Chefinnen küsst man nicht - Marina Blue - E-Book

Chefinnen küsst man nicht E-Book

Marina Blue

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Beschreibung

Ein Gestüt, ein charismatischer Pferdewirt mit Bindungsphobie und eine Chefin, vor der alle in die Knie gehen. Justus kann es kaum fassen, als Annabelle Muhlsee das Gestüt Birkengrund übernimmt. Die hübsche junge Frau bringt nicht nur alles durcheinander, sondern droht auch mit Kündigungen, sollten die Mitarbeiter ihren Ansprüchen nicht genügen. Er ist fest entschlossen, dieser Frau aus dem Weg zu gehen- soweit das als Stallmeister eben möglich ist. Das ändert sich schlagartig, als durch sie der beeindruckende KWPN Wallach Belle Valentino in sein Leben tritt und seine längst verdrängten Träume plötzlich wahr werden könnten. Doch auf dem ersten Turnier geht alles schief, und Justus muss nach einem Plan B suchen um seinen Job zu retten, dabei tappt er genau in ihre Falle. Damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Eine leichte, herbstlich/winterliche Lektüre im Reitsportsetting.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Epilog

Kapitel 1

Ungläubig sah er die Frau vor sich an. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, während sein Kopf zäh verarbeitete, was sie ihm gerade mehr oder weniger an den Kopf geknallt hatte. Als er merkte, dass er starrte, ließ er seinen Blick nervös durch das Büro wandern.

Da war Justus gerade mal zwei Stunden zurück auf dem Gestüt, und schon wurde ihm die Pistole auf die Brust gesetzt. Und das auch noch von einer überaus attraktiven Fremden, Annabelle Muhlsee. So hatte sie sich zumindest vor einer halben Stunde vorgestellt.

Das warme Morgenlicht des Spätsommers brach sich in einer schicken Glasvase, die allein auf dem linken Rand des fast leeren weißen Schreibtisches stand. Die Strahlen malten helle Quadrate an die kahlen Wände, an denen an einigen Stellen schlecht verspachtelte Löcher von den Gemälden erzählten, die sie vorher geziert und die reiche Geschichte des Gestüts erzählt hatten.

Dieses Büro war mal sehr heimelig und vollgestellt gewesen. Jetzt wirkte es wie von einem Interieurdesigner minimalistisch und bis auf den grauen Teppich genau durchgestylt und kalt.

Sein Blick blieb an dem, von einer Reihe Aktenordner abgesehen, leeren Wandleiterregal hängen. Es war so ein harter Kontrast zur vertrauten Stuckdecke und den alten weißen Sprossenfenstern. Vorher hatte an der Stelle ein schweres Bücherregal aus warmem Walnussholz gestanden. Bis an die Decke hatten sich Ordner und Bücher darin gestapelt. Jetzt war es einfach nicht mehr wie ein Ort, an dem man gerne mal hier und da eine Stunde verbrachte.

Eher wie ein modernes Designergefängnis.

In seinen Adern rauschte das Blut, und er bemühte sich, seiner neuen Chefin ins Gesicht zu sehen.

Sie hatte die Augenbrauen fragend gehoben und den Kopf leicht geneigt. Ihre blauen Augen wirkten dadurch unschuldig, wie die eines jungen Mädchens, wäre da nicht ihr kühler, abwartender Ausdruck.

Ihm lief ein Schauer über den Rücken. „Können ... können Sie das noch einmal wiederholen?“ Nervös biss er sich auf die Unterlippe.

Ihre feinmanikürten rotlackierten Fingernägel trommelten ungeduldig auf der Tischplatte herum. „Ich sagte, dass ich mich gerne von Ihrer Arbeit überzeugen würde, ehe ich eine Entscheidung fälle.“

Langsam nickte er und fuhr sich durch die kurzen dunklen Haare. Eine lästige Haarsträhne fiel ihm dabei in die Stirn. Er pustete sie sich aus dem Gesicht und rang sich ein Lächeln ab.

In seinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn und vermischten sich mit seiner aufkeimenden Unsicherheit. Das hieß also, er wäre mit Pech bald seinen Job los. Alles nur, weil sein vorheriger Chef entschieden hatte, dass er zu alt für ein Gestüt war, und keine Kinder hatte, die hätten übernehmen können. Ihm wurde schlecht. Warum hatte er sich nur entschieden, seinen Urlaub in der Übergangszeit abzufeiern? Fuck! Wie musste das ausgesehen haben?

Sie drehte den Bürostuhl und streckte sich. Mit ihren langen dünnen Fingern zog sie einen schwarzen Ordner aus dem Regal.

Er zuckte zusammen, als der Ordner mit einem Knall auf dem Schreibtisch landete. Der Computerbildschirm vibrierte unter der Erschütterung.

Sie strich sich eine lange blonde Haarsträhne aus dem hübschen Gesicht, während sie mit einem Finger den Index entlang fuhr und bei seinem Namen stoppte. „Wissen Sie, warum diese Papiere nie digitalisiert wurden?“ Es klang beiläufig, trotzdem lief ihm ein Schauer über den Rücken. „Tristan, also Herr Bülow, war über achtzig. Er hat gerne auf Papier gearbeitet.“ Was tat das überhaupt zur Sache?

Wie düstere Omen klang das Umschlagen der Seiten in seinen Ohren nach. Angespannt faltete er die Hände im Schoß, während ihm die Angst wie ein Greifvogel im Nacken saß. Mit jeder Seite, die sie umschlug, grub der Vogel seine Krallen tiefer in seinen Rücken.

„Ausbildung am Landesgestüt, weitgefächerte Turniererfahrung, Meister mit Auszeichnung.“ Anerkennend nickte sie und warf ihm einen kurzen prüfenden Blick zu. „Ich dachte, eigentlich mein Stallmeister wäre älter.“

Am liebsten hätte er flapsig geantwortet, dass er ebenfalls erwartet hätte, dass seine Chefin älter wäre, aber sie sah nicht aus wie eine Frau, die solche Späße verstand

Bescheiden lächelte er und musterte sie noch einmal eingehender. So lange sie mit der Akte beschäftigt war, würde sie schon nicht mitbekommen, dass er schon wieder dabei war, sie anzustarren.

Sie war aber auch verwirrend!

Unter Garantie war sie jünger als er, und er war gerade Mal Ende zwanzig. Wer konnte sich in dem Alter bitte ein Gestüt leisten?

Mit ihren großen blauen Augen und der Stupsnase, für die wohl einige Frauen zum Schönheitschirurgen rennen würden, konnte das aber auch täuschen. Das warme Licht ließ ihre hohen Wangenknochen vorteilhaft in ihrem sonst weich konturierten Gesicht zur Geltung kommen. Sie war hübsch, keine Frage, und wären sie sich unter anderen Umständen über den Weg gelaufen, hätte er bestimmt darüber nachgedacht, sie anzusprechen.

Die gestärkte hellblaue Bluse sah nicht aus wie von der Stange, und wenn er sich weiter im Büro umsah, dann war er sich sicher, dass sie sich nichts vom Mund absparen musste. Designermöbel, teurer Computer, der natürlich perfekt in das Interieur passte... Hatte sie geerbt? Oder hatte sie einen guten Job? War sie verheiratet? Obwohl, dann hätte wohl noch ein Name in den letzten E-Mails gestanden. Das war doch verwirrend und gleichzeitig hochinteressant.

Wenn man sie nur reden hörte, dann konnte man glauben, man säße einer verbitterten, unterkühlten, alten Personalerin gegenüber, aber dann war da die marklose helle Haut und die verführerischen rotgeschminkten Lippen.

„Liest sich alles ganz nett.“ Sie schob den Ordner von sich und hob den Kopf wieder. Als sie ihn prüfend ansah, lief ihm erneut ein Schauer über den Rücken, und er konnte fühlen, wie ihm die Röte in die Wangen kroch.

Das Zucken ihrer Augenbraue verriet, dass sie sein Rotwerden nicht nur bemerkt, sondern auch interessiert zur Kenntnis genommen hatte. Ihm kam es vor, als würde sie genau nach diesen kleinen Schwächen suchen. „Erzählen Sie mir etwas über sich. Ich weiß gerne, wer für mich arbeitet.“

Er biss sich auf die Unterlippe, die sich schon ganz spröde anfühlte. So hatte er sich seine Rückkehr auf das Gestüt nicht vorgestellt.

