurz vor dem Aus, so wie der Rest der Stadt auch, und Mr Phelps verbringt seine Zeit damit, verzweifelt zu sein. Selbst wenn man Sachen bei ihm kauft und er die Freundlichkeit in Person ist, sickert die Verzweiflung aus ihm heraus wie Eiter. Vorbei, sagt sein Lärm, vorbei, alles ist vorbei und Lumpen und Lumpen und nochmals Lumpen und meine Julie, meine liebe, liebe Julie. Julie war seine Frau und in Mr Phelps Lärm trägt sie überhaupt keine Kleider.

»He, Todd!«, ruft er uns zu, als Manchee und ich vorbeigehen.

»Hallo, Mr Phelps.«

»Wunderschöner Tag heute, nicht wahr?«

»Das kann man laut sagen, Mr Phelps.«

»Wunder!«, bellt Manchee, und Mr Phelps lacht, aber sein Lärm sagt nur vorbei und Julie und Lumpen und zeigt mir Bilder von dem, was er an seiner Frau vermisst und weshalb sie so einzigartig oder was auch immer war.

In meinem Lärm denke ich an nichts Besonderes, wenn ich an Mr Phelps denke, nur das Übliche, und dass man ohnehin nichts gegen seinen Schmerz tun kann. Obwohl ich zugeben muss, dass ich mich dabei ertappe, dass ich das alles ein bisschen lauter denke als sonst, um damit die Gedanken an das Loch, das ich im Sumpfland gefunden habe, zu übertönen, sie durch noch lauteren Lärm unhörbar zu machen.

Ich weiß nicht, warum ich das eigentlich tue. Keine Ahnung, weshalb ich diese Gedanken verbergen will.

Aber ich verberge sie.

Manchee und ich laufen ziemlich schnell weiter, denn daneben sind die Tankstelle und Mr Hammar. Die Tankstelle ist nicht mehr in Betrieb, denn der Atomgenerator, der uns mit Treibstoff versorgt, hat im letzten Jahr den Geist aufgegeben, und jetzt steht er da, neben der Tankstelle, wie ein klobiger, hässlicher wunder Zeh, und keiner will in seiner Nähe wohnen, außer Mr Hammar, und Mr Hammar ist viel schlimmer als Mr Phelps, denn er zielt mit seinem Lärm genau auf dich.

Und es ist ein hässlicher Lärm, ein böser Lärm, du siehst in ihm Bilder von dir selbst, die du lieber nicht sehen würdest, gewalttätige Bilder, blutrünstige Bilder. Alles, was du dagegen tun kannst, ist, deinen eigenen Lärm so laut zu machen wie möglich und Mr Phelps’ Lärm auch noch mit hineinzunehmen und ihn direkt zu Mr Hammar zurückzuschicken. Äpfel und Ende und eins nach dem anderen und Ben und Julie und Wunder, Todd? und der Generator stottert und Lumpen und halt die Klappe, halt endlich die Klappe und schau mich an, Junge.

Ich blicke ihn an, obwohl ich das gar nicht will. Aber manchmal ist man so überrumpelt, deshalb drehe ich den Kopf, und da steht Mr Hammar an seinem Fenster, schaut mich an und denkt einen Monat, und in seinem Lärm ist ein Bild, in diesem Bild stehe ich ganz alleine da, und ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, ist es wahr, oder lügt er absichtlich, und so muss ich unwillkürlich an einen Hammer denken, der wieder und wieder auf Mr Hammars Kopf niedersaust, und er lächelt mich einfach nur aus seinem Fenster an.

