Reitclub Cavallio: Verschwiegen - Marina Blue - E-Book

Reitclub Cavallio: Verschwiegen E-Book

Marina Blue

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Beschreibung

Marie ist voller Vorfreude auf den Sommer - und mit gutem Grund! Ihre beste Freundin Liz hat endlich ein eigenes Pferd, der Club plant eine Fördergruppe unter der Leitung einer ehemaligen Grand-Prix Reiterin und das Leben könnte nicht schöner sein. Doch plötzlich durchkreuzt ein geheimnisvoller Fund auf dem Dachboden all ihre Pläne und Hoffnungen. Unter einer alten Diele entdeckt Marie ein vergessenes Tagebuch, das sie in eine fesselnde Mission stürzt. Wer war der Besitzer dieses Tagebuchs? Welches düstere Geheimnis birgt es? Nun nimmt der Sommer eine unerwartete Wendung: Sie ist besessen davon herauszufinden, wem das Tagebuch gehörte. Doch was sie dabei entdeckt, übertrifft ihre kühnsten Vorstellungen. Ein mysteriöser Vermisstenfall und ein eiskalter Mord bringen sie an ihre Grenzen. In "Verschwiegen" erwarten euch nicht nur Freundschaft, sondern auch eine dunkle Geschichte aus der Vergangenheit. Taucht ein in eine Welt voller Geheimnisse, Intrigen und packender Wendungen. Lasst euch von dieser mitreißenden Geschichte mitreißen und seid gespannt auf das, was der Reitclub Cavallio noch alles zu bieten hat.

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Vorwort/Triggerwahnung

In diesem Buch gibt es Darstellung von Gewalt gegen Minderjährigen. Sollte es dir mit diesem Thema nicht gut gehen, dann lies bitte nicht weiter.

Hilfestellen solltest du mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, findest du hier:

Telefonseelsorge, jederzeit erreichbar und bietet kostenlose anonyme Beratung an:(0800)1110111 oder (0800)1110222

Nummer gegen Kummer, kostenloses Kinder und Jugendtelefon, montags bis samstags von 14-20 Uhr: 116111 oder montags bis freitags von 9-11 Uhr: (0800)11105 unter der Telefonnummer können auch Eltern dienstags und donnerstags von 17 bis 19 Uhr die kostenlose Beratung in Anspruch nehmen .

Montags, dienstags und donnerstags bietet die deutsche Depressionshilfe ein Infotelefon von 13 bis 17 Uhr und mittwochs und freitags von 8.30 bis 12.30 Uhr. Erreichbar sind sie unter (0800) 33 44 533. Außerdem bieten sie auf ihrer Internetseite Hilfe und Informationen an zu allen Themen rund um Depressionen.

Ansonsten wünsche ich dir ganz viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße,

Marina

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 1

„Marie, wo zur Hölle bist du?“ Die Stimme meiner besten Freundin überschlug sich am Telefon.

Automatisch hielt ich das Handy etwas weiter von meinem Ohr weg. Liz war verständlicherweise aufgeregt, aber deshalb musste sie nicht in ihr Handy schreien. Obendrein hatte ich schon bei einem Blick auf meinen Sperrbildschirm gesehen, dass ich zu spät dran war.

Seufzend versuchte ich mich mit dem Blick auf die steile Holztreppe vor mir zu fokussieren. „Ich bin in fünf spätestens zehn Minuten drüben. Ich muss das gerissene Reithalfter austauschen und Mama hat die Ersatzteile irgendwo auf dem Dachboden verstaut. Vielleicht finde ich da ja noch einen schönen Stirnriemen, oder so, für die Fotos.“

„Das wäre mega. Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir einen neuen zu kaufen. Und der mit dem Haddy ankam, gehört echt verboten.“

„Ich schaue mal, aber du kommst jetzt erstmal wieder runter. Haddy läuft dir nicht so schnell weg, und zu putzen, haben wir doch bestimmt genug!“

„Da hast du Recht. Viva sieht übrigens schon wieder aus wie Schwein.“

Entnervt sog ich die Luft ein. Ja sicher! Natürlich! Da dachte ich, es würde sich auf Grund des trockenen Wetters mal in Grenzen halten, aber da hatte ich wohl die Rechnung ohne meine Fuchsstute gemacht.

„Ja, geil. Einmal will ich ein sauberes Pferd! Warum auch immer, wenn man was vorhat? “

Tief atmete ich durch, ehe ich die Tür zum Dachboden aufdrückte.

Schrappend öffnete sich die schwere Holztür. Die Scharniere ächzten. Der Geruch nach Staub und abgestandener, warmer Luft schlug mir entgegen. Im fahlen Licht zeichneten sich die Konturen von Stapeln an Schabracken und Decken, mehrere Boxen mit Halftern und anderen Pferdesachen ab. Dahinter standen alte Möbel, die meinen Großeltern gehört hatten. Sie hatten früher in diesem Haus gelebt. Papa hatte viele von den Möbeln mit weißen Tüchern abgedeckt, und man konnte nur an ihrer Form erkennen, was sich darunter verbarg. Fahrig tastete ich nach dem Lichtschalter, aber die Glühbirne flackerte nicht einmal. Im schummerigen Licht hatte der Dachboden selbst am frühen Nachmittag etwas Gespenstisches.

Als Kind hatte ich oft gedacht, dass sich unter den Laken Monster oder Geister versteckten. Selbst jetzt schlug mein Herz schneller, wenn ich an ihnen vorbei musste. So ganz hatte ich den Glauben an Wesen aus Zwischenwelten nicht abschütteln können.

„Dann wollen wir mal!“

Liz seufzte. „Klingt, als würdest du länger brauchen als fünf bis zehn Minuten.“

Ich wollte zu einer Entschuldigung ansetzen und ihr beteuern, dass ich mich beeilen würde, da sprach Liz einfach weiter.

