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Jeder kennt sie, sei es durch ihre Hausbesuche, ihr Anbieten von Zeitschriften an frequentierten Plätzen oder durch Schlagzeilen wegen einer Bluttransfusions-Verweigerung: Die Zeugen Jehovas. In Diskussionen ist ihrer Argumentation kaum jemand gewachsen, zu gründlich ist ihre Schulung. Nimmt man jedoch ihre Literatur genauer unter die Lupe, bietet sich ein erschütterndes Bild; man entdeckt viele Beispiele von (absichtlicher?) Irreführung. Solche Versuche der Irreführung werden in diesem Buch gründlich und schonungslos aufgedeckt. Der Nachweis erfolgt ausschließlich unter Zugrundelegung der von der Wachtturmgesellschaft selbst herausgegeben Literatur. Lassen Sie sich mit hineinnehmen in ein detektivisches Abenteuer …
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Seitenzahl: 321
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Charles T. Russell und die Zeugen Jehovas
Der unbelehrbare Prophet
Franz Graf-Stuhlhofer
© 2017 Folgen Verlag, Langerwehe
Autor: Franz Graf-Stuhlhofer
Cover: Caspar Kaufmann
ISBN: 978-3-95893-045-2
Verlags-Seite: www.folgenverlag.de
Kontakt: [email protected]
Shop: www.ceBooks.de
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Titelblatt
Vorwort
Kapitel 1 Wozu sich mit der Geschichte der Zeugen Jehovas beschäftigen?
Kapitel 2 Russells Leben im Überblick
Kapitel 3 Russells Hauptwerk, die »Schriftstudien«
Kapitel 4 Sah sich Russell selbst als Prophet?
Kapitel 5 Die Vorhersagen für 1914
Kapitel 6 Die Bibel und die WTG über falsche Propheten
Kapitel 7 Wie sieht die WTG heute die Vorhersagen für 1914?
Kapitel 8 Vorhersagen für die Zeit nach Russells Tod
Kapitel 9 Vorhersagen für 1975 und danach
Kapitel 10 Die Vorhersagen für 1975 aus der Sicht der heutigen WTG
Kapitel 11 Wie geht die WTG mit ihrer eigenen Geschichte um?
Kapitel 12 Die WTG fordert Vertrauen und Gehorsam
Kapitel 13 Zweierlei Maß
Kapitel 14 Was blieb von Russell?
Kapitel 15 Irreführung
Anhang Umstrittene Punkte im Leben Russells
Zeittafel
Abkürzungen
Abgekürzt zitierte Literatur
Unsere Empfehlungen
»Wir wollen einmal untersuchen, was Jehovas Zeugen im Laufe der Jahre verkündet haben …«
So steht es in einem Wachtturm-Artikel (1971, S. 659). Eine reizvolle Fragestellung! Und zwar nicht nur für Zeugen Jehovas, sondern doch wohl auch für Außenstehende. (Im Folgenden gebrauche ich einige Abkürzungen immer wieder: ZJ für Zeuge(n) Jehovas, WT für Wachtturm und WTG für Wachtturmgesellschaft.)
Eine reizvolle und vermutlich aufschlussreiche Fragestellung, denn:
Falls es stimmt – wie jener WT-Artikel zeigen möchte –, dass JZ mehrere Jahrzehnte im voraus wussten, was sich 1914 ereignen würde, dann liegt die Annahme nahe, dass JZ dabei von übernatürlicher Mithilfe begleitet waren.
Falls es aber nicht stimmt, so war unsere Untersuchung dennoch nicht unnütz. Es würden sich dann noch einige weitere Aufschlüsse ergeben, nämlich durch die Beantwortung folgender Fragen:
Waren die damaligen ZJ falsche Vorhersager?
Sind die heutigen ZJ Irreführer? (Diese Frage stellt sich, wenn die damaligen ZJ falsch vorhergesagt haben, die heutigen ZJ diese falschen Vorhersagen jedoch als richtig hinstellen und daraus sogar einen Beweis dafür machen möchten, dass sie von Gott geführt seien.)
Ich bin nicht bei den sog. »Zeugen Jehovas«, und ich war auch nie dabei. Diese Information mag für ZJ wichtig sein insofern als ihnen seitens der WTG stark abgeraten wird, etwas zu lesen, das von ehemaligen ZJ geschrieben wurde (dabei wird die Gefahr der »geistigen Vergiftung« heraufbeschworen). Hier wird sich wohl mancher Außenstehende fragen, ob ZJ nicht manipuliert werden; einerseits sollen sie jene enormen Stoffmengen lesen, die von der WTG herausgegeben werden, andererseits sollen sie überhaupt nichts lesen von jemandem, der den Betrieb aus eigenem Erleben kennt und nun eine andere Position vertritt. (In Kap. 12/2 werde ich darauf näher eingehen.)
Da ich kein ZJ bin, kann also ein ZJ dieses Buch durch-aus lesen. Sicherlich gibt es hier, das sollte auch erwähnt werden, individuelle Unterschiede zwischen ZJ: Manche haben durchaus den Mut, sich gelegentlich mit Literatur auseinanderzusetzen, die nicht konform geht mit der Linie der WTG; andere sind da ängstlicher und meiden alle andersgeartete religiöse Literatur. (Hier können aber auch ganz praktische Gründe mitspielen: Das wöchentliche Programm – Lektüre der WTG-Schriften, Besuch der ZJ-Veranstaltungen und Predigtdienst – lässt wenig Zeit übrig für alles andere.)
Was Ängstliche betrifft: Wenn ein ZJ Angst hat, dass sein System (= »die Wahrheit«?) durch eine Konfrontation mit verschiedenen Tatsachen ins Wanken kommt oder gar zum Zerplatzen gebracht wird (wie eine Seifenblase, an die man nicht tupfen darf?), dann ist es verständlich, dass er sich mit diesem Buch nicht beschäftigen will.1 Hier kann ich nur auf jene Mahnung des 2. Präsidenten der WTG verweisen, die ich meinem Buch als Motto vorangestellt habe. (Aber vielleicht war diese Mahnung nur an die anderen adressiert, nicht auch an die ZJ. Dass die WTG gelegentlich zweierlei Maß anlegt, wird uns in diesem Buch noch mehrmals begegnen, zusammengefasst dann in Kap. 13.)
