Chiemseefeuer - Tanja Voit - E-Book

Chiemseefeuer E-Book

Tanja Voit

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Locker, humorvoll und spannend bis zum Schluss. Die Chiemsee-Idylle ist erschüttert: Auf einer Yacht wird eine Leiche gefunden, das Mädchen wurde bei lebendigem Leib verbrannt. Wer ist zu einem so grausamen Mord fähig? Die Suche nach dem Täter führt Kommissar Taglieber in ein Eliteinternat: Treibt hier unter dem Deckmantel der Integrität ein kaltblütiger Mörder sein Unwesen? Taglieber tappt im Dunkeln – bis der Täter erneut zuschlägt.

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Seitenzahl: 405

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Schon immer steckten in Tanja Voit, 1976 im schönen Rosenheim geboren, die Phantasie und der Schöpfergeist einer Autorin, doch es bedurfte einiger Umwege, um ihr Potenzial zu entfalten. Sie studierte Theaterwissenschaften und Germanistik in München, schnupperte ins Film- und Fernsehbusiness, drehte zwei Kurzfilme und inszenierte ein Theaterstück, bevor sie ihre Berufung zum Schreiben entdeckte. Heute lebt und arbeitet sie unweit des schönen Chiemsees als medizinische Fachangestellte und freischaffende Autorin.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER/ Martin Siepmann Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Susanne Bartel eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-386-8 Oberbayern Krimi Originalausgabe

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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Montasser Medienagentur, München.

Für Karin in Liebe

Prolog

Es gibt kein Zurück mehr. Die Yacht brennt, Flammen züngeln an ihr empor. Rot, Orange und grelles Gelb mischen sich vor dem nachtschwarzen Firmament, das Feuer reckt seine leckenden Zungen gen Himmel. Ein Windstoß, und es lodert zu uns herüber.

Wir sind nah dran. Ich kann die Wärme spüren, das Knistern der Flammen hören. Dieses Feuer wärmt mich auf doppelte Weise. Nicht nur von außen, nein, es wärmt mich auch von innen.

Sie hat es verdient.

Ich lasse mich vom Knistern einlullen, versinke in den roten Wellen des Feuers.

Eine Hand legt sich auf meine Schulter. Ich zucke zusammen.

»Komm, wir müssen los.«

Ich nicke.

Obwohl ich weiß, dass wir den Ort schnell verlassen müssen, verharre ich reglos. Völlig gebannt vom schauerlich schönen Anblick: Rote und goldene Lichtspäne fliegen durch die klare Nacht, wie beim Ausbruch eines Vulkans. Gelbgoldene Funken verglühen, sobald sie die schwarze Wasseroberfläche berühren. Beinahe das ganze Boot steht schon in Flammen.

Eine erneute Explosion erschüttert die Yacht, und der Körper bäumt sich auf wie ein junger Phönix, der gerade aus den Flammen geboren wird und gen Himmel fliegen will. Aber fliegen wird sie nicht. Sie war kein Engel. Und doch ist dieses Bild faszinierend, beinahe überirdisch schön.

Inmitten des Feuers tanzt ihr Körper ein Ballett, das seinen eigenen Gesetzen gehorcht. Dann scheint sie sich zu bewegen, ruckartig wie eine Marionette, die sich in ihren eigenen Fäden verfangen hat. Versucht sie, ins Wasser zu springen, um die Flammen zu löschen?

Eine Marionette. Wie ein jeder es für sie war. Doch nun ist ihre Macht gebrochen.

An der Reling sinkt der Körper zusammen. Die Flammen, die vom Bug des Bootes her auflodern, züngeln an ihm hoch, umschließen ihn gierig, ziehen ihn mit sich nach unten. Fast wie die Arme einer liebevollen Mutter, die ihr Kind an sich zieht… zurück in ihren Schoß. Mein rechter Mundwinkel zuckt nach oben.

Schließlich wende ich mich ab. Ein Blick nach rechts bestätigt: Es ist höchste Zeit, den Motor zu starten und das Boot zurückzubringen. Während wir leise tuckernd über den ruhigen See gleiten, drehe ich mich noch einmal um.

Von ihr ist nichts mehr zu erkennen. Keine Regung, keine Bewegung. Das Boot brennt stumm wie eine nächtliche Fackel. Die Vorstellung ist zu Ende, der Zauber verflogen. Das war es also. Klara Sophie von Ariethen ist tot.

1

Am Freitagabend war Hauptkommissar Taglieber nur schwer eingeschlafen. Durch seinen dröhnenden Kopf zogen wirre Bilder wie Nebelschwaden. Abstruse Szenen, mit denen sein Bewusstsein nichts anzufangen wusste, aber auch einiges, was er mit dem Überfall auf ihn auf der Fraueninsel vor einem halben Jahr in Zusammenhang brachte. Beides war ihm unangenehm und verwirrte ihn. Von halb zwei Uhr an hatte er sich im Bett bloß noch von einer Seite auf die andere gewälzt. Schließlich war er aufgestanden, hatte eine Kopfschmerztablette genommen und sich im Wohnzimmer auf die Couch gelegt.

Jetzt war es kurz vor drei, und er schaltete den Fernseher an, wo gerade eine Wiederholung des Hauptabendprogramms lief. Ihm war völlig egal, was ihn berieselte, Hauptsache, die Sendung hielt ihn davon ab, weiter über das Chaos in seinem Kopf nachzugrübeln. Vielleicht bescherte ihm der belanglose Film sogar noch die eine oder andere Stunde Schlaf. Tatsächlich nickte er kurze Zeit darauf vor dem Fernseher wieder ein und fand sich im Traum auf der Fraueninsel wieder.

Es war schon fast dunkel, und ein eiskalter Wind wehte. Obwohl er einen Mantel trug, konnte er den Wind auf seiner Haut spüren. Viele winzige Nadeln aus Eis stachen ihm ins Gesicht. Das Wasser des Sees war ruhig, nur ein paar kleine Wellen plätscherten ans Ufer.

Warum war er hier? Was sollte er sehen? Sein Bewusstsein schaltete sich in den Traum ein, und plötzlich wusste er wieder, um was es ging. Er wollte sich mit einem Informanten treffen. Der Mann hatte ihn angerufen und behauptet, Informationen zu dem überregional agierenden Drogenring zu haben. Jener kriminellen Bande, die Taglieber seit geraumer Zeit ohne Wissen seiner Partnerin und seiner Vorgesetzten im Alleingang aufzuspüren versuchte.

Der verabredete Ort war ganz in der Nähe, unten am Wasser. Während er den Pfad zum Steg hinabging, überlegte Taglieber noch, welche Informationen der Mann wohl für ihn hätte. Da traf ihn von hinten etwas so schmerzhaft und gewaltig am Kopf, dass er unweigerlich taumelte und zu Boden ging.

Doch noch im Fallen drehte er sich um die eigene Achse, und es gelang ihm, dem Angreifer ins Gesicht zu sehen, das vom Zwielicht der Dämmerung und dem Schein einer Laterne erleuchtet wurde. Unter einer Kapuze erkannte Taglieber dunkles, zerzaustes Haar und markante Gesichtszüge: eingefallene Wangen, graue Augenringe, eine spitze Hakennase. Der Mann sah heruntergekommen und ausgemergelt aus. Taglieber wusste, er musste sich das Gesicht so detailliert wie möglich einprägen, um den Angreifer später vielleicht wiedererkennen zu können.