Die Straße führt in einem Bogen um die Tankstelle herum und dann am Krankenhaus vorbei. Ich höre Dr. Baldwin und das Jammern und Stöhnen, mit dem sich die Männer vor den Ärzten wichtigmachen, wenn ihnen eigentlich nichts fehlt. Heute ist es Mr Fox, der sich darüber beklagt, dass er keine Luft bekommt, was wirklich schlimm wäre, wenn er nicht so viel rauchen würde. Wenn man am Krankenhaus vorbei ist, dann, großer Gott, hört man den Lärm aus der widerlichen Kneipe, sogar zu dieser Tageszeit schwillt er zu einem einzigen Brüllen an. Denn dort drinnen lassen sie die Musik dröhnen, damit sie allen Lärm erstickt, aber das funktioniert nicht richtig, und so hört man ohrenbetäubende Musik und ohrenbetäubenden Lärm und, was noch schlimmer ist, betrunkenen Lärm, der auf einen niedersaust wie ein Holzhammer. Er setzt sich zusammen aus den Rufen, dem Heulen und dem Weinen von Männern, die sonst nie eine Miene verziehen. Es ist, als würden sie vor der Vergangenheit erschaudern und all den Frauen, die es einmal gab. Ja, da ist jede Menge zu hören über die Frauen, die es einmal gab, aber alles ist unverständlich, denn betrunkener Lärm ist wie ein betrunkener Mann: lallend, langweilig und gefährlich.

Es ist nicht leicht, durch die Mitte der Stadt zu gehen, es ist nicht leicht, sich immer auf den nächsten Schritt zu konzentrieren, denn der Lärm lastet bleischwer auf den Schultern. Ich weiß ehrlich nicht, wie die Männer das aushalten, ich weiß nicht, wie ich das aushalten soll, wenn ich ein Mann bin, falls sich an meinem Geburtstag nicht etwas Entscheidendes ändert, von dem ich jetzt noch nichts weiß.

Die Straße steigt an und biegt dann nach rechts ab, vorbei an der Polizeistation und dem Gefängnis, die ein und dasselbe sind und häufiger benutzt werden, als man in einer so kleinen Stadt glauben sollte. Der Polizist ist Mr Prentiss junior. Er ist kaum zwei Jahre älter als ich und war noch gar nicht lange ein Mann, als er Polizist wurde, aber er hat sich rasch in seinem Job hervorgetan, denn in seiner Gefängniszelle landet jeder, an dem Bürgermeister Prentiss ein Exempel statuieren will. Zurzeit ist das Mr Turner, der nicht genug von seinem Getreide »zum Wohle der ganzen Stadt« abgeliefert hat, was einfach heißt, dass er kein Getreide umsonst an Mr Prentiss und seine Leute abgeben wollte.

Jetzt bist du also durch die Stadt gegangen mit deinem Hund und hast schon diesen ganzen Lärm hinter dir gelassen, den von Mr Phelps und von Mr Hammar und von Dr. Baldwin und von Mr Fox und dann diesen Überlärm aus der Kneipe und den Lärm von Prentiss junior und das Gejammer von Mr Turner, und du bist immer noch nicht fertig mit dem Lärm der Stadt, denn jetzt kommt die Kirche.

Die Kirche ist natürlich der Hauptgrund, weshalb wir in New World sind, und so gut wie jeden Sonntag kann man Aaron darüber predigen hören, weshalb wir die verdorbene und sündige alte Welt hinter uns gelassen und uns aufgemacht haben, ein neues Leben in Reinheit und Brüderlichkeit in einem zweiten Garten Eden zu beginnen.

Hat ja auch großartig geklappt, was?

Die Leute gehen trotzdem in die Kirche, hauptsächlich weil sie müssen, obwohl der Bürgermeister selbst sich kaum jemals die Mühe macht, er überlässt es lieber uns anderen, Aarons Predigten zu hören. Darüber, dass wir hier draußen nur einander haben, wir Männer, und dass wir zu einer verschworenen Gemeinschaft werden müssen.

Bei der alle fallen, wenn einer fällt.

Das sagt er oft.