Sehr treffend hieß es 1960 in einem WT:
»Sollte man sich davor fürchten, dass das, was falsch ist, zerfallen könnte? Natürlich nicht, denn Jesus Christus sagte: ‘Die Wahrheit wird euch frei machen.’ … Warum es darauf ankommen lassen, an etwas Falsches zu glauben? Stelle fest, was falsch ist, und verwirf es. Stelle fest, was wahr ist, und halte daran fest.« (S. 516.519)
Ich gehöre einer von einem Mennoniten gegründeten evangelischen Freikirche an. Was die evangelische Bewegung insgesamt betrifft: Ihr Ursprung wird seitens der WTG überwiegend positiv beurteilt.
»Männer wie Luther in Deutschland, Zwingli und Calvin in der Schweiz und Knox in Schottland wurden im 16. Jahrhundert zu Sammelpunkten für die vielen, die die Chance sahen, den christlichen Glauben zu läutern und zu den ursprünglichen biblischen Werten und Maßstäben zurückzukehren.«2
Die Mennoniten sind ein Teil der gleichfalls im 16. Jahrhundert entstandenen Täuferbewegung. Die Täufer (oder Wiedertäufer) werden in einem neueren WT-Artikel sachlich beschrieben. »Aufgrund ihres Wunsches, zu den christlichen Lehren des ersten Jahrhunderts zurückzukehren, lehnten sie einen größeren Teil des römisch-katholischen Dogmas ab, als es Martin Luther und andere Reformatoren taten.«3) Viele ihrer – in diesem Artikel erwähnten – Lehren und Praktiken wurden von den ZJ übernommen: sie praktizierten Erwachsenentaufe, hatten (anfangs) keine bezahlten Prediger, suchten als Wanderprediger die Menschen auf, glaubten an den freien Willen des Menschen, praktizierten gegebenenfalls Ausschluss aus der Versammlung (und bei echter Reue Wiederaufnahme), waren als Christen »kein Teil der Welt«, beteiligten sich nicht an Kriegen, hielten sich an einen hohen Sittenmaßstab, hatten einen einfachen Lebensstil, waren bereit ihre Güter zum Nutzen der Armen einzusetzen, sahen das Abendmahl (nur) als Gedächtnismahl (im Unterschied zu Katholiken, Lutheranern und Calvinisten),und sie wurden schwer verfolgt.
»Das Überleben der Wiedertäufer ist heute am deutlichsten an zwei bestimmten Gruppen erkennbar … Die andere Gruppe sind die Mennoniten. Ihr Name stammt von Menno Simons, …«4
Von diesen Täufern kommen auch – als ein Seitenzweig – die Adventisten her, in deren Nähe sich Russell einige Zeit bewegte und von denen er manches an Lehren und Praktiken mitgenommen hat. Von ihrem Ursprung her haben also die ZJ eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit diesen Täufern. Ein ZJ kann mich also nicht unbedingt in einen Topf werfen mit der »Christenheit«.5 Wenn ich trotz der Gemeinsamkeiten manche Vorbehalte gegenüber ZJ habe, dann sollte der ZJ diese prüfen.
Als ich vor mehreren Jahren meine zuvor geübte Praxis, Gesprächen mit ZJ aus dem Weg zu gehen, aufgab, dachte ich noch nicht daran, einmal ein Buch über ZJ zu schreiben. Jene ZJ, die mit mir gesprochen hatten, werden mir bestätigen können, dass ich ihre Gedanken und Argumente ernst nahm, dass ich durchaus lernbereit war.6
Bei meiner Darlegung hatte ich, unabhängig davon, ob wirklich ZJ dieses Buch lesen werden, doch immer die ZJ »im Hinterkopf«: Was würde ein ZJ dazu sagen? Würde er mein Argument akzeptieren, oder würde er widersprechen? Meine Begründungen sollen also auch der kritischen Lektüre eines ZJ standhalten können. (Es wäre auch einfach, quasi hinter dem Rücken der ZJ diese mittels schwacher Argumente und unter Gebrauch von Unterstellungen zu kritisieren, und sich damit an die Öffentlichkeit zu wenden.) So betrachte ich dieses Buch als einen – wie ich hoffe fairen – Gesprächsbeitrag. Das Schreiben eines Buches hat – im Unterschied zu einem mündlichen Gespräch – den Vorteil, dass es eine umfassende, zusammenhängende Darstellung ermöglicht. An allen sich auf diesen »Gesprächsbeitrag« beziehenden Reaktionen und Kommentaren seitens ZJ bin ich ehrlich interessiert. (Meine Adresse: Krottenbachstr. 122/20/5, A-1190 Wien.)
Es ist also eine Art »offener Brief an ZJ«. Gleichzeitig habe ich aber so geschrieben, dass auch Außenstehende es gut verstehen können – unabhängig davon, ob sie mit ZJ sympathisieren oder diesen distanziert gegenüberstehen.
Dass ich beim Schreiben auch an ZJ dachte, hatte u.a. zur Folge, dass ich besonderen Wert auf die Nachprüfbarkeit aller meiner Aussagen legte. Die meisten ZJ kennen jemanden, der noch Schriftstudien von Russell besitzt; die Literatur zumindest seit dem 2. Weltkrieg ist in den meisten ZJ-Versammlungsbibliotheken vorhanden. Wenn ich daraus zitiere, kann der ZJ die Korrektheit meiner Zitate und die Richtigkeit meiner Schlussfolgerungen nachprüfen. (Ich kann vom ZJ nicht erwarten, dass er mir blind glaubt – vor allem dort nicht, wo ich in Gegenposition zur WTG stehe. Ich will das auch gar nicht erwarten, denn das Ziel kann nie sein, dass der ZJ von der einen geistigen Abhängigkeit in eine andere fällt.)
Es kann sein, dass ein ZJ denkt:
»Einige Kapitel dieses Buches würden mich zwar interessieren, aber ein bisschen misstrauisch bin ich schon, ob da wirklich alles stimmen kann, und die Zeit, alles nachzuprüfen, habe ich nicht.«
Nun ganz abgesehen davon, dass er ja auch nicht die Zeit hat, alles im WT Stehende zu überprüfen – müsste er dann nicht konsequenterweise aufhören, den WT zu lesen? Niemand hat die Zeit, um alles nachzuprüfen; aber man kann Stichproben herausgreifen und eine Prüfung vornehmen. Indem man etwa solche Punkte herausgreift, die einen besonders interessieren, oder solche, wo man gute Überprüfungsmöglichkeiten hat … Dadurch bekommt man einen Eindruck von der Vertrauenswürdigkeit des Autors.