Die Perspektive wechselte. Taglieber sah sich selbst aus der Vogelperspektive kopfüber im Wasser liegen, während der Fremde mit der dunklen Kapuze nachdenklich auf ihn hinabblickte. Wollte er ihm noch einen Schlag versetzen, um ihm endgültig das Lebenslicht auszublasen?

Taglieber rief sich gerade wieder die Gesichtszüge des Mannes ins Gedächtnis, als etwas an seinem linken Ohr laut und anhaltend klingelte.

»Was… was ist denn los?«, fragte er benebelt, ohne die Augen zu öffnen.

Er versuchte, das Traumbild festzuhalten, wollte wieder zurück, um den Mann noch einmal zu sehen und das an ihm, Taglieber, begangene Verbrechen aufzuklären, doch das penetrante Klingeln an seinem Ohr wollte einfach nicht enden. Seine Augen waren wie zugeklebt, aber nun vernahm er laut und deutlich die Stimme seiner Frau Cornelia. Sie klang ärgerlich.

»Es ist dein Diensthandy. Du hast es oben vergessen«, beschwerte sie sich.

Taglieber versuchte mit aller Kraft, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm erst beim zweiten Anlauf. Unscharf stand seine Frau in ihrem fliederfarbenen Nachthemd vor ihm und hielt ihm das Telefon unter die Nase. Ihr blondes langes Haar kitzelte ihn im Gesicht.

In dem Moment, in dem er nach dem Handy griff, verstummte es. Schlaftrunken wollte er es bereits wieder weglegen und weiterschlafen, doch das Klingeln setzte erneut ein. Er wischte über den Bildschirm.

»Taglieber«, meldete er sich matt.

»Rösler hier, Sie haben einen neuen Fall!«, tönte es atemlos aus dem Hörer.

Am liebsten hätte Taglieber das Gerät in die nächstbeste Ecke gepfeffert. Gerade jetzt sollte er ausrücken! Jetzt, wo er noch verzweifelt an dem letzten Zipfel seines Traumes zerrte. Hoffnung glomm wie ein Funke in ihm auf: Dieser Traum könnte den Durchbruch für ihn bedeuten, er könnte ihm seine verlorene… Er wagte es nicht einmal, den Gedanken zu Ende zu denken, so wichtig war es für ihn, seine Erinnerung wiederzufinden– die Erinnerung an seine Vergangenheit, daran, wer er wirklich war.

Unbeeindruckt von Tagliebers unwilligem Aufstöhnen redete der Leiter der Priener Polizeidienststelle weiter: »In der Schafwaschener Bucht hat eine Yacht gebrannt, es gibt eine Leiche. Wir können Brandstiftung oder Mord nicht ausschließen. Einige unserer Leute und jemand vom Wasserschutz sind schon vor Ort. Fahren Sie hin und sehen Sie sich das Ganze mal an, Frau Krimplstötter ist bereits unterwegs.«

Taglieber sah auf die Uhr. Es war halb vier Uhr morgens. »Mach ich. Ich komme sofort«, antwortete er verdrossen und legte auf.

Wie in Zeitlupe stützte er sich mit einer Hand an der Couchlehne ab und schob sich in die Aufrechte. »Ich muss raus«, wandte er sich an seine Frau.

»Gut, ich geh dann wieder ins Bett.« Sie gähnte, und ihre großen blauen Augen glitzerten unschuldig.

Wie gern hätte er jetzt mit ihr getauscht! Taglieber schlappte nach oben ins Bad. Ein Blick in den Spiegel verriet ihm, dass der dunkelblonde Mann mit der neckischen Welle im Haar und den blaugrauen Augen noch lange nicht ausgeschlafen hatte. Seine Haare wirkten stumpf, und seine Augenlider starteten den Versuch, sich wieder zu schließen, anstatt ihm bei der Orientierung behilflich zu sein.

In Gedanken wischte er sein Spiegelbild beiseite– er würde es noch oft genug betrachten können. Dafür erinnerte er sich noch mal an den Mann aus dem Traum. Nun hatte er endlich ein Gesicht vor Augen: das Gesicht seines Angreifers, des Mannes, der ihn vor einem halben Jahr auf der Fraueninsel niedergeschlagen und ihn ins Koma befördert hatte. Er würde den Polizeizeichner noch heute bitten, ein Phantombild von ihm anzufertigen. Nicht dass er sich viel davon versprach, aber vielleicht war es ein Anfang von etwas, das letztlich zum Erfolg führen würde.

Die Yacht schwankte, als Phil allmählich zu sich kam. Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er aus Watte und doppelt so groß wie sonst. Denken schien unmöglich, und als Phil die Augen öffnete, war die Welt um ihn herum verschwommen. Nur langsam wurde seine Sicht klarer, auch wenn sein Gehirn zunächst Doppelbilder produzierte. Vorsichtig spähte er um sich. Das Licht der Uferlaternen fiel bleich zum Fenster herein. Er lag auf der Bank in der Kajüte der Yacht seines Vaters, so viel war sicher. Der erste halbwegs klare Gedanke, der ihm durch den Kopf schoss, war, dass dieser niemals etwas davon erfahren durfte.

Doch wie er hierhergekommen war, wusste er nicht. In seiner Erinnerung war überhaupt nichts mehr. Als er versuchte, tief einzuatmen, schmerzte seine linke Seite so sehr, dass er kurz innehalten musste.

Tief in ihm dröhnte dumpf ein Echo der gestrigen Ereignisse, doch sosehr er sich auch bemühte, die verschollene Erinnerung zuzulassen, sie drang nicht in sein Bewusstsein vor. Er konnte das, was geschehen war, einfach nicht greifen.

Ein einzelner Bildfetzen blitzte auf: Er hatte gestern Abend mit seinen Kumpels an der Tanke einen Kasten Bier besorgt. Oder war das schon vorgestern gewesen?

Sein Schädel tat schrecklich weh, und im Mund schmeckte er Blut. Phil hielt sich mit einer Hand an der Kante des Tisches fest, zog sich langsam daran hoch und setzte sich auf. Alles vor seinen Augen begann sich zu drehen, und plötzlich drängte– ob er es nun wollte oder nicht– eine wahre Flut von Bildern in seinen Kopf: ein brennendes Boot und darauf eine Gestalt, die einen grausigen Tanz vollführte. Dann dasselbe Boot, jetzt so nah, dass er das Feuer riechen und die Hitze der Flammen auf der Haut fühlen konnte.

War das wirklich geschehen? Oder hatte er es nur geträumt?

Nachdem er einige Zeit dagesessen und den schmerzenden Kopf in seinen Händen gehalten hatte, erhob er sich wie in Zeitlupe. Der Tisch, an dem er sich abstützte, war das Einzige, das ihm Halt gab. Als er endlich aufrecht stand und das Gleichgewicht gefunden hatte, wartete er reglos, bis der Schwindel sich legte. Dann steuerte er das Bad an, wankte in die winzige Nasszelle, schaltete das Licht über dem Spiegel ein und betrachtete seine Blessuren.

Auf seiner Stirn prangte eine dicke blaulilafarbene Beule. Seine Oberlippe war auf die doppelte Größe angeschwollen und blutverschmiert. Er öffnete den Mund ein wenig und sah, dass ein Stück seines oberen Schneidezahns abgebrochen war. Ansonsten wirkte sein Gebiss unversehrt. Als Phil seinen schmerzenden Hinterkopf abtastete, fühlte er deutlich eine weitere, noch größere Beule. Sie war bedeckt mit etwas Hartem, einer Art Schorf, der die Haare verklebte. Er spürte auch etwas Flüssiges, und als er seine Finger wieder betrachtete, waren sie rot von frischem Blut. Das dumpfe Pochen, das von der Beule aus über den Hinterkopf bis in die Stirn zog, erschwerte es ihm, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch eines wusste er genau: In der letzten Nacht war etwas Schreckliches geschehen, und er, Phil, hatte etwas damit zu tun.