Manchee und ich laufen so leise wie möglich an der Eingangstür vorbei. Gebetslärm dringt nach draußen, er hat etwas Besonderes, etwas Blutrotes, Krankhaftes, als ob die Männer das Gebet wie Blut ausschwitzen würden, obwohl es immer dieselben Worte sind, aber das dunkelrote Blut rinnt weiter und weiter. Hilf uns, errette uns, vergib uns, errette uns, vergib uns, führe uns von hier weg, bitte, lieber Gott, bitte, Gott, bitte, Gott, obwohl von dem Burschen da oben, soweit ich weiß, noch keiner das geringste Tönchen zur Antwort bekommen hat.

Aaron ist auch dort drinnen, er ist von seinem Spaziergang zurück und predigt und betet. Ich kann seine Stimme hören, nicht nur seinen Lärm, es geht um Opfer, Wort Gottes, um Segen und Heiligkeit und so weiter. Sein Geplapper ist so fad und sein Lärm wie ein graues Feuer, dass man gar nicht weiß, worauf er hinauswill, aber er muss doch auf etwas hinauswollen. Seine Rede mag ja sogar einen Sinn haben, und ich beginne mich zu fragen, welcher das sein könnte.

Und dann höre ich Junger Todd? in seinem Lärm, und ich sage: Beeil dich, Manchee, und wir hauen so schnell wie möglich ab.

Wenn man ganz oben auf dem Hügel von Prentisstown steht, ist das Haus des Bürgermeisters das letzte, an dem man vorbeikommt. Aus ihm dringt der seltsamste und lauteste Lärm überhaupt, denn Bürgermeister Prentiss …

Nun, Bürgermeister Prentiss ist ein bisschen anders als die anderen.

Sein Lärm ist schrecklich deutlich, und wenn ich schrecklich sage, dann meine ich schrecklich. Er ist überzeugt, dass man den Lärm ordnen, ihn sogar für sich nutzen kann, wenn man ihn nur irgendwie bändigt. Und wenn man am Haus des Bürgermeisters vorbeiläuft, kann man ihn hören, ihn und seine engsten Vertrauten, seine Stellvertreter und all solche Leute, und immer machen sie diese Gedankenübungen, sie zählen Sachen, stellen sich vollkommene Formen vor, sprechen im Chor diesen Singsang, wie zum Beispiel ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH, was immer das heißen soll. Es ist, als knete sich Bürgermeister Prentiss eine kleine Armee nach seinen Vorstellungen zurecht, als bereite er sich auf irgendetwas vor, als schmiede er eine Lärmwaffe.

Und das macht irgendwie Angst, es ist, als würde sich die Welt verändern und man selbst bliebe zurück.

1 2 3 4 4 3 2 1 ICH BIN DER KREIS UND DER KREIS IST DAS ICH. 1 2 3 4 4 3 2 1 WENN EINER VON UNS FÄLLT, FALLEN WIR ALLE.

Bald werde ich ein Mann sein, und Männer rennen nicht ängstlich davon, aber ich gebe Manchee einen Klaps, und wir beide laufen jetzt sogar noch ein klein wenig schneller als zuvor, machen einen möglichst großen Bogen um das Haus des Bürgermeisters, bis wir daran vorbei sind und wieder auf dem Kiesweg, der zu unserem Haus führt.

Nach einer Weile ist die Stadt hinter uns verschwunden, der Lärm ebbt ein wenig ab (wenngleich er niemals ganz verstummt), und wir beide atmen etwas freier.

Manchee bellt: »Lärm, Todd.«

»Und wie«, sage ich.

»Ruhig im Sumpf, Todd«, sagt Manchee. »Ruhig, ruhig, ruhig.«

»Ja«, sage ich, dann fällt mir etwas ein, und ich laufe schneller und sage dann: »Halt die Schnauze, Manchee«, und ich schlage ihn einmal auf den Rücken, und er sagt: »Aua, Todd?« Ich schaue mich um, zur Stadt zurück, aber wenn Lärm erst einmal in der Welt ist, gibt es kein Zurück, oder? Wenn man den Lärm sehen könnte, wie er sich durch die Luft bewegt, dann könnte man auch das Loch im Lärm sehen, wie es aus mir herausfliegt, wie es aus meinen Gedanken herausfliegt, obwohl ich es doch beschützen wollte. Es ist so ein armes, kleines bisschen Lärm, und man könnte es in dem allgemeinen Getöse so leicht überhören, aber nun geht es dahin, dahin, dahin – zurück in die Welt der Männer.