Dort, wo ich auf bedenkliche Punkte in Darstellungen seitens der WTG stieß, war ich vorsichtig beim Unterstellen negativer Motive (im Zweifelsfall für den »Angeklagten«!). Soweit das noch einigermaßen realistisch war, nahm ich das bestmögliche Motiv an. Ich dachte an jenen Moment, wo ich Gott gegenüberstehen werde. (Es könnte ja sein, dass ich jetzt einen Sachverhalt nicht genau verstehe, Betrug vermute, andere mit meiner Vermutung beeinflusse, und dann dereinst von Gott darauf hingewiesen werde – eine solche Situation will ich unbedingt vermeiden!)
Warum sollte ein ZJ mein Buch lesen? Auf diese Frage antwortet das nächste Kapitel: Wozu sich mit der Geschichte der ZJ beschäftigen? Hier grundsätzlich soviel: In meinen Gesprächen mit ZJ habe ich immer wieder feststellen müssen, dass sie konkrete Fragen zur Geschichte der ZJ in seltenen Fällen konkret und auch richtig beantworten konnten. Das ist eigentlich paradox insofern, als die Geschichte der ZJ in den WT-Schriften sehr häufig vorkommt. Einerseits lesen die ZJ also oft über die Geschichte der ZJ (und ZJ studieren ihre Schriften sehr sorgfältig!), andererseits wissen sie dann doch wenig darüber.
Ein konkretes Beispiel:
Frage: Nahmen ZJ (damals noch »Bibelforscher«) genannt) am 1. Weltkrieg teil? Welche Weisung gab die WTG damals diesbezüglich?
Darauf kann man seitens heutiger ZJ folgende Antworten hören (ich denke jetzt insbesondere an solche ZJ, die seit vielen Jahren dabei sind und leitende Stellungen innehaben):
Sie nahmen (auch schon damals, wie im Zweiten Weltkrieg) nicht teil.
Die WTG gab damals bezüglich der Kriegsteilnahme keine konkrete Weisung, es war also eine persönliche Gewissensentscheidung für die betreffenden ZJ; mehrere ZJ nahmen teil.
Dienst mit der Waffe leistete kein ZJ, aber viele gingen als Sanitäter.
Die Linie der Neutralität wurde noch nicht von allen ZJ befolgt, viele gingen zum Heer, schossen bei Gefechten aber in die Luft.
Keine einzige Antwort ist ganz richtig. Richtig wäre: Die WTG riet, einem Einberufungsbefehl Folge zu leisten, aber zu versuchen, der Sanität unterstellt zu werden (wenn das nicht gelang, dann sollte man auch mit der Waffe dienen). Dementsprechend verhielten sich die meisten Bibelforscher; in Deutschland gab es während des Krieges im WT eine regelmäßige Serie Briefliches von unserer Brüderschaft im Felde, worin Soldaten von ihren Erlebnissen an der Front berichteten – es fanden damals also auch die Verantwortlichen nichts Anstößiges an einem Bibelforscher, der in der einen Hand den WT und in der anderen Hand das Gewehr hielt.
Die diesbezügliche Unwissenheit der heutigen ZJ wird im Verlaufe dieses Buches verständlicher werden (siehe Kap. 11/6).
Sollte der ZJ informiert sein? Mancher ZJ würde dazu sagen: ‘Die Geschichte ist mir nicht so wichtig.’ Eigenartig wirkt eine solche Aussage dann, wenn derselbe ZJ kurz vorher ausführlich über das Verhalten der ZJ während des 2. Weltkrieges gesprochen hat.
Kaum ein Buch oder eine Artikelserie (im WT oder in Erwachet!) lässt dieses Thema aus, wie sich Katholiken und Protestanten im 2. Weltkrieg verhielten. Daneben wird dann auf die ZJ verwiesen, die sich weigerten, daran teilzunehmen und lieber ins Konzentrationslager gingen.
Demgegenüber wirkt die Unwissenheit bezüglich des 1. Weltkrieges doch überraschend. Was vor etwa 50 Jahren geschah, ist dem ZJ sehr wichtig; was dagegen vor etwa 75 Jahren geschah, ist dann auf einmal überhaupt nicht wichtig?
Wird hier zweierlei Maß angewandt? Die Geschichte ist wichtig dort, wo die ZJ gut dastehen; wo die ZJ jedoch nicht so gut dastehen, ist dann die Geschichte auf einmal nicht mehr wichtig?7
1 Ein Ablenkungsmanöver wendet der ZJ häufig an, wenn er mit unangenehmen Seiten seiner Position konfrontiert wird: Er stellt die Gegenfrage: 'Wo gibt es etwas Besseres?' Aber das sollte nicht die primäre Frage sein. Wenn die WTG zeigen will, wie treffend sie in der Vergangenheit vorausgesagt hat, so sollte sich ein ZJ offen einer Überprüfung stellen – mit allen möglichen Konsequenzen.
2 WT vom 1. Okt. 1987, S. 23
3 WT vom 15. Nov. 1987, S. 21-23
4 Die andere hier genannte Gruppe sind die Hutterischen Brasier. Diese sowie Teile der Mennoniten halten an bestimmten Kleidungsformen fest. Das trifft für einen Großteil der heutigen Täuferbewegung jedoch nicht zu. Aber nicht nur diese – durch besondere traditionelle Kleidung sich abhebenden – »kleinen Gruppen« können »auf die Bewegung der Wiedertäufer zurückgeführt werden«. Insgesamt gehören heute wohl mehr als 100 Millionen Menschen zur Täuferbewegung (wobei es natürlich manche Unterschiede zur Bewegung des 16. Jahrhunderts gibt, aber diese Unterschiede sind sicher geringer als die zwischen den Bibelforschern unter Russell und den heutigen ZJ – dennoch betrachten heutige ZJ das als eine Bewegung mit einer Geschichte).
5 Dass ich trotz meiner kath. Vergangenheit nicht einfach alle Lehren der röm.-kath. Kirche akzeptiere, wird an meinen Büchern erkennbar, in denen ich mich mit dieser Kirche auseinandersetze: Zu Heiligen beten? und Symbol oder Realität? – Taufe und Abendmahl.
6 Viele der damals geäußerten Argumente habe ich auch beim Schreiben dieses Buches mitbedacht. Da ich aber annahm, dass meine Gesprächspartner nicht gerne in diesem Buch namentlich genannt werden möchten, weil das von manchen Lesern irrtümlich so ausgelegt werden könnte, als hätten die Betreffenden die Arbeit an diesem Buch unterstützt, habe ich die Nennung von Personen, mit denen ich über das hier vorgelegte Material Gedankenaustausch hatte, grundsätzlich unterlassen.