Der Morgen hatte so schön angefangen. Nebel hatte über den Weiden links und rechts neben der Zufahrtsstraße gehangen. Das Wäldchen hatte ihn mit einem sanften Rauschen begrüßt, und vor seinem kleinen Häuschen hatte es nach Blumen und Pferd gerochen. Eben nach Zuhause. Tja, und dann war sie aufgetaucht.

Er blinzelte. „Was wollen Sie wissen?“

Amüsiert schmunzelte sie und lehnte sich auf dem Drehstuhl zurück. Die Art, wie sie saß, verdeutlichte noch einmal, dass sie hier die neue Machtinstanz war und ganz klar nicht die Art Chefin, die alles locker nahm. „Wie lange arbeiten Sie hier? Warum Gestüt Birkengrund? Warum Frankfurt, Sie kommen doch aus dem Münsterland?“ In ihren Augen funkelte rohes Interesse.

Justus atmete tief ein und strich sein dunkelgrünes Poloshirt mit dem Aufdruck des Gestüts glatt. „Ich bin seit rund sechs Jahren hier. Davon bin ich vier Stallmeister...“ Beinahe wäre ihm ein „gewesen“ herausgerutscht, aber noch hatte er so, wie es klang, seinen Job noch. Er lächelte verlegen und sah auf die Tischplatte. Ihr ins Gesicht zu sehen, machte ihn nur nervöser! „Ich habe mich damals beworben und direkt gut mit Herrn Bülow verstanden. Das ist auch schon die ganze Geschichte hinter meiner Anstellung hier.“ Er hob den Blick ganz langsam wieder.

Sie hob eine Augenbraue, faltete die Hände vor der Brust und sah ihn wieder an, als wenn sie ihm nicht glauben würde. „Wie ist das Team?“

„Wie Familie.“

Sie nickte. In ihrer Wange spielte ein Muskel.

„Wie kommt es, dass Sie zuletzt so wenig Turniere geritten sind?“

„Es hat sich nicht ergeben.“

Die Wahrheit war, dass Tristan unwirtschaftlich gearbeitet hatte, und über die letzten zwei Jahre alle Pferde mit Potenzial hatten verkauft werden müssen. Er war damit nur noch Korrekturpferde geritten und hatte hier und da beim Einreiten unterstützt. Das war jedoch eher das Fachgebiet seiner Kollegin Lotte.

Die Muhlsee sah schon wieder belustigt aus. Soweit das mit ihrem kühlen Pokerface überhaupt ging. „Sind Sie immer so loyal?“

Er musste schlucken. „In der Regel.“ Unter ihrem intensiven Blick kam er sich klein und unbedeutend vor, dabei überragte er sie, wenn sie einander gegenüberstanden, bestimmt um einen Kopf.

Wenn sie ihm so direkt in die Augen sah, dann kam er sich vor, als wenn er nicht mehr atmen könnte, geschweige denn sich bewegen. Nur mit Mühe löste er den Blick.

Zu ihren Füßen hob ein Jagdhund verschlafen den Kopf. Bisher war der Hund ihm noch nicht aufgefallen. Das Tier linste am Schreibtisch vorbei zu ihm herüber und schnupperte in die Luft, ehe es den feinen Kopf wieder senkte.

„Schönes Tier.“ Vielleicht kam so mal etwas Lockeres in dieses Gespräch.

Sie ignorierte sein Kompliment geflissentlich. „Loyalität ist eine Tugend. Ich hoffe, Sie werden auch mir genügend Respekt entgegenbringen. Dann bin ich mir sicher, dass wir gut miteinander auskommen werden.“ Ihre Mundwinkel hoben sich. Das Lächeln erreichte jedoch nicht ihre Augen.

Justus sprang erleichtert auf und hielt ihr die Hand hin.

„Auf gute Zusammenarbeit.“ Immer noch war ihm reichlich eng in der Brust, aber die Angst hatte zumindest etwas von ihm abgelassen.

Sie blieb sitzen und ergriff erhaben seine Hand. „Enttäuschen Sie mich nicht. Wäre sehr schade...“ Sanft drückte sie seine Hand. Ihre Haut war samtweich und kalt. Ihr Daumen strich für den Bruchteil einer Sekunde sanft über seinen Handrücken.

Dann ließ sie los und machte mit den Augen eine stumme Andeutung, dass er verschwinden sollte.

Kapitel 2

In seinem Kopf war immer noch nicht ganz angekommen, dass er seinen Job verlieren könnte, als er die neue, viel zu moderne Haustür des Haupthauses hinter sich zuzog. Das unangenehme Gefühl saß ihm immer noch im Nacken.

Wer glaubte diese Frau eigentlich, wer sie war? Hatte sie überhaupt jemals mit Pferden zu tun gehabt? Und wo kam sie her? Sie war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Es kam ihm vor, als wäre es erst letzte Woche gewesen, dass Tristan ihnen gesagt hatte, dass er das Gestüt verkaufen würde.

Mit wenigen Schritten war er die kleine Steintreppe herunter und an den Rosenbüschen vorbei wieder auf dem Weg zum Stall im Nordwesten des Gestüts. Hufgeklapper hallte von den modernen Backsteingebäuden wieder. Aus dem kleinen Stall, in dem nur ein paar Einstaller und das Lehrpferd Jominte standen, konnte man ein Radio dudeln hören.

Er biss nervös auf seiner Unterlippe herum. Wie konnte er diese Frau davon überzeugen, dass niemand außer ihm diesen Job machen konnte?

Lotte, seine absolute Lieblingskollegin und wohl auch sowas wie beste Freundin, näherte sich ihm, die Schubkarre schwer mit frischem Mist beladen. Die von der Morgensonne beleuchteten hellblonden Wimpern warfen sanfte Schatten auf ihr besorgtes Gesicht. „War’s nicht gut?“

Sie hatten noch kurz gesprochen, bevor er zur Chefin gegangen war.

Justus schüttelte den Kopf. „Ist Haage inzwischen aufgetaucht?“ Den Auszubildenden hatte er zumindest noch nicht zu Gesicht bekommen.

„Ja, und ich habe ihn direkt losgeschickt, den Kies zu schippen.“

„Wenn die Auffahrt heute Mittag nicht frei von jeglichen Löchern ist, dann blüht ihm was!“, grummelte er leise und beobachtete, wie Jana, eine Auszubildende im dritten Lehrjahr, eine vollbeladene Schubkarre die schmale Planke am Misthaufen hochbalancierte. „Wir müssen dringend die Miste wieder zusammenschieben.“

Lotte seufzte. „Da bin ich raus.“

„Ich ziehe jetzt erstmal die Halle ab. Wie lange braucht ihr noch?“

„Vier Boxen, dann ist der Stall gemistet.“ Lotte hob die Karre wieder vom Boden. Ein leises Ächzen kam ihr über die Lippen. Sie wollte schon weitergehen, da hielt sie inne. „Dakota, du weißt schon, die schwarze Stute in Box sieben, lahmt auf dem rechten Hinterbein. Sah nicht schlimm aus, als ich geguckt habe. Sie hat sich bestimmt nur vertreten. Ich habe sie trotzdem auf den Paddock gestellt.“

„Behalten wir im Auge.“

Konnte der Tag noch besser werden? Ihm wurde soeben fast gekündigt, und nun lahmte auch noch ein Berittpferd, das in wenigen Tagen eigentlich zurück zu seinen Besitzern sollte. Das Leben wollte ihm wohl den gestreckten Mittelfinger zeigen.

Zähneknirschend lief er um die Reithalle und zum kleinen Unterstand, in dem der Radlader samt Schleppe zum Abziehen der Reithalle stand. Er hoffte nur, dass jemand daran gedacht hatte, am Abend die Sprinkleranlage anzuschalten.