3 BENUNDCILLIAN

»WO HABT IHR SO LANGE GESTECKT?«, fragt Cillian, als Manchee und ich über den Kiesweg trotten. Er liegt auf dem Boden, steckt halb im Atomgenerator drin, der draußen vor dem Haus steht, und repariert, was in diesem Monat daran kaputtgegangen ist. Seine Arme sind voller Schmiere, seine Miene ist finster, und sein Lärm summt wie ein Schwarm wild gewordener Bienen.

Ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt, dabei bin ich noch nicht einmal richtig zu Hause.

»Ich war im Sumpf und habe Äpfel für Ben geholt«, antworte ich.

»Hier ist jede Menge Arbeit zu tun und der Junge geht weg zum Spielen.« Er schaut wieder in den Generator. Irgendetwas kracht, und er flucht: »Verdammt!«

»Ich war nicht weg zum Spielen, aber natürlich hörst du mir wieder mal nicht zu!«, antworte ich, eigentlich schreie ich es mehr. »Ben wollte Äpfel, also habe ich ihm ein paar von den verdammten Äpfeln geholt!«

»Aha«, sagt Cillian und schaut mich an. »Und wo sind sie dann, diese Äpfel?«

Und natürlich habe ich keine Äpfel dabei, ich kann mich nicht mal mehr daran erinnern, wo ich die Tüte fallen gelassen habe, bestimmt habe ich sie fallen lassen, als …

»Als was?«, fragt Cillian.

»Hör auf, mich zu belauschen«, fauche ich ihn an.

Cillian seufzt, wie er immer seufzt, und dann geht’s los.

»Es ist ja nicht so, als müsstest du hier bei uns so viel arbeiten, Todd« – was glatt gelogen ist – »aber wir beide schaffen die Arbeit auf der Farm nicht alleine« – was stimmt – »und selbst wenn du ein einziges Mal alle deine Aufgaben erledigst, was ja nie vorkommt« – noch eine Lüge, sie lassen mich hier wie einen Sklaven schuften – »dann stehen wir trotzdem auf verlorenem Posten.« Und das ist wahr. Die Stadt kann nicht mehr wachsen, sie kann nur noch schrumpfen, und Hilfe ist nicht in Sicht.

»Hör zu, wenn ich mit dir rede«, sagt Cillian.

»Örzu!«, bellt Manchee.

»Halt die Klappe«, sage ich.

»Sprich nicht so mit deinem Hund«, sagt Cillian.

Ich habe nicht mit dem Hund gesprochen, denke ich, laut und deutlich genug, dass er es hören kann.

Cillian starrt mich zornig an, und ich schaue zornig zurück, und so geht es immer, in unserem Lärm pochen Wut und Streit und Ärger. Mit Cillian war es nie so schön, nie, Ben war immer netter zu mir gewesen, und Cillian war immer das Gegenteil von ihm, und seit meine Aufnahme in die Welt der Männer näher rückt, ist es noch schlimmer geworden, aber lange muss ich mir seinen Mist nicht mehr anhören.

Cillian schließt die Augen und schnaubt einmal laut durch die Nase. »Todd …«, beginnt er, jetzt etwas leiser.

»Wo ist Ben?«, frage ich.