„Weißt du was? Lass dir Zeit. Dieser süße Springreiter ist hier und läuft mit seinem Schimmel zur Halle.“

„Wer? Springreiter kenne ich viele, aber süß finde ich keinen von ihnen.“ So lange ich am Club ritt, hatte ich einige kennenlernen dürfen, vom Freizeitreiter bis zum Kaderreiter kannte ich jeden am Stall zumindest vom Sehen. Trotzdem konnte ich mit Liz‘ Beschreibung wenig anfangen.

Liz stöhnte auf. „Du weißt schon, dieser blonde, große, der bis letzte Woche im Stalltrakt gegenüber gestanden hat.“

Nö, wusste ich ehrlich gesagt nicht. Schon immer hatte ich mich aus vielem am Stall heraus gehalten. Ich hatte meine Leute. Das reichte mir.

„Aha!“, machte ich gedehnt und öffnete die erste Plastikkiste.

Nur Halfter und Führstricke, teilweise noch von Mamas alter Stute Lucky. Kurz strich ich über ein Halfter, das ich besonders mit der Stute verband, und versank in einer meiner liebsten Kindheitserinnerungen, in der mein Papa mich auf die langbeinige Braune gesetzt und Mama mich auf ihr geführt hatte.

Liz lief wohl Richtung Halle, denn man konnte deutlich die weichen Absätze ihrer Reitstiefel auf Stein hören. „Du weißt nicht, wen ich meine?“

„Nein.“ Ich schloss den Deckel, der transparenten Plastikbox wieder.

Das war typisch für Liz. Sie war immer gut informiert, was daran liegen konnte, dass sie bis vor wenigen Wochen einige der Verkaufspferde mitgeritten war und mit der Tochter unseres Stallbesitzers, trotz der mindestens achtzehn Jahre Altersunterschied, ziemlich dicke war.

Ich schob die Box beiseite und ging neben der nächsten in die Hocke. Das Handy mir zwischen Ohr und Schulter klemmend, öffnete ich mit beiden Händen den roten Plastikdeckel.

„Welche Farbe wolltest du Haddy nochmal anziehen? Ich habe hier drei Stirnriemen“

„Rot!“, kam es von Liz wie aus der Pistole geschossen und ich zog einen dünnen Lederstirnriemen mit roten Strasssteinen aus der Box.

„Dann habe ich einen für dich. Zumindest für heute. Der müsste von Lucky sein.“

„Geil! Das wird so super aussehen. Ich habe extra die Eskadron, die ich zum Geburtstag bekommen habe, mitgenommen. Die wird Haddy so gut stehen!“

„Mhm… Ich muss immer noch ein Reithalfter finden. Ich weiß, dass wir ein Neues hier irgendwo haben müssen. Mama hatte vor drei Wochen eins mitbestellt, als sie sich eine neue Reithose gekauft hat.“

Auch die Kiste schloss ich und schob sie zur Seite. Blieb nur die Letzte. Wieder klemmte ich mir das Handy zwischen Schulter und Ohr und lüftete den Deckel.

Endlich wurde ich fündig. Direkt obendrauf lag ein nagelneues dunkelbraunes Reithalfter und schien nur so darauf gewartet zu haben, dass ich es an mich nahm.

„Manchmal bin ich echt etwas neidisch, dass deine Mutter auch reitet. Obwohl sich ein Pferd teilen, ist tricky. Meine weiß nicht mal, wie man ein Pferd festhält“

Ich richtete mich wieder auf und schloss die Box, nachdem ich das Reithalfter zur Seite gelegt hatte. Die Holzdielen unter meinen Füßen knarzten und ächzten, als ich die Boxen wieder an ihren Platz verfrachtete. Manchmal war es, als würde dieses alte Haus mit einem reden. Auf seine ganz eigene Art und mit einer uralten Stimme zu einem sprechen.

Eine Diele knackte dabei so laut, dass ich mir sicher war, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Tief atmete ich ein und versuchte, im Dämmerlicht zu erkennen, was für das Knacken verantwortlich war. Auf den ersten Blick sah das Holzbrett normal aus, na ja, vielleicht ausgetreten, aber nicht kaputt. Als ich jedoch näher hinsah, blitzte etwas zwischen den Dielen auf.

Neugierig ging ich wieder in die Knie. „Ey, da stimmt was nicht!“

„Hmh?“, machte Liz verwundert, klang aber abwesend. Wahrscheinlich gaffte sie ihren Springreiter an. „Ich mache dich mal auf Lautsprecher.“

„Beeil dich! Was soll da schon groß sein? Oder glaubst du, einen Geist gesehen zu haben?“

„Haha, sehr witzig!“ Ich machte die Taschenlampe meines Handys an und leuchtete vorsichtig in den kleinen Spalt.

„Oh man! Der reitet so verdammt gut! Frederike meinte, er wäre vor zwei Jahren bei den Europameisterschaften gewesen, aber man kennt ja Freddie, die quatscht viel, wenn der Tag lang ist.“ Liz seufzte verträumt auf. Mein Gott, hatte es die erwischt!

Mit den Fingern glitt ich zwischen die Dielen und konnte etwas Hartes, Glattes erfühlen.„Mhm“. Unbeholfen versuchte ich, die Holzbretter anzuheben.

„Aber ey, wenn ich mir das jetzt so angucke, könnte das echt sein. Krasser Sprung, den hättest du sehen sollen!“

Ich bekam die Diele endlich zu fassen. Staub wirbelte mir entgegen, als ich sie hochzog. Augenblicklich musste ich niesen. Staubkörner flogen durch die Luft, wie feiner Glitzer.

„Was machst du? Räumst du jetzt euren Dachboden um?“ „Nein. Quatsch. Hier liegt nur etwas unter einer der Dielen.“

„Bestimmt eine Schatzkarte!“ Liz musste kichern und ich rollte daraufhin nur mit den Augen.

Angespannt beugte ich mich über das kleine Loch im Boden. Mein Herz pochte aufgeregt gegen meine Brust, und ich stellte mir vor, was es sein konnte.