»Fuck!«, fluchte er laut und schlug mit der Faust so hart gegen die Wand neben dem Spiegel, dass dieser wackelte. Was war bloß los? Was war verdammt noch mal passiert?

Er schloss die Augen und bemühte sich, seine Erinnerungen zu ordnen. Doch da waren nur Bruchstücke, und die erschienen ihm alles andere als beruhigend.

»Fuck!«, entfuhr es ihm abermals.

Er öffnete die Augen und blickte verzweifelt durch das offen stehende Bullauge der Nasszelle. Die Yacht befand sich an ihrem angestammten Platz am Anlegesteg in der Schafwaschener Bucht. Draußen waren allerlei Geräusche zu vernehmen. Stimmen drangen vom Ufer an sein Ohr, Lichter erhellten die Nacht, und er hörte das Geräusch eines Automotors, der anschließend wieder verstummte. Vom See her blendete ihn kurz ein Scheinwerfer, der über die Wasseroberfläche glitt.

In Phils Magengrube machte sich ein mulmiges Gefühl breit, und seine Handflächen wurden feucht. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Sein Atem stockte, als er aus dem Augenwinkel in der Nähe ein tanzendes Licht wahrnahm. Schnell schaltete er die Lampe am Spiegel aus und spähte wieder durch das Bullauge.

Eine Taschenlampe, deren Lichtstrahl durch die Büsche am Ufer flackerte und suchend über die Boote glitt. Ein großer Schatten, der sich auf ihn zubewegte.

Das wird doch nicht… Ein Bulle! Sein Herz pochte laut, und er verharrte, so ruhig er konnte, neben dem kleinen Fenster. Das tänzelnde Licht hatte den Steg erreicht und näherte sich. Deutlich konnte er einen Koloss in Uniform erkennen, der mit der Taschenlampe in der Hand über die Holzbohlen schlappte.

Phil schlug das Herz bis zum Hals. Ein einzelnes Bild blitzte vor seinen Augen auf: das brennende Boot! Und dazu der Gedanke: Man durfte ihn auf keinen Fall hier entdecken.

Seine Hände zitterten jetzt. Ruhig, nur ruhig!, ermahnte er sich. Er musste nur zurück in die Kajüte schleichen und sich dort verstecken. Dann würde ihn niemand finden, denn niemand wusste, dass er hier war. Er drehte sich schnell, zu schnell, zur Tür um, und ein unerwarteter Schwindel erfasste ihn. Schwankend und torkelnd riss er mit dem Ellenbogen einen Schminkkoffer von der Ablage, der sich öffnete und mit lautem Scheppern auf dem Boden landete.

»Shit!«, fluchte Phil leise. Diese verdammte Schickse seines Vaters mit ihrem Make-up! Er blieb reglos stehen. Hoffentlich hatte der Bulle das Geräusch nicht gehört!

Als Taglieber in der Schafwaschener Bucht eintraf, war der Tatort bereits abgeriegelt. Auf der Zufahrtsstraße und hinter dem rot-weißen Absperrband wimmelte es von uniformierten Polizeibeamten und weiteren Einsatzkräften, es waren ungewöhnlich viele für einen so kleinen Ort wie Prien am Chiemsee.

Dobermann, der unangefochtene Favorit an der Spitze von Tagliebers »Wen ich gern auf den Mond schießen würde«-Liste, war auf den ersten Blick nicht unter ihnen. Es wunderte Taglieber, dass der selbst ernannte Priener Superbulle noch nicht irgendwo herumstolzierte und sich wichtigmachte.

»Gut, dass Sie da sind, Herr Taglieber«, grüßte ihn Polizeihauptmeister Kammerloher und wollte ihn ans Ufer begleiten, wo die ausgebrannte Yacht halb im Wasser, halb an Land lag.

Doch Taglieber hielt ihn zurück. »Sagen Sie, wo steckt Dobermann eigentlich?«, fragte er aus reiner Neugierde. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein Kollege sich solch ein Spektakel freiwillig entgehen ließ.

»Ach der, der ist da drüben schon aufm Steg unterwegs. Sucht nach einem Zeugen oder einem Verdächtigen. Mir soll’s recht sein, wenn er beschäftigt ist. Ein Gschaftlhuber weniger.« Der Polizist zeigte nach rechts zu einem Steg, an dem einige Boote lagen.

Wo er recht hat, hat er recht, dachte Taglieber und wandte sich ebenfalls zum Steg, wo er die Silhouette des Muskelbergs und den suchenden Strahl einer Taschenlampe erkannte. Dobermann war also auf Verbrecherjagd. Taglieber beobachtete einige Zeit aus der Entfernung, wie der Lichtstrahl suchend über die Boote tanzte. Gerade als er sich abwenden und Kammerloher zum Tatort folgen wollte, verharrte der Lichtkegel auf einer der Yachten und fixierte eine Stelle an ihr. Er sah, wie sein Kollege schnell darauf zuschritt. Hatte Dobermann tatsächlich etwas Verdächtiges entdeckt? Etwas oder jemanden? Tagliebers Spürnase juckte.

»Warten Sie bitte einen Moment hier, ich schau mir das mal genauer an«, sagte er zu Kammerloher und eilte zum Steg. Als er dort ankam, konnte er eine Demonstration von Dobermanns polizeilichen Fähigkeiten beobachten: Sein Kollege war auf dem am Ende des Stegs vertäuten Boot in eine Verfolgungsjagd verwickelt. Er und der Flüchtende sahen fast aus wie Dick und Doof: Muskelberg Dobermann hatte sich über die Reling auf das Deck gehievt und lief ungelenk hinter einem schlaksigen Burschen her. Immer wieder streifte der Schein von Dobermanns Taschenlampe den Jungen: Er hatte wirres dunkles Haar, trug eine Jeans und ein helles T-Shirt.

Der Jüngere umrundete ein wenig taumelnd die Kajüte und versuchte, über die Reling auf den Steg zu gelangen, als Dobermann ihn an seinem Oberteil zu fassen bekam. Er machte sich los und schubste den Beamten von hinten gegen das Geländer, dann kletterte er auf das Dach der Kajüte und griff nach dem Baum, auf dem das zusammengerollte Segel befestigt war. Dobermann wollte ihm nachsteigen, doch da schlug der Flüchtende ihm mit voller Wucht den Baum entgegen, und Dobermann verlor das Gleichgewicht. Er stolperte rückwärts, kippte gegen die Reling und ging über Bord. Es platschte laut, und wenige Sekunden später hörte man Dobermann auch schon schimpfen: »Kreiz…zefix!«

Taglieber musste sich ein Lachen verkneifen und beobachtete weiter, wie der Schlaksige jetzt vom Boot sprang, unsicher auf dem Steg landete und in Richtung Ufer sprintete, geradewegs auf ihn zu. Offenbar hatte er ihn noch gar nicht entdeckt. Noch im Laufen drehte er sich nach Dobermann um, der laut fluchend und pitschnass an einer Leiter hing. So rannte er Taglieber geradewegs in die Arme.

Der Kommissar warf den überraschten jungen Mann zu Boden, ergriff zuerst seinen einen, dann den anderen Arm und ließ hinter seinem Rücken die Handschellen einrasten.