Seine Miene wird noch ein bisschen eisiger. »Die Schafe werden in einer Woche ihre Jungen bekommen, Todd.«

Aber ich frage noch einmal: »Wo ist Ben?«

»Du wirst die Schafe füttern und in ihre Pferche sperren, und dann möchte ich, dass du endlich das Gatter auf dem östlichen Feld reparierst, Todd Hewitt. Ich habe dich schon mindestens zweimal darum gebeten.«

Ich wippe mit den Füßen. »Nun, wie war dein Ausflug in den Sumpf heute, Todd?«, frage ich und gebe mir Mühe, meine Stimme so beißend wie möglich klingen zu lassen. »Ja, es war schön, erstklassig, Cillian, danke der Nachfrage. – Ist dir im Sumpf was Interessantes begegnet, Todd? – Ja, ulkig, dass du mich danach fragst, Cillian, aber mir ist tatsächlich etwas Interessantes zugestoßen, das vielleicht diese aufgeplatzte Lippe erklären könnte, die dich scheinbar überhaupt nicht interessiert, aber ich denke, das muss warten, bis die Schafe gefüttert sind und ich diesen gottverdammten Zaun repariert habe!«

»Pass auf, was du sagst«, erwidert Cillian. »Ich habe keine Zeit für deine Spielchen. Geh und kümmere dich um die Schafe.«

Ich balle die Fäuste und stoße einen Laut aus, der wie »Aaah« klingt und der Cillian klarmachen soll, dass ich seine Sturheit keine Sekunde länger aushalte.

»Komm mit, Manchee«, sage ich.

»Die Schafe, Todd«, ruft Cillian, als ich weggehe. »Kümmere dich zuerst um die Schafe.«

»Ja, ich kümmere mich um die verdammten Schafe«, murmle ich. Ich laufe jetzt schneller, mein Blut rauscht, und vom Dröhnen meines Lärms wird Manchee immer aufgeregter. »Schafe!«, bellt er. »Schafe, Schafe, Todd! Schafe, Schafe, ruhig, Todd! Ruhig, ruhig, im Sumpf, Todd!«

»Halt die Klappe, Manchee«, sage ich.

»Was war das?«, fragt Cillian. In seiner Stimme ist etwas, was uns beide herumfahren lässt. Er sitzt jetzt aufrecht neben dem Generator, seine ganze Aufmerksamkeit gilt uns, sein Lärm ist wie ein Laserstrahl auf uns gerichtet.

»Ruhig, Cillian«, bellt Manchee.

»Was meint er mit ›ruhig‹?« Cillian mustert mich mit den Augen und mit seinem Lärm.

»Weshalb interessiert dich das?«, entgegne ich und wende mich ab. »Ich muss jetzt die verdammten Schafe füttern.« »Warte, Todd!«, ruft er, doch dann fängt der verflixte Generator zu piepsen an, und Cillian knurrt: »Verdammt noch mal!« Und er muss sich wieder um den Apparat kümmern, und ich spüre, dass sein Lärm voller Fragezeichen ist, die immer schwächer werden, je weiter ich mich entferne.

Der Teufel soll ihn holen, denke ich, etwa in diesen Worten, wenn nicht gar in schlimmeren, während ich über die Farm stapfe. Wir wohnen etwa einen Kilometer nordöstlich der Stadt, auf einer Hälfte der Farm züchten wir Schafe, auf der anderen Hälfte bauen wir Weizen an. Der Getreideanbau ist mühevoller, obwohl Ben und Cillian den Großteil der Feldarbeit übernehmen. Seit ich alt genug und größer als die Schafe bin, passe ich auf sie auf. Ich sage bewusst »ich« und nicht »Manchee und ich«, denn das war auch eine von diesen verlogenen Ausreden, weshalb sie mir den Hund geschenkt haben. Sie meinten, ich könnte ihn zum Schafehüten abrichten. Daraus ist, aus den verschiedensten Gründen, will sagen: wegen seiner völligen Blödheit, nie etwas geworden.