Liz könnte Recht haben und es war tatsächlich so etwas Aufregendes wie eine Schatzkarte, oder vielleicht war es auch eine Sache, die die Vorbesitzer des Hauses hier versteckt hatten. Ich konnte mir jedoch kaum vorstellen, dass Oma oder Opa etwas hier oben unter den Dielen verheimlicht hatten, oder ein Versteck der Vorvorbesitzer bisher nie aufgefallen war.

Im Schein meiner Taschenlampe wurde ein Buch sichtbar. Der dunkelblaue Einband war abgegriffen, mit einer dicken Staubschicht bedeckt, und einige der wahllos auf der Vorderseite verteilten Aufkleber pellten sich ab. Es war mir auf Anhieb sympathisch, was vor allem an den vielen Pferdeaufklebern liegen mochte.

„Es ist keine Karte, sondern ein Buch.“

„Ein Buch? Wie langweilig!“

Gezielt griff ich nach dem dunkelblauen Schatz und fischte ihn aus der kleinen Lücke. „Gar nicht langweilig. Das sieht aus wie ein Tagebuch!“ Oder wie aus der Wendy. „Willst du jetzt im Leben von fremden Menschen herumwühlen?“

„Ich will nur mal reinsehen, und vielleicht weiß ich dann, wem es gehört, und kann es demjenigen zurückgeben“

„Als ob derjenige noch lebt. Oder hat dein Vater eines seiner alten Tagebücher auf dem Dachboden in einem Geheimversteck vergessen?“

„Keine Ahnung. Sieht eher nicht danach aus. Ich tippe auf Pferdemädchen, aber das lässt sich ja herausfinden!“

„Du, mach das mal ohne mich. Hannah kommt gerade. Ich will mal fragen, ob es stimmt, dass Stefanie Jacobsen zurück an diesen Stall kommen soll, oder ob Feddie wieder nur gelabert hat. Bis gleich, dann kannst du mir persönlich erzählen, was es mit dem Ding auf sich hat.“

„Mache ich. Bis gleich“ Ehe ich mich versah, hatte Liz schon aufgelegt.

Ich musste an mich halten, das Buch nicht sofort aufzuschlagen, aber in diesem Dämmerlicht würde ich nur mit Taschenlampe in der Hand ein Wort entziffern können. Das kam mir angesichts meiner Vermutung respektlos vor. Wenn jemand sein Innerstes nach außen gekehrt hatte, dann wollte ich es in Ruhe lesen.

Schnell legte ich das Buch zum Reithalfter und dem Stirnriemen. Mit Mühe zerrte ich die Dielen wieder zurück an ihren Platz. Wie ein Puzzlestück glitt das Holz lautlos in seine Lücke, in der es schon seit Jahrzehnten lag. Wow, wie konnte mir all die Zeit, dieses perfekte Versteck entgehen?

Liz konnte eindeutig noch warten. Sie wahrscheinlich quatschte sie eh wieder eine halbe Stunde mit Hannah Hansen, der Tochter des Clubbesitzers.

Ich stand auf, klopfte mir den Staub von den Knien und griff mir meine Ausbeute vom Boden. Mit schnellen, aufgeregten Schritten hastete ich die Treppe herunter und in mein Zimmer. Das hatte ich nun wirklich nicht von meinem Dachbodenausflug erwartet!

Kapitel 2

Nervös blickte ich auf das alte Buch in meinen Händen. Konnte ich es wirklich einfach so lesen?

Die Seiten waren vergilbt und wellig. Es hatte dort bestimmt nicht erst seit drei Jahren gelegen. Wie alt es wohl war?

Mit zittrigen Fingern und bis zum Hals schlagendem Herzen schlug ich das Buch auf. Es knackte leise, als die Seiten sich öffneten. Sofort blickte ich auf eine dicht beschriebene Buchseite. Die Handschrift war sauber, ordentlich und eindeutig weiblich. An den Rändern war die Schrift etwas verwischt, was an dem Alter des Buches lag. In der oberen Ecke stand feinsäuberlich das Datum 18.09.02. Ich nahm mal an, dass damit 2002 gemeint war. Da war ich nicht mal geboren und meine Großeltern hatten hier gelebt. Ich meinte, meine Eltern hätten 2006 geheiratet. Eigenartig. Wie kam dieses Buch dann auf unseren Dachboden?

18.09.02

Endlich. Endlich kann ich es noch einmal wagen. Ich schreibe wieder Tagebuch! Aber wie fange ich so etwas an? Schreibe ich, » Hallo Tagebuch?« Das Letzte habe ich zumindest so angefangen, bis mein Bruder es sich gekrallt hatte. An dem Punkt sollte ich mich vielleicht nur zur Sicherheit an den Idioten wenden.

Till, du Vollidiot! Wenn du das hier liest, dann leg das Buch SOFORT dahin zurück, wo du es herhast, und wenn du das nicht tust, dann erzähle ich Mama, was du gemacht hast, anstatt für das Abi zu lernen. Wie hieß sie noch? Ann-Katrin?

Wobei eigentlich sollte das Risiko, dass mein großer Bruder mir dieses Buch abnimmt, eher gering sein. Er ist nur noch am Wochenende hier, und dann fast nur mit seinen Freunden unterwegs. Also kann ich meine Gedanken endlich wieder ohne irgendwelche Risiken aufschreiben. Nicht dass er wieder herumerzählt, in wen ich mich verliebt habe. Tim wird immer unerreichbar für mich sein. Er sieht gut aus, reitet wie ein junger Gott, und wird wer weiß, was besseres zu tun haben, als sich mit mir naivem Ding herumzuschlagen. Er ist wie aus dem Nichts von heute auf morgen im Stall aufgetaucht. Er und sein Pferd sind irgendwie spannend. Es scheint ein Vollblut zu sein, aber ist nie Rennen gelaufen, wie ich das gesehen habe. Rowlands Big Star, das klingt so, als wäre es für Höheres bestimmt und ganz schön teuer gewesen. Tim ist, wenn ich ehrlich bin, der Hauptgrund, warum ich wieder alles aufschreiben will, was in meinem Kopf herumschwirrt. Irgendwo muss ich ja mein Herz ausschütten. Ellie hat Besseres zu tun, als sich ständig meine hoffnungslosen Schwärmereien anhören zu müssen.