»Au, Sie tun mir weh!«, beschwerte der Bursche sich.

Taglieber wartete auf Dobermann, der inzwischen aus dem Wasser geklettert war und prustend wie ein Walross über den Steg zu ihnen geschlurft kam. »Reife Leistung, Dobsi! Sportlich wie eh und je«, bemerkte Taglieber mit einem Schmunzeln auf den Lippen. Er genoss die seltene Überlegenheit, denn sonst war es Dobermann, der nie um einen dummen Spruch verlegen war.

»Geh, halt die Bappn!«, schnauzte der Kollege zurück. »No a Wort und du nimmst auch gleich a Bad, Liebchen.« Mit gesenktem Kopf schob er sich an ihnen vorbei. Ein paar Meter weiter drehte er sich noch einmal zu dem Jungen um und drohte mit der Faust: »Bürscherl, des werd no a Nachspiel haben, des schwör i dir!«

Während Polizeihauptmeister Dobermann ins Revier zurückkehrte, um sich umzuziehen, brachte Taglieber den jungen Mann zum VW-Bus der Polizei und übergab ihn der Obhut der Uniformierten. Das erledigt, wandte er sich wieder dem Ufer zu, um endlich den Tatort zu inspizieren, ehe die Spurensicherung eintraf.

Inzwischen hatten sich am Uferweg bereits ein paar Schaulustige versammelt, die trotz der frühen Stunde hinter der Absperrung standen und versuchten, einen Blick auf die verkohlte Yacht zu werfen und ein Handyfoto zu machen, das sie auf Facebook oder Twitter verbreiten konnten. Blitzlichter zuckten. Auch Journalisten, allen voran die Aasgeier des hiesigen Boulevardblattes, waren schon vor Ort. Taglieber glaubte, Ingo Regel zu erkennen, dessen Frau er vor ein paar Monaten das Leben gerettet hatte. Der Reporter winkte ihm grüßend zu, doch Taglieber ignorierte ihn und trottete weiter zum Tatort. Für den Austausch von Höflichkeiten war es viel zu früh am Morgen.

Kurz vor dem ausgebrannten Boot tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Er drehte sich um.

Vor ihm stand Tanja Krimplstötter, seine Kollegin und Partnerin, mit wachen Augen und einem Lächeln auf den Lippen. Sie hatte es trotz der frühen Stunde also sogar noch vor ihm aus dem Bett geschafft. Ihre dunklen Locken hatte sie streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden, und– Taglieber war baff– sie war sogar geschminkt!

»Hier, für dich, Großer!«, erklärte sie munter und drückte ihm einen Becher Kaffee in die Hand. Um ihren Hals baumelte die Kette mit dem kleinen silbernen Elfenanhänger, die ihr ihr Freund, der Gerichtsmediziner Fabian Gleiser, geschenkt hatte. Heute vermittelte Tanja tatsächlich den Eindruck, als gäbe es nichts Erquicklicheres, als nachts um drei aufzustehen und sich einen Tatort anzusehen.

Wortlos setzte Taglieber den Kaffeebecher an die Lippen und nahm einen großen Schluck. »Danke«, murmelte er dann und trank erneut. Das Gebräu war heiß und stark, aber er musste husten, weil irgendwie ein paar Brösel Kaffee hineingelangt waren, die in seiner Kehle kratzten.

Sein Blick wanderte zu der ausgebrannten Yacht, die wie eine entthronte schwarze Königin halb im Wasser lag. An Bord stand mit dem Rücken zu ihnen ein Mann im weißen Einwegoverall, der sich über etwas beugte.

»Der Fabi schaut sich gerade die Leiche an«, erklärte Tanja sachlich. »Auf Röslers Anruf hin hab ich ihn gleich mitgebracht. Die Spusi müsste auch jeden Moment eintreffen.« Sie schwieg kurz, dann fügte sie hinzu: »Fabi meint aber, dass er sich mit Brandopfern nicht so gut auskennt. Die gibt es hier schließlich nicht alle Tage.«

Taglieber nickte stumm. Ihm war gerade wieder sein nächtlicher Traum in den Sinn gekommen: Fraueninsel… einundzwanzigster November letzten Jahres… der vermeintliche Informant… Kapuze… dunkles Haar, eingefallene Wangen und eine Hakennase… ein harter Schlag auf seinen Hinterkopf… stechender Schmerz und… Schwärze…

Die gnadenlose Schwärze des Komas, aus dem er erst nach drei Monaten wieder erwacht war– ja, wach war er, aber ohne Erinnerung an sein früheres Ich. Der hochgewachsene blonde Mann mit der verwegenen Welle im Haar, der ihn jeden Morgen aus dem Spiegel anblickte und den er gewissenhaft rasierte, war ihm immer noch beinahe so fremd wie jeder x-beliebige, der ihm tagtäglich auf der Straße begegnete.

Doch vielleicht ermöglichte der Traum den Durchbruch, vielleicht riss er endlich die Mauer ein, die zwischen ihm und seiner verlorenen Erinnerung an sein früheres Leben stand. Er musste herausfinden, wer der Mann mit der Hakennase war.

In Gedanken versunken ging er hinter Tanja her, bis er plötzlich direkt vor dem Boot stand. Der scharfe Geruch von verbranntem Plastik drang in seine Nase und noch etwas anderes, unangenehm Bekanntes. Der Geruch von verbranntem Fleisch.

Taglieber klammerte sich an seinen Kaffeebecher wie an einen rettenden Anker. Er hatte sich immer noch nicht recht damit angefreundet, dass es zu seinem Beruf gehörte, Tote zu begutachten.

Fabian hatte sich so tief über die verkohlte Leiche gebeugt, dass zum Glück nicht viel von ihr zu sehen war, und war eingehend damit beschäftigt, sie zu untersuchen. Mit einem Maßband vermaß er ihr Becken und tippte die Werte in sein Tablet. Dann machte er sich daran, die Größe des Schädels zu erfassen.

Taglieber bemühte sich, durch den Mund zu atmen, um den üblen Geruch nicht riechen zu müssen.

»Hast du schon was für uns, Fabi?«, erkundigte sich Tanja bei ihrem Freund.

Der Gerichtsmediziner richtete sich auf und gab den Blick auf die Leiche frei. Taglieber spürte leichte Übelkeit in sich aufsteigen.

»Sie ist weiblichen Geschlechts, das lassen jedenfalls das breitere Becken und die gesamte Statur vermuten, aber sonst kann ich euch leider überhaupt nichts über sie sagen. Viel zu stark verbrannt. Wir werden sie über das Gebiss und ihre DNA identifizieren müssen. Wenn sie mal beim Zahnarzt war, geht das schneller als die DNA-Analyse.«

Taglieber warf nun selbst einen Blick auf die Tote oder besser gesagt auf das, was von ihr übrig war: ein bis zur Unkenntlichkeit verbrannter Schädel mit einem bizarren Grinsen und ein schwarzer Körper, den tiefe blutrote Krater übersäten. Die Gliedmaßen waren angewinkelt, als wäre sie vor ihrem Tod in die Hocke gegangen. Die Kleidung war mit den Muskeln verschmolzen, die noch an den Knochen hingen. Alles überzog ein ölig aussehender Film. Insgesamt war die Person sehr zierlich gebaut, was auch ihre relativ kleinen Füße bestätigten. Es könnte sich um ein Mädchen oder eine junge Frau handeln, dachte Taglieber, der noch immer mit der Übelkeit rang. Gut, dass er heute außer dem Kaffee noch nichts zu sich genommen hatte.