Ich füttere und tränke die Schafe, ich schere sie, helfe, sie auf die Welt zu bringen, kastriere und schlachte sie sogar – all das ist meine Arbeit. Wir sind eine von drei Farmen, die Fleisch und Wolle an die Stadt liefern, früher waren es einmal fünf Höfe, bald werden es nur noch zwei sein, denn Mr Majoribanks kann jeden Tag an seiner Trunksucht sterben. Wenn es so weit ist, werden wir seine Schafherde übernehmen. Besser gesagt: Ich werde dann seine Herde übernehmen, so wie ich es gemacht habe, als Mr Gault im vorletzten Winter verschwand, und ich werde neue Schafe haben, die ich schlachten, kastrieren und scheren muss, Böcke, die ich zur richtigen Zeit mit den Mutterschafen in die Pferche sperren muss, und werde ich dafür jemals auch nur ein Dankeschön bekommen? Nein, werde ich nicht.

Ich bin Todd Hewitt, denke ich, weil der Tag offensichtlich alles aufbietet, um meinen Lärm in Aufruhr zu versetzen. Ich bin beinahe ein Mann.

»Schaf!«, sagen die Schafe, als ich, ohne stehen zu bleiben, an ihrer Koppel vorbeigehe. »Schaf!«, sagen sie und schauen mir nach. »Schaf! Schaf!«

»Schaf!«, bellt Manchee.

»Schaf!«, blöken sie zurück.

Schafe haben sogar noch weniger zu sagen als Hunde.

Ich habe mich auf der ganzen Farm nach Bens Lärm umgehört, und schließlich habe ich ihn unten, an einer Ecke des Weizenfelds ausfindig gemacht. Die Aussaat ist vorüber, bis zur Ernte sind es noch Monate hin, im Augenblick gibt es nicht viel zu tun mit dem Weizen, man muss nur dafür sorgen, dass die Generatoren und der Atomtraktor und die elektrischen Dreschmaschinen bereit zum Einsatz sind. Aber wenn du glaubst, dass ich deshalb ein bisschen Unterstützung bei der Arbeit mit den Schafen bekomme, irrst du dich.

Ben summt in seinem Lärm ein kleines Liedchen vor sich hin, es kommt von dort, wo die Düsen der Bewässerungsanlagen sind, also mache ich einen Bogen und laufe dann quer über das Feld auf ihn zu. Sein Lärm ist nichts im Vergleich zu Cillians Lärm. Er ist gleichmäßiger und klarer, und auch wenn man Lärm nicht sehen kann, so kommt mir Cillians Lärm rötlich vor und Bens Lärm blau, manchmal sogar grün. Sie sind vollkommen verschieden, wie Feuer und Wasser, so sind Ben und Cillian, meine Mehr-oder-weniger-Eltern.

Es heißt, meine Ma und Ben waren bereits Freunde, ehe sie nach New World aufbrachen, und dass sie beide Mitglieder von Unserer Kirche waren, als das Angebot kam, fortzugehen und eine neue Siedlung zu gründen. Ma überzeugte meinen Pa, und Ben überzeugte Cillian, und als die Raumschiffe gelandet waren und eine neue Siedlung gegründet war, züchteten meine Ma und mein Pa Schafe auf der Farm gegenüber von Ben und Cillian, die Weizen anbauten, und alle waren Freunde, und alles war schön, und die Sonne ging niemals unter, und Männer und Frauen sangen gemeinsam Lieder und lebten zufrieden und liebten sich, und niemals wurde jemand krank und starb.

Das ist die Geschichte, die mir der Lärm erzählt, aber wer weiß, wie es tatsächlich war? Denn damals, als ich auf die Welt kam, änderte sich alles. Die Spackle setzten Erreger frei, die Frauen töteten, und das war’s dann für meine Ma, und dann begann der Krieg. Wir gewannen zwar den Krieg, aber für den Rest von New World war es aus und vorbei. Und mittendrin bin ich, ein Baby, das von nichts etwas weiß, und natürlich bin ich nicht das einzige Kind, es gab damals jede Menge Kinder, aber mit einem Mal war nur noch eine halbe Stadt da, die aus lauter Männern bestand, um auf uns Babys und die kleinen Jungen aufzupassen. Viele von uns starben, aber ich zählte zu denen, die Glück hatten, denn für Ben und Cillian war es selbstverständlich, mich aufzunehmen, mir zu essen zu geben, mich großzuziehen, mir etwas beizubringen und im wahrsten Sinne des Wortes mein Überleben zu sichern.