Am Namen Till blieb ich hängen. Jetzt wurde es nur noch eigenartiger. Was hatte Papa damit zu tun und vor allem hatte er keine Schwester.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mir so etwas Essenzielles verschwiegen worden wäre. Ich war mir sicher, bei meinen Großeltern Bilder aus diesem Haus von 2002 gesehen zu haben, und da war kein fremdes Mädchen drauf gewesen. Wer hatte es da nur versteckt? In meinem Kopf bildete sich ein einziges Fragezeichen. Hatte ich etwas übersehen? Etwas verpasst? War es vielleicht eine Freundin von Mama und Papa gewesen, die ihr Buch dort versteckt hatte, um es vor ihrem neugierigen Bruder zu schützen, der zufälligerweise hieß wie mein Vater?

Verwirrt blätterte ich weiter. Dieses Ding gab ja mehr Fragen, als es beantwortete. Mit den Informationen könnte ich sie wohl kaum finden.

19.09.02

Ich kann es kaum fassen! Wir sind so gut momentan. Fiete will uns unbedingt in seiner Truppe. Nie hätte ich gedacht, dass wir dafür auch nur ansatzweise bereit sein könnten. Ich bin noch nicht mal ein M Springen geritten. Ellie ist schon länger dabei und schwärmt so von dem Training. Immer wenn wir zusammen im Pädagogikunterricht sitzen erzählt sie, wenn Frau Wollte nicht aufpasst davon wie sie an der Technik gearbeitet haben oder wie hoch sie im Training gesprungen sind. Da wird man doch automatisch neidisch. Die Wollte unterbricht uns, natürlich genau dann, wenn es am spannendsten ist, und meint, wir sollten in der Pause weiterreden. Dabei interessiert es unsere anderen Freunde doch einfach nicht, was am Club passiert. Vielleicht auch ganz gut so. Ich glaube, Ulla hätte auch Gefallen an Tim. Ich habe ihn heute gesehen. Er kam mit dem Fahrrad und wohl gerade aus der Schule. Er scheint auf diese teure Jungenschule am Schloss zu gehen, zumindest hatte er ihre Schuluniform an. Wie affig ist das bitte? Ist das nicht total altmodisch? Wir sind hier doch nicht in England, sondern in Kleinblommen, dem langweiligsten Kaff jenseits von Hamburg.

Ich würde so gerne mal mit ihm reden. Vielleicht traue ich mich ja mal nach dem Training. Ich finde ihn einfach so spannend. Ellie sagt, er trainiert mit ihnen und soll wirklich gut reiten.

Ist er wohl von der Schule geflogen und deshalb nun in Kleinblommen? Ist er mit seinen Eltern hergezogen? Wie ist er an sein Pferd gekommen, und wo hat er so Reiten gelernt?

Wenigstens kam die Schreiberin aus Kleinblommen. Das half ja schon mal etwas, und an eine Frau Wollte, die Pädagogik unterrichtet, konnte ich mich bei uns an der Schule auch erinnern. Allerdings war ich mir sehr sicher, dass es keine Jungenschule mehr gab, und schon gar keine mit Schuluniformen.

Ihre Beschreibung von Kleinblommen als das langweiligste Kaff jenseits von Hamburg ließ mich schmunzeln, und ich stimmte ihr im Geiste zu.

Hier passierte nicht viel. Schon gar nicht wenn man so weit am Stadtrand wohnte, wie wir. Papa sagte immer, in diesem Teil von Kleinblommen würden sich Fuchs und Hase auf der Straße gute Nacht sagen.

Sie war am Club geritten, und das sogar bei Fiete Hansen. Den fand ich immer gruselig. Dass der mal Unterricht gegeben hatte, unglaublich!

Rein logisch musste ich nur herausfinden, wann sie Turniere geritten war, und könnte in der Vereinschronik nachsehen, ob ich etwas über sie fand. Vielleicht konnte ich ja so eine Adresse finden und ihr das Buch zurückgeben. Wobei ich mich dann immer noch fragen würde, warum sie es auf unserem Dachboden deponiert hatte und wie es über zwanzig Jahre unentdeckt bleiben konnte. Da stimmte doch etwas nicht!

Ein aufgeregtes Kribbeln bildete sich in meinem Bauch, und ich musste an mich halten nicht doch weiterzublättern.

Mein Handy klingelte. Liz. Mir wurde heiß und kalt. So lange hatte ich sie noch nie versetzt. Hoffentlich war sie nicht sauer!

„Du musst kommen. Sofort. Du glaubst nie, was hier aushängt! Ohne dich mache ich das nicht, und Hannah will mir dafür Carbon leihen. Du musst kommen! Jetzt!“

Hatte Liz eine vor die Stirn bekommen oder war ihr die Schwärmerei für ihren Springreiter zu Kopf gestiegen? Und außerdem, wofür wollte Hannah Liz ihr S-Springpferd leihen? Den gab sie doch sonst nie aus der Hand! „Wo soll ich hinkommen?“

Liz seufzte auf. „Zum Club! Jetzt!“ Wenn sie meinte. „Bitte! Sonst ist Barbie schneller, und das will doch niemand!“

Ich atmete seufzend ein. Automatisch griff ich nach dem Buch und ließ es unter meinem Bett verschwinden. Nur weil ich diese Zeilen gelesen hatte, hieß es nicht, dass ich es offen herumliegen lassen musste.

„Okay. Ich komme. Was ist mit den Fotos?“

„Machen wir trotzdem, aber bitte, du musst sofort kommen! Das glaubst du nie im Leben!“ Sie sollte es mal nicht so spannend machen. Sonst konnte man ja glauben, ein Mitglied, einer ihrer favorisierten Boybands hätte auf dem Clubgelände Rast gemacht und verschenke Autogramme und Konzertkarten umsonst.

„Ich beeile mich!“ Ich erhob mich widerwillig von meinem Bett. Ich hätte gerne mehr über die ominöse Schreiberin erfahren, auch wenn es sich komisch anfühlte, ihre Gedanken zu lesen. Ich kam mir vor wie ein Dieb.