Nachdem er den Hallenboden auf das tägliche Reiten vorbereitet hatte, stellte er den Radlader wieder zurück an seinen angestammten Platz im Unterstand. Mit einem Satz sprang er vom Sitz und landete im vom Regen des gestrigen Tages noch aufgeweichten Boden. Kleine Spritzer setzten sich auf seiner beigen Reithose und den dunkelgrünen Reitsocken ab, die er bis über die Schienbeine gezogen hatte, um später leichter in seine Stiefel zu kommen.

Justus ließ den Blick schweifen. In der Ferne standen die Einstaller grasend unter einigen Bäumen. Das kleine Bächlein, das sich durch die Weide schlängelte, rauschte leise.

Wie sollte er bloß ohne all das klar kommen? Swantje, seine beste Freundin, hatte sich bei seinem Besuch so dermaßen über sein Heimweh lustig gemacht, aber dieses Gestüt hatte einen so festen Platz in seinem Herzen wie kein anderer Ort auf der Welt. Hier war das Zentrum seines Universums. Die Pferde, die Menschen – das alles war so ein immenser Teil von ihm. Wenn er ging, dann müsste er sich das Herz rausreißen!

Widerwillig löste er sich von dem Anblick der friedlich grasenden Pferde, als sich sein Magen meldete. Er sollte sich auf die Suche nach Lotte machen.

Die Müdigkeit machte sich wieder bemerkbar, als er zurück auf den Gestütshof trat. Bleiern legte sie sich über ihn, und jegliche Wirkung des Kaffees, den er vor dem Treffen mit der Muhlsee zwischen Angel heruntergestürzt hatte, schien verflogen.

Lotte kam ihm mit einem Gähnen entgegen. „Ich hab Hunger. Den kleinen Stall und die Einstaller habe ich schon gecheckt.“

„Danke.“ Er musste jetzt erst recht ein Gähnen unterdrücken. „Sag mir bitte du, hast Brötchen dabei.“

„Was denkst du denn? Klar. Dein Kühlschrank ist doch bestimmt leer.“ Sie holte den Schlüssel zu ihrem in die Jahre gekommenen Opel aus der Tasche ihrer dunkelgrünen Wetterjacke. Mit einem Blinken entriegelte sich das Fahrzeug auf dem nahen Parkplatz. „Was war denn nun bei der Hexe?“

Er seufzte und machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie musste gar nicht erklären, wen sie mit der Bezeichnung meinte. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Muhlsee zu Lotte netter gewesen war als zu ihm.

„Alles muss man dir immer aus der Nase ziehen!“ Schmollend schob sie die Unterlippe vor und kräuselte die kleine Nase. „Gekündigt hat sie dir hoffentlich nicht.“

„Keine Sorge. Ich kann dir noch länger auf die Nerven gehen, wenn ich mir keinen Fehler erlaube.“

Lotte atmete sichtlich auf und lief zur Beifahrertür ihres Kombis. „Dann ist ja alles gut. Mit wem soll ich sonst jeden Morgen frühstücken?“

Du meinst wohl eher, wem sollst du sonst Predigten über sein Liebesleben halten.“ Justus beobachtete, wie sie mit den Augen rollte.

Wortlos drückte sie ihm die Brötchentüte in die Hand und schlug die Tür wieder zu. „Was? In deinem Alter war ich schon verheiratet. Und komm mir jetzt nicht mit dem Spruch Männer reifen wie guter Wein.“

Justus musste lachen, als sie ihm gegen die Schulter boxte. Er konnte doch nichts dafür, dass ihm bisher noch keine Frau über den Weg gelaufen war, die ihn genug fasziniert hatte, dass er mehr wollte, als nur ein loses Arrangement.

„Wie findest du sie denn so?“ Lotte musterte ihn aus ihren tiefbraunen Augen, als wüsste sie genau, dass Annabelle Muhlsee eigentlich genau seinem Beuteschema entsprach.

Er zuckte mit den Schultern. „Sehr unterkühlt.“

Lotte seufzte und rollte mit den Augen. „Mehr hast du nicht zu sagen?“

Justus schüttelte den Kopf.

Welche Meinung sollte er bitte von einer Frau haben, die ihm seinen Job wegnehmen wollte, sein Zuhause. Allein bei dem Gedanken an den intensiven Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, bildete sich schon eine Gänsehaut auf seinen Armen. Jedes noch so kleine Härchen schien sich aufzustellen, und er hörte ihre sanfte Stimme in seinen Ohren, die in keiner Weise mit dem zusammenzupassen schien, was sie sagte. Das enge Gefühl machte sich wieder in seiner Brust breit, und er versuchte es mit einem Lächeln zu verdrängen. „Fragst du dich nicht, wie sie sich das alles hier leisten konnte?“

Lotte nickte zögerlich und zog ihren Pferdeschwanz nach. Der rote Schotter knirschte unter ihren Schritten. In naher Ferne baute sich sein kleines Backsteinhaus mit den dichten Efeuranken vor ihnen auf. „Ich nehme mal an, dass sie geerbt hat.“ Ein süffisantes Grinsen bildete sich auf ihren Lippen. „Ein Sugarbaby wird sie mit der Art wohl nicht sein. An der ist gar nichts süß.“

Aber einiges verdammt sexy, musste Justus sich unweigerlich eingestehen. Allein diese Lippen und die Art, wie sie den Kopf neigte und dabei die Augen unbewusst aufriss. Sie reizte ihn. Was genau an ihr konnte er noch nicht benennen, aber das würde er schon noch herausfinden.

Kapitel 3

D ie Laternen, links und rechts, erhellten de denSchotterweg, als Justus als Letzter an diesem emT Tag aus dem Stall kam. Ein dünner Nebelschleier waberte in der Ferne über die Weiden zu seiner Rechten. Die Sterne funkelten über dem Gestüt und wurden nur von vereinzelnden Wolken verdeckt.

Er freute sich, nach diesem aufreibenden Tag in Ruhe einfach nur zu lesen. In Gedanken stand er schon vor seinem Bücherregal und ließ die Finger von Buchrücken zu Buchrücken gleiten. Justus hatte noch keine Ahnung, wonach ihm war, aber das ergab sich seiner Erfahrung nach, wenn er vor dem Regal stand.

Das würde ihn beruhigen.

Was sollte er nur ohne seinen Job machen? Schnell schüttelte er den Kopf. Er brauchte eine Pause von den Gedanken. Je schneller er bei seinen Büchern war, desto besser.

Seine Schritte wurden länger, und er tastete in seiner Jackentasche nach seinem Schlüssel, da stoppte er.

Vor seiner Tür stand ein Wagen direkt neben seinem. Unverkennbar die schwarze Limousine seines Bruders. Dass Mo auch nie anrief. Justus seufzte und setzte sich unwillig wieder in Bewegung. Er wollte jetzt nicht mit Mo reden und ihm schon gar nicht von dem Gespräch am Morgen erzählen.

Sein Bruder saß auf der kleinen Treppenstufe vor der Haustür. Eine Flasche Wein in der Hand und einen Pizzakarton neben sich abgestellt. Moritz sprang sofort auf, als er Justus sah. „Na wieder im Lande.“ Ein breites Grinsen zierte seine Lippen, und die dunklen Haare standen wie immer in alle Richtungen ab. Wenn man ihn so sah, würde man nie darauf kommen, dass er eigentlich Arzt war. „Das sagt man nur, wenn jemand im Ausland war.“ Justus verzog keine Miene. Sowas sollte er eigentlich wissen.

Mo drückte ihm einfach die Flasche Wein in die Hand. „Für mich ist der Norden fast schon Ausland. Was macht Swantje?“

„Der geht’s gut. Was machst du überhaupt hier?“

Mo trat von der Tür weg und ließ Justus sie aufschließen. „Meinem kleinen Bruder auf die Nerven gehen und mir Infos über meine Ex geben lassen, oder wonach sieht das für dich aus?“

„Du hättest zur Abwechslung auch mal vorher anrufen können.“ Dann hätte er sich wenigstens schon mal etwas zurechtlegen können, um seine Anspannung zu erklären.

„Langweilig!“ Mo schob sich einfach an ihm vorbei in den Flur, dass er dabei den Teppich verrückte, war ihm sichtlich egal. „Außerdem wusste ich doch, dass du nichts im Kühlschrank hast.“

„Keine Krankenschwestern, mit denen du Pizza essen kannst?“ Justus schlüpfte noch vor der Tür aus seinen schweren Stallschuhen. Sonst war Mo doch auch um keine Ausrede verlegen, sich mit hübschen Frauen zu umgeben. Die Muhlsee dürfte ihm auch gefallen, und das störte Justus alleine schon bei dem Gedanken.