»Habt ihr schon einen Verdächtigen?«, fragte Fabian neugierig.

»Nicht direkt. Aber ein junger Kerl hat sich auf einer Yacht am Steg aufgehalten und wollte fliehen, als Dobermann ihn entdeckte. Möglicherweise hat er etwas beobachtet oder vielleicht auch selbst etwas mit dem Tod der Frau zu tun«, erklärte Taglieber.

»Und wo hast du den Burschen vor mir versteckt?«, wollte Tanja wissen. Es war ihr anzusehen, dass es sie schon in den Fingern juckte, sich den Knaben zur Brust zu nehmen.

»Er sitzt im Bus.« Taglieber deutete mit dem Kinn in die entsprechende Richtung. »Ich hab ihn so lange, bis wir uns den Tatort angesehen haben, den Kollegen anvertraut.« Er wandte sich an Fabian. »Glaubst du, es wurde so etwas wie ein Brandbeschleuniger benutzt?«

»Hm.« Der Gerichtsmediziner überlegte. »Könnte gut sein. Das Boot muss sehr schnell in Flammen gestanden haben, wenn die Frau es nicht mehr geschafft hat, sich ins Wasser zu retten.«

»Wer tut so etwas Grausames?«, fragte Tanja.

»Ich habe keinen blassen Schimmer«, erwiderte Fabian, »aber ich hoffe, ihr findet es heraus.«

Taglieber betrachtete die Yacht in Ruhe: Alles war schwarz vom Ruß und zusammengeschmort. Er tippte darauf, dass die Spurensicherung keine brauchbaren Hinweise finden würde, und erinnerte sich, vor Kurzem gelesen zu haben, dass bei verbrannten Opfern eines Verbrechens das Feuer meist nicht die Todesursache war. Oft hatte es dem Täter nur dazu gedient, sein Motiv oder den eigentlichen Tathergang zu verschleiern und Spuren zu verwischen.

Seine Kollegin riss ihn aus den Gedanken, indem sie ihn am Ärmel zupfte. »Komm, befragen wir den Verdächtigen.«

»…Beweise zu vernichten«, sprach er seinen Gedanken laut aus. Sein Blick war an den Überresten der rechten Hand des Opfers hängen geblieben. Sie war zur Faust geballt, und wenn er sich nicht täuschte, dann hielt sie etwas darin fest. Er beugte sich näher. Das Ende einer silbrig glänzenden Kette schaute hervor. »Tanja, ein Tütchen«, bat er seine Kollegin.

Sie meckerte, reichte ihm aber einen Plastikbeutel für Beweismittel.

Taglieber hatte inzwischen Latexhandschuhe übergestreift und zwang sich, seinen Ekel vor der Leiche zu überwinden. Mit einem »Darf ich mal?« schob er sich an Fabian vorbei und ging vor der Toten in die Knie. Vorsichtig ergriff er das Ende der Kette und zog daran.

»Du weißt, dass das Sache der Spusi ist und wir uns nicht einzumischen haben«, setzte Tanja erneut an, ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.

Doch Taglieber ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Schließlich war sonst seine Kollegin diejenige, die von einem Verstoß gegen die Dienstvorschriften in den nächsten stolperte und sich einen Dreck darum scherte. Als er circa zwanzig Zentimeter der Kette aus der Faust der Toten befreit hatte, spürte er einen Widerstand. Sie hing fest.

Taglieber hielt die Luft an, zog kräftiger, und ein silberner Anhänger flutschte aus der Hand des Opfers. Er hielt das Fundstück hoch und ließ es vor den verwunderten Augen von Tanja und Fabian in das Tütchen gleiten.

»Ein Medaillon«, staunte seine Kollegin.

Taglieber nickte zufrieden. »So, und jetzt gehen wir zum Bus und verhören unseren Verdächtigen.«

Auf dem Weg dorthin ließ Tanja den Plastikbeutel mit dem Medaillon nicht aus den Augen. »Wem es wohl gehört? Vielleicht sogar dem Mörder«, murmelte sie vor sich hin, als sie die Tür des Polizeibusses aufschob.

2

Was machte der denn hier? Sonja Hoegner zuckte kurz zusammen, als sie ihren Liebhaber entdeckte, der auf den Stufen zum Hauseingang kauerte. Obwohl er in dieser Haltung jämmerlich wirkte, spürte sie die Anziehung, die von ihm ausging.

Es war bereits drei in der Früh, und sie war gerade mit ihrem Golf in die Einfahrt gebogen, wodurch sich über den Bewegungsmelder das Licht an der Haustür eingeschaltet hatte.

Robert Stratmann saß mit auf die Knie gestütztem Kopf da, ganz so, als ob er schlief. Dann aber hob er das Gesicht, und sein Blick folgte ihr, als sie den Wagen in dem von Efeu überwucherten Carport parkte und ausstieg.

Sie ging auf ihn zu. »Robert, schön, dass du… Du bist ja pitschnass«, stellte sie fest und wusste nicht recht, was sie von seinem Besuch halten sollte. War es gut oder schlecht, dass er hier aufkreuzte? Immerhin– er kam zu ihr. Sie konnte in seinem Blick lesen, dass er völlig durch den Wind war.

Der attraktive dunkelhaarige Mann in dem offensichtlich nassen Shirt und der schwarzen Jeans, die schwer an ihm herabhing und einen nassen Fleck auf der Stufe zum Eingang hinterließ, erhob sich. Mit seinen graublauen Augen fixierte er sie von oben herab. »Ich brauche deine Hilfe, Sonja«, sagte er matt.

Lag da ein Zittern in seiner Stimme?

Sonja Hoegner nahm die ersten Treppenstufen, legte ihm einen Arm auf den Rücken und erwiderte: »Ich bin immer für dich da, Robert, das weißt du doch.« Dann öffnete sie die Tür, und er folgte ihr ins Haus. »Erst einmal gebe ich dir trockene Klamotten, und dann erzählst du mir bei einem Tee, was geschehen ist.«

Wenig später steckte Robert Stratmann in einer frischen Jeans, und sie saßen gemeinsam bei einem köstlichen Rooibos-Vanille-Tee im Wohnzimmer.

Sonja Hoegner beobachtete ihren Freund von der Seite, wie er an seiner Teetasse nippte. Dunkle Bartstoppeln durchbrachen bereits seine makellose helle Haut. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Sein Blick war hoch konzentriert auf die selbst getöpferte rote Schale auf dem Wohnzimmertisch gerichtet, ging aber durch sie hindurch.

Der Deutschlehrer wirkte, als würde er selbst gerade eine Prüfung absolvieren und eine komplizierte Aufgabe seine ganze Konzentration erfordern.

»Robert«, sagte sie sanft und legte ihre Hand auf seinen Arm. »Was ist los?«

Er holte tief Luft, und sie spürte, wie er um die richtigen Worte rang. »Versprich mir, dass du keine Fragen stellst.«

Sonja Hoegner nickte. »Keine Fragen, versprochen.«

»Gut.« Die vage Andeutung eines Lächelns erschien auf seinem Gesicht, um gleich darauf wieder einer ernsten Miene zu weichen. »Es geht um diese Nacht, Sonja. Ich brauche ein Alibi. Wo warst du nach der Feier?«

Sie schluckte. »Zuerst in der Spätvorstellung im Kino und dann noch in einer Kneipe etwas trinken.«

»Warst du allein unterwegs?«

»Ja.«

»Hat dich dort jemand gesehen? Ein Bekannter oder jemand aus dem Kollegium?«, hakte er nach.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Es war niemand dort, den ich kannte. Weder in der Kneipe noch im Kino.«

»Bist du dir sicher? Es ist sehr wichtig.« Er sah sie mit eindringlichem Blick an.