7 In mancher Hinsicht wird dieses Buch die an eine Biographie gerichteten Erwartungen enttäuschen. Das hängt vor allem mit der Quellenlage zusammen. Hauptquelle für Leben und Lehre Russells sind die Publikationen der WTG. Ober deren (Un)Verlässlichkeit wird der Leser nach der Lektüre meines Buches besser urteilen können. Dazu kommt, dass manche der älteren WTG-Publikationen selten sind. Sicherlich sind sie in den Zentralen in Brooklyn oder in Selters am Taunus vorhanden, aber diese gewähren kaum jemandem Zutritt zu Bibliothek/Archiv, wie vor mir bereits Heilmund (Dietrich HELLMUND: Geschichte der Zeugen Jehovas. Hamburg 1972, Vorwort) oder Süsskind (Eckhard von SÜSSKIND: Zeugen Jehovas. Neuhausen-Stuttgart, 2. Aufl. 1987, Vorwort) feststellen mussten. Wichtige Quellen wären auch der handschriftliche Nachlass Russells (der in Brooklyn vermutlich noch vorhanden ist).
Abgesehen von der Quellenlage bestimmt auch mein didaktisches Ziel die Schwerpunkte meines Buches. Ich beschränke mich auf Aussagen, die ich in einer Weise präsentieren kann, dass es auch für den ZJ nachvollziehbar und überzeugend ist. Und das bedeutet: Ich belege meine Aussagen mit (möglichst einigermaßen zugänglichen) WTG-Publikationen. Amerikanische Zeitungen und Gerichtsakten aus der Zeit um 1900, wie sie für die Beurteilung einiger strittiger Punkte im Leben Russells heranzuziehen wären (vgl. im Anhang: Umstrittene Punkte), sind für den ZJ von vornherein nicht beweiskräftig.
Äußerungen aus ZJ-kritischer Literatur gebe ich ausschließlich in Anmerkungen und im Anhang (Umstrittene Punkte …) wieder. Der Text dieses Vorwortes und der 15 Kapitel kann also vom ZJ ohne Bedenken gelesen werden, die darinstehenden Zitate sind normalerweise aus WTG-Literatur entnommen. (Im übrigen liest der ZJ ja auch im WT gelegentlich Zitate von ZJ-Kritikern, außerdem Zitate aus katholischen und evangelischen Werken.)
Mancher ZJ wird denken: ‘Mir ist wichtig, wie die ZJ heute sind und was sie heute lehren – nicht was vor Jahrzehnten war!'
Darauf ist zu antworten:
Zuerst, ganz allgemein: Die WTG selbst verweist in ihren Publikationen, und zwar bis zur Gegenwart, immer wieder auf ihre Geschichte. Nimmt ein ZJ diese Publikationen ernst – und das muss er, sonst wird er seitens der WTG nicht als ZJ angesehen –, so muss er sich zwangsläufig auch mit der Geschichte beschäftigen.
Aber vielleicht sollten wir die Behauptung eines ZJ, ihm sei die Geschichte nicht so wichtig, gar nicht zu wörtlich nehmen. Vielmehr als das, was sie ist: als ein Indiz dafür, dass das angesprochene Thema dem ZJ unangenehm ist. Sei es deshalb, weil er stark an der WTG hängt, so dass jede Kritik an ihr ihm wehtut; sei es auch deshalb, weil der ZJ merkt, dass er sich in diesem Bereich zu wenig auskennt, um die gewohnte Lehrer-Rolle ausüben zu können (für ZJ ist die Rollenverteilung im Gespräch mit Außenstehenden klar: Er, der ZJ, ist der Lehrer, der andere ist der Schüler).
Da ich aber mit der Behauptung eines ZJ, ihm sei die Geschichte (der ZJ) nicht wichtig, sehr oft konfrontiert wurde, gehe ich doch darauf ein und versuche verschiedene Gründe darzulegen, warum die Geschichte ihm doch wichtig ist – oder jedenfalls sein müsste.
1. Die Wachtturmgesellschaft selbst nimmt ihre Geschichte wichtig
Was ZJ-Versammlungsaufseher betrifft: Zu den Voraussetzungen für ihren Dienst gehört, dass sie sich in der Geschichte der ZJ gut auskennen:
»Er sollte eine gute Kenntnis der Geschichte der Organisation besitzen, …« (WT 1957, S.499)
Das gilt aber letztlich nicht bloß für Versammlungsaufseher, sondern für jeden ZJ. In einem Artikel, der bewusstmacht, wieviel der ZJ der WTG zu verdanken habe, wird er aufgefordert:
»Mache andere daher begeistert mit Gottes Organisation bekannt. Sprich mit ihnen über die wahre Christenversammlung und ihre neuzeitliche Geschichte.« (WT 1973, S.598)
Wenn der ZJ mit Außenstehenden über die »neuzeitliche Geschichte von Jehovas Organisation« sprechen soll, muss er diese auch kennen. Wenn ein ZJ jedoch diesem Thema (Geschichte der ZJ) eher ausweichen will, wirkt das gar nicht wie »Begeisterung«! (Aufgrund meiner Gesprächserfahrung kommt mir vor, als hätte die WTG gesagt:
»Sprich mit Außenstehenden über die Geschichte der WTG – aber nur mit Nichtinformierten! Mit solchen, die sich auf diesem Gebiet auskennen, sprich nicht darüber, sondern sage: ‘Ich finde die Geschichte nicht so wichtig …'«)
Mir ist keine andere Religionsgemeinschaft bekannt, die so intensiv mit der Darstellung ihrer eigenen Geschichte beschäftigt ist. Betrachten wir die konkreten Erscheinungsformen:
Zum Beginn jeden Jahres erscheint ein Jahrbuch der Zeugen Jehovas. In jedem solchen Jahrbuch wird die Geschichte der ZJ in mehreren Ländern geschildert, und zwar von den ersten Anfängen in dem betreffenden Land bis zur Gegenwart (unter der Überschrift Tätigkeit der Zeugen Jehovas in der Neuzeit, etwa 200 Seiten pro Jahrbuch umfassend). In jedem Jahr kommen andere Länder an die Reihe. Im Jahrbuch 1974 wurde über die Geschichte der ZJ in Deutschland berichtet, 1987 über die Schweiz und 1989 über Österreich.