Liz legte einfach auf.

Mit schnellen Schritten hastete ich die Treppe runter. Meinen Fotoapparat locker um den Hals gehängt, das Reithalfter über der Schulter und die Stirnriemen in der Hand, schlüpfte ich etwas ungelenk in meine alten und ausgetretenen Chucks. Sie hatten eindeutig schon bessere Tage gesehen. Für den Stall taugten sie aber allemal.

Ich wollte gerade aus der Tür stürmen, da hielt meine Mutter mich auf.

„Marie, hast du die Hausaufgaben schon gemacht?“, fragte sie streng und lehnte am Rahmen ihres kleinen Arbeitszimmers. Sie arbeitete als Illustratorin im Homeoffice. Den Handschuh für ihr riesiges Grafiktablett hatte sie immer noch an.

„Ja, hab ich.“

Natürlich hatte ich das. Sonst könnte ich es mir abschminken, in den Stall zu verschwinden. Das war unsere Abmachung. Mama ritt zweimal die Woche, den Rest ich, und das nur, wenn ich meine Hausaufgaben vorher erledigte und am Abend brav mindestens eine halbe Stunde für die nächste Klausur gelernt hatte.

„Auch Französisch?“ Sie hob herausfordernd eine ihrer hellen Augenbrauen und strich sich eine blonde Haarsträhne hinter das Ohr, die sich aus ihrem unordentlichen Dutt gelöst hatte.

Ich verdrehte die Augen. „Ja, auch Französisch! Kann ich jetzt gehen? Irgendwas Großes ist am Club los, und Liz wartet auf mich.“ Ungeduldig hüpfte ich vor der Tür hin und her. Wenn sie mich jetzt nicht gehen ließ, würde ich ihr das so schnell nicht verzeihen!

„Hau ab. Viel Spaß euch zwei, aber sei bitte um spätestens fünf wieder hier. Ich höre dir nach dem Abendessen Vokabeln ab!“ Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen und sie zwinkerte mir zu.

Sie wusste, dass ich mit Liz schon mal die Zeit vergaß oder Liz auch spontan mit bei uns am Abendbrottisch sitzen konnte. Gerade jetzt im Sommer und so kurz vor den Sommerferien.

„Danke. Viel Spaß beim Malen!“

Ich freute mich schon darauf, Mamas neue Illustrationen zu sehen. Im Augenblick malte sie an Bildern für ein Kinderbuch über einen kleinen Frosch, der eine Prinzessin im Märchenwald finden wollte. Dazu musste er vorbei an Trollen, Einhörnern und allerlei anderem Magischen. Mama konnte genau so etwas unheimlich toll malen. Als Kind hatte ich immer darauf bestanden, dass sie mir Einhörner malte, die ich dann ausmalen konnte.

Ich hörte gerade so ein leises „Dankeschön“, dann fiel die Tür hinter mir ins Schloss und ich spurtete los, durch unser Gartentor, den Zaun lang und direkt am ersten Weidezaun vorbei zur Einfahrt meines zweiten Zuhauses, dem Reitclub Cavallio.

Kapitel 3

Schon von der Auffahrt aus konnte ich sehen, dass der Parkplatz vor dem Reitclub voll mit Autos stand. Nicht ungewöhnlich um diese Uhrzeit, aber dass niemand zu sehen war, verwirrte mich.

Ich kannte den Club schon seit meiner frühsten Kindheit. Alle unsere Pferde hatten hier gestanden. Von Lucky, über mein Pony Fee, bis Viva jetzt. Noch nie hatte ich in meinen 16 Jahren den Club so menschenleer erlebt, trotz so vieler Autos auf dem Parkplatz.

Wahrscheinlich tummelten sich alle in einer der zwei Reithallen und begafften irgendeine Lokalberühmtheit bei den ersten Reitversuchen, oder das Lokalfernsehen war zu Besuch. Letzteres hätte Hannah aber wohl groß angekündigt.

Vor mir ragten in der nahenferne schon die ersten Backsteingebäude auf. Die modernen Ställe lagen wunderschön eingebettet in grünen Beten, die von ordentlich gepflasterten Steinwegen gesäumt waren. Links und rechts von mir, erstreckte sich jeweils eine Weide, die Auffahrt entlang, mit hohen schattenspendenen Bäumen.

Neugierig begab ich mich zu den Ställen. Liz klang so aufregt. Also war es vielleicht doch keine Lokalberühmtheit, die medienwirksam durch eine etwas peinliche Reitstunde von sich reden machen wollte?

Vor dem schwarzen Brett am Büro hatte sich eine Menschentraube gebildet. Aufgeregt sprachen die vorwiegend Jugendlichen in meinem Alter durcheinander. Kopfschüttelnd wollte ich gerade weiterlaufen und nach Viva sehen, da löste sich Liz aus der kleinen Menschenmenge.

Rote Flecken, die sie nur bei Aufregung bekam, zierten ihre Wangen, und ihre blauen Augen funkelten nur so, als sie auf mich zustürzte.

„Oh mein Gott, Marie!“ Ihre Stimme überschlug sich beinahe. „Du musst sofort mitkommen!“

„Wohin? Was ist hier überhaupt los?“

„Was hier los ist?! Stefanie Jacobsen kommt her und will eine neue Fördergruppe coachen. Das ist los!“ Liz schüttelte ungläubig mit dem Kopf. Ihr langer dunkler Pferdeschwanz wippte von links nach rechts.

Das musste ein Witz sein. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass eine gestandene Grand-Prix-Reiterin, die bestimmt Angebote aus aller Welt bekommen hatte, junge Reiter zu coachen, gerade bei uns, hier auf dem platten Land, eine Gruppe aufbauen wollte. „Quatsch!“

„Nein! Komm! Wir müssen uns unbedingt auf der Liste eintragen. Bitte, Marie. Ohne dich kann ich das nicht! Und Samira hat sich schon eingetragen.“ Sie sprach, wie immer wenn sie aufgeregt war, viel zu schnell und gab mir gar keine Chance, etwas zu sagen.