Deshalb bin ich für die beiden sozusagen wie ein Sohn. Na ja, eigentlich mehr als nur sozusagen, wenn auch weniger als ein richtiger Sohn. Ben sagt, Cillian streitet deshalb so viel mit mir, weil er mich so gernhat, aber wenn das stimmt, ist es schon eine komische Art, jemandem seine Zuneigung zu zeigen, denn unter Zuneigung stelle ich mir was anderes vor.

Ben ist ein ganz anderer Mensch als Cillian, ein gütiger Mensch. Das macht ihn zu etwas Besonderem in Prentisstown. Für 145 Männer dieser Stadt, sogar für diejenigen, die erst vor Kurzem Geburtstag hatten und gerade erst Männer geworden sind, ja sogar für Cillian, wenn er das auch nicht so deutlich zeigt, bin ich jemand, den man bestenfalls nicht zur Kenntnis nimmt und schlimmstenfalls verprügelt, deshalb verbringe ich den größten Teil meiner Zeit damit, möglichst wenig aufzufallen, damit ich ignoriert und nicht verprügelt werde.

Aber Ben ist anders, ich kann ihn nicht genauer beschreiben, ohne mir gefühlsduselig und dumm und wie ein kleiner Junge vorzukommen, deshalb lasse ich es. Ich will nur so viel sagen, dass ich meinen Pa niemals kannte, aber wenn ich eines Tages aufwachen würde und mir einen Vater aussuchen dürfte, wenn jemand käme und zu mir sagte, hier, Junge, nimm dir, wen du willst zum Vater, dann wäre Ben gewiss keine schlechte Wahl.

Er pfeift vor sich hin, während Manchee und ich auf ihn zulaufen, und obwohl weder ich ihn noch er mich sehen kann, stimmt er eine andere Melodie an, sobald er meine Anwesenheit spürt, eine Melodie, die ich kenne, Frü-ü-üh am Mo-horgen, wenn die So-ho-honn aufgeht, er sagt, es sei das Lieblingslied meiner Ma gewesen, aber ich glaube, es ist eigentlich sein Lieblingslied, denn er pfeift und singt es mir vor, seit ich denken kann. Mein Blut kocht noch wegen des Streits mit Cillian, aber bei Bens Lied werde ich ruhiger.

Obwohl es natürlich nur ein Kinderlied ist, ich weiß, halt die Klappe.

»Ben!«, bellt Manchee und flitzt um die Bewässerungsanlage herum.

»Hallo, Manchee«, höre ich, als ich um die Ecke biege. Da ist Ben und er krault Manchee hinter den Ohren. Der Hund hat die Augen geschlossen und scharrt vor Vergnügen, und obwohl Ben aus meinem Lärm weiß, dass ich wieder mit Cillian gestritten habe, sagt er nichts, nur: »Hallo, Todd.«

»Hi, Ben.« Ich schaue zu Boden, trete mit dem Fuß gegen einen Stein.

Bens Lärm sagt Äpfel und Cillian und Wie groß du schon geworden bist und wieder Cillian und mich juckt’s unter der Achsel und Äpfel und Abendessen und Mensch, ist das eine Hitze, und das alles ist so lässig und so selbstverständlich, wie wenn man sich an einem heißen Tag an einem kühlen Bach ausruht.