Mehrmals wurde bereits die gesamte Geschichte der ZJ (weltweit) in ihren Publikationen geschildert, z. B. im ersten Bibelforscher-Jahrbuch (1927), S.9-28, im WT 1955/56 als Artikelserie in 31 Teilen,1 insgesamt mehr als 100 Seiten umfassend, im Buch Zum Predigtdienst befähigt (1957), S.296-344, im Buch Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben (1960). In diesem mehr als 300 Seiten umfassenden Buch wird die Geschichte in Dialogform dargestellt: Ein ZJ-Ehepaar führt ein Nachbars-Ehepaar »in die Wahrheit« ein, indem es die Geschichte der ZJ ausführlich erzählt (das zeigt, dass die Geschichte der ZJ also auch zur Einführung Außenstehender dienen kann – keine Spur davon, dass ein ZJ diesen Bereich möglichst meiden sollte!).
Im Buch »Dein Name werde geheiligt« (1963), S.281-362. Im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1975, S.30-256, wird die Geschichte der ZJ in den USA dargestellt. (Das entspricht weitgehend einer Gesamtgeschichte der ZJ, denn in den USA liegt die Zentrale der ZJ, wo die wesentlichen Entscheidungen über Lehre und Organisation fallen. Außerdem hatten und haben die USA mehr ZJ als irgendein anderes Land.)
Die Geschichte der ZJ wird von der WTG nicht bloß dargestellt, sie wird auch als Beweis für die Einzigartigkeit der Bewegung herangezogen. Ein Beispiel dafür habe ich schon am Beginn des Vorworts gegeben: Ein WT-Artikel 1971 hebt die prophetischen Fähigkeiten der ZJ hervor, anhand von Vorhersage und Erfüllung (1914):
»Wieso wussten Jehovas Zeugen so lange im voraus, was führende Männer der Welt nicht einmal wussten? Sie wussten es nur, weil Gottes heiliger Geist ihnen diese prophetischen Wahrheiten kundgetan hatte.« (S.660)
In einem WT 1973 liest man ähnlich:
»Da Jehovas Diener von seinem Geist geleitet werden, empfangen sie von ihm Licht in einer Welt, in der geistige Finsternis herrscht. … In der englischen Ausgabe von Zions Wacht-Turm vom März 1880 hieß es zum Beispiel: ‘Die Zeiten der Nationen dauern bis zum Jahre 1914, und das himmlische Königreich wird bis dahin noch nicht vollständig herrschen.’ Das kann jenen Bibelforschern nur durch Gottes heiligen Geist so lange im voraus geoffenbart worden sein.« (S.594)
Eine nähere Betrachtung dessen, was ZJ im Laufe ihrer Geschichte vorhergesagt haben, zeigt demnach, wie sehr sie durch Gottes Geist geleitet wurden. Ist das nicht ein starker Grund, sich mit ihrer Geschichte eingehender zu beschäftigen?
Da die WTG viele biblische Vorhersagen auf sich selbst bezieht und in ihrer eigenen Geschichte erfüllt sieht, erwähnt sie ihre Geschichte auch in dem neuen Offenbarungs-Kommentar oft: Die Offenbarung – Ihr großartiger Höhepunkt ist nahe! (1988).
Ein anderes Beispiel, wie die Einzigartigkeit dieser Bewegung darzutun versucht wird, habe ich am Ende des Vorworts angesprochen: Der häufig wiederkehrende Hinweis darauf, dass die ZJ sich – zumindest während des 2.Weltkrieges – konsequent weigerten, an Kriegshandlungen teilzunehmen.
In der Kritik an anderen Religionsgemeinschaften wird nicht bloß auf deren Lehren Bezug genommen, sondern auch auf deren Geschichte; z. B. wird das Verhalten von Katholiken und Protestanten während des 2.Weltkrieges immer wieder angeprangert. Also auch hier: nicht nur anhand ihrer Lehren werden Kirchen beurteilt, sondern auch anhand ihrer Geschichte.
Was würde ein ZJ sagen, wenn ein Katholik auf eine solche Kritik antwortete: ‘Was früher war, interessiert mich nicht, mir ist nur wichtig, was heute geschieht!’ Würde ein ZJ das nicht – zu Recht! – als Fluchtmanöver einstufen?
Und ein ZJ? Sollte es ihm gestattet sein, Hinweise auf die Geschichte der ZJ wegzuwischen, indem er – jetzt plötzlich! – die Gegenwart als allein relevant hinstellt?
Angesichts der ausgiebigen Verwendung der Geschichte durch die WTG wirkt es sehr merkwürdig, wenn ein auf die Geschichte der ZJ hingewiesener ZJ auf einmal die Geschichte als nicht so wichtig bezeichnet. Wird die Geschichte seitens der ZJ etwa nur bei Bedarf herangezogen, dann, wenn der ZJ meint, durch sie bestätigt zu werden?
2. Anwendung biblischer Kriterien erfordert geschichtlichen Horizont
Natürlich hat ein ZJ Recht, wenn er betont, dass wir nicht beim Studium der Geschichte hängenbleiben sollen, dass wir uns vielmehr auf die Bibel konzentrieren sollen. Aber auch beim Studium der Bibel werden wir immer wieder ermutigt, einen weiten Horizont zu haben, der auch vergangene Ereignisse nicht ausschließt. Inwiefern?
Im Alten Testament gibt Gott Kriterien für die Unterscheidung von wahren und falschen Propheten an. Es heißt dort z. B.:
»Wenn ein Prophet im Namen des Herrn spricht und sein Wort sich nicht erfüllt und nicht eintrifft, dann ist es ein Wort, das nicht Jahwe gesprochen hat.« (5.Mose 18,22)
Ob dieses Kriterium auf einen bestimmten Propheten zutrifft, kann nur bei einer Zusammenschau von Vorhersage und tatsächlichem Ereignis entschieden werden. Wenn wir uns immer auf die Betrachtung der gegenwärtigen Lehre beschränken, dann sehen wir dabei nur, was der Prophet gegenwärtig (für die Zukunft) voraussagt – ohne dass wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt erkennen können, ob diese Voraussage zutreffen wird. Ob aber das, was er vor Jahrzehnten für die damals nächsten Jahre vorhergesagt hat, eingetroffen ist oder nicht, können wir mittlerweile schon recht gut beurteilen. Wir dürfen bloß nicht unsere Augen verschließen!
Angenommen, ein »Prophet« hat schon zehnmal falsch vorhergesagt. Und jetzt, in der Gegenwart, macht er wieder Vorhersagen. Natürlich könnte es – trotz aller vergangenen Erfahrungen – sein, dass er diesmal doch recht hat. Aber dieser Prophet muss damit rechnen, dass seine Umgebung ihn nun nicht mehr besonders ernst nimmt. Und er muss es sich auch gefallen lassen, wenn er gelegentlich an die zehn früheren, sich mittlerweile als falsch erwiesenen Vorhersagen erinnert wird. Wäre es eine angemessene Reaktion auf ein solches Erinnertwerden, vor allem einmal die Motivation des Kritikers in Frage zu stellen?