Mo drehte sich zu ihm. Über die Schulter hinweg blitzte er ihn genervt aus seinen braunen Augen an, die sie beide von ihrem Vater geerbt hatten. „Ich bin kein Klischee! Hast du keine Reitschülerinnen oder Auszubildenden, die dir schöne Augen machen?“

„In deinen Träumen vielleicht! Ich nehme meinen Beruf ernst.“ Und vor allem wollte er nicht in Teufelsküche kommen.

„Zu ernst, wenn du mich fragst.“ Mo stellte den Karton auf der Treppe ab und zog sich seinen langen eleganten schwarzen Mantel von den Schultern. Theatralisch seufzte er. „So viele schöne Frauen, die alle auf Pferde abfahren ...“ Achtlos schmiss er seinen Mantel auf die Garderobe. Das schwarze Kleidungsstück rutschte gefährlich Richtung Boden. „Wie ist der neue Chef?“, fragte Mo da schon gesitteter, ehe Justus ihn bitten konnte, nicht ganz so viel Chaos zu machen wie sonst.

„Frag nicht.“ Justus seufzte und schloss die Haustür hinter sich. Dabei musste er den Impuls unterdrücken, nicht sofort hinter Mo herzuräumen. Es machte ihn wahnsinnig, wie der Mantel gerade so an der Garderobe hing.

„Also so ein Finanzhai?“ Als Justus nur mit den Schultern zuckte, legte Moritz die Stirn in Falten. „Oder willst du mir einfach nicht mehr sagen, weil du gekündigt wurdest?“

Justus warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Wie konnte er so eine Mutmaßung auch nur anstellen! „Ich bin nicht gekündigt worden, und zum neuen Chef kann ich dir nicht viel sagen.“

Moriz kickte sich die weißen Sneaker von den Füßen. Noch einen Moment musterte er Justus misstrauisch und zuckte mit den Schultern. „Glaub mir, Notaufnahme war auch kein Spaziergang heute. Viele Überdosen. Ein Mädel ist mir fast unter den Händen weggestorben, weil sie irgendeinen Schrott gespritzt bekommen hat.“ Er sah sich in Justus Häuschen um. „Da beneide ich dich um diese Idylle hier.“

„Idylle, war mal!“ Justus lächelte matt, stellte die Flasche Rotwein unter der Garderobe ab und schlüpfte ebenfalls aus seiner Jacke.

Dabei sah sein Haus immer noch aus wie vor wenigen Tagen. Der komisch gelbgestrichene Flur, der längst hätte überstrichen werden sollen, der Geruch nach Pferd und Leder, die alte Holztreppe in den zweiten Stock mit den ausgetretenen Stufen. Es war alles beim Alten.

„Kaum bin ich hier ...“ Justus unterbrach sich selbst. „Lass uns später drüber reden.“

„Nein! Raus mit der Sprache. Ich wusste, da stimmt was nicht! Du bist so verspannt.“

„Ach, alles nichts Wildes.“ Justus schnappte sich die Weinflasche. Warum hatte Mo nur schon wieder diesen elendigen Supermarktwein mitgebracht, der so verdammt schädelte?

Moriz hob die Pizzaschachtel wieder von der Treppe. An einigen Stellen war das Fett schon durchgesuppt. „Ist was mit Swanni? Oder ist es doch der Job?“

„Du hängst also doch noch an Swantje!“ Justus grinste breit.

Sein Bruder presste die Lippen fest zusammen und sah weg. „Quatsch! Die ist doch auch schon seit zwei Jahren glück...“ Ein Klingeln unterbrach ihn, und Justus bekam aus dem Augenwinkel mit, wie Mo aufatmete, als er wieder zur Haustür hechtete.

Immer noch die Flasche Wein in der Hand riss er die Tür auf. Kühle Abendluft prallte auf seine Haut, es roch schal nach Regen. Ihm sprang der bunt gefleckte Hund seiner Chefin beinahe auf den Arm, und er machte einen großen Schritt zurück. Im nächsten Augenblick sah er in ihre herausfordernd dreinblickenden Augen. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, und er musste schlucken. Hatte er etwas falsch gemacht? Er kam sich schon wieder vor wie auf dem Seziertisch.

„Ich hoffe, ich störe nicht.“ Sie wies auf den Wagen seines Bruders. „Aber ich hätte noch ein paar Fragen.“ Sie musterte ihn. Ihr Lächeln war förmlich und reichte, wie schon zuvor, nicht mal ansatzweise bis zu den Augen.

„Natürlich. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“ Nervös fuhr er sich mit der freien Hand durch den Nacken.

„Wo hat Herr Bülow Stroh gekauft, und gibt es da noch Alternativen?“ Ihre blauen Augen taxierten ihn weiterhin, und sie hatte einen leicht flötenden Klang in der Stimme.

„Immer bei Pfeiffers. Die haben ihren Hof am Rand vom Nachbardorf. Also, Alternativen gibt es viele ... Aber gerade beim Heu sind Pfeiffers die beste Adresse“, druckste er herum und war kurz geneigt, sie hereinzubitten.

Sie legte die Stirn in Falten und biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Verdammt, war das sexy! „Warum stehen die Pferde auf Stroh?“

Kurz blinzelte er. Er sollte sich eindeutig nicht ablenken lassen. Worum ging es noch mal? Stroh! „Äh ... Billiger und leichter zu entsorgen. Wir stellen nur bei Allergikern auf Späne.“ Hatte sie das Gestüt vielleicht nur zum Spaß gekauft? Sowas wusste man doch eigentlich.

Langsam nickte sie. „Vielen Dank.“ Sie lächelte zufrieden. Ihr Blick glitt zu der Weinflasche. „Sie haben Geschmack.“ Sollte es wohl sowas wie der Versuch einer Nettigkeit sein, klang es eher, als würde sie sich über ihn lustig machen. Wieder überkam ihn der Impuls, sie hereinzubitten. Ein Glas könnten sie wohl entbehren.

„Na, den habe wohl eher ich.“ Mo schob sich mit einem überaus charmanten Lächeln neben ihn in den Türrahmen und reichte der Muhlsee galant die Hand. „Doktor Moritz Janke.“ Doktor musste er natürlich besonders betonen.

Automatisch musste Justus mit den Augen rollen. Typisch.

Die Muhlsee sah allerdings keinesfalls beeindruckt aus, sie zuckte nicht einmal mit der Augenbraue. Ihren Blick richtete sie wieder auf ihn und sie neigte den Kopf, wodurch ihre Augen nur noch größer wirkten, und ihr Lächeln einen unschuldigen Touch bekam, bei dem wohl jeder Mann weiche Knie bekommen hätte. Diese Frau brauchte einen Waffenschein für ihre Wirkung! „Morgen kommen meine Pferde. Sie kümmern sich drum?“

Justus nickte wie mechanisch. Er musste sich bemühen, das, was sie sagte, zu behalten, und sie nicht einfach nur wie das siebte Weltwunder anzustarren. Er spürte langsam im Kreuz, wie sehr er sich in ihrer Gegenwart verspannte.

„Gut. Schönen Abend noch.“ Sie drehte sich einfach um und entfernte sich mit schnellen Schritten von seiner Haustür. Kurz wehte der Geruch ihres süßlichen Parfüms zu ihm herüber. Es passte zu ihr.

Was für Pferde kamen da wohl? Vielleicht Vollblüter. Dieses manchmal etwas Unberechenbare könnte zu ihr passen. Oder Warmblüter, aber dann mit exzellenten Papieren und mindestens einer Prämie. Ponys wären es auf keinen Fall. Das war nicht ihr Stil.

Nachdenklich sah Justus ihr noch einen Moment nach. Sie war eigenartig. Wie viel Ahnung hatte sie wohl wirklich von der Pferdezucht, und warum hatte sie dieses Gestüt gekauft?