»Na, ist der Zorn verraucht, Todd?«, fragt er schließlich. »Sagst du dir vor, wer du bist?«

»Ja«, antworte ich, »aber warum muss er immer so über mich herfallen? Warum kann er nicht einfach Hallo sagen? Nur einmal ein freundliches Wort und nicht immer: ›Ich weiß, dass du etwas angestellt hast, und ich werde dich nicht in Ruhe lassen, bis ich rausgekriegt habe, was es ist.‹«

»Das ist nun mal seine Art, Todd. Das weißt du doch.«

»Das sagst du jedes Mal.« Ich zupfe einen Halm aus einer jungen Weizenähre und stecke ihn zwischen die Zähne.

»Hast du die Äpfel im Haus gelassen?«

Ich schaue ihn an. Kaue auf dem Halm. Er weiß, dass ich sie nicht dort gelassen habe. Er kennt mich zu gut.

»Und du hast auch einen Grund dafür«, sagt er und krault Manchee weiter geduldig hinter den Ohren. »Es gibt einen Grund dafür, auch wenn ich ihn noch nicht klar genug erkenne.« Er versucht, in meinem Lärm zu lesen, schaut, was er an Wahrem herausziehen kann. Die meisten Männer sind der Ansicht, dass solche Aushorcherei eine Tracht Prügel rechtfertigt, aber bei Ben macht es mir nichts aus. Er legt den Kopf in den Nacken und hört auf, Manchee zu kraulen. »Hat es etwas mit Aaron zu tun?«

»Ja, ich habe ihn getroffen.«

»War er es, der dir die Lippe blutig geschlagen hat?«

»Ja.«

»Der Hurensohn.« Er zieht die Stirn in Falten und macht einen Schritt auf mich zu. »Vielleicht sollte ich mal ein Wörtchen mit ihm reden.«

»Tu’s nicht«, bitte ich. »Tu’s nicht! Das gibt nur noch mehr Ärger und es tut ohnehin schon so weh.«

Er legt mir die Finger unters Kinn und hebt meinen Kopf leicht an, damit er die Wunde besser betrachten kann. »Der Hurensohn«, sagt er wieder, ganz leise. Mit den Fingerspitzen streicht er über die Wunde und ich zucke zusammen.

»Es ist nicht schlimm«, sage ich.

»Nimm dich vor diesem Menschen in Acht, Todd Hewitt.«

»Meinst du, ich bin durch den Sumpf gerannt, weil ich ihm in die Arme laufen wollte?«

»Er hat unrecht mit dem, was er sagt.«

»Heilige Scheiße, vielen Dank, dass du mir das sagst, Ben«, erwidere ich, und dann fange ich etwas von seinem Lärm auf, ein Körnchen, das sagt einen Monat, und es ist etwas Neues, etwas ganz Neues, was er schnell mit anderem Lärm zu ersticken versucht.

»Was ist los, Ben?«, frage ich sofort. »Was ist da los an meinem Geburtstag?«

Er lächelt, und eine Sekunde lang scheint sein Lächeln besorgt, aber danach ist es so unbeschwert wie immer. »Es ist eine Überraschung«, sagt er, »also sei nicht so neugierig.«

Obwohl ich beinahe ein Mann und inzwischen fast so groß wie er bin, beugt er sich ein kleines Stück zu mir herab, sodass wir uns direkt in die Augen sehen können, aber nicht so nahe, dass es unangenehm wäre, gerade so nahe, dass ich mich nicht bedrängt fühle. Ich weiche seinem Blick aus. Und obwohl es Ben ist, obwohl ich Ben mehr vertraue als sonst jemandem in dieser beschissenen kleinen Stadt, obwohl es Ben war, der mir das Leben gerettet hat und der es, ich bin mir sicher, jederzeit wieder tun würde, zögere ich ein wenig, ihn meinen Lärm lesen zu lassen, damit er sieht, was im Sumpf geschehen ist. Und das liegt hauptsächlich daran, dass es mir jedes Mal die Luft abschnürt, wenn ich daran denke.

»Todd?«, sagt Ben und betrachtet mich aufmerksam.

»Ruhig«, bellt Manchee, leise. »Ruhig im Sumpf.«