ZJ verweisen immer wieder darauf, wie aktiv sie (und nur sie?) missionieren, wie korrekt sie leben, wie groß ihr Wachstum sei … Diese Erscheinungen ermöglichen alleine noch kein Urteil über die Bewegung – genauer: über ihre Leitung, die sich gelegentlich auch als »Prophet« bezeichnet. Jesus sagte:
»Viele falsche Propheten werden auftreten, und sie werden viele irreführen.« (Mt 24,11)
Eine Bewegung zeigt starkes Wachstum? Das ist kein Beweis für Gottes Mitwirken, denn Jesus prophezeite auch den falschen Propheten ein starkes Wachstum: »Sie werden viele irreführen.«
Nebenbei bemerkt, gibt es eine ganze Reihe von Bewegungen, die stark wachsen. Im letzten halben Jahrzehnt hatten Adventisten und Mormonen ein ähnlich starkes Wachstum wie ZJ, die Pfingstbewegung und die Neuapostolische Kirche ein noch deutlich größeres.2
Unter Außerachtlassung aller anderen Bewegungen, die gleichfalls gewachsen sind, bezeichnen die ZJ ihr eigenes Wachstum oft als Beweis dafür, dass Gott dahintersteht:
»Die Tatsache, dass die Zeitschrift, die zuerst … nur in einer kleinen Auflage erschien, aber jetzt … weltweit verbreitet wird, ist ein deutlicher Beweis dafür, dass Jehovas Hand auf der kleinen Bibelgruppe … ruhte, der C.T. Russell vorstand.«3
Oder:
»Im Laufe der letzten sieben Jahre … haben Jehovas Zeugen ständig Fortschritte gemacht. Ihr Wachstum ist gesund. … Es besteht somit kein Zweifel darüber, dass Jehova seine Diener durch Christus Jesus, ihren Führer, unfehlbar geleitet hat.«4
Die Anhänger eines Propheten predigen sehr eifrig? Auch das beweist nicht, dass es sich um einen Propheten Gottes handelt. Denn nach Jesu Worten werden viele irregeführt durch falsche Propheten, und das ist ohne intensive Propaganda kaum zu erwarten.
3. Allgemeinverständliche Diskussionspunkte bevorzugen!
Schließlich ist noch ein weiterer Gesichtspunkt zu bedenken. Für die meisten Menschen, die von ZJ angesprochen werden, ist die Bibel ein fremdes Buch. Diskussionen darüber, ob Harmagedon vor oder nach dem Millennium zu erwarten ist, und ob »staurôs« zur Zeit Jesu einen Pfahl mit oder ohne Querbalken bezeichnete, gehen an ihnen vorüber. Sie können sich dazu kaum ein eigenes Urteil bilden. Andere Fragen jedoch sind leichter zu beurteilen: Angenommen, eine Gruppe hat zehnmal falsch vorhergesagt. Wenn jemand darüber informiert ist, wird es ihm nicht besonders schwerfallen zu entscheiden, was er von der gegenwärtig vorgetragenen Vorhersage dieser Gruppe halten soll. Er wird dazu kein umfassendes Bibelstudium benötigen. Und angenommen, eine Gruppe tut selbst das, was sie an anderen kritisiert. Auch ohne zu wissen, was in Röm 2,21f steht, wird der außenstehende Beobachter merken, dass da etwas nicht stimmt.
So denke ich, dass meine Bevorzugung bestimmter Themen dem Interesse breiter Kreise entgegenkommt, die von ZJ angesprochen werden und sich ein Urteil über diese Gruppe bilden wollen, auch ohne selbst Bibelgelehrte zu sein.
1 In Deutsch erschienen diese 31 Teile in WT-Heften vom 15. Feb. 1955 bis zum 15. Juni 1956. – Neidhart 189f gibt die genauen Seitenzahlen an. (Zu Neidhart, Jahrbuch oder Predigtdienst siehe im Anhang die abgekürzt zitierte Literatur.)
2 Vgl. Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, Jg.52 (1989) S.18f
3 Predigtdienst 300.
4 Jahrbuch 1981 S.31f.
In diesem Buch kann sich der Leser in mehreren Etappen mit dem Leben Russells beschäftigen: In diesem Kapitel bekommt er einen Überblick1; im Kap.3 wird das literarische Werk Russells behandelt, im Kap.4 sein Selbstbewusstsein, daraufhin seine Vorhersagen; im Kap.11 Wie geht die WTG mit ihrer eigenen Geschichte um werden Russell betreffende Widersprüche innerhalb der WTG-Literatur dargestellt; im Anhang findet sich dann noch zweierlei: die Zeittafel, die noch weitere Angaben enthält, und außerdem das Kapitel Umstrittene Punkte im Leben Russells.
Russell lebte von 1852 bis 1916. Geboren wurde er im Gebiet des heutigen Pittsburgh,2 einer großen Stadt im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvanien (ein Nachbarstaat von New York). Seine Eltern waren schottisch-irischer Abstammung. Seine Mutter starb bereits, als er 9 Jahre alt war (sein Vater erst, als Charles 45 Jahre war). Sein Vater hatte einen Herrenbekleidungsladen. Der Sohn stieg als Jugendlicher auch ein. Der Laden dehnte sich aus auf mehrere Filialen; als der Sohn ausstieg, erhielt er für den Verkauf seiner Geschäftsanteile einen Nettobetrag von über einer Viertelmillion Dollar – das heißt, dass das von ihm gegründete religiöse Unternehmen ein beachtliches Startkapital hatte. Ein nicht zu unterschätzender Faktor für die weitere Entwicklung dieses Unternehmens!3
Zu Russells religiöser Entwicklung: Von seinen Eltern her war er Presbyterianer. Er wechselte als Jugendlicher zu den Kongregationalisten über, weil diese liberaler waren. Außerdem war er beim Christlichen Verein Junger Männer (abg. CVJM). Doch es regten sich bei ihm Zweifel am christlichen Glauben; besonders die Lehren von der Vorherbestimmung (= Prädestination) und von der Hölle als Ort ewigen Leidens machten ihm Schwierigkeiten. Durch einen Adventisten wurde 1870 sein Glaube an die göttliche Eingebung der Bibel wieder befestigt. Noch im selben Jahr begann er mit fünf anderen Personen einen eigenen Bibelerforschungskreis.4
1876 lernte er Nelson H. BARBOUR (Herausgeber der Zeitschrift The Herald of the Morning) kennen. Russell beteiligte sich finanziell und redaktionell an Barbours Zeitschrift; sie brachten im Jahr darauf (1877) gemeinsam das Buch Three Worlds or Plan of Redemption heraus. Im nächsten Jahr (1878) kam es zu einer Meinungsverschiedenheit, und sie gingen auseinander. Und im Jahr darauf (1879) begann Russell mit seiner eigenen Zeitschrift: Zion's Watch Tower and Herald of Christ's Presence. Im gleichen Jahr heiratete er Maria Frances ACKLEY, die sich aber nach 18 Jahren von ihm trennte. 1881 gründete er die Zion's Watch Tower Tract Society, die einige Jahre später als Aktiengesellschaft gesetzlich eingetragen wurde. (Das Hauptbüro der Bewegung wurde später von Pittsburgh nach Brooklyn in New York verlegt. Ebenfalls 1881 brachte er zwei kleinere Bücher heraus (Tabernacle, Food).