Ihre Hüften schwangen sinnlich von links und rechts, und als wäre es das leichteste auf der Welt, dirigierte sie mit der linken Hand ihren freilaufenden Jagdhund. Als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte, meinte er ein vergnügtes Lächeln auf ihren Lippen gesehen zu haben, aber es war zu kurz gewesen, als dass er sich wirklich hätte sicher sein können.

„Nette Dame. Vielleicht etwas unterkühlt, aber ...“ In Mo’s Augen trat ein gefährliches Glitzern. Genau wie er es befürchtet hatte.

Er unterbrach seinen Bruder barsch. „Sie ist meine neue Chefin.“ Sein Herz pochte immer noch wild gegen seine Rippen.

Mo klappte der Unterkiefer herunter. „Nein!“ Das Glitzern verstärkte sich nur noch. Wie ein Jäger, der neue Beute entdeckt hatte und schon den Rehbraten vor sich sah.

„Leider ja.“ Justus ließ die Schultern kreisen, um wieder lockerer zu werden, da schoss Mo vor.

Er wollte sich noch mal aus der Haustür strecken, um ihr nachzusehen, aber Justus zog ihn zurück und schloss die Tür. „Für die würde ich auch arbeiten. Sucht die noch einen Betriebsarzt?“ Auf Justus vorwurfsvollen Blick erwiderte er nur, „Jung, hübsch. Sag mir nicht, dass sie dich nicht reizt. Eigentlich doch genau dein Typ. Blond, sportlich, aber nicht zu sportlich.“ Er gestikulierte wild vor Justus Gesicht und hob viel sagend die Augenbrauen.

„Für mich ist sie vorrangig meine Chefin. Da würde ich mich doch wer weiß wohin bringen.“ Justus lief an ihm vorbei in die Küche.

Über einem Glas Wein teilten sie sich die Pizza im kleinen Esszimmer. Moritz erzählte von einem Reitunfall, den sie neulich reingekommen hatten. Justus hörte einfach nur zu und schaltete auf Durchzug, als Moritz wieder mit der gängigen Leier anfing. Er sank immer tiefer in den alten Esszimmerstuhl aus Holz und betrachtete die ebenfalls sanft gelben Wände, die ihn schon seit Jahren störten. Warum hatte er nur nie gestrichen?

„... Was ich dir damit sagen will, ist, dass du echt vorsorgen musst, falls du dich verletzt. Wenn du vom Pferd fällst, bist du am Arsch.“ Mo drehte sein Weinglas zwischen den Fingern. „Hörst du mir überhaupt zu?“

„Mhm.“ Justus nahm einen großen Schluck aus seinem bauchigen Rotweinglas. Er versuchte die einzelnen Nuancen, die auf der Flasche beworben wurden, herauszuschmecken. Weder Vanille noch Schokolade konnte er klar identifizieren.

„Vielleicht ist es ja auch eine Chance, solltest du gekündigt werden. Du könntest doch noch mal studieren.“

Wie Mo auch immer auf Kündigung kam. Noch war nichts in der Richtung passiert, allerdings war er auch erst seit einem Tag wieder auf dem Hof. Alles konnte noch kippen, so wie sich das in dem Gespräch heute morgen angehört hatte.

„Warum das denn? Ich bin zufrieden mit meinem Job. Jeder Tag ist anders, und ich bin immer in Bewegung.“

„Mein Gott, aber du hast keinen Plan B! Ich schwöre dir, als ich dieses Mädchen erstmal wieder einigermaßen für die OP zusammengeflickt hatte ...“

Justus unterbrach ihn. „Keine Sorge, mich wirst du in den nächsten Monaten schon nicht zusammenflicken müssen.“ Als wenn es darum ginge! Das war echt heftig. Laufen „kann die nicht mehr. Als Berufsreiter tödlich. Muss ich dir wohl nicht sagen. Studier meinetwegen was mit Tieren, aber dann hast du wenigstens einen Plan B und Mama schläft ruhiger. Sie fragt mich immer nach dir.“

„Und mich fragt sie immer nach dir. Also sind wir, was das angeht, quitt.“ In Gedanken war er wieder bei der möglichen Kündigung gelandet. Selbst dann würde er nicht über ein Studium nachdenken. Er war da einfach nicht der Typ für. Warum verstand seine Familie das immer noch nicht? „Hat sie dich heute angerufen?“

„Ja. Ich musste aber auflegen. Ich glaube, sie sind etwas einsam. Wir beide hier in Frankfurt und sie in Westfalen.“ Mo lachte trocken auf. „Erinnere mich daran, nie Kinder zu haben, wenn sie einen im Alter alle verlassen.“ Die Gefahr war gering. Wenn jemand noch bindungsphobischer war als er, dann Mo!

Kapitel 4

D er Morgen kam wieder viel zu früh. Es dämmerte nicht einmal, als er schon fertig für den Arb A beitstag die Treppe herunterkam und schnurstracks zur Kaffeemaschine lief.

Er sehnte sich nach seinem Bett. Sie hatten gestern noch bis um elf geredet. Dabei war Moritz allerdings nicht müde geworden hin und wieder zu erwähnen, dass Justus seiner Meinung nach, dringend einen Plan B haben sollte. Nach der Flasche Wein hatte er dann eher vorgeschlagen, dass Justus doch einfach reich heiraten sollte. Moritz wurde immer sehr redselig, wenn er etwas intus hatte.

Justus blieb nicht, wie sonst in der Küche vor der Kaffeemaschine stehen, sondern lief zum Sofa. Bestimmt stieß er seinem Bruder gegen die Schulter.

„Was?“, knurrte jener und drehte sich schlaftrunken von ihm weg. Immer dieser Morgenmuffel.

„Hast du nicht Dienst?“

„Spätdienst, du Spinner.“ Mo öffnete verschlafen die Augen und sah ihn an, als würde er darüber nachdenken, wie er ihn töten könnte.

„Fahr nachhause. Ich mache dir einen Kaffee.“

Mo richtete sich auf und fuhr sich durch die in aller Richtung abstehenden dunklen Haare. Die dünne Wolldecke rutschte ihm über die Beine. „Ich will noch nicht fahren.“

„Warum nicht? Ist dir deine schicke Frankfurter Wohnung zu klein?“, stichelte Justus prompt.

„So schick ist die auch nicht. Ich bin Arzt in der Notaufnahme und nicht im erlauchten Kreis der goldenen Hände.“

Justus sah ihn fragend an. Was zur Hölle waren bitte schön goldene Hände?

„Na die Chirurgen? Oder viel mehr die Oberärzte. Golden Hände? Du verstehst?“

„Aha“, kam es ihm gedehnt über die Lippen. „Ich muss gleich zum Dienst. Frühstück gibt es nicht vor acht und wenn du noch bleiben willst, sei wenigstens so gut und hol Milch und vielleicht Brötchen.“

„Ich habe gestern schon Pizza mitgebracht und Wein. Den schien deine Chefin ja auch zu mögen. Vielleicht sollte ich sie mal zu einem Glas einladen.“ Plötzlich war Mo hellwach und Justus konnte förmlich sehen, wie er einen Plan ausarbeitete. Das war ihm in ihrer Kindheit schon immer auf die Füße gefallen.

„Schlag dir das sofort aus dem Kopf!“

Mo setzte seine beste Unschuldsmiene auf. „Was? Ich will nur mal gucken, was das für eine ist. Ich steh auf Kratzbürsten.“

„Das ist keine Kratzbürste, die frisst dich mit Haut und Haaren, wenn du dich ihr auch nur auf hundert Metern näherst.“ Davon ging Justus jedenfalls ziemlich sicher aus. Sie hatte einfach nicht angetan genug auf den Doktortitel reagiert und mit mehr konnte Mo wirklich nicht beeindrucken.

Moritz setzte ein noch reichlich zerknautschtes, aber dennoch selbstsicheres Lächeln auf. „Du vergisst Bruder, ein Doktortitel in Medizin kann Wunder bewirken.“

„Du machst dich bei der nur zum Affen und ich muss es ausbaden, also denk nicht mal dran!“ War der gestern Abend schon besoffen, oder noch zu verschlafen, um sich daran zu erinnern, dass sie ihn ignoriert hatte. Da war nichts mit Doktor Med.-Magie.