»Ja, ich habe dort niemanden gekannt, und keiner hat mich beobachtet. Das Kino war so gut wie leer und die Kneipe ebenso.«

»Gut.« Wieder suchte sein Blick den ihren. Robert Stratmann ergriff ihre Hand und hielt sie fest wie ein Schraubstock. Als er bemerkte, dass er ihr wehtat, lockerte er seinen Griff. »Wie gesagt, es geht um ein Alibi. Wenn dich irgendjemand fragt«, er machte eine Pause, »zum Beispiel die Polizei… dann sag, dass du die ganze Nacht mit mir zusammen warst, okay? Ich weiß, es ist viel verlangt, aber würdest du das für mich tun?«

Sie hielt die Luft an, biss sich auf die Lippe. Und wieder der Gedanke: War es gut oder schlecht, dass er zu ihr gekommen war? Ein ziehender Schmerz meldete sich in ihrer Brust. Sie hätte die Frage gern laut gestellt, aber stattdessen nickte sie lediglich. »Gut, ich mach’s.«

»Danke.« Er küsste sie, aber sein Kuss war so unecht wie das Lächeln, das darauf folgte, das erkannte sie sofort. »Du weißt gar nicht, was das für mich bedeutet. Jetzt müssen wir nur noch unsere Aussagen abstimmen. Haben wir nach der Feier noch eine DVD angesehen, oder sind wir direkt ins Bett? Hatten wir Sex?«, überlegte er laut.

Der schlaksige junge Mann– er war so um die achtzehn– saß ihnen gegenüber und gab, die Augen starr auf den Boden gerichtet, keinen Mucks von sich. Die Verletzungen des Verdächtigen waren unübersehbar.

Auf seiner Stirn prangte eine dicke Beule, die auch der lange Pony nicht verbergen konnte. Die Oberlippe war geschwollen und umrandet von verkrustetem Blut. Er sah aus, als wäre er in eine handfeste Auseinandersetzung geraten. Mit dem Todesopfer?, fragte sich Taglieber. Wenn ja, dann hatte sich die Frau heftig gewehrt.

Der Junge schien seine Gedanken zu erraten, denn kurz blitzten seine dunklen Augen zwischen den Fransen des Ponys auf, bevor er den Blick erneut senkte.

»Wie heißt du?«, fragte Taglieber sachlich, bekam aber außer einem Schulterzucken keine Antwort.

»Hast du einen Ausweis dabei?«, versuchte es seine Kollegin. Ihr Ton war anders als sonst bei Verhören, freundlich.

Angedeutetes Kopfschütteln.

Die gleiche Reaktion auf die Frage nach dem Medaillon, das sie in der Hand der Toten gefunden hatten.

Taglieber wurde ungeduldig. Der Schlafentzug und sein Alptraum machten ihn dünnhäutig. »Was hattest du auf der Yacht verloren?«, sprach er den Knaben so scharf an, dass der zusammenzuckte.

»Gehört sie deinen Eltern?«, fragte Tanja milder.

Taglieber nahm ein kurzes Nicken wahr. Die Verstocktheit des Jungen machte ihn ganz kirre. Mit dem stimmte doch irgendetwas nicht. »Wir haben das Recht, dich über Nacht festzuhalten«, erklärte er ihm so kalt wie möglich. Vielleicht würde diese Drohung ihn ja doch zu einer Aussage bewegen. Aber nichts passierte.

Tanja versuchte es weiter auf die sanfte Tour: Beinahe mütterlich legte sie eine Hand unter das Kinn des Jungen und hob es an, bis beide sich in die Augen sahen. »Egal, was passiert ist, du kannst es uns sagen«, erklärte sie mit ruhiger Stimme. »Wenn du etwas mit dem Unglück, das geschehen ist, zu tun oder etwas gesehen hast, dann müssen wir das wissen.– Es ist ein Mensch gestorben, und wir müssen davon ausgehen, dass jemand anders dafür verantwortlich ist.«

Taglieber konnte seine Überraschung kaum verbergen. So weichgespült und sanft wie ein Lämmchen hatte er seine Kollegin noch nie bei einem Verhör erlebt. Die Frage, wer der gute und wer der böse Bulle bei ihnen war, stellte sich auch für gewöhnlich nicht, doch heute waren die Rollen eindeutig vertauscht.

Durch das Fenster des Busses schien helles Scheinwerferlicht herein. Der Bursche senkte schuldbewusst die Lider. Seine Haut war milchig weiß, und Tanja betrachtete seine Verletzungen.

»Der Doktor wird sich das gleich mal ansehen, einverstanden?«

Der Junge nickte und versuchte, den Kopf wieder wegzudrehen, als Taglieber einen Blick auf seine Augenpartie erhaschte. Sofort blitzte eine Erinnerung an den Mann aus seinem Traum auf. Er schüttelte sie ab und gab Tanja ein Zeichen, den Bus zu verlassen.

Draußen teilte er ihr seine Vermutung mit. »Der Kerl ist voll auf Drogen, wenn du mich fragst. Hast du seine roten Augen gesehen?«

»Nein, hab ich nicht«, gab sie kleinlaut zu.

»Was ist nur mit dir los?«, fragte Taglieber ernst. »Seit du mit Fabian zusammen bist, überlagern wohl mütterliche Instinkte deine Spürnase.«

Seine Kollegin antwortete nicht.

»Wenn dein Fabi sich die Verletzungen des Jungen ansieht, soll er auch gleich schauen, was es mit dessen geröteten Augen auf sich hat. Ich bin mir sicher, der Bursche ist alles andere als nüchtern«, fügte er noch hinzu.

Tanja nickte nur, es war ihr anscheinend peinlich, dieses Indiz übersehen zu haben.

Während sie ihren Freund holte, stieg Taglieber wieder in den Bus.

»Bei mir hast du keinen Welpenbonus«, knurrte er noch immer knatschig, weil man ihn quasi ohne Schlaf aus dem Bett beziehungsweise von der Couch geholt hatte, und blickte den Kerl finster an. Dann zog er die Tür des Busses mit einem lauten Knall von innen zu. Bis jetzt waren sie recht milde mit ihm umgegangen, doch das ließ sich ändern. Immerhin hatte der mit Drogen vollgepumpte Kerl etwas zu verbergen, und Taglieber hatte das Gefühl, dass er vielleicht schuld an der ganzen Misere war– oder zumindest eine Mitschuld daran trug.

»Du weißt etwas, und es wird nicht lange dauern, bis wir es herausfinden. Da draußen liegt eine tote Frau auf einer abgefackelten Yacht, und keiner von uns wird dir glauben, dass du davon nichts mitbekommen hast, obwohl du in unmittelbarer Nähe auf einem Boot warst. Du solltest besser gleich auspacken«, sagte er schroff.

Doch der junge Mann blieb stumm.

Kurze Zeit später kam Tanja mit Fabian zurück, der eigentlich nur als Gerichtsmediziner für die Polizei tätig war. Doch für seine Freundin machte er schon mal eine Ausnahme. Er holte den Notfallkoffer aus seinem Wagen, begutachtete die Wunden des Jungen, reinigte, desinfizierte und verband sie. Als er einen kurzen Blick auf dessen Augen warf, lächelte er spitzbübisch.