1886 begannen die Schriftstudien mit Bd.1 zu erscheinen. Seit 1909 erschienen Traktat-Serien (unter verschiedenen Namen) zur massenhaften Verbreitung unter Außenstehenden. Die moderne Technik versuchte er sofort zunutze zu machen: 1914 wurde erstmals das Photo-Drama der Schöpfung vorgeführt. Mehrmals unternahm er Auslandreisen (erstmals 1891), gründete auch im Ausland Büros (erstmals 1900 in London). Es kam zu öffentlichen Forumsdiskussionen (»Debatten«) – zur ersten 1903 (mit dem Methodistenpastor Eaton). Die Öffentlichkeit widmete ihm wachsende Aufmerksamkeit; manches an der Tätigkeit Russells geriet ins Zwielicht (die wichtigste Kritik erschien 1912: Some Facts About the Self-Styled ‘Pastor’ Charles T. Russell, vom Baptistenpastor Ross).
Für mehrere Zeitpunkte wagte Russell Vorhersagen; am bekanntesten ist jene für 1914 (totaler Umsturz, seither sollte Christus auf Erden regieren und Frieden herrschen); als diese sich nicht erfüllte, versuchte er einen Teil der Vorhersage auf 1918 zu verlegen. Kurz vor seinem Tode schrieb Russell die letzten Vorworte zu seinen Schriftstudien, am 31.Okt. starb er während der Heimfahrt einer vorzeitig abgebrochenen Vortragsreise in Texas.
Sein Nachfolger als Präsident wurde Joseph F. RUTHERFORD; dieser setzte sich gegen seine Kritiker im Direktorium durch. – Weitere Angaben über Russells Leben sind der Zeittafel im Anhang zu entnehmen.
Bei dieser Darstellung von Russells Leben bin ich großenteils auf die Literatur der WTG angewiesen; sollten darin bestimmte Fehler konsequent enthalten sein, die sonst weiter nicht auffällig sind (also weder in sich Unwahrscheinliches ausdrücken noch mit anderen Ereignissen in seinem Leben kollidieren), so wäre es schwer für mich, diese zu entdecken. Auch die ZJ-Kritiker sind ja für viele Russell betreffende Fragen auf die WTG-Literatur angewiesen, stellen also auch nicht unbedingt ein Korrektiv dar.
Von der WTG herausgegebene Literatur zu Russells Leben:
Pastor C. T. Russell. Sein Leben und sein Wirken (1917), Schriftstudien Bd.7 (1917) S.58-65 (Ausgabe von 1925 auf S.65-73),
WT 1955 (S.103f, 173ff, 196ff, 233ff, 268ff, 301ff), Zum Predigtdienst befähigt (1957) S.297-311,
Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben (1960) Kap.2-10, Jahrbuch 1975, S.31-77.
Unabhängig von der WTG erschienen:
Chicago Bible Students: The Laodicean Messenger being the Memoirs of the Life, Works and Character of That Faithful and Wise Servant of the Most High God. 3.Aufl. 1923.
Dietrich HELLMUND: Geschichte der Zeugen Jehovas (in der Zeit von 1870 bis 1920). Hamburg 1971.
1 Die letzte Anmerkung im Vorwort erklärt die Schwierigkeit, eine detailreiche Lebensgeschichte Russells zu liefern
2 Eigentlich in Allegheny; das ist aber heute ein Teil von Pittsburgh
3 Hellmund (bei Nr.20): »So konnte seine Bewegung gerade in der andernorts so kritischen Entstehungszeit durch die ihr mögliche, großzügige Finanzplanung etwa bei Werbefeldzügen die Enge und Kurzatmigkeit überwinden, die sonst Gemeinschaften dieser Art anhaftet.«
4 Vorhaben 14f
»die Schrift-Studien, die so viel zu seinem Ruhme beigetragen haben, …« (die WTG im Jahr 1917)1
1. Wichtiger als der »Wachtturm«
Unter den verschiedenen Büchern, die Russell schrieb, spielten die 6 Bände Schriftstudien die Hauptrolle. Das wird bereits bei einer Betrachtung der Auflagenziffern deutlich. In Bezug auf den ersten Band schrieb Russell in seinem letzten Vorwort (vom Okt. 1916): »Bis jetzt (1916) sind ungefähr 5 Millionen in der ganzen Welt verbreitet.« (Hier – und im folgenden – sind nicht nur die englischen Ausgaben gerechnet, sondern auch die fremdsprachigen.) Die Zeitschrift Wachtturm hatte 1915 eine Auflage von 55000.2 Ganz grob gesprochen, könnte man also sagen, dass der Inhalt des ersten Bandes der Schriftstudien etwas weniger als 100mal weiter verbreitet war als der Inhalt der WT-Hefte.
Dazu kommt eine ganz allgemeine Erfahrung: Bücher hebt man eher auf als Zeitungen; manche Bücher sieht man auch noch ein zweites Mal durch. Insofern kann man vermuten, dass die durch die WTG verbreiteten Bücher einflussreicher waren als die WT-Hefte, auch bei jenen Lesern, die beides hatten.
Im Rückblick auf die Zeit Russells heißt es auch in einem WT des Jahres 1957, dass die »sechs Bände der Schriftstudien … hauptsächlich für die Öffentlichkeit geschrieben wurden«, während die »Zeitschrift The Watchtower … zu jener Zeit für die interne Organisation geschrieben wurde« (S.542).