„Soll ich nicht erstmal mit meinen Eltern reden?“

„Nein! Wir bekommen so einen Wisch, den die unterschreiben, sollen. Wichtig ist nur, dass wir uns jetzt eintragen. Da sind kaum noch Plätze frei!“

Ehe ich ihr sagen konnte, dass ich mir das lieber noch mal überlegen wollte, schnappte sie mich schon am Handgelenk und zog mich mitten in das Gedränge.

„Mach mal Platz!“ forderte sie eine kleine Dunkelhaarige auf, die vielleicht gerade mal dreizehn war und zu den Schulreitern gehörte. Mit großen Augen machte das Mädchen einen Schritt zur Seite. Der Blick wurde frei auf den neuen Aushang.

„Achtung Junioren Reiter!

Der Reitclub Cavallio freut sich, euch mitteilen zu können, dass wir Ex-Grand Prix Reiterin und Trainerin Leistungssport A Stefanie Jacobsen für eine neue Fördergruppe gewinnen konnten. Wenn ihr über 16 und in der letzten Saison schon L-Springen erfolgreich geritten seid, könnt ihr euch bei Interesse unten in der Liste eintragen. Wir kontaktieren euch mit dem Datum für das erste Auswahltraining. Wir freuen uns auf euch!

Hannah und Fiete Hansen“

Das war wohl doch kein Witz. Das war eine einmalige Chance. Aber ein Auswahltraining? Würde ich es überhaupt schaffen, gegen diese Konkurrenz zu bestehen? Ich hatte ein L-Springen mit Fee in der letzten Saison gewonnen und war in einigen auf dem zweiten Rang platziert, aber ansonsten waren wir nur in der Reserve gewesen, wenn überhaupt. Mit Viva sollte es langfristig Richtung M gehen, aber wir hatten nicht mal unser erstes A-Springen auf einem Turnier hinter uns gebracht.

Ich seufzte und wollte protestieren, dass ich mich da eher nicht so sah, da hatte Liz schon den Stift in der Hand. Mahnend hob sie eine Augenbraue. „Denk daran, was wir uns geschworen haben. Wenn es eine macht, macht es die andere auch! Wir lassen einander nicht alleine!“

Bisher hatten wir uns immer an diesen Schwur gehalten. Als ich mit zehn nicht vom zwei Meterbrett im Schwimmbad hatte springen wollen, hatte Liz meine Hand genommen, mir zugelächelt und war mit mir gemeinsam gesprungen. Das hier war wohl auch eine zwei Meterbrett Situation.

In schönster Schönschrift setzte Liz ihren Namen in die vorletzte Spalte der Liste. Mit einem breiten Lächeln reichte sie den Stift weiter. Seufzend nahm ich ihr den Kuli aus der Hand.

Dann wollte ich meine beste Freundin mal nicht hängen lassen. Ich lehnte mich gegen die Wand, um besser meinen Namen in die letzte Spalte zu schreiben. Liz legte mir sofort glücklich die Hand auf die Schulter.

„Das wird unser Sommer! Ich hab das im Gespür!“, wisperte sie über die aufgeregten Stimmen hinweg in mein Ohr. Dabei klang sie so verschwörerisch, wie früher, als wir eine Schatzsuche planten und drei Tage ziellos mit einer Schaufel bewaffnet über den Strand gelaufen waren.

Lächelnd drückte ich ihre Hand und überflog noch einmal die Liste. Dabei bleib ich an einem Namen hängen.

Lukas Stüwe.

Ein unangenehmer Stich durchfuhr mein Herz. Fuck! Sofort wollte ich meinen Namen durchstreichen und am liebsten den Stall wieder verlassen.

Mit Lukas war ich mehr oder weniger zusammen aufgewachsen. Unsere Mütter waren befreundet, und so hatten wir schon im Sandkasten gemeinsam gespielt. Von dieser Sandkastenfreundschaft war aber nicht mehr viel übrig, zumindest seit Lukas sich entschieden hatte, nur noch Arschloch und Vollidiot sein zu wollen.

Liz war meinen Blick gefolgt. „Hab ich schon gesehen. Ist doch egal, dass Samira und Lukas uns das Ganze vermiesen könnten. Wir machen das zusammen und wir haben einfach unseren Spaß.“

Mit einem leisen Seufzen nickte ich. Vielleicht würde es doch nicht so schlimm werden. Die Erfahrung war es jedenfalls wert. Ich lächelte und ich knuffte Liz in die Seite. Kichernd schoben wir uns wieder aus der Menge, die sich langsam auflöste.

„Ich bin gespannt, wie die Fotos so werden. Deine ersten Fotos mit Haddy. Davon musst du unbedingt eins ausdrucken und rahmen.“ Ich ging wieder zum Alltag über. Ich wollte weder über unsere lebendig gewordene Barbiepuppe namens Samira, noch über Lukas reden.

In meinem Kopf überlegte ich schon, welche Orte sich besonders gut als Kulisse eignen würden.

Vielleicht der Dressurplatz, oder die Hecken Richtung Wäldchen. Oder einfach die Stalltür?

Liz fasste mich am Arm und zog mich vom Brett weg. „Natürlich rahme ich das ein! Ich bitte dich.“ Mit dem Blick suchte sie die Gesichter, der anderen Reiter ab, aber lief einfach weiter, ohne jemanden anzusprechen, obwohl gerade sie wahrscheinlich jeden mit Namen kannte.

„Lange nicht gesehen!“, hielt uns da eine Stimme vom Rand der Versammlung auf. Abrupt blieben Liz und ich stehen. Irritiert sahen wir uns nach demjenigen, der uns angesprochen hatte, um. „Anscheinend so lange, dass du schon ganz vergessen hast, wie ich aussehe. Dabei dachte ich eigentlich, mich vergisst man nicht so leicht!“

Ein Junge stieß sich von der Wand ab, vielleicht zwischen siebzehn und sechzehn. Sein Lächeln war charmant, die Gesichtszüge aalglatt und die dunkeln Haare verwuschelt. Optisch hatte er das Zeug zum absoluten Herzensbrecher. Seine auffallend grünen Augen funkelten belustigt, als er gemächlich auf mich zu kam.