Wieder draußen vor dem Bus zwinkerte er ihnen zu. »Der Kleine hat hundertpro Haschisch geraucht. Sogar eine ganze Menge davon. Dass er obendrein ordentlich gebechert hat, ist euch sicher auch schon an seinem Atem aufgefallen. Wenn ihr mich fragt, ist der immer noch high. Außerdem ist es gut möglich, dass er eine Gehirnerschütterung hat. An seinem Hinterkopf ist ein großes Hämatom, ihr solltet ihn vorsorglich ins Krankenhaus bringen. Dort können die Ärzte auch gleich einen Urintest auf Drogen machen und die Promille im Blut bestimmen.«

»Blasen kann der Bursche auch bei uns«, entgegnete Taglieber, der wie seine Kollegin zuvor jetzt ein schlechtes Gewissen bekam, weil ihm der Alkoholgeruch des Jungen entgangen war. Schuld daran waren eindeutig der Schlafmangel und dieser Traum.

Tanja stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihren Fabian, der sich mit seinem Notfallkoffer in der Hand bereits wieder anschickte zu gehen, auf die Wange. »Danke, Schatz!«, flötete sie.

Fabian lächelte, und sein Gesicht bekam einen leicht rosigen Touch. »Für dich immer wieder gern«, gab er etwas verlegen zurück.

Dann verabschiedete er sich auch von Taglieber und ging zu der ausgebrannten Yacht zurück. Zwei Beamte mit einem Metallsarg rückten gerade an, um die Leiche in die Gerichtsmedizin zu bringen. Außerdem wimmelte es mittlerweile von Spurensicherern, die in ihren weißen Overalls aus der dunklen Kulisse hervorstachen wie weiße Fusseln auf einem schwarzen Kleid.

»Dann kümmere ich mich mal um den Kleinen, messe seine Promille und bringe ihn ins Krankenhaus. Du unterhältst dich währenddessen mit dem Wasserschutz. Vielleicht haben sie ja bereits den Eigentümer der verbrannten Yacht ausfindig gemacht«, schlug Tanja Taglieber vor.

»Von mir aus.« Er nickte. »Aber vergiss die Leibesvisitation nicht. Wer weiß, vielleicht hat er noch Stoff bei sich. Und das Boot seiner Eltern sollten wir mal von einem Spürhund unter die Lupe nehmen lassen. Überhaupt soll sich die Spusi das auch mal ansehen.« Tagliebers Blick glitt durch das Fenster der VW-Bus-Tür, und für einen kurzen Moment trafen sich seiner und der des Jungen, der daraufhin sofort zusammenzuckte und schuldbewusst den Kopf hängen ließ. Wenn das mal kein sicheres Zeichen dafür war, dass der Knabe etwas mit dem Unglück, das geschehen war, zu tun hatte. Aber was, das verschwieg er ihnen. Noch.

Während Tanja einen der Uniformierten zu sich winkte, um sie und den Burschen ins nahe gelegene Priener Krankenhaus zu begleiten, wählte Taglieber die Nummer der Kollegen vom Wasserschutz. In einem Polizeihubschrauber suchten sie bereits mit Suchscheinwerfern den See ab.

Die Unterhaltung mit den Kollegen war mehr als aufschlussreich. Die zerstörte Yacht hieß »Königin SonjaI.« und war auf einen gewissen Ernst von Ariethen zugelassen. Bei der Toten handelte es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um dessen Tochter Klara, die laut Aussage des Geschäftsführers des hiesigen Yachtclubs, der in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett gescheucht worden war, über einen Segelschein und die entsprechende Erlaubnis zur Benutzung des Bootes ihres Vaters verfügte.

Als Tanja wieder auftauchte, ging bereits die Sonne am Horizont auf und tauchte den Chiemsee in strahlendes Rot und Gold. Der klare Himmel mit den vereinzelten Schäfchenwolken verhieß einen warmen Frühlingstag.

Nur schade, dass Taglieber wohl nicht pünktlich nach Hause kommen würde, um noch mit seiner Frau etwas zu unternehmen und das Wetter zu genießen. Aber auch wenn er den Dienst rechtzeitig beenden würde, er wäre ohnehin viel zu gerädert, um sich nach Feierabend noch irgendwohin zu bewegen.

Wortlos drückte ihm Tanja einen von zwei Bechern Kaffee in die Hand. »Und?«, fragte sie neugierig.

Taglieber informierte sie über die vermutliche Identität der Toten.

»Klara von Ariethen«, wiederholte sie den Namen melodisch.

»Der Geschäftsführer des Yachtclubs konnte uns sogar sagen, auf welche Schule das Mädchen ging.«

»Und welche ist das?« Tanja schielte aus dem Augenwinkel zu Fabian hinüber, der endlich wieder von der »Königin SonjaI.« kletterte– er hatte sich noch mit einer Kollegin von der Spusi unterhalten– und sich auf den Weg zu ihnen machte.

»Das Schlossinternat Hohenbeuern bei Neubeuern.« Taglieber nahm einen Schluck von der braunen Brühe, und wieder landeten ein paar Kaffeebrösel in seinem Mund. Warum erwischte ausgerechnet er immer den Becher mit dem Satz?

»Aha.« Tanja nickte abwesend. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Freund, dem sie ebenfalls einen Pappbecher reichte, als er zu ihnen stieß. »Extrastark mit extraviel Zucker«, bemerkte sie lächelnd.

»Danke«, murmelte er und wischte sich zuerst mit dem Ärmel Schweiß und Ruß aus dem Gesicht, bevor er einen Schluck nahm.

»Was Neues?«, erkundigte sie sich.

Fabian schüttelte den Kopf. »Bis auf das Medaillon, das ihr schon gegen alle Vorschriften entwendet habt– nichts.«

Taglieber zog den Beweisbeutel aus der Jacke. »Immer mit der Ruhe. Den gebe ich heute noch persönlich bei der Spurensicherung ab. Aber wer weiß, wozu es unterdessen noch gut sein wird, ihn dabeizuhaben?«

Tanja griff nach dem Tütchen und betrachtete das Medaillon von allen Seiten. »Es ist wirklich sehr schön. Sieht fein gearbeitet aus, soweit ich das bei dem ganzen Ruß sehen kann«, meinte sie, »und… es wirkt irgendwie antik.«

Fabian lachte. »Könnte auch an dem Ruß liegen«, bemerkte er spöttisch und zog amüsiert einen Mundwinkel nach oben.

Tanja, die ihrem Freund gerade einmal bis unter die Achsel reichte, versetzte ihm mit dem Ellenbogen einen unsanften Schlag in die Rippen.

»Autsch!« Fabian stieß den Atem aus und krümmte sich. Beinahe wäre ihm der Kaffeebecher aus der Hand gefallen. Doch er hatte sich das Lachen nicht verkneifen können. Er streckte die freie Hand aus, um sich vor einem erneuten Angriff seiner Freundin zu schützen.

So läuft das also bei den beiden, dachte Taglieber belustigt.

Aber bevor Tanja nachsetzen und, dank ihrer Kickboxkünste, ihrem Freund noch ernsthaften Schaden zufügen konnte, klingelte ihr Handy. Sie fluchte unverständlich und ging ran. Fabian nutzte die Chance, um sich in Sicherheit zu bringen, indem er den Abstand zu ihr vergrößerte.

Während Tanja die neuesten Erkenntnisse durchgab, schnappte sich Taglieber den Plastikbeutel und studierte das Medaillon darin näher: In die silberne Oberfläche waren filigrane Ornamente eingraviert, über denen ein Wappen thronte. Waren darin Buchstaben zu erkennen?