Aus dieser Funktions-Beschreibung folgt: Was damals öffentlich verkündigt wurde, ist vor allem den Schriftstudien zu entnehmen. Sollte sich irgendwo eine Differenz zwischen den Aussagen der Schriftstudien und jenen des WT ergeben, so ist davon auszugehen, dass die Aussagen der Schriftstudien eher repräsentativ sind für das, was der Öffentlichkeit vermittelt wurde. Wollen wir also beispielsweise wissen, was die Bibelforscher damals für die Zeit bis 1914 vorhergesagt haben, so müssen wir dazu in erster Linie die Schriftstudien heranziehen (und höchstens in zweiter Linie WT-Hefte bzw. das, was alte Bibelforscher siebzig Jahre danach berichten).
Noch eine andere Konsequenz dieser Funktions-Beschreibung: Wollte Russell etwas korrigieren, was er in den Schriftstudien geschrieben hatte, so genügte dazu ein Hinweis in einer WT-Ausgabe nicht; er musste unbedingt dafür sorgen, dass diese Korrektur in einer Neuauflage der Schriftstudien Platz fand.
Kamen die damaligen Bibelforscher mit Interessierten in Kontakt, so wurde »Nacharbeit verrichtet, mit dem Bestreben, ein Studium anhand des ersten Bandes der Schriftstudien zu beginnen«.3 Nach dem ersten Band kam dann der zweite usw.
2. Auflagenhöhe der »Schriftstudien«
Wenn wir runde Absatz-Zahlen festhalten wollen: Zu Russells Lebzeiten wurde der erste Band der Schriftstudien in mehreren Millionen Exemplaren abgesetzt, von Band 2 und 3 wurde jeweils eine Million verbreitet.
Genauere Angaben zu machen ist schwierig, da die Angaben innerhalb der WTG-Literatur nicht zusammenpassen. In Bezug auf Band eins heißt es, »dass in einer Zeitspanne von über vierzig Jahren mehr als sechs Millionen davon verbreitet wurden«.4 (Dieser Band war 1886 erschienen, der Zeitraum von »über vierzig Jahren« erstreckt sich also bis nach 1926.) 1924 erschien der Band 1 mit der Angabe auf dem Titelblatt, »Allgemeine Ausgabezahl ungefähr 10 Millionen«; die Ausgaben von 1925 und 1926 geben auf dem Titelblatt »ungefähr 12,5 Millionen« an. (Wie schon oben zitiert, gab Russell bereits 1916 »ungefähr 5 Millionen verbreitet« an.) Die Zahlenangaben auf den Titelblättern bzw. im Vorwort Russells wirken also im Vergleich mit den späteren WTG-Geschichtsberichten auf das Doppelte hinaufgesetzt.
Hier tauchen Fragen auf: Wurden die Zahlen absichtlich überhöht angegeben, um beeindruckende Werbung zu machen? Oder ist es wirklich so schwierig, die Absatz-Ziffern herauszufinden? Aber gerade ein Verlag, der – wie die WTG – vom Beginn an viel Gewicht auf (große und wachsende) Zahlen legte, müsste doch einigermaßen einen Überblick haben, wie hoch der Absatz wirklich ist? (Wenn schon nicht über den Absatz, so doch zumindest darüber, wieviel gedruckt wurde.) Und falls dieser Überblick doch nicht da ist: Warum werden dann überhaupt Zahlen genannt? Was hat der Leser davon, wenn ihm Zahlen mitgeteilt werden, von denen er nie weiß, ob sie in Wirklichkeit halb so groß oder doppelt so groß sind?
Der WT 1955 gibt für die ersten Jahrzehnte die Absatz-Zahlen für die Bücher insgesamt an (S.302); addiert man die Beträge für die Zeit bis inklusive das Jahr 1916, kommt man auf 9,06 Millionen Bücher. Nun gab Russell in seinen Vorworten am 1.Oktober 1916 für den 1.Band 5 Millionen und für den z. Band »mehr als einundeinhalb Millionen« an5 das Titelblatt der 1914-Ausgabe vom 3. Band gibt »1,5 Millionen« an. Rechnet man diese drei Beträge hoch für die Zeit bis Ende 1916, so ergibt alleine die Summe für diese drei Bücher schon knapp 9 Millionen; daneben gab es aber noch die drei weiteren Bände Schriftstudien und einige weitere Bücher.6 Auch hier, nun im Vergleich mit dieser WT-Statistik von 1955, wirken die Angaben von Titelblättern bzw. Vorworten (mindestens ein bisschen) überhöht.
Eine weitere Zahl passt überhaupt nicht zu all den genannten Angaben. Vorhaben (S.54) zitiert die New Yorker Zeitung The World (vom 30.August 1914): »… in dem Buche ‘Die Zeit ist herbeigekommen’ – von dem vier Millionen Exemplare verkauft wurden …«.
Im August 1914 sollen vom 2.Band der Schriftstudien bereits 4 Millionen verkauft sein, während Russell im Oktober 1916 erst von »mehr als einundeinhalb Millionen« spricht? Die Angabe dieser New Yorker Zeitung ist also sicher extrem überhöht. (Es bleiben hier Fragen offen. Warum korrigiert die WTG diese doch extrem überhöhte Angabe nicht wenigstens im Anschluss an das Zitat oder in einer Fußnote? Und warum zitiert sie überhaupt den Text eines offensichtlich ungenau informierten Journalisten derart ausführlich? Wir kommen auf diesen Text noch in Kap.7/2b zurück.)
3. Die sechs Bände »Schriftstudien«
Genug von diesen Zahlen. Wenden wir uns nun den sechs Bänden der Schriftstudien zu. Ihre Erscheinungsjahre und ihre Titel waren (ich gebe die Jahre der amerikanischen Erstausgaben an, die Titel sind jene der deutschen Übersetzungen):
Bd.1 (1886) Der Plan der Zeitalter (später: Der göttliche Plan der Zeitalter)
Bd.2 (1889) Die Zeit ist herbeigekommen
Bd.3 (1891) Dein Königreich komme
Bd.4 (1897) Der Tag der Rache (später: Der Krieg von Harmagedon)
Bd.5 (1899) Die Versöhnung des Menschen mit Gott
Bd.6 (1904) Die Neue Schöpfung
(Auf den posthum herausgegebenen Bd.7 gehe ich in Abschnitt 5 näher ein.)
Bis 1904 war der Titel dieser Bände »Millennium-Tagesanbruch« (Millennial Dawn), dann stieg Russell auf den Titel »Schriftstudien« (Studies in the Scriptures) um.
4. Veränderte Nachdrucke