Diese grünen Augen würde ich überall wiedererkennen! Sie waren mein Kryptonit. Wehmut ergriff mich. Warum musste ich ausgerechnet auf ihn treffen? Der Tag war bisher so angenehm!

„Wie soll ich mich an dich erinnern, wenn du mir seit Jahren aus dem Weg gehst, oder habe ich da etwas missverstanden?“ Ich versuchte, selbstbewusst zu klingen.

Liz hob die Augenbrauen und sah zwischen uns hin und her.

Lukas schnalzte mit der Zunge. „Ich gehe dir nicht aus dem Weg. Wir sind uns nur lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Ich bin gerader erst aus Wales zurückgekommen.“

Schön für ihn. Erklärte trotzdem nicht, warum er sich nie bei mir gemeldet und damals, vor fast fünf Jahren, unser Freundebuch zerrissen hatte.

„Ihr steht auch auf der Liste?“ Lukas musterte Liz abschätzig von oben herab und hob blasiert eine Augenbraue. Aha, da kam wieder das überhebliche Stiesel durch. Kurz hatte ich die Hoffnung, er wäre zu Sinnen gekommen.

Liz war schon immer um einiges impulsiver als ich, so verwunderte es nicht, dass sie mich beiseiteschob und sich vorwitzig vor ihm aufbaute. Dass sie ihm nur bis zur Schulter ging, störte sie dabei nicht. Sie würde sich auch mit einem Zweimetermann anlegen, wenn er ihr doof kam.

„Was ist dein Problem?“

Belustigt zuckten seine Mundwinkel. Lukas war nie um einen Spruch verlegen gewesen. „Ich frage mich nur, ob kleine Möchtegernbereiterinnen überhaupt für das Auswahlverfahren zugelassen sind.“

Liz knirschte mit den Zähnen. Ihre Eltern hatten ihr in ihrer Ponyzeit kein Pony gekauft. Zu teuer und lohnte sich laut ihrem Vater einfach nicht, wenn man es in wenigen Jahren eh wieder verkaufen musste, zu Gunsten eines noch teureren Juniorenpferdes. So war sie nur Schulpferde und schließlich, nachdem Hannah ihr Talent erkannt hatte, wechselnde Verkaufsponys auf den verschiedensten Turnieren´ geritten. Mit Haddy war ihr größter Traum gerade erst wahr geworden und das nur, weil Hannah sich dafür eingesetzte hatte, dass sie endlich ein eigenes Pferd bekam

„Warum sollte ich das nicht sein? Ich habe in den letzten Jahren mehr Ponys erfolgreich durch Springen gebracht, als du in deinem Leben geritten bist.“

Luke schüttelte belustigt den Kopf. „Träum weiter, Kleine. Marie kann dir da was ganz anderes erzählen. Außerdem habe ich inzwischen schon einige internationale Platzierungen, auch im M-Bereich!“

Liz schnappte nach Luft und wollte zu einer neuen schlagfertigen Antwort ansetzen, da verstummte sie plötzlich und war wieder handzahm. Ein süßes Lächeln legte sich auf ihre Lippen und sie sah an Lukas vorbei.

„Luke, lass gut sein. Sie hat schon recht. Wer viele verschiedene Pferde auf einem Turnier reitet, hat oftmals mehr Erfahrung, als jemand, der immer nur dieselben Pferde über Jahre reitet. Internationale Platzierungen hin oder her, soll jeder doch einfach eine faire Chance haben.“

Hinter Lukas tauchte ein fast gleich großer blonder Typ auf. Seine blauen Augen funkelten belustigt. Er strahlte eine unermüdliche Ruhe aus. Beneidenswert! Und er war nach Liz Reaktion zu urteilen ihr Objekt der Begierde, dem sie heute schon beim Training zugesehen hatte.

„Ole“, stellte er sich mit einem freundlichen Lächeln in Liz Richtung vor.

Meine beste Freundin guckte wie ein Schaf. Mit seidiger Stimme tat sie es ihm gleich. „Liz.“ Für den Augenaufschlag hätte sie beinahe schon einen Waffenschein gebraucht.

Ole sah sie allerdings nicht weiter an, sondern musterte mich mit einem immer noch freundlichen Blick. „Du bist also Marie, die Sandkastenfreundin von dem Dickschädel hier.“ Er klopfte Lukas grinsend auf die Schulter. Lukas warf ihm daraufhin einen genervten Blick zu, über den Ole nur schmunzelte. Ab dem Moment wusste ich: Ole würde ich mögen!

Ich nickte. „Ganz genau! Hat er etwa von mir gesprochen?“ Mein Blick fiel wieder auf Lukas, der immer noch auf Liz herabsah, die mit seinem besten Freund liebäugelte.

„Selten, aber oft genug, um zu wissen, dass es dich gibt.“ Ole lachte, und seine blauen Augen blitzen schelmisch auf.

Lukas löste seinen Blick von Liz, forsch blickte er mir in die Augen. „Bild dir nichts darauf ein!“

„Hatte ich nicht vor. Ich wüsste nicht mal, ob man sich darauf etwas einbilden kann. War auf jeden Fall nett, dich mal getroffen zu haben, und man wir sich ja jetzt wieder häufiger sehen. Grüß deine Mutter.“

Ole musste schmunzeln, während Lukas nur mit den Augen rollte und klein beigab. Mit schnellen Schritten entfernte er sich von uns.

Mit einem Kopfnicken und einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen verabschiedete sich Ole von uns und spurtete ihm dann hinterher.

Liz sah ihm nach. Ein leises Seufzen entfuhr ihren Lippen. „Ist er nicht süß?“

Ich musste lachen und schnappte mir meine Kamera. Schnell schoss ich ein Foto von ihr, samt schwärmerischem Ausdruck in den Augen.