„Du willst sie doch nur für dich haben. Gibs ruhig zu.“

Justus seufzte und blickte an die weiß gestrichene Decke. „Aufstehen.“ Das war ein Thema, das Mo gar nichts anging.

„Hetz mich nicht! Ich hole ja schon brav Milch und Brötchen. Wie viele?“

„Was weiß ich? Wir sind drei.“

Sein Bruder schlüpfte wieder in seine Jeans. „Hast du noch irgendwo Kopfschmerztabletten oder sowas? Ich habe dir doch mal Schmerztabletten verschrieben, nachdem dir ein Pferd den Mittelfußknochen gebrochen hatte.“

„Du nimmst keine Schmerzmittel, nur weil du ein

en Kater hast. So unvernünftig bist selbst du nicht.“ Ihre Mutter hatte sie zumindest anders erzogen.

„Ist auch nur der Notnagel. Also?“

„Guck im Badezimmerschrank.“ Justus knirschte leise mit den Zähnen, bei dem Gedanken an das Chaos, das Mo da oben veranstalten würde.

Kurz darauf schlug die Haustür hinter Justus zu. Er hatte noch den Zweitschlüssel für Mo auf die Kommode im Flur gelegt, ehe er raus war.

Der Morgen hing immer noch sehr verschlafen über dem Gestüt. Nur verhalten bahnten sich die Sonnenstrahlen ihren Weg durch die umstehenden Bäume. Tau glitzerte auf den Gräsern und den zarten Blumen in dem Beet unweit seiner Haustür. Es roch nach sauberer Luft und je näher er zum Stall kam immer mehr nach Pferd.

Der Kies knirschte unter den Sohlen seiner Schuhe, wie jeden Morgen. Es hätte alles so schön sein können, wenn ihm nicht im Nacken säße, dass heute die Pferde seiner Chefin erwartet wurden. Wahrscheinlich edle Warmblüter, die sich kein Normalsterblicher leisten konnte. Das hatte er gestern Abend, als er nicht einschlafen konnte zumindest so beschlossen. Vollblut klang dann doch zu krass. Vor allem waren es wahrscheinlich Pferde, die nur schön anzusehen und vom Profi zu reiten waren. Um solche Pferde zu halten, musste man sich allerdings wirklich kein Gestüt kaufen.

Er war der Erste am Stall. Die schweren Holztore waren noch verschlossen. Eine Laterne vor dem leerstehenden Hausstall flackerte. Kamen ihre Pferde wohl dahin? Sie wirkte, als könne ihr diese Exklusivität des kleinen sechs Boxen umfassenden Stalls gefallen. Tristan hatte dort ebenfalls, immer seine Lieblinge stehen gehabt.

Wie schon so viele Morgene zuvor öffnete er die Tür zum Hauptstall. Der linke Torbogen schwang auf, sobald er den Bolzen umgelegt hatte. Schrappend glitt der kleine Metallstift unterhalb des Tores über den Steinboden, bis er in seine Verankerung seitlich des Rosenbeetes glitt, in dem verblühte weiße Rosen darauf warteten, dass der Hausmeister mal wieder mit einer Schere anrückte.

Leises Wiehern und Schnauben drang ihm entgegen, als er auch den zweiten Torbogen öffnete. Sofort schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen. Ein besseres „Guten Morgen“ gab es in seinen Ohren nicht.

Als auch der rechte Torbogen fest im Boden verankert war, lief er wie immer an jeder Box vorbei. Alle Pferde blickten ihn aufmerksam an. Sie warten schon gespannt auf ihr Frühstück und darauf, endlich auf die Weide zu kommen.

Der hübsche Fuchs, der heute sein erstes Berittpferd nach dem Frühstück war, lugte besonders neugierig aus seiner Box. Sie verstanden sich. Seine Besitzerin hatte ihn gebracht, weil er sie nicht aufsteigen ließ und einfach nicht an den Zügel kam. Inzwischen waren die Probleme Geschichte und er wartete drauf, dass seine Besitzerin ihn Ende der Woche einsammeln würde. Die würde ihr Pferd kaum wieder erkennen. Der Wallach hatte in seiner Zeit auf dem Gestüt ordentlich aufgemuskelt. Vielleicht würde die junge Frau ein gutes Wort für ihn bei der Chefin einlegen. Hoffentlich.

Wieder am Stalleingang angekommen, kam Lotte schon über den Hof geschlurft. Der Kragen ihres Poloshirts hatte sich zum Teil aufgestellt und ihre blonden Haare hatte sie wieder einmal nicht gebändigt bekommen. Dicht hinter ihr kam eine ebenso müde aussehende Jana angeschlichen. Was machten die Abends bloß immer?

„Morgen“, nuschelte Lotte, als sie neben ihm stehen blieb. Er deutete wortlos auf ihren Kragen. Seufzend richtete Lotte das dunkelgrüne Kleidungsstück. „Spießer.“

Er schnalzte mit der Zunge und wies mit einer angedeuteten Kopfbewegung auf Jana. Vor den Auszubildenden war er nicht gerne so locker. Sie mussten den Respekt vor ihm wahren, den Lotte nie wirklich gehabt hatte.

Lotte rollte mit den Augen. Sie fand seine Distanz, wie sie ihm so oft sagte, übertrieben. Im nächsten Moment reckte sie schon den Kopf und deutete auf den Hausstall. „Was macht die Hexe denn da?“

Justus warf ihr einen missbilligenden Blick zu und sah dann ebenfalls in die Richtung des Hausstalls.

Vor dem weißen Gebäude saß der Jagdhund auf dem grauen Pflaster und verfolgte gebannt, wie seine Besitzerin verzweifelt versuchte, das Tor zu öffnen. Keiner der schwarzen Flügel wollte sich bewegen. Ihr war die Frustration auf die Distanz anzusehen.

Wortlos schob er sich an Jana vorbei aus dem Hauptstall. Mit schnellen Schritten eilte er ihrer Chefin zur Hilfe.

„Warten Sie. Ich mache das schon“, rief er ihr zu kaum, dass er die Eiche passiert hatte. Der Jagdhund drehte sich neugierig zu ihm um, machte aber keine Anstalten aufzustehen, als er an ihm vorbeiging. Die Muhlsee atmete sichtlich auf, als sie ihn registrierte.

„Wie geht dieses verdammte Teil auf?“

„Eigentlich ganz leicht.“ Er lächelte versöhnlich und legte geschickt den Türbolzen um, dann zog er die Tür mit einem kräftigen Ruck zu sich. „Ich gebe zu, er gehört etwas Kraft dazu.“

Sie zog nur die Augenbrauen zusammen und beobachtete ihn dabei, wie er beide Türflügel öffnete. Er konnte ihren Blick förmlich auf seiner Haut brennen fühlen, als er sich wieder aufrichtete.

„Sollen da Ihre Pferde hin?“ Er blieb vor ihr stehen, nachdem die Stalltür offenstand. Es war ein schöner Stall und eigentlich eine Schande, dass er leer stand.

Sie nickte. „Sie bereiten den Stall für die beiden vor?“ Das war keine Frage, sondern eine Aufforderung, die sie wieder mit einem unschuldigen Lächeln unterstrich. Bildete er sich das ein, oder flirtete sie mit ihm?

„Natürlich. Wann kommt der Transporter an?“ Sein Mund fühle sich ganz trocken an.

„Gerade hieß es in einer halben Stunde.“ Sie sah auf die schmale goldene Uhr an ihrem Handgelenk, dann drehte sie sich nach ihrem Hund um und pfiff einmal.

Blitzschnell saß das gefleckte Tier neben ihr und sah hoffnungsvoll nach oben. Dabei machte es Anstalten eine Pfote auf die beige Reithose seiner Besitzerin zu legen.

„Nein!“, herrschte die Muhlsee augenblicklich, dann wandte sie sich wieder zuckersüß an Justus. „Müssen Sie nicht zu ihren Leuten? In zwei Minuten haben Sie Dienstantritt.“

Tief atmete er ein und rang sich ein charmantes Lächeln ab. „Natürlich.“ Schon wieder wehte ganz schal der Duft dieses süßen Parfüms zu ihm herüber. Daran könnte er sich gewöhnen.