Taglieber streifte erneut Handschuhe über. Vorsichtig nahm er das Medaillon aus dem Beutel und öffnete es. Darin befand sich das Foto eines Säuglings in einem rosa Strampelanzug. Eine einzelne Locke kringelte sich auf dem Haupt des Babys.

Nachdem er das Bild nachdenklich betrachtet hatte, schloss er das Medaillon wieder und ließ es zurück in den Beutel gleiten.

Derweil beendete seine Kollegin das Telefonat mit den Worten: »Geht in Ordnung… Selbstverständlich.« Dann reichte sie Taglieber ihr Smartphone.

Er konnte sich bereits denken, wer am anderen Ende der Leitung war und sich die nur noch spärlich vorhandenen Haare raufte.

»Taglieber, sind Sie dran?«, vergewisserte sich der Chef.

»Bin ich.«

»Gut. Hören Sie, machen Sie sich sofort auf den Weg nach Neubeuern zum Internat und stellen Sie fest, ob es sich bei der Toten um Klara von Ariethen handelt. Dieser Fall hat höchste Priorität, der Besitzer der Yacht, dieser Herr von Ariethen, ist einer der mächtigsten Beamten der Judikative unseres Landes. Er war völlig außer sich, als er von dem Vorfall hörte. Im Moment hält er sich in den USA auf, doch er nimmt die nächste Maschine nach München. Es wäre fatal, wenn es sich bei der Toten wirklich um seine Tochter…« Rösler beendete den Satz nicht.

Taglieber sah förmlich vor sich, wie sich sein Chef gestresst am Kopf kratzte. »Wir kümmern uns selbstverständlich sofort darum«, erklärte er und konnte ein Seufzen nicht unterdrücken. Er war sich der ganzen Schwere der Verantwortung bewusst, die nun auf ihnen lastete.

»Lass mich raten? Der Eigentümer der Yacht ist ein hohes Tier?«, vermutete Tanja, nachdem er das Gespräch beendet hatte.

Er nickte geistesabwesend. Wieder tauchten kurz die Gesichtszüge des Fremden von der Fraueninsel vor seinem geistigen Auge auf. Und wieder schob er sie beiseite. Dafür war jetzt wirklich kein Platz. »Hat der junge Bursche noch etwas von sich gegeben? Konntest du ihn verhören? Hatte er Drogen dabei?«, erkundigte er sich stattdessen. Und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Wenn du mich fragst, ist der hochgradig verdächtig.«

Seine Kollegin winkte ab. »Das sehe ich völlig anders: Sein Name ist Philip Leitner, die Yacht gehört seinem Vater, bei dem er lebt. Und er ist wirklich arm dran… Fast zwei Promille im Blut und im Urin eine Unmenge THC. Er muss also nicht nur ein Mal am Joint gezogen haben. Außerdem hat er eine Gehirnerschütterung, von den drei angeknacksten Rippen ganz zu schweigen. Anscheinend kann er sich weder daran erinnern, wie er auf die Yacht gekommen ist, die seinem Vater gehört, noch, was sich dort ereignet hat. Haschisch oder andere Drogen hatte er nicht bei sich. Kollege Kramer hat sogar seinen«, sie räusperte sich, »Darm untersucht. Danach hatte der Junge Tränen in den Augen«, erklärte sie mitleidig. »Woher er das Hasch hatte, weiß er natürlich auch nicht mehr. Laut dem behandelnden Arzt muss er noch ein, zwei Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben. Sie wollen eine MRT-Untersuchung des Kopfes machen, um sicherzugehen, dass keine Gehirnblutung vorliegt, soweit ich das verstanden habe.«

Tagliebers Hand hatte sich inzwischen zur Faust geballt. Ihm erschien die Amnesiegeschichte des Jungen äußerst unglaubwürdig.

»Hab ich euch doch gesagt, dass der sich die Birne zugekifft hat! Kein Wunder, dass der nichts mehr weiß. Und das muss nicht unbedingt an der Gehirnerschütterung liegen«, grinste Fabian.

»Ich glaube diesem Simulanten kein einziges Wort. Der Knabe weiß etwas, und ich bin mir sicher, dass wir es aus ihm herausbringen, wenn wir ihn uns entsprechend vorknöpfen und Druck machen. Und genau das habe ich vor«, echauffierte sich Taglieber. Er konnte sich nicht helfen, der Bursche war ihm einfach unsympathisch.

»Aber Helmut, der ist doch beinah noch ein Kind, ein Milchbubi«, verteidigte Tanja Philip Leitner empört. »Der könnte niemandem auch nur ein Haar krümmen. Er hat fast geweint, als wir ihn mit dem Ergebnis des Urintests konfrontierten, und mir hoch und heilig versprochen, nie wieder Drogen zu konsumieren.«

Taglieber schnaubte. »Das ist doch alles nur Masche. Für eine erfahrene Polizistin bist du reichlich gutgläubig. Irgendwie seltsam, wo du doch sonst in der Dienststelle als ›scharfer Hund‹ giltst«, stichelte er kampflustig. Er hatte genug davon, dass sich seine Kollegin von dem Burschen um den kleinen Finger wickeln ließ. In seinem Inneren begann es zu brodeln.

Fabian blickte von einem zum anderen. Er spürte offensichtlich die Spannung, die in der Luft lag. »Meine kleine Freundin ist doch eher ein Wadelbeißer als ein scharfer Hund«, witzelte der Gerichtsmediziner, wohl um die Lage zu entspannen, und zupfte frech an einer von Tanjas braunen Locken.

Mit einem »Hey, lass das« schlug sie nach ihm, doch Fabian ging geübt in Deckung.

3

Auf dem Weg nach Neubeuern in Tanjas Rostlaube redeten sie nicht viel. Taglieber hatte trotz den zwei Kaffees damit zu kämpfen, seine Augen offen zu halten. Und die geringe Aussicht auf einen schnell gelösten Fall, die die mangelnden Spuren verhießen, besserte seine Stimmung auch nicht. Außerdem ärgerte es ihn noch immer, dass seine Kollegin den seiner Meinung nach hauptverdächtigen jungen Mann in Schutz nahm.

Er presste die Kiefer aufeinander. Würde Tanja neutral alle Fakten berücksichtigen, müsste auch ihr einleuchten, dass der Kerl etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun haben musste. Er war ein verzogener Bengel reicher Eltern, die ihren Schützling nicht unter Kontrolle hatten. Und er sich selbst am allerwenigsten. Was half es da schon, dass er mit Tränen in den Augen Besserung gelobt hatte? Aber was soll’s?, dachte er. Sie war so stur, dass er sie mit keinem Beweis der Welt überzeugen könnte. Was sie nicht einsah, sah sie nun mal nicht ein.

In Neubeuern machten sie am Marktplatz halt an einer kleinen Bäckerei. Die Ausbeute bestand aus einem weiteren Becher Kaffee, diesmal ohne Brösel, um Tagliebers renitente Müdigkeit zu bekämpfen, und einem Latte macchiato, der seine Kollegin bei Laune halten sollte. Dazu gesellten sich eine Nussschnecke und eine Quarktasche. Es war kurz vor sieben, und die Bäckerei hatte gerade eine frische Lieferung bekommen. Taglieber hätte am liebsten die ganze Auslage aufgekauft, so warm und süß duftete es im Verkaufsraum nach Nuss, Vanille und Zimt.

»Sag mal, behandelst du Fabian eigentlich immer so?«, erkundigte er sich, während sie die ansteigende Privatstraße zum Internat Hohenbeuern hinauftuckerten.