„Lösch das!“

„Oh nein! Den Teufel tue ich. In ein paar Jahren wirst du mir für dieses Foto noch dankbar sein. Das erste Mal, dass du über beide Ohren verliebt bist, müssen wir doch fachlich dokumentieren.“ Ich musste kichern, und Liz verzog das Gesicht zu einer genervten Fratze.

Kapitel 4

Immer noch aufgekratzt von dem Tag am Club und den chaotischen Versuchen schöne Bilder, mit Viva und Haddy hinzubekommen, kam ich nachhause.

Sofort schlüpfte ich aus meinen dreckigen Stallschuhen und brachte die Kamera in mein Zimmer. Die Fotos wollte ich heute abend an Liz weiterschicken.

Als ich die Spiegelreflex auf meinen Schreibtisch neben meinen Laptop legte, fiel mein Blick noch einmal auf das Tagebuch, oder vielmehr auf die Stelle, an der es unter meinem Bett lag. Es juckte mich in den Fingern, das Buch aufzuschlagen und zu schauen, ob ich nicht doch mehr Informationen finden konnte.

Das musste allerdings bis später warten. Ich drehte meine Kamera und öffnete die Klappe, hinter der die Speicherkarte darauf wartete ausgelesen zu werden. Mit spitzen Fingern zog ich die SD raus und legte sie neben meinen Laptop, ehe ich die Kamera vom Akku befreite und ihn zurück in die Ladestation drückte.

Seufzend ließ ich mich auf meinen Schreibtischstuhl sinken. Dabei knisterte es in meiner Hosentasche und erinnerte mich wieder an die Einverständniserklärung, die ich meinen Eltern gleich beim Abendessen geben musste.

Ich klappte den Laptop auf und ärgerte mich wie immer, dass das alte Ding ewig brauchte zum Hochfahren. Vielleicht sollte ich doch mal nach einem neuen schauen, aber es war sehr viel reizvoller, mein Taschengeld für Viva auszugeben, als für technische Geräte zu sparen.

Nervös trommelte ich auf dem Gehäuse herum und wartete darauf, dass endlich alle Bilder importiert waren. Über 200 Fotos dauerten ihre Zeit. Wieder glitten meine Gedanken zu dem Tagebuch. Könnte ich jetzt nicht weiter lesen? Noch wusste ich schließlich nicht, wer dieses Buch geschrieben hatte.

„Marie, kommst du runter?“ Mamas Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Lächelnd lugte sie in mein Zimmer. „Habt ihr schöne Fotos machen können?“

„Mhm“, machte ich gedankenverloren. „Sind ganz schöne mit dabei, glaube ich. Genau angesehen habe ich sie mir noch nicht.“

„Kannst du ja nach dem Abendessen machen und nach dem Vokabelnlernen.“

Natürlich hatte Mama nicht vergessen, dass da noch ein Vokabeltest war. Der letzte Test vor den Ferien.

Ich folgte ihr die Holztreppe runter, durch den Flur und in die Küche.

Brot und Teller standen schon auf dem Küchentisch. Es fehlten nur Aufschnitt und Käse. Na, ja, und natürlich Papa, der bestimmt schon auf dem Heimweg war.

„Lena meinte, Lukas wäre seit vorletzter Woche zurück. Hast du ihn schon am Stall getroffen?“

Widerwillig nickte ich. Natürlich hatte ihre beste Freundin ihr erzählt, dass ihr Sohn zurück in Deutschland war. Mir hatte niemand davon erzählt, dass er erstens weg gewesen und zweitens wieder da war.

Mama stellte einen Teller mit Käse auf den Tisch. „Schade, dass ihr euch nicht mehr vertragt. Ihr wart mal so gute Freunde.“ Sie kicherte. „Lena und ich waren uns immer sicher, irgendwann würdet ihr mal heirateten. Ihr wart einfach auch zu süß zusammen!“

Ich rollte einen Augenblick mit den Augen. „Das war mal! Jetzt ist Lukas ein nerviger Vollidiot, der mir gerne gestohlen bleiben kann!“ Dabei dachte ich vor allem an seine Instagram Storys und die Bilder, die immer aussahen, als hätte sie ein Modefotograf gemacht. Ich gebe es zu, ich hatte am Stall sein Instagram gesucht.

„Das ist nur die Pubertät. Warte mal zwei Jahre.“ Sie lachte.

„Worauf soll Marie zwei Jahre warten?“ Papa lugte in die Küche und ließ seine Tasche mit Laptop und Unterlagen einfach neben die Treppe fallen.

Mama musste kichern. „Lukas ist wieder in Deutschland und sie sind sich heute am Club begegnet. Marie findet ihn ätzend, aber die beiden waren einfach so süß zusammen als Kinder. Fandest du nicht? Ich bin mir sicher, das wird wieder was!“

Papa schüttelte den Kopf. „Befürworten würde ich das nicht. Du weißt, warum er in Wales war.“

Mama seufzte. „Mein Gott, Till. Hör auf, die Stüwejungs immer als etwas Schlechtes sehen zu wollen.“

Wie meinte sie das denn? Ich kannte nur einen ‚Stüwe Jungen‘!

„Einer hat schon genug angerichtet!“, knurrte er leise und ließ sich an den Tisch sinken. „Wie war euer Tag?“

„Ich habe recht viel für das neue Kinderbuch fertig bekommen. Mit einigen Skizzen bin ich nicht zufrieden, aber das werde ich mit der Autorin im Call klären müssen. Wir wollten am Freitag zoomen. Marie hat mit Liz heute mal wieder Fotos gemacht. Ich bin schon gespannt. Vielleicht ist ja ein schönes für den Flur dabei.“

Papa lächelte mich kurz an. „Bestimmt!“ Tief atmete er ein. „Das neue Projekt ist schon wieder ein heilloses Chaos. Die Leitung ist nicht klar, und auch das Material fehlt noch. Aber das wird schon. Morgen habe wir eine wichtige Sitzung. Ich hoffe, alles läuft glatt. Ich muss dafür gleich auch noch eine Präsentation vorbereiten.“