Lotte lehnte wie so oft grinsend im Bogen der Stalltür, des Hauptstalles. Herausfordernd hob sie eine Augenbraue. „Gefallen an der Tussi gefunden?“

„Lotte!“, knurrte er leise mit Blick auf die Auszubildenden, die sich inzwischen vollzählig eingefunden hatten.

Lotte kicherte nur leise und sah zu der Muhlsee hinüber, die ihnen einen misstrauischen Blick zu warf.

Justus straffte die Schultern. Die Auszubildenden hatten hoffentlich nichts von Lottes Kommentar mitbekommen. Nur Otto, der alte Pferdepfleger, sah aus, als wenn er dasselbe gedacht hatte wie Lotte. Ihm konnte Justus das allerdings nicht übelnehmen.

„Guten Morgen“, rief er in die Runde und griff nach dem Stallbuch.

Emsig reihte sich sein Team vor ihm auf. „Guten Morgen“, schallte es einstimmig zurück.

Justus schlug die nächste Seite auf. „Otto, du kennst deinen Job.“ Er nickte ihrem Gestütsopi freundlich zu. „Helge und Emma machen den Stall hier. Lotte und Haage gehen rüber in den Einstallerstall und den kleinen Stall. Jana macht die Halle schon mal fertig für das Reiten nach dem Frühstück. Ich gehe rüber in den Hausstall und werde mich um die Pferde der Chefin kümmern.“

Sofort leuchteten die Augen, der kleinen Emma auf. „Es kommen neue Pferde! Wissen Sie schon etwas?“

Justus schüttelte den Kopf. „Ich weiß, alles aufregend, aber bitte vergesst über die Neugierde eure Arbeit nicht.“ Bestimmt klatschte er in die Hände. „An die Arbeit, Leute. Sonst können wir alle heute nur kurz frühstücken.“

Ein Murren ging durch die Reihe der Auszubildenden. Otto war schon längst zu seinem Futterwagen verschwunden. Lotte packte sich Haage am Arm und zog ihn bestimmt mit sich aus der Stalltür.

Justus notierte schnell alles, dann machte auch er sich auf den Weg zu seinem Wirkungsbereich.

Es war kurz vor neun, als ein grauer Transporter mit dem Aufdruck einer Spedition für Pferde auf den Hof rollte. Der Wagen bleib direkt vor dem Hausstall stehen. Justus war gerade erst damit fertig geworden zwei der komplett leeren Boxen vorzubereiten. Neugierig lief auf den Wagen zu. Mit einem Gähnen sprang der Fahrer aus dem Transporter und sah sich suchend um. Als der untersetzte Mann ihn sah, erhellte sich seine Miene. „Morgen.“

„Morgen. Muss noch etwas unterschrieben werden?“

Der Mann nickte. „Ja, von Muhlsee.“

„Die Chefin kommt bestimmt jeden Moment. Wollen wir schon mit dem Abladen anfangen?“ Es juckte ihm in den Fingern endlich zu sehen, was für Pferde da auf dem Transporter standen. Dressurpferde, Springpferde? Schimmel, Rappen, Füchse, vielleicht sogar Schecken?

Der Fahrer nickte und wischte sich die Hände an seinem verwaschenen T-Shirt mit dem Aufdruck der Spedition ab. „Muss auch zügig weiter.“ Die Klappe landete mit einem Krachen auf dem Boden. „Tut mir leid. Ist mir aus der Hand gerutscht.“

Sofort ging das Getöse los. Eines der Pferde schlug heftig gegen die Wände des Transporters. Und das war nicht der Haflinger, der neugierig über die Trennwand lugte. Die lange weißblonde Mähne hing dem Pony wirr ins Gesicht und es hob den Kopf, um einmal laut zu wiehern. Warum ein Haflinger? Das hatte er nun wirklich am wenigsten erwartet. Hatten die sich vertan und die falschen Pferde gebracht?

Wie als hätte der Haflinger sie gerufen, rauschte die Muhlsee an. „Entschuldigen, dass ich nicht sofort da war. Wo muss ich unterschrieben?“ Sie lächelt fahrig und beugte sich vor, um schon mal einen Blick in den Transporter werfen.

Der Fahrer zog sein Handy aus der Hosentasche und hielt es ihr hin.

Justus suchte derweil im Stall nach zwei Führstricken. Die fand er auch in der ordentlich eingeräumten Sattelkammer an zwei Harken an der Tür hängen.

Mit großen Schritten kehrte er zu seiner Chefin und dem gestresst aussehenden Fahrer zurück.

Wortlos und mit einem Lächeln zum Niederknien nahm die Muhlsee ihm einen der Stricke ab. Überrascht beobachtete er, wie sie die Rampe hochlief und den Haflinger an den Strick hängte. Also doch nicht falsch. Mit einem Ruck löste sie die Transportsicherung aus dem Halfter des Pferdes und öffnete die Abtrennung, die es bisher daran gehindert hatte, die Rampe herunterzustürmen. Der Fahrer kam ihr zur Hilfe. Justus kam sich fehl am Platz vor. Und was war jetzt seine Aufgabe?

Ungelenk stakste die Stute vom Transporter und blieb irritiert stehen. Die Muhlsee strich ihr liebevoll über den Hals. „Na komm Mädchen, du kannst dich in deiner neuen Box erst mal etwas beruhigen und heute Mittag kommt ihr auf die Koppel.“

Die Stute spielte mit den Ohren und ließ erneut ein lautes Wiehern hören, aus dem Inneren des Transporters wurde ihr ebenso laut geantwortet.

Da besann sich die Muhlsee wieder auf ihn. „Können Sie ihn holen? Ich glaube nicht, dass ich den halten kann.“ Was hatte sie denn da noch auf dem Transporter stehen, dass sie diese Sorge hatte? Vielleicht einen Haflingerhengst. Vom altehrwürdigen Trakehnergestüt zum Haflingergestüt, das war mal ein Upgrade ...

Neugierig glitt sein Blick wieder zu dem Transporter und dem, was da ängstlich über die Trennwand guckte. Nervös schnupperte der hochgewachsene Rappe. Seine Ohren spielten und die Augen hatte er geweitet. Das! Genau das hatte er erwartet!

„Hey, alles gut. Deine Freundin läuft dir nicht weg.“ Justus machte zwei lange Schritte die Rampe hoch. Der Rappe beäugte ihn misstrauisch. Die kleine weiße Schnippe auf seiner Nase zuckte. Justus hielt ihm freundschaftlich die Hand zum Schnuppern hin. „Alles gut. Du hast bestimmt eine lange Reise hinter dir, hmh? Wenn du brav bist, gibt es in deiner Box Heu und etwas Kraftfutter für dich.“ Er klinkte den Führstrick ein und löste die Transportsicherung aus dem schwarzen Halfter mit Plüsch auf Nase, Backenstücken und Genick. „Das gibts alles, auch wenn du nicht brav bist.“ Er schmunzelte und fuhr dem Pferd über die Nase, dann schob er vorsichtig die Trennwand auf. Wunderschönes Tier, das musste er neidvoll zugeben. Was würde er nicht für so ein Pferd geben?

Sofort wollte sich der Wallach gegen ihn drücken und an ihm vorbei vom Transporter springen. „Benimm dich!“, mahnte Justus und ruckte leicht an dem Führstrick, um ihn daran zu erinnern, dass er auch noch da war. Das Sportpferd bleib sofort stehen und wartete ungeduldig darauf, dass es losgehen konnte. Manieren hatte er also. Justus schob die Trennwand weiter auf, wieder drückte der Wallach gegen ihn. „Wenn du mich über den Haufen rennst, dann gibts auch kein Heu für euch!“

Der Wallach wölbte den Hals auf und prustete leise.

Justus schob die Trennwand komplett auf. Gemeinsam stiegen sie von dem Transporter. Die leichte Transportdecke des Rappens flatterte sanft in der Brise, als er auf dem Hof stand. Die beschlagenen Hufe hallten auf dem Pflaster und er trabte nervös neben Justus her.

Zügig bracht Justus das edele Tier in die Box und nahm ihm Decke, wie auch Transportgamaschen ab. Auch das Halfter zog er ihm vom Kopf. Sofort schüttelte sich das Sportpferd. Wie lange hatte er es wohl getragen?

Gedankenverloren musterte Justus das Pferd vor sich, das seine Box lautschnaubend erkundete. Er hatte ein nettes Fundament. Schöne Schulter, keine zu hohe Kruppe, und auch keine zu tiefe Sattellage. Bemuskelt war das Tier wie ein Dressurpferd, oder als wenn es eins werden sollte. Noch hatte es etwas von einem halben Hemd. Die Muskeln waren noch nicht so ausgeprägt, wie sie es sein sollten. Aus Gewohnheit suchte Justus nach Löchern in der Bemuskelung der Sattellage.

„Er ist hübsch, oder? Bestes niederländisches Dressurblut.“ Die Stimme der Muhlsee riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ist nett.“ Dieses Pferd war eigentlich genau sein Fall.

Die Muhlsee legte die Arme über die Boxentür. Mit dem großen Fenster zum Hof im Rücken hatte sie etwas von einer Lichtgestalt, die auf der schummerigen Stallgasse darauf wartete ihre Hiobsbotschaft zu verkünden. „Mein Valentino ist mehr als nur nett. Er ist nur ganz knapp nicht gekört worden und bis M platziert.“

„Bis M?“ Justus versuchte, sich seine Verwunderung nicht anhören zu lassen. Dieses Pferd sah aus, als wenn es höchstens eine A-Dressur laufen könnte.

Die Muhlsee seufzte. „Er hat sich vor einem halben Jahr am Fesselträger verletzt. Eigentlich hätte er vor einem Monat schon wieder aufgebaut werden sollen, aber seine Bereiterin hatte keine Zeit für ihn.“

„Darf ich?“, Justus wies auf den Wallach.

Seine Chefin nickte, aus ihren Augen meinte er sowas wie Stolz lesen zu können. „Nur zu.“

Das Stroh raschelte, als er neben dem Wallach stehen blieb. Valentino sah ihn verwundert an.

„Dann lass dich mal ansehen, Junge“, raunte Justus ihm leise zu, dann strich er ihm über den Hals. Die Muskeln waren weich. Vorsichtig hob er den linken Vorderhuf an. Die Eisen saßen gut und waren kaum rausgewachsen. Auch die weiße Fesselbeuge sah gut aus. Keine Mauke. Gutes Zeichen. Weiter ging es zum Hinterhuf. Auch nichts zu beanstanden. Er ging um das Pferd und wiederholte das Prozedere auf der anderen Seite. An der Sattellage bleib Justus stehen und schaute, ob er eventuell Löcher ertasten konnte. Keine. Also war er ordentlich geritten worden und vor allem mit einem passenden Sattel. Als Nächstes trat er wieder an den Kopf des Pferdes und zwang, Valentino das Maul zu öffnen. Auf die Schnelle auch nichts zu beanstanden, bis auf einen kleinen Haken an einem Zahn, den man selbst in dem fahlen Licht, das durch eines der Boxenfenster in die Box fiel, erkennen konnte. „Muss der Zahnarzt dran.“

„Wieso?“ Die Muhlsee hörte sich überrascht an.

Justus ließ Valentino los. „Er hat einen Haken. Vielleicht auch mehr. Das wird der Zahnarzt besser beurteilen können.“ Er drehte sich wieder zu seiner Chefin, die immer noch auf dem kleinen Fenster in der Boxentür lehnte.

Ihre blauen Augen glitzerten freudig. Ihre Wangen glühten in einem zarten Rosa. Sie sah aus wie eine Frau, die sich das Pferdemädchen noch bewahrt hatte und immer noch nicht glauben konnte, dass sie endlich zwei eigene Pferde besaß. Von der gestrengen Chefin hatte sie gar nichts mehr. „Wen muss ich da anrufen?“

„Doktor Kamp kommt morgen sowieso für die Einstaller. Ich kläre das schon.“ Er lächelte ihr zu.

Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Wenn sie nicht so ernst schaute, dann war sie wirklich noch hübscher. Sie hatte etwas Puppenhaftes. Er kam nicht umhin zu denken, wie gut der Name Annabelle zu ihr passte. Sie schlug die langen dunklen Wimpern nieder und seufzte. „Vielen Dank.“

„Gehört zu meinem Job.“

Sie lachte. Fröhlich und augenscheinlich erleichtert legte sie den Kopf in den Nacken und atmete tief ein, dann sah sie ihn wieder an. „Darf ich Sie etwas fragen?“

Zögerlich nickte Justus. Unbehagen kroch in ihm hoch. Wenn sie schon fragen musste, war es bestimmt keine angenehme Frage. Musste er sie überhaupt beantworten, falls zu persönlich war?

„Würden Sie meinen Valentino reiten?“

Irritiert sah er sie an. „Sie wissen schon, dass Sie meine Chefin sind? Sie könnten ihn einfach auf meine Liste setzten.“

„Ich frage Sie trotzdem. Wenn ich ehrlich bin, vertraue ich hier niemandem sonst mit diesem Schätzchen. Sie haben die besten Referenzen. Also?“

Justus atmete ein und sah noch einmal zu dem Rappen. Immer noch von der Frage überwältigt nickte er.

Eine bessere Chance würde er wohl kaum bekommen ihr zu beweisen, was er konnte.

Sie lächelte befreit. „Wunderbar. Ich dachte schon, ich müsste Sie überreden. Dann freue ich mich darauf, Sie beide bald auf einem Turnier zu sehen, am liebsten in den vorderen Rängen und möglichst bald. Wir haben einen Ruf zu verlieren.“

Kapitel 5

S chon von weitem konnte er immer noch den Wagen seines Bruders vor seiner Haustür stehen sehen. B Blieb nur zu hoffen, dass Mo wirklich Milch und Brötch B hen geholt hatte. In seiner Jackentasche tastete er nach dem Schlüssel.

Gedanklich war er noch bei dem Rappen der Chefin. Es schien ihm utopisch, dieses Pferd in wenigen Wochen schon in das Turniergeschehen zu werfen. Er war nicht mal ansatzweise wieder antrainiert und das würde dauern. Innerhalb weniger Wochen würde er es wohl kaum schaffen das schöne Tier fit genug für eine L, wenn nicht sogar M-Dressur zu bekommen. Dafür fehlte Valentino einfach die Kraft in der Hinterhand und ganz allgemein Muskeln und Kondition.

Justus, bleib vor seiner Haustür stehen und wollte gerade den Schlüssel ins Schloss stecken, da riss Lotte die Tür auf.

„Ich dachte, du kommst nicht mehr! Kaffee habe ich schon gekocht und dein Bruder ist schon bei seinem zweiten Brötchen.“

„Hat länger gedauert.“ Er machte einen großen Schritt in den Flur. „Ich habe mir den Rappen der Chefin noch näher angesehen.“

„Und?“ Neugierde blitzte in Lottes braunen Augen auf. „Hübsches Tier. Muss zum Zahnarzt und noch ordentlich Aufmuskeln.“

„Wird sie ihn reiten?“ Man konnte Lotte anhören, dass sie nur nach etwas suchte, um sich über ihre Chefin lustig zu machen. Das Glitzern in ihren Augen verriet, dass sie auf eine Sensation hoffte, sollte die „Hexe“ in den Sattel ihres teuren Dressurpferdes steigen.

Er schüttelte den Kopf und zog seine Jacke aus. „Ich habe die Ehre.“

„Oha! Viel Erfolg!“

Den wünschte er sich auch! Die Chefin erwartete schließlich ein Wunder von ihm. Er knirschte leise mit den Zähnen. Die Jacke rutschte ihm aus den Händen und landete vor der Garderobe. Schnell hob er sie auf und schlüpfte aus den Schuhen.

Wenig später ließ er sich, mit einem Seufzen, gegenüber seinem Bruder nieder. Wie schon in ihrer Kindheit stopfte Mo sich gerade genüsslich ein Milchbrötchen mit reichlich Schokolade in den Mund und sah dabei aus wie ein Kind, für das es nichts Besseres auf der Welt gab. Schön wenn man sich sowas bewahren konnte.

Justus griff sich ein Körnerbrötchen aus dem Korb in der Tischmitte. „Wann willst du fahren?“